Vom unbarmherzigen Knecht

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Vom unbarmherzigen Knecht
Gt 08020 / p. 459 / 28.9.2007
Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des
Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht)
Mt 18,23-35
(23) Deshalb ist das Himmelreich mit (folgender Erzählung von) einem König zu vergleichen, der mit seinen Sklaven abrechnen wollte.
(24) Als er mit der Abrechnung begann, wurde ihm einer vorgeführt, der
ihm 10 000 Talente schuldete. (25) Weil er nicht zahlen konnte, befahl der
Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. (26) Der Sklave fiel unterwürfig vor ihm auf
die Knie und sagte: »Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen.«
(27) Der Herr hatte Mitleid mit dem Sklaven und ließ ihn frei, und die
Schuld erließ er ihm.
(28) Als nun dieser Sklave hinausging, traf er auf einen seiner Mitsklaven,
der ihm 100 Denare schuldete. Er packte und würgte ihn und sagte: »Zahle,
was du schuldest.« (29) Der Mitsklave fiel vor ihm nieder und bat ihn: »Hab
Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen.« (30) Er aber wollte nicht,
sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte.
(31) Seine Mitsklavinnen und Mitsklaven sahen, was geschehen war, und
wurden sehr traurig; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles,
was geschehen war. (32) Da beorderte ihn sein Herr vor sich und sagte zu
ihm: »Du schlechter Sklave! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil
du mich angefleht hast. (33) Hättest du dich nicht auch über deinen Mitsklaven erbarmen müssen, wie ich mich über dich erbarmte?« (34) Und sein
Herr wurde zornig und übergab ihn den Folterern, bis er ihm alles bezahlt
hätte, was er ihm schuldete.
(35) So wird euch auch mein himmlischer Vater behandeln, wenn ihr nicht
alle euren Geschwistern von ganzem Herzen vergebt.
Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)
Die Parabel zeigt mit ihrer Rahmung (V. 23 und 35) sowie drei Szenen einen klaren symmetrischen Aufbau. Die drei Szenen spielen mit Parallelität und Kontrast.
Szene
Schauplatz
Szene 1 (24-27)
Im Haus des Königs
Personen
König und 1. Sklave
Szene 2 (28-30)
Vor dem Haus des
Königs
1. und 2. Sklave
Narrative Einleitung
Feststellung und Einforderung der extrem
hohen Schuld (24 f.)
Feststellung und Einforderung der relativ
geringen Schuld (28)
Szene 3 (31-34)
Im Haus des Königs
Mitsklaven (V31)
König und 1. Sklave
König erfährt vom Verhalten des 1. Sklaven (31)
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Parabeln im Matthäusevangelium
Szene
Dialogstruktur
Maßnahmen mit Blick
auf den Schuldner
Szene 1 (24-27)
Schuldner (= 1. Sklave) ergreift das Wort,
fällt auf die Knie und
bittet um Zahlungsaufschub (26)
Gesamte Schuld wird
erlassen (27)
Szene 2 (28-30)
Schuldner (= 2. Sklave) ergreift das Wort,
fällt auf die Knie und
bittet um Zahlungsaufschub (29)
Gefängnisstrafe bis
zum Begleichen der
Schuld (30)
Szene 3 (31-34)
Herr ergreift das Wort,
klagt Schuldner an (32 f.)
Folterstrafe bis zum
Begleichen der Schuld
(34)
Die Parabel entfaltet das in 18,23 benannte Thema (s. dazu unten) in drei Szenen. Die
räumliche Situierung der Szenen und die auftretenden Figuren unterstreichen den konzentrischen Aufbau der Parabel: Die erste und dritte Szene spielen zwischen dem König
und seinem Sklaven im Haus (königlichen Hof) des Königs, die mittlere Szene spielt
zwischen dem Sklaven und einem Mitsklaven vor dem Haus des Königs. Die Parabel
bietet damit eine durchaus typische Figurenkonstellation: Der König repräsentiert die
Autoritätsfigur. Er agiert überraschend (18,27) und gibt Einblick in die Motivation seines Tuns (18,32 f.). Die Gruppe der Sklaven repräsentiert die untergeordneten Figuren.
Aus dieser Gruppe ragen zwei Sklaven heraus, von denen einer in allen drei Szenen auftritt, der andere nur in der zweiten Szene. Anders als der König bleibt der zur Rede gestellte Sklave stumm (18,33).
Durch den hohen Dialoganteil wirkt die im Erzähltempus von Aorist und Imperfekt gehaltene Erzählung sehr lebendig.
Alle drei Szenen beginnen mit einer knappen narrativen Einleitung (V. 24 f.28.31).
Die Einleitung zur zweiten Szene bietet insofern eine kontrastive Doppelung der Einleitung zur ersten, als in beiden Fällen eine Geldschuld festgestellt und dann eingefordert
wird. Kontrastiert wird eine astronomisch hohe Schuld des 1. Sklaven mit einer deutlich
geringeren Schuld des 2. Sklaven. Hundert Denare entsprechen in etwa dem Halbjahresverdienst eines Tagelöhners in der Landwirtschaft (vgl. Mt 20,1). Die Angabe 10 000 Talente kombiniert die höchstmögliche Zahl mit der höchstmöglichen Münzeinheit (Jeremias 11 1998, 208). Rechnerisch entsprechen 100 Denare dem 600 000sten Teil von 10 000
Talenten (Luz 1997, 71).
In den Szenen 1 und 2 ergreift zunächst der jeweilige Schuldner das Wort, er fällt
auf die Knie und bittet um Zahlungsaufschub. Gestik und Wortwahl laufen weitgehend
parallel:
Szene 1, V. 26
pesŒn oªn ¡ do‰lo@ prosekÐnei
a't†¾ lffgwn:
makroqÐmhson ¥p3 ¥moffl,
ka½ p€nta ⁄podðsw soi.
Szene 2, V. 29
pesŒn oªn ¡ sÐndoulo@
a'to‰ parek€lei a'tŠn lffgwn:
makroqÐmhson ¥p3 ¥moffl,
ka½ ⁄podðsw soi.
Zwei Abweichungen sind bemerkenswert:
V. 26, wo es ja um die Huldigung des Königs geht, bringt zusätzlich das Verb proskunffw (proskyneō – Verehrung erweisen durch Niederfallen, anbeten). Die Verbindung
von pesðn (pesōn – niederfallen) mit proskunffw findet sich bezeichnenderweise auch
in Mt 2,11, wo die drei Weisen Jesus huldigen (s. u.).
V. 29 bietet statt do‰lo@ (doulos – Sklave) das Kompositum sÐndoulo@ (syndoulos
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
– Mitsklave). »Dieser Ausdruck ist bewusst gewählt, um anzudeuten, dass die beiden derselben Klasse angehören und eigentlich solidarisch sein müssten« (Luz 1997, 71 Anm. 51).
Die Wortwahl unterstreicht also, wie unverständlich das Verhalten des 1. Sklaven dem 2.
gegenüber angesichts des soeben erfahrenen Schuldenerlasses durch den König ist.
In der dritten Szene hat der Schuldner jeglichen Handlungsspielraum verwirkt, er
kommt nicht mehr zu Wort, sondern wird vom Herrn angeklagt.
Die Reaktionen auf das Verhalten der Schuldner spitzen sich im Verlauf der drei
Szenen immer weiter zu: Während der König seinem Sklaven die enorme Schuld völlig
überraschend erlässt (18,27), wirft der 1. Sklave seinen Mitsklaven ins Gefängnis (18,30).
In der dritten Szene stellt der König dem 1. Sklaven zunächst eine vorwurfsvolle Frage
(18,32 f.). Gegenüber 18,27 (s. u.) fällt auf, dass »der Erzähler hier das ›profane‹ Wort
splagcnfflzomai [splagchnizomai – sich erbarmen, Mitleid empfinden] durch das Bibelwort ¥leffw [eleeō – ebenfalls: sich erbarmen, Mitleid haben] ersetzt, in dem biblische
Aussagen über das Erbarmen Gottes anklingen können« (Luz 1997, 73). Die Wortwahl
könnte eine bewusste Assoziationslenkung bei den RezipientInnen intendieren (s. u.).
Anschließend überantwortet der Herr den 1. Sklaven den Folterern. V. 27 und
V. 34 entsprechen sich sprachlich antithetisch:
Szene, V. 27
splagcnisqe½@ dþ
¡ kÐrio@ to‰ doÐlou ¥kefflnou
⁄pfflusen a'tŠn
ka½ tŠ d€neion ⁄f»ken a't†¾.
Szene 3, V. 34
ka½ ¤rgisqe½@
¡ kÐrio@ a'to‰
parffdwken a'tŠn to…@ basanista…@
Àw@ oÞ ⁄pod†¾ p”n tŠ ¤feilƒmenon.
Das heißt: In der dritten Szene wählt der König unter dem Eindruck dessen, was er über
den 1. Sklaven erfahren hat, genau diejenige Handlungsoption, von der er sich in der
ersten Szene hatte abbringen lassen. Sein Verhalten ist nun an demjenigen des 1. Sklaven
gegenüber seinem Mitsklaven orientiert.
Die narrativ geschlossen und kunstvoll gestaltete Komposition erhält ihren Reiz zum
einen durch den Rollenwechsel, den der 1. Sklave in den Szenen vollzieht (Harnisch
4
2001, 259), indem er zunächst als Schuldner, dann als Gläubiger und dann wieder als
Schuldner auftritt, zum anderen durch das Spiel mit den Erwartungen der LeserInnen.
Für sich genommen schildert die zweite Szene ein für die damalige Zeit durchaus typisches, wenn auch hartes, Verfahren (s. u.). Durch die Vorschaltung der ersten Szene mit
dem überraschenden Erlass einer unvorstellbar großen Summe werden nun aber die Vorzeichen vertauscht: Was eigentlich üblich ist, erscheint im Licht der ersten Szene verwerflich, ja fast unglaubhaft (Jülicher II 2 1910, 307): Wie kann der Sklave, der doch noch
unter dem unmittelbaren Eindruck des unverhofften Schuldenerlasses stehen muss, seinem Mitsklaven den Erlass einer vergleichsweise geringen Schuld verweigern?
Die Aufbau entspricht damit einem »dramatische[n] Erzählgerüst mit drei Szenen
(v. 23b-27: Situation; v. 28-30: Krise; v. 31-34: Lösung)« (Harnisch 4 2001, 259). Die
»Lösung« ist insofern tragisch, als sie den eingangs gewährten Schuldenerlass rückgängig
macht und den 1. Sklaven den Folterknechten überantwortet. Der Umschlag erfolgt in
V. 30 mit der Reaktion des 1. Sklaven und ist sprachlich dadurch markiert, dass der Vers
anders als die übrigen Verse nicht partizipial beginnt (ebenso V. 33 und 35).
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Parabeln im Matthäusevangelium
Parabeln wollen gedeutet werden. Das Einrichten einer zweiten Aussageebene geschieht
(vgl. Münch 2004, 226 f.; Massa 2000, 224-234):
a. durch die Rahmung der Erzählung (18,23.35),
b. durch Verknüpfungen zum unmittelbaren Kontext (insbesondere 18,21 f.),
c. durch Verknüpfungen zu benachbarten Parabeln (s. u. zur Bildfeldtradition),
d. durch geprägtes Gut (s. u. zur Bildfeldtradition).
Zu a: Die Rahmung der Erzählung (18,23.35)
18,23 gibt das »Thema« der Erzählung an: Bezugsgröße ist das Himmelreich. Damit ist freilich noch ein weiter Bedeutungsspielraum gelassen, so dass die Leserin dazu
aufgefordert ist, die Deutung der Parabel auf der Grundlage erstens des semantischen
Potenzials des Ausdruckes »Himmelreich«, zweitens des Bedeutungsspielraumes der Erzählung und drittens der »Anwendung« (18,35) zu konstruieren (vgl. Massa 2000, 225).
Das Himmelreich wird in 18,23 mit einem König verglichen, der mit seinen Sklaven
abrechnen wollte. Der Aorist Passiv (£moiðqh hōmoiōthē) wurde hier als sog. »gnomischer Aorist« präsentisch übersetzt (»ist zu vergleichen«). Möglich ist auch eine Übersetzung als »ingressiver Aorist«, bei der noch stärker herausgestellt würde, was die folgende Erzählung ohnehin betont, nämlich »dass die Gegenwart des Himmelreiches durch die
Vergangenheit bestimmt ist« (Münch 2004, 140), in diesem Fall durch das vorausgehende
vergebende Handeln Gottes. Streng genommen vergleicht die Einleitungsformel das
Himmelreich mit einem König – der ranghöchsten Autoritätsfigur der Parabel. Gemeint
ist aber wohl eher, dass das Himmelreich mit der gesamten folgenden Erzählung in Beziehung gesetzt werden soll (vgl. zur Übersetzung L. Schottroff 2005, 218).
18,35 liefert die so genannte »Anwendung« der Erzählung. Das Adverb o˜tw@ (houtōs –
so) zeigt eine Entsprechung zwischen der Geschichte und der »Anwendung« an. V. 35
bezieht die Parabel auf die Frage, wie sich der »himmlische Vater« den Seinen gegenüber
verhalten wird, wenn sie einander nicht vergeben. Diese »Anwendung« bezieht die Thematik des Schuldenerlasses auf die Thematik des Vergebens: »von ganzem Herzen« soll
ein jeder seinen Geschwistern (wörtlich: seinem Bruder) vergeben. Diese Deutung beruht
auf einer Stichwortbrücke zwischen der Erzählung und ihrer Schlussrahmung: Sowohl in
18,27.32 als auch in 18,35 taucht das Verb ⁄ffflhmi (aphiēmi – hier: Schulden erlassen,
Sünden, Verfehlungen vergeben) auf. Während die Erzählung den Erlass von Geldschulden thematisiert, überträgt 18,35 diese Thematik auf die Vergebung von (moralischen)
Verfehlungen. Die Anwendung hat damit die Funktion einer Mahnung und ethischen
Belehrung (Münch 2004, 259).
Wahrscheinlich darf die »Bedeutung« der Parabel aber nicht auf diese Anwendung
eingegrenzt werden. Denn sie bezieht sich nicht auf die gesamte Erzählung, sondern nur
auf deren Schluss.
Zu b: Die Verknüpfung zum unmittelbaren Kontext
Mt 18,35 schlägt mit der Thematik der Vergebung einen Bogen zu Mt 18,21 f.,
denn auch hier war von der Vergebung die Rede (wieder ⁄ffflhmi aphiēmi). Insofern liegt
es nahe, die Parabel im literarischen Kontext von 18,21 f. zu lesen. Das bietet sich auch
deshalb an, weil der Anschluss diÞ to‰to (dia touto – deshalb) die Einheit 18,23-35 mit
dem voraufgehenden Kontext verknüpft. Umstritten ist allerdings, wie eng diese sprach448
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
liche Verknüpfung ist. Die Formulierung wird entweder auf 18,22, also den direkt voranstehenden Vers, bezogen. Die Parabel fungiert dann als Illustration der Antwort Jesu
(Sand 1986, 377). DiÞ to‰to kann aber auch als »bekräftigende Überleitung« (Luz 1997,
65) verstanden werden, die Herrensprüche markiert, ohne primär eine kausale Verknüpfung herstellen zu wollen (vgl. Mt 6,25; 12,31; 13,52; 21,43; 23,34; 24,44; Hultgren 2000,
23). Dennoch legt die Parallelität in der Thematik in 18,21 f. und 18,35 sowie die Stellung von 18,21 f. direkt vor der Parabeleinleitung eine Lesart nahe, die 18,23-35 im Zusammenhang mit 18,21 f. sieht. Eine solche – in der Exegese durchaus verbreitete – Lesart
lenkt den Blick auf eine Spannung, in die sich die Parabel einzeichnet.
In 18,21 f. fragt Petrus Jesus, wie oft er seinem Bruder, der an ihm gesündigt habe
(mart€nw hamartanō), vergeben müsse. Die rabbinische Tradition empfiehlt die dreimalige Vergebung gemäß dem Stil Gottes (Am 2,4; Jer 33,29 und 50,17; vgl. Joma 86b).
Wenn Petrus die 7-malige Vergebung vorschlägt, geht er also bereits deutlich über diese
Tradition hinaus. Jesus aber fordert in seiner Antwort unbegrenzte Vergebungsbereitschaft. Die Formulierung »siebenundsiebzigfach« »nimmt auf ein Lied aus dem Buch Genesis (Gen 4,23-24) Bezug, das Lamech, einem Nachkommen Kains, zugeordnet ist … :
Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede!
Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme.
Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.
Die Logik Lamechs ist die der unbegrenzten Rache. ›Siebenundsiebzigfach‹ bedeutet
gleichsam ›ohne Ende‹. Dieser Logik hält Matthäus zunächst einen Grundsatz Jesu über
die unbegrenzte Vergebung entgegen …« (Dormeyer/Grilli 2004, 91)
Warum sollen wir unseren Mitmenschen unbegrenzt vergeben? 18,22 lässt diese
Frage offen. Deshalb liegt es nahe, die Parabel als Begründung der ethischen Forderung
zu lesen. Die Parabel, die ja in der Einleitung (V. 23) das Himmelreich mit einem König
vergleicht, der mit seinen Sklaven abrechnen wollte, legt mit ihrer 1. Szene folgende Antwort nahe: Wir sollen einander unbegrenzt vergeben, weil uns im Himmelreich (von
Gott) unbegrenzt vergeben wird. »Theologisch steht hier die imitatio Dei im Hintergrund (vgl. 5,48; Lk 6,36)« (Luz 1997, 73). Dieser Duktus schlägt nun aber ab V. 30
und dann endgültig in der dritten Szene um: Der Vorwurf des Königs fordert zunächst
explizit, dass der 1. Sklave ihn hätte nachahmen sollen, aber in der folgenden Reaktion
wird er sich selbst »untreu«: Der »Herr« vergibt ja gerade nicht unbegrenzt, sondern nur
einmal. Richten wir uns nach der dritten Szene und der »Anwendung« in V. 35, dann legt
sich eher die Antwort nahe: Wir sollen einander unbegrenzt vergeben, weil Gott uns
sonst nicht mehr vergibt.
Die Parabel im Kontext von Mt 18,21 f.
Unbegrenzte
Vergebungsbereitschaft
der Menschen,
da Gott uns unbegrenzt vergibt
Situation
18,21 f.
1. Szene
$
Krise
2. Szene
Unbegrenzte
Vergebungsbereitschaft
der Menschen,
da Gott uns sonst nicht vergibt
Tragische Lösung
3. Szene
18,35
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Parabeln im Matthäusevangelium
Durch die Vorschaltung von Mt 18,21 f. gerät die 1. Szene der Parabel also in Widerspruch zur 3. Denn der König erfüllt nur in der 1., nicht aber in der 3. Szene den in 18,22
geforderten ethischen Standard. Die Kombination beider Begründungsmodelle führt zu
der Paradoxie, dass die einzige Sünde, die nicht vergeben werden kann, offenbar darin
besteht, anderen nicht zu vergeben.
Die unterschiedlichen Auslegungen der Parabel kreisen um diese beiden spannungsvollen Pole und fragen danach, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen bzw.
welches Gewicht sie für die Gesamtaussage haben.
Die Parabel schließt die so genannte »Gemeinderede« des Matthäusevangeliums in Mt
18,1-35 ab. In dieser Rede wendet sich Jesus an seine Jünger (18,1) und verhandelt Fragen des Zusammenlebens. Gerade in Mt 18 sind die Jünger und Jüngerinnen Jesu wahrscheinlich transparent für Menschen, die dem Auferstandenen nachfolgen, also in erster
Linie die matthäische Gemeinde.
Die Parabel 18,23-35 zeichnet sich nahtlos in den Kontext der Gemeinderede ein.
Denn mit dem Thema des »Himmelreiches« schafft der Vers 23 eine Klammer zum Beginn
der Gemeinderede (vgl. 18,1-5). Insofern kann der literarische Kontext, der auf 18,23-35
einwirkt, auch weiter gefasst werden. McBride versucht, die Spannung zwischen 18,21 f.
einerseits und 18,34 andererseits dadurch zu entschärfen, dass er die Parabel im Kontext
von 18,15 f. interpretiert (1999, 118). Die Entscheidung über Art und Intensität der Einbettung in den literarischen Kontext hat Konsequenzen für die Auslegung der Parabel.
Sozialgeschichtliche Analyse (bildspendender Bereich)
Die Parabel ist kunstvoll durchkomponiert, sie wirkt konstruiert und gibt dadurch zu
erkennen, dass sie kein Abbild eines »realistischen« Geschehens sein will. Die drei Hauptrollen weisen eine gewisse Typik auf: Der machtvolle König kann nach Belieben agieren,
er muss zur Durchsetzung seiner Ziele keine Rechtsinstanzen anrufen und kann einmal
gefasste Beschlüsse spontan rückgängig machen. Die Sklaven haben keine Rechte gegenüber ihrem Herrn. »Auch wenn sie in hohe Positionen aufsteigen, wie hier der erste Sklave, bleiben sie Sklaven, die gefoltert werden können.« (L. Schottroff 2005, 258). Die
10 000 Talente entsprechen einfach der denkbar höchsten Summe, und die Bitte des
2. Sklaven ist in Anlehnung an die Bitte des 1. Sklaven formuliert, um den Rollenwechsel
des 1. Sklaven herauszustreichen.
Aufgrund dieses konstruierten Charakters der Parabel ist umstritten, inwiefern
eine sozialgeschichtliche Analyse des bildspendenden Bereichs angemessen ist (z. B. Derrett 1970; Herzog 1994), oder ob es sich hier nicht einfach um das Repertoire eines Parabelerzählers handelt, das sich einer genaueren sozialgeschichtlichen Bestimmung entzieht (Scott 1989, 270-271). Allerdings verdankt sich das Repertoire dem sozialen,
kulturellen und politischen Milieu des Erzählers, so dass die (Re-)Konstruktion dieses
Milieus durchaus gewinnbringend für das Verständnis der Parabel sein kann.
ExegetInnen interessieren sich in diesem Zusammenhang in erster Linie für die
Frage, inwiefern die sozialgeschichtlichen Züge der Parabel realistisch sind oder nicht.
Denn »unrealistische« Züge können (wenn auch nicht zwangsläufig) als Transformationsindikator gewertet werden, der »eine Abweichung von konventioneller Einsinnig450
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
keit« indiziert (Massa 2000, 226). Diskutiert werden in dieser Hinsicht insbesondere drei
Punkte:
a. die Höhe der Schuld des 1. Sklaven,
b. der königliche Schuldenerlass,
c. die in der Parabel vorausgesetzten rechtlichen Verhältnisse.
a. Die 10 000 Talente
Realistisch scheint diese Schuldsumme – wenn überhaupt (anders Herzog 1994, 143 f.;
Luz 1997, 69) – nur als Abgabe von Herrschaftsgebieten, nicht aber als private (Darlehens-)Schuld für den Lebensbedarf oder Wirtschaftsbedarf eines privaten Haushaltes
oder eines Betriebes (L. Schottroff 2005, 258). Der 1. Sklave wäre dann z. B. ein »Finanzsklave« (L. Schottroff 2005, 259) mit dem Auftrag, in bestimmten Gebieten für den König Geld einzutreiben (vgl. Lk 19,17; Materialzusammenstellung bei Leutzsch 1992, 112116).
Bei der Summe handelt es sich demnach nicht um ein Darlehen, das der 1. Sklave
zuvor ausbezahlt bekommen hätte, sondern um die Höhe der königlichen Steuerforderung, die der Finanzsklave eintreiben muss. In jedem Fall handelt es sich – trotz der
hohen Summe – um einen Sklaven (Glancy 2000, 86), nicht etwa um einen Satrapen
(Jeremias 11 1998, 208) oder einen Minister (Derrett 1970, 33 Anm. 1). Denn der König
kann den Sklaven samt seiner Familie verkaufen und foltern lassen.
Möglich ist auch, in der unrealistisch hohen Schuldsumme ein Indiz dafür zu sehen, »dass es um keinen tatsächlichen Rechtsfall geht, sondern ganz offensichtlich eine
mehrsinnige Geschichte erzählt wird. Man könnte dies im Vergleich zu einer wirklichen
juristischen Angelegenheit als erzählerische Unstimmigkeit bezeichnen und damit als ein
internes Signal zu einer über die Geschichte hinausgehenden Sinnfindung werten. In
welcher Weise man den Rechtsfall anders zu verstehen habe, dafür liefert dieses Element
kein Indiz.« (Massa 2000, 226)
b. Der königliche Schuldenerlass
Sind spontane königliche Schuldenerlasse ähnlich demjenigen, von dem die Parabel
spricht, politisch denkbar oder sogar in antiken Texten belegt? Herzog, der von einer
älteren Fassung ausgeht, in der statt von 10 000 Talenten »nur« von 100 Talenten die Rede
gewesen sei (1994, 144), bemüht sich um den Nachweis, dass der überraschende königliche Schuldenerlass durchaus politischem Kalkül entspringt. Der 1. Sklave habe sich gegenüber dem König erniedrigt, er wird so schnell nicht wieder über die Stränge schlagen.
Wenn der König ihn hingegen wie angekündigt ins Gefängnis wirft, übernimmt ein anderer Sklave seine Aufgabe – ein Unsicherheitsfaktor, den der König durch seinen Schuldenerlass umgehe (142).
Belegt sind königliche Gnadenerlasse bei bestimmten Gelegenheiten (z. B. bei einer
Thronbesteigung) oder gegenüber bestimmten Personen (z. B. als Belohnung für Loyalität; Materialsammlung bei B. Weber 1993, 177-179).
Ob der königliche Gnadenerlass aus der Parabel durch diese Belege abgedeckt ist,
bleibt fraglich. Wahrscheinlicher scheint mir, dass wir es hier mit einem weiteren Indiz
für Mehrsinnigkeit zu tun haben.
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Parabeln im Matthäusevangelium
c. Rechtliche Verhältnisse
Der sozialgeschichtliche Hintergrund der Parabel ist in der Sklaverei angesiedelt. In diesem Zusammenhang stellen sich drei Fragen:
1. Inwiefern entsprechen die in der Parabel vorausgesetzten rechtlichen Verhältnisse
dem damaligen jüdischen oder hellenistischen Recht (vgl. Luz 1997, 69 f.) und/oder
der damaligen Praxis?
2. Wie wurde Sklaverei in der damaligen Zeit von der Gesellschaft wahrgenommen?
3. Wie stellt sich die Parabel zur Praxis der Sklaverei?
1. Philo berichtet uns anschaulich von dem Vorgehen eines Steuereinnehmers, das deutliche Parallelen zu unserer Parabel aufweist:
»So hat jüngst ein bei uns zum Steuereinnehmer bestellter Mann, als Leute, die wohl aus
Armut im Rückstand waren, aus Furcht vor den unerträglichen Strafen das Weite gesucht
hatten, deren Frauen, Kinder, Eltern und alle übrigen Verwandten gewaltsam fortgeschleppt, sie geschlagen, misshandelt und schändliche Gewalttaten aller Art an ihnen
verübt, damit sie entweder den Flüchtling verrieten oder dessen Rückstände bezahlten,
wiewohl sie beides nicht vermochten, jenes (nicht), weil sie (seinen Aufenthalt) nicht
wussten, dieses (nicht), da sie nicht minder arm waren als der Entflohene. (Der Steuereinnehmer) gab sie aber nicht eher frei, als bis er mit Folter- und Marterwerkzeugen ihre
Körper gepeinigt und sie durch unerhörte Tötungsarten ums Leben gebracht hatte …«
(Philo spec. III, 159-163 [Übersetzung von I. Heinemann bei L. Schottroff 2005, 259 f.])
Zum römischen Sklavenwesen gehörte der Berufsstand des manceps, dessen Aufgabe darin bestand, Sklaven und Sklavinnen auf Geheiß ihrer Besitzer und Besitzerinnen zu foltern (Glancy 2000, 67). Die Parabel scheint demnach durchaus Anhalt an der damaligen
Praxis zu haben, auch wenn einzelne Aspekte dem jüdischen Recht widersprechen. So
war Folter verboten (vgl. Jeremias 11 1998, 210), wurde aber offenbar in makkabäischer
und herodianischer Zeit praktiziert (Herzog 1994, 132). Schuldhaft kommt im jüdischen
Recht nicht vor (Reiser 1990, 264 Anm. 10), war im Orient jedoch so verbreitet, dass es
seit dem 3. Jh. v. Chr. Anstrengungen gab, die überhand nehmende Schuldhaft einzudämmen. So erließ Tiberius Alexander 68 n. Chr. ein Edikt, das Schuldhaft nur noch
bei Schulden gegenüber dem Fiskus gestattete (Ditt. Or. II Nr. 669 = 394; vgl. Luz 1997,
70 Anm. 42). Insofern ist gut denkbar, dass die Schuldhaft im hellenisierten Palästina
praktiziert wurde.
2. In der antik mediterranen Literatur taucht das Motiv von Sklaven und Sklavinnen, die
wegen z. T. geringer Vergehen gefoltert werden, immer wieder auf (z. B. Petron. 49). Der
Humor in Komödien von Plautus basiert oft darauf, dass es Sklavinnen und Sklaven
gelingt, angedrohter Folter zu entkommen (Segal 1968). Das antike Publikum sah in
den gewaltsamen Praktiken der Sklaverei also keinen grundsätzlichen Missstand, sondern
eher eine Quelle von Humor. In der griechisch-römischen Welt wurde die Sklaverei mit
ihrer physischen Gewalt offensichtlich als »Normalität« wahrgenommen.
3. Mt 18,23-25 zeichnet sich mit dem Motiv physischer Gewalt gegen Sklavinnen und
Sklaven nahtlos in die antike Literatur ein. Anders als in den Komödien von Plautus
gelingt es den matthäischen Sklaven und Sklavinnen aber nie, der angedrohten Gewalt
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
zu entkommen. Allerdings wird sie auch nie erzählt, sondern immer nur angekündigt.
Die Frage, wie sich die Parabel damit zur Praxis der Sklaverei stellt, wird in der Forschung
kontrovers diskutiert. Beavis sieht in den matthäischen Parabeln ein radikales sozialkritisches Potenzial: »The slave parables, then, do not directly attack the institution of slavery, but their tendency to dignify the role of the slave and to suggest that the slave owner
identify with his/her human property might have been perceived as radical social teaching by ancient audiences.« (1992, 54) Im Blick auf Mt 18,23-35 macht sie ihre These
u. a. daran fest, dass der 1. Sklave als »moral agent« charakterisiert werde, »capable of
making ethical choices over and above simple obedience to their masters … – a status
seldom accorded to slaves in other ancient literature« (54). Hier ist zum einen kritisch
anzufragen, ob Sklaven und Sklavinnen nicht auch in antiker Literatur als Figuren geschildert werden, die moralische – gute und schlechte – Entscheidungen fällen. Zum anderen ist zu prüfen, ob Glancy die matthäische Einbindung der Sklaverei nicht treffender
charakterisiert, wenn sie schreibt: »At least in Matthew, the parabolic representation of
slaves and slavery participates in and reinscribes the most basic and problematic elements
of the ancient ideology of slavery.« (2000, 71).
Das problematischste Element der antiken Sklavenideologie liegt darin, dass Sklavinnen und Sklaven – unabhängig davon, wie bedeutend die Aufgaben waren, die ihnen
anvertraut wurden – gefoltert werden konnten. Diesen Zug übernimmt Matthäus. Der
1. Sklave aus Mt 18,23-35 ist dafür ein eindrückliches Beispiel (vgl. auch Mt 13,24-30;
21,33-41; 22,1-10; 24,45-51; 25,14-30). Obwohl die Misshandlung des 2. Sklaven durch
den 1. in der Erzählung – entgegen den antiken Gepflogenheiten – negativ bewertet wird,
lässt sich daraus keine grundlegende Kritik an der Behandlung von Sklaven ableiten.
Denn die negative Bewertung ist ja nicht sozialkritisch begründet, sondern moralisch
(vgl. 18,32 f.). Der König selbst überantwortet den 1. Sklaven in der dritten Szene den
Folterknechten.
Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition)
Mt 18,23-35 verwendet mehrere Ausdrücke, die in der religiösen Rede zu neutestamentlicher Zeit oft in metaphorischen Zusammenhängen verwendet wurden. Besonders relevant sind natürlich Ausdrücke, die Matthäus selbst in dieser Weise benutzt. Es handelt
sich hierbei offenbar um »geprägtes Gut« bzw. »stehende Metaphern« (Wolter 1998,
126). Hier gilt: »Solange die Aufmerksamkeit in der Rezeption auf der Ebene der Bildisotopie bleibt, muss von dem semantischen Potential eines solchen polyvalenten Begriffs
nur ein sehr kleines Spektrum realisiert werden, doch die weiterreichenden Verbindungsmöglichkeiten werden … voraktiviert. Erhält der Rezipient Signale, einen veränderten
Verstehensprozess einzuleiten, gehören solche Begriffe in ihrem Potential ganz bestimmt
zu den Elementen, die als Eckpunkte einer Transformation (Indikatoren) heraustreten
können und die Möglichkeit einer Assoziierung der mit ihnen verknüpften semantischen
Räume eröffnen.« (Massa 2000, 327) Im Blick auf Mt 18,23-35 heißt das: Die Parabel
verwendet stehende Metaphern, die bei den RezipientInnen bestimmte Assoziationen
auslösen (können?/ sollen?). Vor diesem Hintergrund ist es ertragreich, nach kontextund traditionsbedingten Assoziationen zu fragen, die sich möglicherweise mit einzelnen
Begriffen der Parabel verbanden. Welche dieser Assoziationen in der jeweiligen Rezeption
453
Gt 08020 / p. 468 / 28.9.2007
Parabeln im Matthäusevangelium
tatsächlich aktualisiert wurden bzw. welche aus Sicht des Erzählers aktualisiert werden
sollten, entzieht sich allerdings letztlich unserer Kenntnis, so dass wir hier nur mit Wahrscheinlichkeiten operieren können.
Ich bespreche mögliche Assoziationen, indem ich mit denjenigen beginne, die sich
am besten absichern lassen.
Im Zusammenhang mit dem Verb ⁄ffflhmi (aphiēmi – »Schulden erlassen, Sünden, Verfehlungen vergeben«) hatten wir gesehen, dass die Leserin durch Mt 18,21 f. bereits darauf »vorbereitet« wird, das Verb auf der Binnenebene der Erzählung nicht nur im Sinne
des Erlasses von Geldschulden zu verstehen (was zunächst nahe liegt), sondern auch im
Sinne von Vergebung – eine Deutung, die durch 18,35 bestärkt wird. Das Verb lässt
sprachlich diese Doppeldeutigkeit zu, denn ⁄ffflhmi findet sich biblisch und griechisch
auch für den Erlass von Sünden (Bauer 6 1988, s. v. 2).
Damit werden auch die Geldschulden (tŠ d€neion to daneion, 18,27; tŠ ¤feilƒmenon to opheilomenon, 18,30.34 vgl. 18,28; Ÿ ¤feilffi hē opheilē, 18,32) transparent für
Sündenschulden bzw. moralische Verfehlungen. In der Vaterunser-Bitte »und erlass uns
unsere Schulden, wie auch wir denen vergeben, die uns etwas schuldig sind« (Mt 6,12)
taucht für »Schulden« derselbe griechische Begriff (¤feilffimata opheilēmata) auf wie in
Mt 18,28.30.32.34. Hier klingen deutlich religiöse Assoziationen an im Sinne einer »Sündenschuld«. Dieser religiöse Anklang wird durch die Verwendung des Verbs ¥leffw (eleeō
– Mitleid haben) in 18,33 (anders 18,29) verstärkt. Das Verb taucht bei Matthäus – mit
deutlich religiöser Konnotation – an zentraler Stelle auf, und zwar in der 5. Seligpreisung
(Mt 5,7). Daher liegt es nahe, in 18,23-35 den (aufgehobenen) Geldschulderlass auch im
Sinne eines (aufgehobenen) Sündenschulderlasses zu verstehen.
Wenn es in Mt 18,23-25 nicht nur um Geld-, sondern auch um Sündenschulden
geht, dann liegt es nahe, bei der in V. 23 angekündigten Abrechnung auch an das Gericht
zu denken. »Der Topos der ›Abrechnung‹ spielt in der frühjüdischen Tradition eine wichtige Rolle, sowohl in Bezug auf das Endgericht, als auch in Bezug auf die in der Gegenwart stattfindende ›Sündenabrechnung‹.« (Erlemann 1988, 80; vgl. die Gleichnisse in
ExR 31; Tanch emur 178a, zitiert auf den Seiten 87-89). Sunafflrw lƒgon (synairō logon
– abrechnen) legt auch sprachlich den Gedanken an das Gericht nahe (Reiser 1990, 118120.291 Anm. 64; Erlemann 1988, 157 f.). Dabei kann in 18,23 nicht das Endgericht
gemeint sein, da die Parabel ja erst anschließend die Reaktion des 1. Sklaven auf den
Schuldenerlass thematisiert.
Umstritten ist jedoch, ob mit der Bestrafung des 1. Sklaven in der dritten Szene auf
das Gericht (Reiser 1990, 268 Anm. 33) oder das Endgericht angespielt wird (Reid 2004,
252 f.). Für eine Anspielung auf das Endgericht spricht m. E. zweierlei:
a. die de facto ewige Strafe, die den 1. Sklaven trifft. Der Wortstamm basan- (basan-) bezeichnet in biblischem Kontext die endzeitlichen Höllenqualen (vgl. Apk 14,10 f.;
20,10; Lk 16,23.28; vgl. Mt 8,29; jüdische Belege: 2Makk 7,17; SapSal 3,1; 4Makk 9,9;
12,12; grHen 10,13; 22,11; 25,6; TestAbr 12,18; vgl. 4Esr 7,67; 9,12 f.). Mt 18,34 begrenzt
die Zeit der Folter zwar »bis er die ganze Schuld bezahlt habe«, aber in Anbetracht der
Höhe der Obligation und der Unmöglichkeit für den 1. Sklaven, aus dem Gefängnis heraus Abgaben einzutreiben, »kann diese Strafe kein Ende nehmen« (Harnisch 4 2001,
261).
b. die Parallelität von 18,23-35 mit anderen eschatologisch ausgerichteten Para454
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
beln, die ein ähnlich »gewaltsames Ende« kennen (Mt 25,31-46; 13,40.49; 21,33-46;
24,45-51; vgl. Reid 2004, 252 f.).
Wenn es in der dritten Szene auch um das (End-)Gericht geht, dann rückt die Figur des
Königs in die Nähe Gottes. Dieser Bezug lässt sich traditionsgeschichtlich absichern,
denn im damaligen Judentum ist der »König« eine durchaus geläufige Metapher für Gott
(z. B. Jes 6,5; 41,8-16; 43,1-15; Psalmen; Num 23,21; PsSal 2,32; 17,3; Erlemann 1988,
85 f. und Anm. 74). Bei Matthäus ist der König auch in der Parabel vom Hochzeitsmahl
(Mt 22,1-14) für Gott transparent (vgl. auch Lk 19,11-27). In Mt 18,23-35 impliziert die
Metapher »vor allem Distanz und Souveränität« (Erlemann 1988, 86).
Die Assoziation von »König« auf »Gott« wird durch das Verb proskunffw (proskyneō – Verehrung erweisen [durch Niederfallen]; V. 26) verstärkt, da es üblicherweise
vor Herrschern, aber auch vor Göttern vollzogen wurde (Luz 1997, 70 Anm. 45). Auch
makroqumffw (makrothymeō – Geduld haben, langmütig sein) ist ein Verb, das in der
Septuaginta ein Verhalten Gottes beschreibt, der seinen Zorn zurückhält (Ex 34,6; Ps
7,12 LXX; 85,15 LXX u. ö.).
Die sozialgeschichtlichen Hintergründe der Sklaverei haben wir bereits beleuchtet. Traditionsgeschichtlich ist zu ergänzen, dass do‰lo@ (doulos – Sklave) im Alten Testament und
Frühjudentum oft metaphorisch in religiösen Kontexten auftaucht (Münch 2004, 202),
und zwar als Bezeichnung für den demütigen Frommen (z. B. Ps 19,12.14), für ganz Israel (z. B. Jes 41,8 f.), für einzelne große Gestalten (z. B. Abraham: z. B. Ex 32,13 und
Mose: z. B. Ex 14,31) sowie für einzelne oder die Gesamtheit der Propheten (z. B. 1Kön
18,36).
In neutestamentlichen (vgl. u. a. Mt 24,45-51; 25,14-30; Mk 13,33-37) und frühjüdischen Parabeln kann do‰lo@ in Verbindung mit der Autoritätsfigur (z. B. dem König) »allgemein für den Menschen vor Gott stehen« (Münch 2004, 202; vgl. A. Weiser
1971, 24-27.28-41). Innerhalb des Matthäusevangeliums fällt auf, dass »die Knechtsgleichnisse des Matthäusevangeliums … in der Mehrheit nur an die Jünger gerichtet
[sind] … Die geprägte Metaphorik legt nahe, dass sie sich in den Knechten wieder finden.« (Münch 2004, 202) Da die Parabel im Kontext der so genannten Gemeinderede
steht, »zielt [18,23-35] auf den Umgang miteinander innerhalb der Gemeinde …«
(Münch 2004, 203). Das heißt: Die do‰loi (douloi – Sklaven) aus der Parabel sind letztlich transparent für die Mitglieder der matthäischen Gemeinde.
Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte)
Die ethische Dimension der Parabel, wie sie auch in der Anwendung 18,35 und in
18,21 f. thematisiert wird, ist auf den ersten Blick – auch für moderne Ohren – unproblematisch: Christen und Christinnen sollen einander (unbegrenzt oft) vergeben. Allerdings stellt sich die Frage, ob man wirklich alles vergeben können muss. Theologisch
gesprochen steht dahinter das Problem, wie sich die Forderung nach unbegrenztem Vergeben zur Gerechtigkeit Gottes verhält. Das in der Parabel angedeutete Gottesbild einschließlich der Frage, wie das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (Christ) aussieht, ist
anstößig. Denn wenn auch für diese Parabel gelten soll, dass das Verhältnis des Königs zu
455
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Parabeln im Matthäusevangelium
den Sklaven transparent ist für das Verhältnis Gottes zu den Menschen, und wenn gleichzeitig gilt, dass Matthäus die (für uns) höchst irritierende Praxis der Sklaverei unkritisch
als »Inventar« benutzt, dann begegnet uns Gott zumindest indirekt als »allmächtiger«
Sklavenbesitzer, während wir uns selbst in der Rolle rechtloser Sklavinnen und Sklaven
wieder finden. Die Problematik spitzt sich in der dritten Szene dramatisch zu, da der
Sklavenbesitzer hier seine Macht ausspielt, indem er den 1. Sklaven foltern lässt.
Deutungsspielräume ergeben sich bei der Parabel insbesondere durch
a. den Kontrast zwischen der 1. und der 3. Szene bzw. der Spannung zwischen Mt
18,21 f. und 18,34,
b. die Frage, mit wem sich die Leserin identifizieren soll (Leserlenkung),
c. die Frage, welche der im Zusammenhang mit dem geprägten Gut in Frage kommenden Assoziationen tatsächlich aktualisiert werden (sollen).
a. Die Parabel spannt – wie bereits gesehen – einen Kontrast auf zwischen der 1. und der
3. Szene (s. o.). Die divergierenden Auslegungen der Parabel ergeben sich zu einem wesentlichen Teil aus einer unterschiedlichen Gewichtung dieser beiden Komponenten.
Klassische allegorische Deutungen der Parabel (z. B. Johannes Chrysostomus
61,1 = PG 58, 589) legen das Hauptgewicht auf die zweite Hälfte der Parabel und ihre
Anwendung in 18,35. Die Pointe der Parabel lautet dann: Der himmlische Vater wird
euch so behandeln wie der König den Sklaven. Er wird euch also auch nicht vergeben,
wenn ihr nicht einander vergebt.
Bei dieser Deutung ersetzt die metaphorische Bedeutung einzelner Ausdrücke
weitgehend die unmittelbare, nicht-religiöse: Der König steht für Gott, die Sklaven für
Menschen. Die hohe Geldschuld des 1. Sklaven dem König gegenüber entspricht dann
der großen Sündenschuld des Menschen Gott gegenüber, die geringere Schuld des
2. Sklaven dem 1. Sklaven gegenüber ist zu verstehen als die Sündenschuld des Menschen
seinem Mitmenschen gegenüber. Diese Auslegung ist mit mehreren Schwierigkeiten behaftet:
– Sie »trifft den mt Skopus nicht, denn es ist ja letztendlich für ihn gerade die unvergebene Schuld gegenüber den Mitmenschen, die über das Gottesverhältnis des ›Großen‹ entscheidet« (Luz 1997, 72 Anm. 56).
– Die Erzählung verliert gegenüber der »Anwendung« an Eigengewicht. Es ist insofern
fraglich, ob die Deutung dem erzählerischen Gefälle der Parabel gerecht wird (s. o.).
– Gott wird selbst dem in 18,21 f. erhobenen ethischen Anspruch nicht gerecht. Der theologische Anstoß, den diese allegorische Deutung bietet, liegt also in ihrem Gottesbild:
Gott wird zum Vertreter einer »brutalen Pädagogik« (L. Schottroff 2005, 261), zum
richtenden Gott, der den Menschen nur eine Chance gibt.
Angesichts dieser Schwierigkeiten heben andere Auslegungen die besondere Bedeutung
der 1. Hälfte der Parabel hervor. Methodisch geschieht das auf unterschiedliche Weise.
Diachrone Ansätze argumentieren damit, dass die ursprüngliche Parabel mit V. 30
(Weder 4 1990, 211) bzw. mit V. 33 (de Boer 1988, 156 f.) endete. Diese Dekompositionsversuche implizieren meist eine Abwertung der »neueren« Zusätze – also der Vorstellungen von (göttlicher) Strafe und Gericht. Sie akzentuieren den Widerspruch zwischen der
»ursprünglichen« Parabel und ihrem jetzigen Schluss, insbesondere ihrer Anwendung
V. 35: »Movens der menschlichen Vergebung ist nicht mehr [wie in der Parabel] die zu456
Gt 08020 / p. 471 / 28.9.2007
Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
vorkommende Freisprechung durch Gott, sondern die dem menschlichen Versagen
nachfolgende Verurteilung. Nicht mehr das Verhalten Gottes bestimmt das Verhalten
des Menschen, sondern das Verhalten des Menschen bestimmt das Verhalten Gottes, sofern Gottes Urteil sich nach diesem richtet. Der drohende, ja wohl auch gesetzliche Ton
ist unüberhörbar geworden.« (Weder 4 1990, 218) Insofern müsse die »eigentliche« Aussage der Parabel unabhängig von 18,35 – oder sogar unabhängig von ihrer dritten Szene
– formuliert werden. Ungeachtet der Frage, wie plausibel diese Dekompositionsversuche
sind, bleibt hier zu klären, wie der vorliegende Text, der ja offensichtlich als Einheit gemeint ist, verstanden werden kann.
In synchroner Perspektive sind diejenigen Ansätze interessant, die auf inhaltlicher
Ebene versuchen, das Gewicht der 1. Parabelhälfte zu stärken.
Harnisch sieht in der überraschenden Vergebung durch den König das eigentliche
Movens der Parabel, die auf die »Enteignung des Wirklichen« (4 2001, 267) ziele: »So
gesehen, basiert der tragische Ausgang auf einem dramaturgischen Kunstgriff des Erzählers, der den Vorgang der zweiten Episode nur berichtet, um dem Hörer nahezulegen, ihn
als eine absurde Fortsetzung des überraschenden Verlaufs der ersten Szene zu entlarven.
Unter dieser Prämisse lenkte das Fiasko des Finales den Blick erst recht auf das Plus des
Anfangs und forderte die Phantasie des Hörers an, eine andere Nachgeschichte zu erfinden, die der wunderbaren Vorgeschichte entsprechen könnte.« (Harnisch 4 2001, 268).
Der zweiten Parabelhälfte wird also eine Kontrastfunktion zugeschrieben, die die Leserinnen implizit dazu auffordert, sich von dem Erzählten zu distanzieren und eine eigene
»passendere« Fortsetzung zu entwerfen. Bei dieser Auslegung fällt umso mehr auf, dass
der Verfasser von 18,35 gerade die dritte Szene als Anknüpfungspunkt für seine Mahnung wählt.
McBride versucht, die Spannung zwischen Mt 18,21 f. einerseits und 18,34 andererseits dadurch zu entschärfen, dass er die Parabel im Kontext von 18,15 f. interpretiert.
Jesus fordert hier seine Jünger dazu auf, einen sündigen Bruder direkt mit seinem Fehlverhalten zu konfrontieren. Falls der Bruder nicht einsichtig ist, sollen ein oder zwei weitere hinzugezogen werden. »Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde.«
(V. 17). Der matthäische Jesus empfiehlt also nicht, einen »hierarchischen« Weg einzuschlagen. Eben das tun aber die Mitknechte, die sehen, wie der 1. Sklave mit dem 2.
verfährt: Sie gehen direkt zum »Herrn«, ohne den 1. Sklaven zu konfrontieren. Insofern
sei die Parabel eine Illustration des Problems »of appealing to hierarchy« (1999, 111).
Das tragische Ende der Parabel, bei dem alle verlören – der 1. Sklave, der 2. Sklave und
der König –, mache deutlich, wie fatal es ist, die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber
zu scheuen und sich direkt an den »Vorgesetzten« zu wenden: »… the appeal to hierarchy
results in a final judgment that has no higher court of appeal, whereas Matthew’s formula
for handling conflict deliberately has a graded approach to it, with three stages of appeal:
first the individual who is offended, then by a group of two or three, and finally by the
community. That approach is not used, and the results are disastrous.« (120) Diese Deutung ist reizvoll, auch wenn sie die Schwierigkeit hat, dass die Parabel eben nicht direkt an
18,15-17 anschließt, sondern an 18,21 f.
b. Wenn gilt, dass in der Konstellation König – Sklave/ Sklavin das Verhältnis zwischen
Gott und Mensch anklingt, dann bleibt im Blick auf 18,23-35 die Frage, ob sich der
Leser mit dem 1. oder dem 2. Sklaven identifizieren soll. Wolter sieht im 1. Sklaven die
457
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Parabeln im Matthäusevangelium
Figur, in der sich der intendierte Hörer insofern wieder finden soll, als er »nun vor der
Situation steht, das, was er im Großen selbst erfahren hat, im Kleinen an seine Mitmenschen weiterzugeben« (1998, 123). Die Problematik der 3. Szene bleibt bei dieser Auslegung voll bestehen. Luz plädiert deshalb für den 2. Sklaven als Identifikationsfigur. Die
Schuld des 1. Sklaven werde mit einer astronomischen Summe beziffert, um sicher zu
stellen, dass sich die Hörerin der Parabel nicht mit dieser Figur identifiziert (1997, 69).
Durch diese Leserlenkung werde verhindert, dass sich die Rezipienten an der Reaktion
des Königs in der dritten Szene stören: »Ich rechne also nicht damit, dass die Leser/
innen verunsichert sind, weil mit dem anscheinenden Wortbruch des Königs die Ordnung zusammenbricht [gegen Scott 1989, 277 f.]. Die ›Ordnung‹ bricht nur für den
›Großen‹ zusammen. Die Leser/innen sind darüber nur befremdet, wenn sie sich in irgendeiner Weise mit dem ›Großen‹ identifiziert haben. Gerade das hat aber die Erzählstrategie der Parabel verhindert.« (72 Anm. 61). Die dritte Szene, das Gericht, betrifft
demnach nur »die Anderen«. »Das Endgericht, das am Schluss der Parabel die Assoziationen der Hörer/innen bestimmt, funktioniert also nicht als unverständliche Drohung, sondern es wird begreiflich, gerade weil das Verhalten des ›Großen‹ unbegreiflich
bleibt.« (73)
Wenn das zutrifft, bleibt festzuhalten, dass an diesem Punkt eine Diskrepanz zwischen zeitgenössischer und moderner Rezeptionshaltung zu verzeichnen ist. Denn die
genannten Geldsummen haben für moderne Rezipientinnen kaum mehr diese lenkende
Kraft, allein schon deshalb, weil die Größenordnungen nicht unbedingt bekannt sein
dürften. Die Vergebungsthematik in Verbindung mit der überraschenden, unverdienten
Geste des Königs kann heutige (protestantische) Leserinnen dazu animieren, sich spontan mit dem 1. Sklaven zu identifizieren, dem seine Schuld »aus Gnade« vergeben wird
(s. u.). Insofern empfinden moderne Rezipienten die 3. Szene vielleicht als deutlich problematischer als ihre urchristlichen Vorgänger.
c. Über die in dieser Parabel anhand des geprägten Gutes tatsächlich aktualisierten Assoziationen wird unterschiedlich geurteilt. Besonders pointiert ist in diesem Zusammenhang die Position von L. Schottroff, die in dem König keine Repräsentation Gottes sieht.
Sie bezeichnet Mt 18,23-35 als »antithetisches Gottesgleichnis« (2005, 265). Das o˜tw@
(houtōs – so) in 18,35 beinhalte »eine Aufforderung zu vergleichen, wo Parallelen und
Unterschiede zwischen Gleichnis und Anwendung sind. Parallel soll die Notwendigkeit
zwischenmenschlicher Vergebung gesetzt werden. … Zugleich veranlasst es die Hörenden, Gottes Anderssein zu bedenken« (265 f.). Der König dürfe als »Menschenkönig«
(18,23) also keinesfalls mit Gott gleichgesetzt werden: »Vergebung zwischen Menschen
ist das klare Ziel der abschließenden Anwendung. Offensichtlich ist es dem Text, den
Erzählenden damals jedoch selbstverständlich, dass niemand Gott in diese von mir brutale Pädagogik genannte Analogie bringt, die die heute übliche Deutung ist«
(261). L. Schottroff spricht sich also vehement dagegen aus, dass der König an dieser
Stelle transparent für Gott sei. V. 35 bringt nach ihrer Auslegung gegenüber 18,21 f.
nichts Neues. Die Anwendung wird auch deutlich von V. 34 abgehoben: »V. 35 will heilendes Handeln unter Menschen eröffnen. V. 34 dagegen skizziert ein aussichtsloses Festschreiben von Gewalt in dem System von Steuern, Schulden und Schuldenerlässen.«
(265). Die Parabel handelt – wie andere matthäische Gleichnisse auch (Mt 21,33-46;
22,1-14; 24,45-51; 25,14-30) – nicht von der »allegorische[n] Darstellung der Brutalität
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Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses Mt 18,23-35
Gottes im Gericht«, sondern »die Gleichnisse reden vom Unrecht der Gewalt in der Gesellschaft, dem Gott widerspricht« (264 Anm. 17).
Ich bin mir nicht sicher, ob sich diese Kontrastierung von Gott und König angesichts der sprachlichen Gestalt der Parabel, die in mehreren stehenden Metaphern die
Assoziation des Königs mit Gott unterstützt, durchhalten lässt (s. o.). Grundsätzlich
müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass uns in den Parabeln – wie auch insgesamt
im Alten und Neuen Testament – anstößige Gottesbilder begegnen. Schlüssiger scheint
mir die These von B. Reid, nach der Gottes eschatologisches Gericht im Neuen Testament
– und besonders bei Matthäus – mit Gewaltmetaphern beschrieben wird, die heute in
Frage zu stellen sind. »One could say that the violent language and imagery in the Matthean parables are not literal descriptions of divine eschatological violence but metaphors that make vivid the extreme seriousness of the choice to imitate God’s graciousness
or not … A question that contemporary Christian practitioners of nonviolence pose is,
What nonviolent metaphors might be used today to express this reality?« (2004, 254).
Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte
Mt 18,23-35 ist im Neuen Testament nicht parallel überliefert.
Die theologische Grundfrage, die in der Parabel anklingt und von späteren kirchlichen
Auslegern diskutiert wurde, lautet: »Kann Gott, der den Menschen alle Sünden vergeben
hat, diese Gnadentat wieder zurücknehmen?« (Luz 1997, 76). Gespräche mit jungen Erwachsenen über diese Parabel haben gezeigt, dass sie genau an diesem Punkt vehement
Anstoß nehmen: Der König habe die Schuld erlassen, und zwar bedingungslos. Deshalb
dürfe er dies auch nicht zurücknehmen. Hier urteilt Matthäus offensichtlich anders. Der
Gedanke einer bedingungslosen, grenzenlosen Vergebung fügt sich gut in unser (vermeintlich) protestantisches Gottesbild: Wenn wir uns die Vergebung nicht verdienen
können (vgl. Luther [Mühlhaupt 4 1973, 640]; Predigt von 1528), können wir sie auch
nicht verwirken. Luther konnte zu Mt 18,23-35 aber durchaus formulieren: »wenn einer
die empfangene Gnade missbraucht …, dann geht’s in die ewige Verdammnis« ([Mühlhaupt 4 1973, 628]; Predigt von 1524). Nur so bleibt die Freiheit Gottes bewahrt.
Trotzdem bleibt das Gottesbild aus Mt 18,23-35 für uns anstößig, auch deshalb,
weil es so schlecht zur jesuanischen Forderung der Feindesliebe zu passen scheint. Reid
diskutiert daher, ob Matthäus in 18,23-35 Jünger im Blick habe, »who operate at the
stage of moral development where they are motivated by reward and punishment«
(2004, 251). Die Bergpredigt hingegen mit ihrer Aufforderung zur Feindesliebe sei an
reifere Nachfolgerinnen Christi gerichtet. Reid lehnt diese These m. E. zu Recht mit der
Begründung ab, dass nicht zu erkennen sei, »what in the Gospel marks these teachings as
higher and lower« (251). Was aus exegetischer Sicht abzulehnen ist, bleibt gleichwohl in
didaktischer Sicht interessant. Kinder beurteilen das Verhalten des Königs meist durchaus als »gerecht«. Auch bei den Eltern sei irgendwann einmal Schluss, wenn Kinder nicht
gehorchen. Was hier auffällt, ist, dass der eschatologische, endgerichtliche Horizont, der
die eigentliche »Tragik« ausmacht, nicht in den Blick kommt.
Ähnlich verhält es sich bei der »Neufassung« der Parabel durch L. Tolstoi (1990
[1908]). »Dieses ›Gericht‹ ist aber etwas Vor-Letztes. Die Feuerbrunst führt den Bauern
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Parabeln im Matthäusevangelium
Iwan dazu, zu seinem Vater zu sagen: ›Vergib mir, ich bin schuldig vor dir und vor Gott!‹
Es führt zu einem Neuanfang. Bei Matthäus scheint es das Ende zu sein.« (Luz 1997, 78
Anm. 91)
Hanna Roose
Literatur zum Weiterlesen
W. Carter, Resisting and Imitating the Empire. Imperial Paradigms in two Matthean Parables,
Interpretation 56 (2002), 260-272.
M. C. de Boer, Ten Thousand Talents? Matthew’s Interpretation and Redaction of the Parable of
the Unforgiving Servant (Matt 18,23-35), CBQ 50 (1988), 214-232.
J. A. Glancy, Slaves and Slavery in the Matthean Parables, JBL 119 (2000), 67-90.
W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 4 2001, 256-275.
W. R. Herzog II, What If the Messiah Came and Nothing Changed? The Parable of the Unmerciful Servant (Matt. 18:23-35), in: ders., Parables as Subversive Speech. Jesus as Pedagogue
of the Oppressed, Louisville, KY 1994, 131-149.
M. Leutzsch, Verschuldung und Überschuldung, Schuldenerlass und Sündenvergebung. Zum
Verständnis des Gleichnisses Mt 18,23-35, in: M. Crüsemann/W. Schottroff (Hg.), Schuld
und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 104131.
U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3, EKK I/3, Neukirchen-Vluyn 1997, 64-78.
B. Reid, Violent Endings in Matthew’s Parables and Christian Nonviolence, CBQ 66 (2004), 237255.
M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu
und ihrem frühjüdischen Hintergrund, NTA 23, Münster 1990, 262-269.
L. Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 257-266.
B. Weber, Alltagswelt und Gottesreich. Überlegungen zum Verstehenshintergrund des Gleichnisses vom »Schalksknecht« (Matthäus 18,23-34), BZ 37 (1993) 161-182.
B. Weber, Vergeltung oder Vergebung!? Matthäus 18,21-35 auf dem Hintergrund des »Erlassjahres«, ThZ 50 (1994) 124-151.
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