Bibelarbeit zum Hohelied 4,1

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Bibelarbeit zum Hohelied 4,1
Bibelarbeit zum Hohelied 4,1
"Schön bist Du, meine Freundin, schön bist du!"
Einführung
Ein Stück Liebespoesie in der Bibel, im Alten Testament? Das Hohelied ist häufig wenig bekannt, fristet ein Schattendasein unter den Büchern der Bibel. Liebe und Erotik hatten es
schwer in der biblischen und kirchlichen Tradition. Schnell wurde das Hohelied entschärft,
metaphorisch oder allegorisch verstanden, nicht aber als Sammlung von Liebesliedern, die die
unbefangene Liebe zwischen Mann und Frau besingen, weder an Zweck, Institution oder
Form gebunden, nicht in rechtliche Bahnen gelenkt, nicht auf Kinder sinnend, sondern einander zugewandt im Liebesspiel der Verliebten, das gerade die Schönheit des Körpers vor der
Schönheit der Seele betont. Liebe um der Liebe willen, das ist die Botschaft des Hohenliedes.
Bibeltext: Hld 4,1-5,1
1 Du bist so schön, meine Freundin!
Du bist so schön!
Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier.
Dein Haar ist wie die Herde der Ziegen,
die vom Gebirge Gileads herabsprangen.
2 Deine Zähne sind wie die Herde geschorener Schafe,
die von der Schwemme heraufstiegen.
Sie alle werfen Zwillinge,
und keines von ihnen ist ohne Junge.
3 Wie ein Karmesinband sind deine Lippen,
und lieblich ist dein Mund.
Wie die Scheibe des Granatapfels ist deine Schläfe
hinter deinem Schleier.
4 Wie der Turm Davids ist dein Hals,
Schicht um Schicht gebaut.
Tausend Schilde sind daran aufgehängt,
alle Köcher der Helden.
5 Deine beiden Brüste sind wie zwei Kitze,
Zwillinge einer Gazelle,
die in den Lotosblumen weiden.
6 Bis der Tagwind weht
und die Schatten fliehen,
will ich zum Myrrhenberg gehen
und zum Weihrauchhügel.
7 Alles an dir ist schön, meine Freundin,
und kein Makel ist an dir.
8 Mit mir vom Libanon, Braut,
mit mir vom Libanon wirst du kommen,
herabsteigen vom Gipfel des Amana,
vom Gipfel des Senir und des Chermon,
von den Verstecken der Löwen,
von den Bergen der Panther.
9 Du hast mich betört, meine Schwester, Braut,
mit einem einzigen deiner Blicke hast du mich betört,
mit einer einzigen Kette von deinem Halsschmuck.
10 Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, Braut,
wie viel köstlicher als Wein ist deine Liebe und der Duft deiner Salböle als alle Balsamdüfte.
11 Honigseim träufelt von deinen Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge,
und der Duft deiner Gewänder ist der Duft des Libanon.
12 Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut,
ein verschlossener Brunnen, ein versiegter Quell.
13 Aus dir gehen hervor ein Hain von Granatbäumen mit köstlichen Früchten,
Hennasträucher samt Nardenkräutern,
14 Narde und Safran,
Gewürzrohr und Zimt
Samt allen Weihrauchhölzern,
Myrrhe und Aloe
samt allen besten Balsamsträuchern,
15 ein Gartenquell, ein Brunnen lebendigen Wassers,
Bäche vom Libanon.
16 Nordwind, wach auf, und Südwind komm!
Weh durch meinen Garten! Seine Balsamdüfte sollen verströmen!
In seinen Garten komme mein Geliebter
und esse seine köstlichen Früchte.
5,1 In meinen Garten kam ich, meine Schwester Braut, pflückte meine Myrrhe samt meinem
Balsam.
Ich aß meine Wabe samt meinem Honig, trank meinen Wein samt meiner Milch.
Esst, ihr Freunde, trinkt und seid trunken von Liebe!
(Zürcher Übersetzung)
Hintergrund
Das Hohelied trägt im Hebräischen einen Namen, der ihm einen außergewöhnlichen Stellenwert beimisst: Shir ha shirim ist der Name, ein Superlativ, der das Hohelied als das Lied der
Lieder beschreibt. Das schönste Lied, das beste, das die Tradition König Salomo zuschreibt –
möglicherweise ein Hinweis dafür, dass die Lieder am Hof und in weisheitlichen Kreisen tradiert wurden. Die Übersetzung, die im Deutschen geläufig ist – Hoheslied – geht auf Martin
Luther zurück.
Wer heute das Hohelied aufschlägt, stößt auf 8 Kapitel, die sich jedoch einer sekundären Aufteilung verdanken. Zunächst war es eine Sammlung von Liebesliedern ganz unterschiedlichen
Alters.
Das Lied ist geprägt von einer Fülle von Metaphern und poetischen Redeformen, die nicht unserer Alltagswelt entstammen und so meist einer Erklärung bedürfen. Im Mittelpunkt der Lieder stehen Glück, Sehnsucht und Liebesgemeinschaft eines jungen Mannes und einer jungen
Frau. Die verbindende Linie aller Kapitel ist das Lob der Liebe. Den sinnenhaften Beschreibungen und Gesängen des Hohenliedes liegen vermutlich Erfahrungen und Stimmungen Liebender zugrunde, die zunächst in Volksliedern erzählt wurden. Manche Lieder zeichnet ein
scherzhafter Ton aus, auffällig ist die Vertrautheit mit Alltagsdingen. Es ist gut vorstellbar,
dass die Lieder ursprünglich beim Umtrunk und beim Tanz gelesen wurden.
Die einst mündliche Literatur des Volksliedes gewann allmählich schriftliche Gestalt in der
Kunstdichtung. Eine solche Liebeslyrik, die sich durch ein hohes sprachliches Niveau auszeichnet, ist im Alten Orient nicht singulär. Bedeutsam ist die Liebeslyrik aus Mesopotamien.
Vierzig sinnlich-poetische Liebeslieder umfasst der Inanna-Dumuzi-Zyklus (ca. 2500 v. Chr.
entstanden). Protagonisten dieser Liebeslyrik sind der Hirte Dumuzi und die Himmelskönigin
Inanna, Tochter der Mondgottheiten Nanna und Ningal. Die aktive Rolle übernimmt hier stärker die Frau. Sie fasst ihr Verlangen und ihre Wünsche in Worte, ihr Liebhaber antwortet und
reagiert. Zentrum und Höhepunkt ist die "Heilige Hochzeit", evtl. ein Urbild für die kultische
"Heilige Hochzeit" der sumeischen Könige mit einer weiblichen Person. Dies ist umstritten.
Eine Idee jedoch tritt hervor: die Erfahrung der Macht der Sexualität als religiöse Macht. Der
Schritt zur Frage nach der religiösen Bedeutung menschlicher Sexualität war nicht mehr weit.
Die Liebe zwischen den beiden Liebenden bzw. Brautleuten wird mit Bildern aus dem täglichen Leben beschrieben. Viele sind doppeldeutig. Neben der alltäglichen Bedeutung, nach der
Tiere, Pflanzen oder Naturphänomene im Fokus sind, gibt es eine sexuelle Konnotation:
"Mein Garten mit den blühenden Apfelbäumen, wie anmutig sind deine Reize, mein Garten
mit den Mes-Bäumen (Zedern), deine Reize sind wonnevoll wie ihr Bier! wie ihr Mund, so
süß ist ihre Scham; wie wonnevoll ist ihr Bier!"
Besonders bekannt ist darüber hinaus die Liebeslyrik aus dem Alten Ägypten. Gut dreißig
Liebesgedichte sind überliefert. Alle stammen aus der 19./20. Dynastie (1300-1150 v. Chr.).
Anders als in der mesopotamischen Liebesdichtung hat die ägyptische Dichtung profanen
Charakter. Die Liebenden sind Menschen, keine Götter. Es sind allerdings auch keine Lieder,
die im Duett der Liebenden gesungen werden könnten. Es sind keine Preis- oder Werbungslieder. Vielmehr geht es auch um vergebliche Liebe, nicht zuletzt wegen gesellschaftlicher
Schranken, und um das Scheitern der Liebe. Vermutlich sind die Liebeslieder Künstlervorlagen, die von oder für Musiker geschrieben wurden und der Unterhaltung bei Banketten
dienten. Typisch für die altägyptische Liebesdichtung sind Beschreibungslieder, in denen sich
die Liebenden mit einer Reihe von Metaphern und Vergleichen besingen: "Einzig ist meine
Schwester, sie ist ohnegleichen: Anmutiger als alle anderen Frauen, schau sie an, sie gleicht
Sothis, die zu Beginn eines guten Jahres aufgeht: glänzend, kostbar, die Haut so weiß, hinreißend der Blick aus ihren Augen…Wenn sie vorübergeht, drehen sich alle Männer nach ihr
um. Glücklich, wer sie umarmen darf, er ist der Erste unter allen Liebhabern! Wenn sie aus
dem Haus tritt, geht sie auf wie die Eine!" Auch die Tücken der Liebe werden beschrieben,
die Liebesfalle: "Die klagende Stimme der Wildganz ertönt, der Köder hält sie gefangen, so
hält mich auch deine Liebe fest, ich kann mich nicht lösen. Ich werde meine Netze abnehmen,
aber was soll ich meiner Mutter sagen, zu der ich jeden Tag mit Beute beladen heimkehre?
Heute habe ich keine Falle aufgestellt. Deine Liebe hat mich gefangen." Als typisches Merkmal der ägyptischen Liebeslyrik gilt die Innenschau. Die Liebenden versuchen, ihre Gemütswelt zum Ausdruck zu bringen. Dabei entsteht jedoch kein wechselseitiger Dialog, vielmehr
sind die ägyptischen Liebeslieder Monologe – ein grundsätzliches Unterscheidungskriterium
zum biblischen Hohenlied.
Wo steht die biblische Liebeslyrik im Umfeld zwischen mesopotamischer und ägyptischer
Dichtung? Stehen sie dem kultischen Ritual näher oder der liebenden Sehnsucht? In früherer
Literatur findet man durchaus Einordnungen, die das biblische Hohelied vom Ritus der "Heiligen Hochzeit" zu erklären suchen. Zu beachten ist aber eine hohe zeitliche Distanz – das Hohelied ist gut 1000 Jahre jünger. Gestärkt wurde die These durch die Kenntnis, dass noch im
8./7. Jh. v. Chr. im Norden und Süden Mesopotamiens ein Ritual der "Heiligen Hochzeit" gefeiert wurde. Fragmente aus der Liebeslyrik der Zeit und Rollsiegel geben Hinweise darauf.
Das Hohelied zeigt zudem eine große Nähe zu diesem heiligen Ritual, wenn die Frau den Geliebten bei den Herden sucht oder sich die Liebenden im Garten treffen. Der Geliebte wird im
Hohenlied als Götterfigur aus Lapislazuli, Gold und Alabaster geschildert. Die Liebe ist süß
wie Wein und Honig. All das könnten Hinweise auf eine "Heilige Hochzeit" sein. Das Hohelied kennt jedoch kein Ritual. Zudem soll die Liebe das Leben der Liebenden bereichern und
nicht die Fruchtbarkeit der Felder und Herden. Eine größere Nähe zeigen die biblischen Liebeslieder zu den ägyptischen. Diese sind keine kultischen, sondern literarische Kompositionen. Im Zentrum steht die Sehnsucht des Liebenden nach dem Geliebten, die Faszination vom
Geliebten, die Schwierigkeit ihm zu begegnen und ungestört mit ihm zusammen zu sein. Dies
sind Elemente, die auch die biblische Liebeslyrik aufweist. Das Lotus-Motiv ist für beide vorherrschend. Der symbolische Akzent liegt auf der Lebenskraft, die von der Lotus-Blüte aus-
geht. Sie belebt, erfrischt und verjüngt. Lotusblüten auf Skarabäen und hebräischen Siegeln
bedeuten Regeneration. Das Hohelied nimmt jedoch nicht nur ägyptische Motive auf, sondern
auch zahlreiche Anklänge aus vorderasiatischer Dichtung: Im Hohenlied beschwören die Liebenden die "Töchter Jerusalems", ihre Liebe nicht zu stören. Der Schwur ergeht bei den Gazellen und Hindinnen der Wüste. Erstaunlich, wo sonst nur bei Jahwe geschworen werden
darf. Altsyrische Siegel jedoch zeigen, wie Schafe, Ziegen, Gazellen und Hirsche in enger
Verbindung mit Göttinnen wie Astarte stehen. Bei diesen Tieren zu schwören, heißt bei der
Göttin zu schwören. Hier zeigt sich die Kraft der Tradition, die dem Gottesbild der Zeit nicht
im Weg zu stehen scheint. Wir kennen etwas Ähnliches im Blick auf die Venus. Die Carmina
Burana zeugen davon. Werden in Hld 4,6 die Brüste der Geliebten mit Gazellenzwillingen
verglichen, die unter Lotusblüten weiden, ist der formfixierte Europäer auf eine Erklärungshilfe aus dem Orient angewiesen: Der Hebräer denkt bei Brüsten gerade nicht an die Form,
sondern an Segen und Lebenssteigerung (vgl. Gen 49,25). So sind die Gazelle, die die wasserlose Wüste überlebt, und die Lotusblüte, die aus den abgründigen Chaoswassern aufblüht,
Symbole für die Liebe, die dem Tod Widerstand leistet. Lotus und Gazelle werden auf Amuletten gerne kombiniert. Gemeinsam stehen sie für die unüberwindbare Kraft des Lebens.
Lesehinweise
Hld 4 gehört zu den bekannten und bedeutsamen Beschreibungs – und Bewunderungsliedern
des Hohenliedes. Im Mittelpunkt stehen die Bewunderungsrufe eines jungen Mannes auf seine Geliebte: "Du bist so schön, meine Freundin!" (Hld 4,1) Den Abschluss bildet der Aufruf
zum Lebens- und Liebesgenuss (Hld 5,1).
Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier
Die Vv. 1-7 besingen die Schönheit der Frau. Die Augen der Geliebten werden mit Tauben
verglichen (Hld 4,1; vgl. auch 5,12). Sind hier die Augen der Tauben gemeint? Der Vergleich
fällt schwer: Die Augen der Tauben sind nicht besonders ausdrucksstark. Zudem wird an anderen Stellen im Hohenlied bei Tiermetaphern ein Körperteil meist mit einem ganzen Tier
verglichen (Hld 4,5; 6,5.11). Ein Blick in die prophetische und die neutestamtliche Literatur
verweist auf weitere metaphorische Aspekte der Tauben: Arglosigkeit, Unschuld und Einfalt
(Hos 7,11; Mt 10,16). Dies ist jedoch für Hld 4,1 nicht die Vorlage. Ist es die Farbe der Augen der Tauben, graublau? Waren aber überhaupt graublaue Augen im Orient verbreitet?
Vielleicht ist der Umriss des Auges gemeint? Liegt hier eine Vergleichsmöglichkeit zwischen
Mensch und Taube? Ist der Umriss des Taubenauges besonders schön? Die Taube gilt als das
Attributtier verschiedener Liebesgöttinnen. Vielleicht führt zudem die Erkenntnis weiter, dass
gar nicht die Form des Auges gemeint ist, sondern vielmehr eine übertragene Bedeutung: Das
Auge meint auch das Glänzen und Funkeln. Und die Taube wird in der biblischen Überlieferung primär in ihrer Botenfunktion genannt (Ps 56,1; 68,12ff., Gen 8,8-12; Mt 3,16). Dabei
steht gerade nicht die Brieftaubenfunktion im Vordergrund, d.h. sie bringt Nachrichten nicht
zurück, sondern dorthin, wo sie erscheint. Als Taube der Liebesgöttin bringt sie so meist die
Botschaft der Liebe und Zärtlichkeit. Eine Fülle ikonographischen Materials zeichnet dies
nach. Auch in Israel ist das Motiv nicht unbekannt. Die Taube als Botin der Liebesgöttin und
der Liebe – für die Metapher heißt das: Deine Blicke sind Liebesbotinnen.
Dein Haar ist wie die Herde der Ziegen, die vom Gebirge Gileads herabsprangen
Wo liegt hier der Vergleichspunkt? Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Menschen- und Ziegenhaaren? Ziegen im alten Israel sind meist schwarz. Kommt es auf die Farbe an – vielleicht
im Kontrast zu den weißen Zähnen und den roten Lippen? Vielleicht ist es langes, frei herabhängendes Haar? Stehen Haare für eine große Zahl? Oder für Kraft und Vitalität oder Erotik?
Was lässt sich mit der Ziegenherde verbinden, die vom Gileadgebirge herabstürmt? Gilead ist
in Richter- und Königszeit ein hart umkämpftes Gebiet. Es ist geprägt durch ausgedehnte
Wälder und großen Herdenreichtum. Es ist so ein Gegenbild der Zivilisation, damit stärker
der Bereich der Dämonen. Die Metapher vereint vieles: vitale Kraft und Lebendigkeit, Wildheit und Gefährlichkeit.
Wie der Turm Davids ist dein Hals
Der Metaphernzusatz "Tausend Schilde sind daran aufgehängt, aller Köcher der Helden" verweist auf die Unerreichbarkeit und die Unzugänglichkeit. Stolz schwingt mit, auch Unnahbarkeit – ein Motiv, das in der biblischen Liebesdichtung singulär ist. Auch hier steht nicht die
Form im Vordergrund, sondern die symbolische Bedeutung: der Stolz der Geliebten, die nur
schwer zu erobern ist – ein Thema, das das ganze Hohelied durchzieht.
Deine beiden Brüste sind wie Zwillinge einer Gazelle, die in den Lotusblumen weiden
Auch hier gilt: Das Denkbild steht vor dem Sehbild. Die ägyptisch-palästinische Kunst hat
gern die Gazelle mit der Lotusblume kombiniert. Vom 16.-6. Jh. v. Chr. lassen sich anschauliche Beispiele auf Prunkgefäßen oder auch als Grabmalerei finden. Die Kombination ist ausdrucksstark, taucht doch die Lotusblume als Lebenswunder aus dem dunklen Urwasser auf.
Gazellen verkörpern das chaotische Leben in der Wüste. So stehen beide zusammen für das
Leben schlechthin.
Will ich zum Myrrhenberg gehen und zum Weihrauchhügel
Hier sind für den Alten Orient klassische Umschreibungen der liebenden Vereinigung genannt.
Der Garten der Liebe
In den Vv. 12-5,1 ist das vorherrschende Bild für die Braut der paradiesische Garten und ein
Quell mit lebendigem Wasser – ein gut bewässerter Garten mit duftenden Kräutern, blühenden Sträuchern und Bäumen. Königliche Paläste hatten solche Gärten, aber auch der Tempel
als Haus Gottes. Solche Gärten wurden gern zu Metaphern für die Liebe. Der Garten ist der
Ort der Liebenden, die Geliebte wird als Garten bezeichnet. Eine Quelle im Garten ist eine
Besonderheit, die längst nicht jeder Garten aufweist. Eine Quelle musste stets besonders gesichert werden. Wenn vom "verschlossenen Garten" und vom "versiegelten Quell" die Rede ist,
ist so von der Unzugänglichkeit der Geliebten die Rede. Es dürfte weniger ein Keuschheitsideal gemeint sein. Die Vv.13f. beschreiben die paradiesischen Eigenschaften des Gartens.
Außer dem Granatapfel werden in V.14 Pflanzen und Bäume genannt, die in Palästina gar
nicht vorkommen: Narde, Gilbwurz, Gewürzrohr und Aloe kommen aus Indien, Zimt aus
Ceylon. So wird hier ein Phantasiegarten beschrieben, der kostbare exotische Aromata aufweist. Die Düfte betören den Geruchssinn des Geliebten. V.15 kehrt zum Quellmotiv zurück.
Lebendiges Wasser kommt aus der Quelle. In seiner Frische, Reinheit und Fülle wird es mit
dem Wasser verglichen, das vom Libanon strömt. Die Geliebte ist ein duftender Garten, von
dem Ströme der Wonne und Lust ihren Weg nehmen und die ihn erfrischen und heilen.
V.16 ist ein indirektes Gespräch zwischen dem Geliebten und der Geliebten. Der Mann
spricht seine Geliebte nicht direkt an. Vielmehr beschwört er die Winde. Sie sollen die Düfte
entfalten und für ihn verströmen lassen, dass er von den Früchten essen kann. Jetzt fordert die
Frau den Geliebten auf, in ihren Garten zu kommen und die Früchte zu genießen. Der Höhepunkt ist erreicht. "Kommen und essen" sind Metaphern für Liebe und Geschlechtsverkehr.
Das Lied endet in diesem Kapitel mit der Vereinigung von Mann und Frau.
Bibelarbeit
Den Bibeltext lesen: Hld 4,1-51,
Über den Bibeltext sprechen:
• Leiblichkeit und Sexualität sind bis heute keine unverfänglichen Themen. Wie kommt
es dazu? Worin liegen die Chancen? Ein kurzer Rückblick in Geschichte und Tradition ist hier weiterführend; lohnend ist auch ein Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität. Eine kritische Diskussion bietet eine ideale Hinführung zum Thema.
• Das Hohelied ist voller Bilder und Metaphern. Wie lässt sich hierzu ein Zugang finden? Was wollen sie vermitteln? Aus welcher Zeit und aus welchem kulturellen Umfeld sprechen sie? Kennen wir vergleichbare Dichtung aus anderer Zeit?
• Das Hohelied ist kein liturgischer Text, wohl aber ein kanonischer – worin liegen
Chancen und Herausforderungen für den Leser?
Weiterführende Literatur:
Bühlmann, W., Das Hohelied, NSK-AT 15, Stuttgart 1997
Fox, M.V., The Song of Songs and the Ancient Egyptian Love Songs, Madison 1985
Frevel, Ch., Liebe und Eros zur Zeit der Bibel, WuB 21 (2001)
Haag, H./ Elliger, K., Zur Liebe befreit. Sexualität in der Bibel und heute, Düsseldorf 21999
Haag, H., Du hast mich verzaubert. Liebe und Geschlechtlichkeit in der Bibel, Düsseldorf
6
2000
Haas, V., Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München 1999
Keel, O., Das Hohelied, ZB.AT 18, Zürich 21992
Nissinen, M., Homoeroticism in the Biblical World A Historical Perspective, Augsburg 1998
Schlögl, H. A., Gärten der Liebe. Lyrik aus der Zeit der Pharaonen, Düsseldorf 2000
Schott, S., Altägyptische Liebeslieder mit Märchen und Liebesgeschichten, Darmstadt 1970
Sefati, Y., Love Songs in Sumerian Literature. Critical Edition of the Dumuzi-Inanna-Songs,
Ramat-Gan 1998
Spurgeon, Ch. H., Vom Geheimnis der schönsten Liebe. Predigten über das Hohelied Salomos, Lahr 1992
Dr. Esther Brünenberg-Bußwolder
Katholisches Bibelwerk im
Bistum Münster (www.bibelwerk.de)
in Kooperation mit
kirchensite – online mit dem Bistum Münster
(www.kirchensite.de)
Fotos: Uta Herbert, www.pixelio.de,
Anselm Thissen, Juli 2010
Weitere Bibelarbeiten im Internet:
www.kirchensite.de/bibelarbeiten

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