Liberale Ausbildung und multikulturelle Forderungen
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Liberale Ausbildung und multikulturelle Forderungen
Liberale Ausbildung und multikulturelle Forderungen 1 Daniel Loewe* Abstract: Die Hauptthese dieses Aufsatzes besagt, dass eine liberale Argumentation für die Schulausbildung den multikulturellen Forderungen nach Ausnahmen von allgemeinen Lehrplansanforderungen wie z.B. derjenigen entgegensteht, die den Amish in Yoder garantiert wurde. Diese These wird durch eine Konzeption von liberaler Ausbildung untermauert, die paternalistische Elemente beinhaltet und die dementsprechend über die üblichen Argumentationen für die liberale Ausbildung hinausgeht, die Ausbildung lediglich als Funktional für die Bürgerrolle betrachtet. Abstract: According to this paper a liberal defence of school education isn’t compatible with the multicultural demands for excluding children from some general curricular exigencies through exceptions like for example the one the Amish obtained in Yoder. This thesis is supported by a conception of liberal education which includes paternalistic considerations and correspondingly goes behind the usual defences of liberal education as functional to citizenship. Keywords: Liberalismus. Multikulturalismus.Yoder. Ausbildung. Staatsbürgerschaft. Keywords: Liberalism. Multiculturalism. Yoder. Education. Citizenship. * Research Centre for Political Philosophy. Interdepartmental Centre for Ethics in the Sciences and Humanities. Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Escuela de Gobierno. Universidad Adolfo Ibáñez. [email protected] Daniel Loewe es Doctor en Filosofía por la Eberhard Karls Universität de Tübingen (2002, summa cum laude), y licenciado en Filosofía Pontificia Universidad Católica de Chile (1995). Ha realizado estudios de post-doctorado como investigador del CNRS en la Universidad de Oxford, y se ha desempeñado como profesor visitante en la Universidad de New York, la Universidad de Toronto, la Universidad Católica de Chile, la Universidad Católica de Porto Alegre, y en el CSIC. Es miembro del Research Centre for Political Philosophy y del Interdepartmental Centre for Ethics in the Sciences and Humanities de la Universidad Tübingen. Actualmente se desempeña como investigador y docente de la Facultad de Filosofía de la Universidad de Tübingen y como profesor investigador de la Escuela de Gobierno de la Universidad Adolfo Ibáñez en Santiago de Chile. Ha publicado numerosos artículos en revistas internacionales. 9 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 9 5/8/2009, 11:14 Liberale Ausbildung und multikulturelle Forderungen Die liberale Verpflichtung zur Bildung der Autonomiefähigkeit ist eine Idee, die bei Kindern die Form von Ausbildungsanforderungen annimmt. Eine Idee, die oft in Frage gestellt wird weil man hierin eine starke Einmischung in die Freiheit der einzelnen und/oder der Gruppen sehen will. Diese Kritik wird –nicht nur– aber exemplarisch in der multikulturellen Literatur artikuliert. Manche kulturellen und religiösen Gruppen erheben den Anspruch darauf, ihre jüngeren Mitglieder nach den je eigenen Vorstellungen zu erziehen, auch wenn diese Vorstellungen mit verschiedenen staatlichen Ausbildungsanforderungen kollidieren. Das Thema sorgt für Diskussionsstoff bei den Liberalen. Einerseits betrachten einige Liberale die individuelle Autonomie als einen zentralen Wert. Aus dieser Perspektive argumentiert man häufig für Gesetze und öffentliche politische Maßnahmen, die gezielt und kämpferisch bestimmte kulturelle oder religiöse Gemeinschaften zu belasten streben, wenn diese die Autonomie ihrer jüngeren Mitglieder beeinträchtigen. Andererseits betrachten einige Liberale die Toleranz oder die Vielfalt als den im Zentrum einer liberalen Theorie stehenden Wert. Aus dieser Perspektive wiederum erscheint eine gezielte Intervention, aber auch ein sich aus einer nicht gezielten Intervention ergebender Nebeneffekt auf die Erziehungspraktiken der Gruppe, als eine unzumutbare Einmischung. Gemäß meinem Verständnis sind beide Perspektiven unbefriedigend. Die liberale Verpflichtung zur Bildung von Autonomiefähigkeit hat auf der politischen Ebene enge Grenzen. Aber dies impliziert nicht, dass man nicht intervenieren sollte, wie es die Toleranzkonzeption behauptet. Eine Möglichkeit ist es, minimale Bedingungen zu definieren, deren Erfüllung uns dazu zwingt, Individuen als autonome Wesen zu betrachten. Im Falle von Kindern implizieren diese Bedingungen die Erfüllung von Ausbildungsanforderungen, die keine Ausnahme zulassen. Die Frage, die sich den liberalen Theorien stellt, und auf die ich mich in diesem Aufsatz konzentriere, ist die nach den Gründen, die man aus einer liberalen Perspektive für die Ausbildung geben kann und sollte. Anhand der Artikulation dieser Gründe kann man die Legitimität der multikulturellen Anforderungen im Ausbildungsbereich untersuchen. (1) In diesem Text werde ich zuerst den häufig zitierten und diskutierten Fall Wisconsin v. Yoder skizzieren. Damit kann eine multikulturelle Anforderung im Falle der Ausbildung vor Augen geführt 10 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 10 5/8/2009, 11:14 werden. (2) Zweitens diskutiere ich die Versuche, die Ausbildungsautorität ausschließlich auf den Staat oder auf die Eltern zurückzuführen und weise sie zurück. (3) Drittens untersuche ich die liberale Verpflichtung zur Schulausbildung. Dazu kritisiere ich die in der heutigen Literatur vorherrschenden Strategien, die die liberale Verpflichtung zur Schulausbildung ausschließlich auf die Anforderungen an die zukünftigen Staatsbürger liberaler demokratischer Gesellschaften reduzieren wollen. (4) Viertens zeige ich, dass Ausbildung einen Wert hat, der nicht nur funktional ist, und dass Liberale diesen Wert im Fall von Kindern nicht verkennen sollten – auch wenn dies die Annahme einer perfektionistischen These impliziert. (5) Zum Schluss diskutiere ich die so genannte multikulturelle Ausbildung. Dabei erkenne ich zwei einander entgegengesetzte Strategien. Während die erste die kulturelle Verschiedenheit als eine Form erkennt, das Universale zu untermauern, strebt die zweite eine Zerstückelung des Lehrplans und letztendlich der Gesellschaft an. Ich argumentiere dafür, dass es aus einer liberalen Perspektive gute Gründe für die erste Strategie gibt, aber dass die zweite zurückgewissen werden muss. Die Amish und die Schulpflicht: Wisconsin v. Yoder Als eine agrarische und lokal organisierte Gemeinschaft, die in der modernen Welt ein Konzentrat aller Übel sieht, streben die Amish es an, sich von den Einflüssen der Außenwelt abzuschließen. Im 20. Jahrhundert gerieten sie beim Konsolidierungsprozess des Ausbildungssystems in ländlichen Gebieten in Konflikt mit den Vorschriften verschiedener Bundesstaaten in den Vereinigten Staaten von Amerika. In vielen Bundesstaaten ist das schulpflichtige Alter 16 Jahre, was zwei von den vier Jahren Oberschule (high school) impliziert. Das widerspricht dem Wunsch der Amish, ihre Kinder von den Einflüssen der Außenwelt unberührt zu lassen. Der erste Konflikt mit dem Staat fand schon 1914 in Ohio statt. Drei Väter wurden zu Geldstrafen verurteilt, als sie sich weigerten, ihre Kinder in die Oberschule zu schicken.1 Das Anliegen ist für die Amish wichtig genug, um dafür – wie gewöhnlich – ins Gefängnis zu gehen. Es werden auch 1 Für viele Fälle zwischen den Amish und dem Staat aufgrund den Anforderungen des Bildungswesens, vgl. Meyers (1993). 11 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 11 5/8/2009, 11:14 verschiedene Tricks angewendet: Die Kinder wiederholen mehrmals die achte Klasse oder werden mit Verspätung in die Schule eingeschrieben. In den Jahren 1937 und 1938 erwirkten die Anmish Ausnahmen, mit denen die meisten Kinder die Schulpflicht umgehen konnten. Als Reaktion auf die entstandenen Kontroversen gründeten die Amish ihre eigenen Schulen. Auch wenn diese Schulen die notwendigen Anforderungen, um anerkannt zu werden, nicht erfüllten (da die Lehrer ebenfalls Amish oder Mennoniten mit einer Grundausbildung waren), nahmen die Behörden eine Position von „benign neglect” gegenüber den amischen Schulen an (Kraybill 1989, 127). Als Anabaptisten denken die Amish, dass die Taufe eine persönliche Entscheidung sei. Die Kinder der Amish lassen sich dementsprechend in der Adoleszenz taufen. Nur so werden sie volle Mitglieder der Gemeinschaft. Freiwilligkeit – oder die Illusion davon – spielt beim Erlangen der Mitgliedschaft eine zentrale Rolle. Ungefähr ein Fünftel der Kinder lässt sich nicht taufen, und diese müssen die Gemeinschaft verlassen. Sie können später zu Besuch kommen. Diejenigen, die sich taufen lassen, aber später gegen die Ordnung verstoßen, werden gemieden und dürfen nicht zu Besuch kommen. Sogar ein begeisterter Verteidiger der Amish wie Kraybill gibt zu, dass amische Kinder keine genuine Entscheidung treffen, wenn sie sich entscheiden, in die Gemeinschaft einzutreten. Er geht so weit zu behaupten, dass es den Eindruck einer Entscheidung erweckt, wo es eigentlich keine gibt, wenn man den Kindern vor der Taufe nur einige wenige Kontakte mit der Außenwelt erlaubt. Wenn die Jugendlichen sich entscheiden müssen, sind sie: „thoroughly immersed in a total ethnic world with its own language, symbols, and world view”. Die Gemeinschaft zu verlassen, wäre traumatisch. Die „illusion of choice” bedingt eine wichtige Funktion für das Erwachsenenleben: „Thinking they had a choice as youth, adults are more likely to comply with the demands of the Ordnung” (Kraybill 1989, 140). Die Amish wollen ihre Kinder yu dieser traditionellen Lebensform erziehen: Die ländliche, familiäre und lokale Lebensform, das Meiden der Außenwelt, die eigene Sprache, die sorgfältige Auswahl der Technologien, die Rhythmisierung des Lebens durch den religiösen Zyklus, all dies ist Teil dieses Prozesses. Und sie haben die empirisch begründete Befürchtung, dass die Kinder sich nicht in der gleichen Anzahl taufen lassen würden, wenn sie länger in der Schule blieben. Die Amish wollen, dass ihre Kinder wie sie selbst Bauern und 12 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 12 5/8/2009, 11:14 Haushaltsarbeiterinnen werden, wofür man keine anspruchsvolle Ausbildung braucht. Wie 1937 ein Amish dem Justizminister von Pennsylvania schrieb: „Why can‘t the Board of Public Instruction show us leniency and exempt our children when they have a fair education for farm and domestic work? If we educate them for businessmen, doctors and lawyers they will make no farmers” (Kraybill 1989, 123). Unter den zahlreichen Fällen, die die Beziehung der Amish zum Staat bezüglich des Ausbildungswesens betreffen, ist Wisconsin v. Yoder (1972) der meistdiskutierte in der Debatte um kulturelle Rechte oder Gruppenrechte. Der Fall trat auf, als Wisconsin sich entschied, die Schulpflicht durchzusetzen. Drei amishe Väter weigerten sich, ihre Kinder die Oberschule besuchen zu lassen. Die Kinder hatten schon die achte Klasse erreicht, aber sie waren noch jünger als sechzehn. 1969 wurden die Väter für schuldig befunden, das Schulpflichtgesetz des Bundesstaates verletzt zu haben. Der Richter, cknowledged that their religious liberty has been violated but [he added] there was a superior state interest in forcing the children to attend school” (Meyers 1993, 101). Mit Unterstützung des National Committee for Amish Religious Freedom, einer Lobbyorganisation, die die Amish unterstützt (vgl. Lindholm in Kraybill 1993), erhoben sie erfolglos Einspruch beim district court. Der Supreme Court of Wisconsin hob diese Entscheidung auf, aber Wisconsin erhob Einspruch beim Supreme Court. Zwar hatte dieser sich zuvor geweigert, einen ähnlichen Fall anzunehmen (Sate v. Garber (1967)), aber diesen Fall nahm er an. 1972 entschied der Court überraschend im Fall Wisconsin v. Yoder, dass die Amish das Recht darauf haben, sich zu weigern, ihre Kinder die Oberschule besuchen zu lassen. Richter Warren Berger argumentierte: [A]lmost 300 years of consistent practice, and strong evidence of a sustained faith pervading and regulating respondents’ entire mode of life support the claim that enforcement of the State’s requirement of compulsory formal education after the eighth grade would gravely endanger if not destroy the free exercise of respondent’s religious beliefs. (zitiert in Meyers 1993, 101). Yoder ist der berühmteste und größte juristische Erfolg, den die Amish je erreicht haben. Er ist sowohl unter Juristen als auch unter politischen Philosophen sehr strittig. Aus einer juristischen Perspektive hat Yoder nie den Status eines Präzedenzfalles erreicht, auch wenn er ein 13 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 13 5/8/2009, 11:14 klassischer Fall für das Jurastudium ist. Er bleibt ein Unikum in der amerikanischen Rechtsprechung. Was diesen Fall so strittig macht, ist nicht nur, dass er eine Ausnahme von einer Regel zulässt, für die anscheinend gute Gründe sprechen (also: für die Schulpflicht), sondern dass er mit einer Mischung zweier strittiger Themen zu tun hat: Mit der Religionsfreiheit einerseits und mit der Beziehung zwischen Kindern und Eltern andererseits. Wenn wir Yoder aus der Perspektive des Falles Smith (18 Jahre später entschieden) betrachten, ist die Entscheidung unhaltbar.2 Die Schulpflichtanforderung ist eine „facial neutral” Regel. Sie ist nicht dazu erlassen worden, eine bestimmte oder jede religiöse Gemeinschaft zu belasten. Insofern ist jede mögliche Belastung hinzunehmen. Da man – wie ich denke – gute Gründe für eine breite Schulpflicht angeben kann, wäre eine Ausnahme nicht zu rechtfertigen. Dennoch werde ich nicht aus dieser rechtlichen Perspektive argumentieren. Ich denke, dass die Argumente, die die Amish vortrugen und die das Gericht akzeptierte (unabhängig davon, ob man mit Smith einverstanden ist oder nicht), keiner liberalen Prüfung standhalten. 2 Employment Division, Department of Human Resources v. Smith (494 US (1990)) hat die traditionelle Ausdehnungspraxis der Gerichte in den USA herausgefordert und eine Quelle von unendlichen sowohl akademischen als auch politischen Debatten hervorgerufen, die bis heute andauern. Smith ist der führende Fall in den USA für individuelle Ausnahmen aus religiösen Gründen. Alfred Smith und Galen Black wurden ihre Arbeitsstellen in einer privaten Rehabilitationsorganisation für Drogensüchtige in Oregon gekündigt, weil sie als Mitglieder der Native American Church in einer Zeremonie als ein Sakrament Peyote konsumiert hatten. Ihnen wurde Arbeitsentschädigung mit dem Grund verweigert, dass sie ihre Arbeit als Ergebnis von Arbeitsvergehen verloren hatten. Das Gericht war der Auffassung, dass, wenn der religiöse Gebrauch von Peyote illegal war, diese Weigerung legitim war. Sie argumentierten, dass, wenn der Bundesstaat strafrechtlich ein bestimmtes religiös motiviertes Verhalten verbietet, ohne das First Amendment zu verletzen, die Entschädigungsweigerung für Personen, die diese Verhalten begehen, eine legitim auferlegte Belastung war. Dem obersten Gericht von Oregon wurde dann die Frage gestellt, ob das Verbot des zeremoniellen Gebrauchs von Peyote unter der Free Exercise Clause der Verfassung der USA gültig sei. Es entschied, dass es dies nicht war, und dass der Bundesstaat die Arbeitsentschädigungen nicht ablehnen sollte, wenn die Arbeiter an dieser Praxis teilnehmen. Der Supreme Court der USA jedoch stieß diese Entscheidung im Fall Smith um, weil das Gesetz, das keine Ausnahme aus religiösen Gründen für den Konsum von Peyote zulässt, mit der free execise clause übereinstimmend war. In der langen Begründung von Richter Scalia im Fall Smith meinte das oberste Gericht, daß die free exercise clause die Kläger nicht schütze, denn: „[w]e have never held that an individual‘s religious beliefs excuse him from compliance with an otherwise valid law prohibiting conduct that the State is free to regulate”. Wenn das Gesetz nicht diskriminierend ist, in dem Sinn, dass es eine oder alle Religionen auswählt, und sie gezielt belastet (d.h. es ist „facial neutral”), fordert die amerikanische Verfassung – gemäß der Interpretation im Fall Smith – nicht, dass dieses Gesetz nichtig zu erklären sei, oder dass sein Umfang zu begrenzen sei, weil es eine unverhältnismäßige Wirkung auf eine Gruppe von Gläubigen hat. Ein neutrales Gesetz (d.h. ein Gesetz, das nicht darauf abzielt, eine oder viele Religionen abzusondern und gezielt zu belasten), für das Gründe sprechen, sollte von allen Bürgern befolgt werden, unabhängig von den jeweiligen religiösen Überzeugungen. 14 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 14 5/8/2009, 11:14 Für das Gericht war das schlagende Argument, dass diese zwei Jahre Oberschule die Existenz der Gemeinschaft bedrohten. Wie es das Zitat oben darlegt: Die Schulpflicht nach der achten Klasse würde „the free exercise of respondent’s religious beliefs” stark gefährden oder gar zerstören. Die „respondent” sind hier die Eltern. Der Grund dafür, warum amische Eltern eine Ausnahme von der Schulpflicht für ihre Kinder erlangten, war, dass ihre Kinder die Gemeinschaft verlassen würden, wenn sie diese weiter in die Schule schicken müssten, was eine substantielle Belastung der freien Religionsausübung der Amish wäre. Aus der freien Religionsausübung der Eltern ergibt sich also ein Anspruch darauf, die Ausbildung (oder besser gesagt: die Nichtausbildung) der eigenen Kinder zu bestimmen. Der Grund dafür ist, dass die Religionsfreiheit die Freiheit dazu enthalten soll, die eigenen Kinder gemäß den Lehrsätzen der eigenen Religion auszubilden. Das gilt nicht ausschließlich hinsichtlich religiöser Überzeugungen. Eltern haben das Recht, ihren Kindern ihre eigenen Überzeugungen – sowohl die religiösen als auch die säkularen – weiterzugeben. Das Zentrum der Kontroverse ist, wo die Grenzen dieses elterlichen Rechtes liegen. Dennoch ist es nicht die allgemeine Frage nach der elterlichen Kontrolle über die eigenen Kinder, die für das Gericht zu beantworten war. Für das Gericht war entscheidend, dass es sich um eine lang etablierte und geprüfte Gemeinschaft handelte, die friedlich und gesetzestreu war, die hart arbeitete und die die Sozialversicherung nicht belastete (Yoder, 406 US 211, 213, 222, 224). Wenn es sich um eine neu gegründete Gruppe oder um die Überzeugungen einzelner Individuen hinsichtlich der Ausbildung ihre Kinder gehandelt hätte, hätten diese keine Chance gehabt, die Schulpflicht anzufechten. Das ist der Grund, warum Yoder nie Anwendung in anderen Fällen gefunden hat. Diese Entscheidung ist auf die extrem positive – „romantisierte” – Meinung der Richter über die Amish zurückzuführen (wie Richter Douglas in seiner konkurrierenden Meinung sagte). Aufgrund dieser Meinung waren für das Gericht die Interessen, die das Schulpflichtgesetz von Wisconsin schützen wollte, mit dem Vorschlag der Amish, die Kinder aus der Schule zu entfernen und sie auf eine informelle Art und Weise in der Gemeinschaft gemäß den amischen religiösen Vorschriften zu trainieren, genügend erfüllt. Zum einen argumentierte Wisconsin: „some degree of education is necessary to prepare citizens to participate effectively and intelligently in our open political system” (Yoder, 406 US 205, 221). Zum anderen, 15 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 15 5/8/2009, 11:14 dass Ausbildung notwendig sei, um Individuen auf ein unabhängiges Erwachsenenleben vorzubereiten. Gegenüber dem ersten Argument wies das Gericht darauf hin, dass das lange Aufrechterhalten der amishen Gemeinschaft zeige, dass ihre Sozialisierungspraktiken den Jungen solide Bürgertugenden einflößten. Für diesen politischen Zweck genügen minimale Bildungsanforderungen. Für Richter Burger (im Anschluss an Thomas Jefferson, für den die Lese- und Schreibfertigkeiten genügend Schutz gegen Tyrannei boten) wären die Anforderungen einer demokratischen Staatsbürgerschaft mit einer Schulpflicht bis hin zum 14. Lebensjahr ausreichend erfüllt worden. Gegenüber dem zweiten Argument akzeptierte das Gericht die amische Bildungskonzeption als Vorbereitung „for life in the separated agrarian community that is the keystone of the Amish faith” (Yoder, 406 US 216) als legitim. Für die Amish sei die Schulpflicht nach der achten Klasse nicht nötig. Wenige Kommentatoren haben dabei bemerkt, dass dieses „informelle Training” in der Gemeinschaft – d.h. dass die Kinder für ihre Eltern arbeiten – eine diskriminierende Praxis ist. Die Jungen lernen in der Regel Landarbeit und Tischlerei. Auch wenn Amish es schwer damit haben, außerhalb der Gemeinschaft ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, können Landarbeiter und Tischler immer noch auf dem Markt konkurrieren. Mädchen lernen hingegen häusliche Arbeiten, die außerhalb der Gemeinschaft schwer zu vermarkten sind (Dafür Nussbaum 2000, 235; Für eine Diskussion über den diskriminierenden Charakter vieler multikulturalistischen öffentlichen politischen Maßnahmen vgl. Okin 1999). 3 3 Eine skurrile Argumentation für Yoder wurde von Stephen Macedo präsentiert. Wie schon gesagt lasst sich ca. ein Fünftel aller amishen Kinder nicht taufen und sie verlassen dementsprechend die Gemeinschaft. Macedo hat diesbezüglich argumentiert: „There appears to be a real, if constrained, ´exit option‘ from the Amish community, and that should at least soften our anxieties about the Amish high school exemption. If the defection rate were higher, of course, we would probably insist that Amish children be fully prepared for life in the wider society” (Macedo 1995, 489). Aber dies ist ein absurdes Argument: Wenn 20% der amishen Kinder die Gemeinschaft verlassen, bedeutet das für Macedo, dass es eine Möglichkeit zum Austritt gibt, und dass wir uns nicht sorgen müssen. Wenn es mehr Kinder gäbe, die dies tun, könnte es nur bedeuten, dass es eine Möglichkeit zum Austritt gibt und dass wir uns nicht sorgen müssen. Also: Egal wie viele Kinder die Gemeinschaft verlassen, ist diese für Macedo immer als eine freiwillige Assoziation zu verstehen (Vgl. Barry 2001, 242 ff.). Es lässt sich dann nicht verstehen, warum er besorgt wäre, wenn es mehr Kinder gäbe, die die Gemeinschaft verlassen würden. Der Grund ist wahrscheinlich, dass er denkt, dass die amishen Kinder schlecht vorbereitet und schlecht befähigt sind, um sowohl außerhalb der Gruppe leben zu können als auch einen Austritt abwägen zu können. Aber wenn das so ist, sollte er besorgt sein, auch wenn kein einziges amishes Kind die Gruppe verlassen würde. 16 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 16 5/8/2009, 11:14 Die Kompetenz für die Erziehung Häufig gibt man zwei entgegensetzte Antworten auf die Frage nach dem Autoritätsträger im Fall der Ausbildung von Kindern. Zum einem haben wir die Eltern und zum anderen den Staat. Aber da die Beziehung nicht nur die Eltern und den Staat betrifft, sondern auch die Kinder, gibt es Gründe dafür, keine dieser beiden Ausbildungsautoritäten absolut zu setzen. In der Regel haben Eltern ein starkes Interesse daran, ihren Kindern ihre Überzeugungen, Lebensweisen usw. Kindern weiterzugeben (unabhängig davon, welche die Inhalte dieser Überzeugungen usw. sind). Wie Galston schreibt: „What could be more natural?” (Galston 1991, 252). Jeder, der denkt, dass er für seine Elternrolle relativ geeignet ist, denkt, dass es für seine Kinder wertvoll wäre, wenn sie bestimmte Standpunkte annehmen würden. Auf einer unparteiischen Ebene hätte jeder ein Interesse daran, einen breiten Ermessensraum für die Eltern oder Tutoren in der Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder zuzulassen: Es ist im Interesse eines jeden, an der Erziehung und Ausbildung der eigenen Kinder teilnehmen zu können. Entsprechend würde jeder auf einer unparteiischen Ebene ein Regelsystem zurückweisen, das uns diese Macht entzieht. Die Forderung nach extremen Erziehungsmethoden oder Bildungssystemen, die familiäre Einflüsse zu beseitigen streben und die dafür die Ausbildungsautorität ausschließlich auf den Staat konzentrieren, ist nicht stark genug, um die Ansprüche der Eltern auf eine direkte Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion durch die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder zu beseitigen. Auch nicht, wenn das Ziel eines solchen Systems das Erreichen eines Gleichheitszustands zwischen den Individuen wäre. Nicht jede Handlung, um Ziele zu erreichen, ist aus einer liberalen Perspektive zuzulassen. Und das ist so, auch wenn die Ziele wünschenswert wären. Liberale (der verschiedenen Arten) müssen hier den Horror einer totalitären Gesellschaft erkennen. Dazu kommt Folgendes: Weist man die Annahme zurück, dass die Eltern eine solche Autorität über ihre Kinder haben, so tauchen Koordinationsprobleme auf, die schwer lösbar sind oder die auf jeden Fall hohe Kosten implizieren. Ausbildungssysteme wie diejenigen, die Plato oder Rousseau vorschlugen, sind mit jedem liberalen Standpunkt inkompatibel. 17 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 17 5/8/2009, 11:14 Die Argumente dafür, die Ausbildungsautorität in den Händen der Eltern zu lassen, weisen sowohl auf deren Rechte als auch auf die Konsequenzen hin. In der katholischen Theologie spricht man oft – Thomas von Aquino folgend – von einem Naturrecht der Eltern auf die Ausbildungsautorität über ihre Kinder. Im Hinblick auf die Konsequenzen dachte John Locke, dass die Eltern die besten Beschützer der zukünftigen Interessen der Kinder sind. In The Second Treatise schrieb er: Children, I confess are not born in this full state of Equality, though they are born to it. Their Parents have a sort of Rule and Jurisdiction over them when they come into the World, and for some time after, but ‘tis but a temporary one [...] [W]hilst he is in an Estate, wherein he has not Understanding of this own to direct his Will, he is not to have any Will of his own to follow: He that understands for him, must will for him too...; but when he comes to the Estate that made his Father a Freeman, the Son is a Freeman too (Locke 2000 (1960) Abschnitte 55 und 58; 304/ 306). Nach einem dritten Argument muss der Staat, wenn er auf die individuelle Freiheit verpflichtet ist, den Eltern die Ausbildungsautorität geben, da ihre Freiheit das Recht einschließt, ihren Kindern ihre eigene Lebensart weiterzugeben. Charles Fried argumentiert: „the right to form one‘s child‘s values, one‘s child‘s life plan and the right to lavish attention on the child are extensions of the basic right not to be interfered with in doing these things for oneself ” (Fried 1978, 152; vgl. auch Gutmann 1999 (1987), 29). Die Schlagkraft dieser Argumente dafür, den Eltern die Ausbildungsautorität über ihre Kinder zu überlassen, ist stark. Dennoch können sie nicht rechtfertigen, dass die Eltern die ganze Autorität über die Ausbildungsautorität genießen. Erstens: Wenige Leute würden heute dafür argumentieren, dass Kinder keine von einem elterlichen Recht unabhängigen Rechte haben. Kinder sind kein Elterneigentum. Wenn die Ausbildungsautorität auf die elterlichen Rechte zurückzuführen ist, muss sie dort eingeschränkt werden, wo sie gegen die Rechte der Kinder verstößt. Zweitens: Man kann Locke‘s Behauptung nicht einfach hinnehmen, daß: „God hath woven into the Principles of Human Nature such a tenderness for their Off-spring, that there is little fear that Parents should use their power with too much rigour” (Locke, 2000, The Second Treatise, Abschnitt 67). Die Naturzuneigung der Eltern kann nicht rechtfertigen, ihnen die ganze Autorität über ihre Kinder zu verleihen. 18 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 18 5/8/2009, 11:14 Kindesmissbrauch findet häufig innerhalb der Familien statt. Es gibt Eltern, die verletzende religiöse oder kulturelle Praktiken treiben, und Andere, die ohne Hintergrund einfach grausam sind. Im Ausbildungsbereich gibt es Eltern, die ihren Kindern ihre rassistischen Einstellungen weitergeben oder solche, die Ausbildung schlicht ablehnen. Wenn sich die Ausbildungsautorität auf die Interessen des Kindes bezieht, muss sie also dort eingeschränkt werden, wo sie gegen diese Interessen verstößt: Der Sohn muss wie der Vater ein freier Mann sein können. Und drittens: Wenn die Ausbildungsautorität der Eltern sich auf die Freiheit zurückführen lässt, ihren Kindern ihre Lebensform weiterzugeben, muss diese Autorität dort eingeschränkt werden, wo sie die zukünftige Freiheit der Kinder beeinträchtigt. Das Ergebnis ist, dass weder der Staat als politische Entität noch die Eltern oder Tutoren ein absolutes Recht darauf haben zu bestimmen, wie Kinder auszubilden sind. Dennoch gibt es aus einer liberalen Perspektive ein prima facie Recht auf Seiten der Eltern, das zu übertrumpfen ist, wenn sie gegen grundlegende Interessen und Rechte der Kinder und der politischen Gesellschaft verstoßen. Nach dieser Interpretation sind die Eltern oder Tutoren Stellvertreter der Interessen der Kinder. Sie haben aber keine absolute Autorität, um diese Interessen zu bestimmen. Die Kinder behalten eine letzte Souveränität, die nicht von der Jurisdiktion der Eltern über sie beeinträchtigt wird. Wenn sie gegen ihre Pflichten als Stellvertreter der Interessen der Kinder verstoßen, darf (und muss) sich der Staat einschalten. Die Frage ist dann, was gegen die grundlegenden Interessen des Kindes und/ oder Gesellschaft verstößt. Schließt das die Schulpflicht ein? Es gibt unter Liberalen einen mehr oder weniger breiten Konsens darüber, dass es bestimmte Fälle gibt, die der elterlichen Autorität entzogen bleiben und die die staatliche Einmischung rechtfertigen (auch wenn die Gründe, die man dafür angibt, ganz verschieden sind). Der liberale Staat ist dazu verpflichtet, die grundlegenden Rechte der Kinder – auch gegen Eltern oder Tutoren – zu schützen. Aber nicht nur liberale, sondern jede Theorie, die ein Schadenprinzip beinhaltet, muss bestimmte Praktiken als schädlich und als nicht zu tolerieren ansehen. Beispiele für solche Praktiken sind die Weigerung von Christian Scientists, medizinisch geprüfte Behandlungen bei ihren Kindern zuzulassen, auch wenn sie damit das Leben der Kinder riskieren. Oder wenn Eltern grauenvolle Praktiken an ihren Kindern ausüben, wie z.B. die weibliche Genitalverstümmelung. Kinder sollen vor diesen Praktiken geschützt 19 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 19 5/8/2009, 11:14 werden, und dabei spielt es keine Rolle, ob sie auf eine religiöse oder kulturelle Überzeugung zurückzuführen sind. Liberale gehen in der Regel weit genug, um irgendeine Ausbildung der Kinder zu verlangen. Es gibt unterschiedliche Strategien dafür. Gemäß Mills minimalistischer Strategie braucht man kein öffentliches Ausbildungssystem, um seine Ausbildungsanforderungen zu erfüllen. Statt dafür zu argumentieren, dass der Staat eine direkte Pflicht dazu hat, die Autonomie zu fördern, (wie er es, hätten seine Interpreten recht, hätte machen müssen) insistiert Mill, dass der Staat aus dem Ausbildungsprozess – wo die Autonomie am meisten gefördert werden kann – aussteigen sollte: „If the government would make up its mind to require for every child a good education, it might save itself the trouble of providing one” (Mill 2000, 106). Die minimalistische Funktion, die Mill dem Staat bei der Ausbildung zuteilt, ist die Antwort auf seine Angst davor, dass: „A general State education is a mere contrivance for moulding people to be exactly like one another” (Mill 2000, 106). Die bedeutsamkeit der Individualität des Charakters und der Vielfalt von Meinungen und Verhaltensweisen implizieren Ausbildungsvielfalt. Die Rolle des Staates soll darauf beschränkt werden, bestimmte Ergebnisse in jährlichen Prüfungen zu fordern. Der Vater eines Kindes, das kein befriedigendes Ergebnis erreicht, sollte „be subjected to a moderate fine” (Mill 2000, 107). Und das Kind soll auf Kosten des Vaters zur Schule gehen. Diese Prüfungen für alle Kinder beziehen sich aber nur auf ein Minimum allgemeiner Kenntnisse. Über dieses Minimum hinaus sollen die Prüfungen auf einer freiwilligen Basis stattfinden. Aber auch bei diesen freiwilligen Prüfungen soll die Rolle des Staates eingeschränkt bleiben: „To prevent the State from exercising... an improper influence over opinion, the knowledge required for passing an examination... should, even in the higher classes of examinations, be confined to facts and positive science exclusively” (Mill 2000, 107). Nichts spricht dagegen, dass man Kindern Religion lehrt, wenn die Eltern es so entscheiden. Es muss aber alles, worüber man Prüfungen ablegen kann, ein „matter of fact” sein. Libertarier unterstützen auch heutzutage ähnliche Strategien. Der Staat sollte sich am besten aus dem Ausbildungsmarkt zurückzuziehen und diesen in den Händen von privaten Unternehmern lassen. Private Schulen müssen um Kunden konkurrieren, und erfolgreiche Schulen werden ihren Platz auf dem Markt erobern. Die Probleme mit solchen genuin libertaren Strategien müssen hier nicht ausführlich diskutiert 20 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 20 5/8/2009, 11:14 werden. Auch wenn die Eltern staatlich dazu verpflichtet wären, ihren Kindern irgendeine Ausbildung zu garantieren (was nicht immer bei diesen Strategien auftaucht), wäre diese Ausbildung und entsprechend die Chancen der Kinder stark von den ökonomischen Möglichkeiten und von den Werten der Eltern abhängig. Herkunft wäre hier schicksalhaft. Im Gegensatz dazu betrachten Gleichheitsliberale die Ausbildung von Kindern als wichtig genug, um eine staatliche Pflicht zu begründen. Der Grund ist evident: Die Ausbildung spielt eine zentrale Rolle bei der Bildung von Befähigungen, die gleiche Chancen bei der Konkurrenz um Positionen garantieren. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Diskussion um öffentliche Schulen. Hier stellt sich erstens die Frage, welche Ausbildungsinhalte (die über der elterlichen Ausbildungsautorität stehen) der Staat verlangen darf. Und zweitens stellt sich die Frage, was die legitimen Gründe dafür sind, um das verlangen zu können. Lehrpläne sind ein großer Kampfplatz der multikulturellen Diskussion. Glazer denkt sogar, dass der Multikulturalismus sich als Phänomen eigentlich auf Konflikte über Lehrpläne in unterschiedlichen Ausbildungsinstitutionen reduzieren lasse (Glazer 1997). (Was eine illegitime Einschränkung eines Phänomens ist, für die er keinerlei Argumente vorlegt). Ich beabsichtige nicht, einen Lehrplan zu entwerfen. Ich möchte nur zeigen, was ich in vielen liberalen Strategien, die danach streben, diese staatlichen Anforderungen zu definieren, als mißlich erachte. Die Ausbildung zukünftiger Bürger Mit der Begründung, es gebe in pluralen Gesellschaften keine Übereinstimmung über grundlegende Werte, die bestimmte Ausbildungsinhalte rechtfertigen könnten, appellieren Liberale häufig an eine politische Konzeption, die jeder, unabhängig von der eigenen Konzeption des Guten, gute Gründe hätte anzunehmen. Um paternalistische Argumente zu vermeiden, neigen Liberale dazu, die Rechtfertigung der verlangten Ausbildungsinhalte auf die Rolle der Staatsbürger einer demokratischen Gesellschaft – d.h. auf eine politische Konzeption – zurückzuführen. 21 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 21 5/8/2009, 11:14 Für Dagger z. B.: „if we add that the purpose of education is in some way to prepare people for life, we still have to reach agreement on what ´preparing people for life‘ entails”. Aber, da es unterschiedliche Konzeptionen über das gute Leben gibt, ist dies eine hoffnungslose Aufgabe. Sein Vorschlag lautet: „without specifying a particular way of life... people must be prepared to exercise autonomy and play the part of the active, public-spirited citizens” (Dagger 1997, 119). In dieser Konzeption lässt sich die Ausübung der Autonomie auf die Rolle des Bürgers zurückführen. In dieser und ähnlichen Strategien hat der Staat ein Interesse daran, durch das Ausbildungssystem zukünftige Bürger auszubilden. Diese Strategie impliziert weder eine negative noch eine positive Antwort auf die Frage nach einer Ausnahme von der Schulpflicht für die Amish. Ob man dafür oder dagegen ist, hängt von der eigenen Konzeption der Rolle des Bürgers ab. Im Folgenden diskutiere ich einige Argumentationen, die auf dieser Strategie basieren. 3.1 John Rawls: Rawls bezieht sich in Political Liberalism auf religiöse Sekten, die sich der Kultur der modernen Welt widersetzen und ihr kommunales Leben ohne deren Einflüsse führen wollen. Hier taucht das Problem „about their children’s education and the requirements the state can impose” auf (Rawls 1996 (1993), 199). Rawls denkt wahrscheinlich an die Amish. Dennoch hat das Argument einen breiteren Umfang. Rawls fürchtet, dass ein umfassender Liberalismus, der – wie der von Kant oder Mill – die Werte der Autonomie und der Individualität fördert, zu hohe Anforderungen beim Regulieren jedes Lebensaspekts stellt. Der politische Liberalismus soll viel weniger fordern: Society’s concern with education lies in their role as future citizens, and so in such essential things as their acquiring the capacity to understand the public culture and to participate in its institutions, in their being economically independent and self-supporting members of society over a complete life, and in their developing the political virtues, all of this from within a political point of view. (Rawls 1996, 200). Rawls erkennt, dass die Auswirkungen der Anforderungen des politischen Liberalismus denen des umfassenden Liberalismus ähnlich sind: „Doing the one may lead to the other, if only because once we 22 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 22 5/8/2009, 11:14 know the one, we may of our own accord go on to the other” (Rawls 1996, 199). Man muss diese unvermeidbaren Auswirkungen vernünftiger Ausbildungsanforderungen „often with regret” hinnehmen. Freilich hat Rawls damit die Frage nicht beantwortet, ob die Amish ihre Kinder zwei Jahre früher als normalerweise erlaubt von der Schule nehmen dürfen. Dafür müsste man argumentieren (gegen Richter Burger), dass diese zwei Jahre Oberschule notwendig für die Rolle des Staatsbürgers sind. Obwohl Rawls’ Behauptungen über die Ausbildungsanforderungen des politischen Liberalismus bereits gegen eine solche Ausnahme zu sprechen scheinen, müsste man weitere Argumente ausarbeiten. 3.2 Richard Arneson und Ian Shapiro: Arneson und Shapiro haben innerhalb einer Konzeption des politischen Liberalismus’ argumentiert, dass diese zwei Jahre Oberschule für die Rolle eines verantwortungsbewussten Staatsbürgers entscheidend seien. Für sie „democracy and autonomy go together” (Arneson/Shapiro, in Shapiro 1996, 171). Dennoch hat die Autonomie keinen unabhängigen Wert, wie bei einem umfassenden Liberalismus. Ihr Wert läßt sich auf ihren Beitrag zum demokratischen Prozess zurückführen: „in a democracy, where citizens are affected by the collective actions of the majority, it is necessary that citizens develop the capacities needed to understand and evaluate the policies by which their lives might be affected and through which they might affect the lives of others” (Arneson/ Shapiro, in Shapiro 1996, 173). Dieser Auffassung zufolge sollten Kinder in einer Demokratie einschließlich bis zu einem Alter ausgebildet werden, in dem sie die kritische Reflexion entwickeln und anwenden. Die zwei Jahre Oberschule sollen dafür grundlegend sein. Ein guter Hinweis dafür ist, dass die Amish selbst nur diese zwei Jahre Oberschule, aber nicht die Grundschule problematisch finden. Arneson und Shapiro denken, dass die Amish Yoder hätten verlieren müssen, weil der amische Sozialisierungsprozess ausdrücklich die Entwicklung kritischer Fähigkeiten verhindern will, die notwendig für die Bürgerrolle sind. Damit die Entscheidung der Amish, sich vom politischen Prozess auszuschließen, authentisch wäre, hätten sie kritische Fähigkeiten entwickeln müssen. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, diese Ausbildung von Eltern und Ausbildenden zu verlangen. 23 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 23 5/8/2009, 11:14 3.3 Amy Gutmann: Gutmann vertritt in Democratic Education eine ähnliche Perspektive (Gutmann 1999 (1987)). Ihr Ausgangspunkt ist die Demokratie. Die Ausbildung sollte auf die Entwicklung demokratischer Tugenden ausgerichtet werden: „the ability to deliberate, and hence to participate in conscious social reproduction” (Gutmann 1999 (1987), 39). Sie schließt in den Bereich dessen, wozu der Staatsbürger einer demokratischen Gesellschaft befähigt sein muss, eine Reihe von Elementen ein: A state makes choice possible by teaching its future citizens respect for opposing points of view and ways of life. It makes choice meaningful by equipping children with the intellectual skills necessary to evaluate ways of life different from that of their parents (Gutmann 1999 (1987), 30). Die elterliche Macht muss dort eingeschränkt werden, wo diese mit den zwei zitierten Zielen kollidiert. Die staatliche Macht wird mit den zwei Prinzipien der „nonrepression” und „nondiscrimination” eingeschränkt (Gutmann: 1999 (1987), 44-5). Diese Prinzipien lassen sich ebenfalls von ihrer Konzeption einer demokratischen Gesellschaft ableiten. Das Prinzip der Nichtunterdrückung soll sichern, dass der Staat die Ausbildung nicht anwenden darf, um die rationale Deliberation über konkurrierende Lebensformen zu verhindern. Man kann gemäß diesem Prinzip Charakterzüge vermitteln, die für die rationale Deliberation notwendig sind (Ehrlichkeit, religiöse Toleranz, gegenseitige Achtung für Personen, usw.). Diese kritischen Fähigkeiten müssen durch ein Ausbildungssystem gefördert werden, das sich an der demokratischen Rolle des Bürgers orientiert. Und das ist so, auch wenn es dabei einige Gruppen – wie die Amish – schwer haben werden, eine Lebensform zu erhalten, die vom Widerstand gegen die rationale Deliberation abhängt. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung besagt, dass jedes ausbildbare Kind ausgebildet werden muss. Familien und Staaten schließen häufig selektierend Kinder oder Gruppen von Kindern vom Ausbildungsprozess aus. Damit verweigern sie ihnen die Ausbildung, die die Deliberation über Lebensformen und über die gute Gesellschaft ermöglicht. Das kann die Form einer diskriminierenden Behandlung von Kindern aufgrund rassischer oder ethnischer Kriterien oder aufgrund des Geschlechts annehmen. Eine verbreitete Form staatlicher 24 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 24 5/8/2009, 11:14 Diskriminierung betrifft die Ausbildung. Hinsichtlich der Ausbildung, die die Kinder auf ihre zukünftige Bürgerrolle vorbereitet, nimmt das Prinzip der Nichtdiskriminierung die Form eines Prinzips von Nichtausschließung an. 3.4 William Galston: Für Galston lassen sich auch die Grenzen der erlaubten Vielfalt durch die zwingenden Anforderungen der Staatsbürgerschaft definieren. Aber im Unterschied zu Rawls, Shapiro und Anderson oder Gutmann argumentiert Galston, dass es mit seinem durch liberale Zwecke charakterisierten Liberalismus möglich ist, Yoder zu verteidigen (Galston 1995, 517). Es ist dennoch sehr diskutabel, ob er mit seiner keineswegs dünnen Konzeption liberaler Zwecke überhaupt Yoder verteidigen kann. Auf jeden Fall geht er davon aus, dass sich von dieser Konzeption liberaler Zwecke „minimale” Anforderungen an die bürgerliche Ausbildung (civic education) ableiten lassen. Da Galston denkt, dass der Liberalismus die Vielfalt und nicht die Autonomie schützen muss (vgl. Kap. 5), lässt seine Konzeption von Staatsbürgerschaft einen breiten Umfang von Ausnahmen offen: „it is perfectly possible to petition your community for special relief from the burdens accepted by our fellow citizens” (Galston 1991, 250). Ein Problem mit der bürgerlichen Ausbildung taucht auf, wenn ihre Inhalte mit dem elterlichen Wunsch kollidieren, ihren Kindern ihre Lebensform weiterzugeben. Galston schließt unter den spezifischen konstitutionellen Maßnahmen des Vielfaltstaats „wide parental rights, limited only by compelling state interests” (Galston 1995, 529) ein. Gemäß diesen breiten elterlichen Rechten wäre es möglich diejenigen Ausnahmen zuzulassen, die es den Eltern ermöglichen würden, ihren Kindern ihre Lebensform weiterzugeben. Das einzige, das diese Rechte einschränken darf, ist ein zwingendes Staatsinteresse. Dieses lässt sich auch durch die Zwecke des liberalen Staates bestimmen. Kinder haben eine Reihe von Rechten, die die Eltern respektieren müssen und die der Staat auch gegen die Eltern garantieren muss. Eltern dürfen die normale physische, intellektuelle und emotionale Entwicklung der Kinder nicht verhindern. Und sie dürfen auch nicht verhindern, dass die Kinder eine grundlegende bürgerliche Ausbildung erhalten: „the beliefs and habits that support the polity and enable individuals to function competently in public affairs” (Galston 1991, 252). Der Grund dafür wird als ein MoralischerEffekt-Argument artikuliert: Die Elter dürfen nicht auf eine Art und Weise handeln, durch die ihre Kinder der Gemeinschaft bedeutende 25 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 25 5/8/2009, 11:14 und vermeidbare Belastungen auferlegen würden. Der Staat hat ein Recht darauf, Kinder zu lehren, das Gesetz zu achten. Er hat auch ein Recht darauf, bei den Kindern die Erwartung zu erwecken, dass sie Erwachsene sein werden, die für sie und ihre Familien sorgen müssen. Aber das staatliche Interesse an der Entwicklung von „minimal conditions of reasonable public judgement” impliziert nach Galstons Auffassung – und gegen Gutmanns und Shapiros Auffassung – nicht, dass der Staat ein Interesse daran hat, zu beeinflussen, wie die Kinder über verschiedene Lebensformen denken: „the civic standpoint does not warrant the conclusion that the state must (or may) structure public education to foster in children skeptical reflection on way of life inherited from parents or local communities” (Galston 1991, 253). Dazu kommt, dass die Toleranz von tief greifenden Unterschieden (also, was Gutmann „Achtung vor dem Standpunkte anderer” nannte) mit einer felsenfesten Überzeugung über die Richtigkeit der eigenen Lebensform absolut kompatibel sei. Da die Amish die physische, emotionale und intellektuelle Entwicklung ihrer Kindern nicht verhindern, und da sie gesetzestreu sind und der Gemeinschaft keine Belastung auferlegen, gebe es vom Standpunkt der bürgerlichen Ausbildung nichts gegen den Wunsch der Amish einzuwenden, die ihre Kinder ausnahmsweise zwei Jahre früher von der Schule nehmen wollen. Galston vertritt eine extreme minimalistische Konzeption der Ausbildungsanforderungen einer liberalen Gesellschaft. Aber seine Position ist selbstzerstörerisch. Die bürgerliche Ausbildung: „It is by definition education within, and on behalf of, a particular political order”. Aber: „few individuals will come to embrace the core commitments of liberal society through a process of rational inquiry.... the method must be a pedagogy that is far more rethorical than rational”. Wir brauchen: „a pantheon of heroes who confer legitimacy on central institutions and are worthy of emulation” (Galston 1991, 243-4).4 Aber wir finden die Grundlage der liberalen Demokratie in der Billigung. Und es ist an einer Billigung zu zweifeln, die sich auf ein Pantheon von Helden und nicht auf Gründe gründet. Es ist zu bezweifeln, dass ein 4 Diesbezüglich kann man mit Brecht sagen: „Nur in den Staaten, wo die Untertanen solche Schweine sind, dass sie ansonsten in die Hosen pissen, ist es wirklich nötig, die Pissoire zu Tempeln einzuweihen” Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft (aus Notizbüchern 1920; Suhrkamp Verlag, 1963, 8). 26 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 26 5/8/2009, 11:14 Ausbildungssystem, das sich bewusst und ausschließlich auf Mythen und Rhetorik und nicht auf Gründe beruft, um die Unterstützung der Bürger für die gesellschaftlichen Institutionen zu erlangen, Stabilität und das Bestehen der demokratischen Institutionen garantieren kann. Unterschiedliche Bewegungen berufen sich auf neue sowie alte, neu interpretierte Mythen, um ganz verschiedene politische Programme zu verfolgen. Wenn die Schüler – und zukünftigen Bürger – die Rhetorik, aber nicht die Gründe kennen, die für eine liberal demokratische politische Ordnung sprechen, können sie kaum gegen politische Bewegungen argumentieren, die keine demokratischen Ziele verfolgen, aber die eine gute Rhetorik anwenden und eine Palette von attraktiven Mythen anbieten. 5 Wenn man in den öffentlichen Schulen einer liberalen Demokratie politisch indoktriniert, wirft das auch ein zweites Problem auf: dass damit die Ausbildungsqualität bedroht wird. Wenn die Frage danach, was und wie im Schulraum gelehrt werden muss, von politischen Zielen abhängt, werden die Inhalte der Ausbildung manipuliert. Was die Ergebnisse dieser Manipulation sind, hängt davon ab, welche die politische Richtung der Autoritäten ist oder welche Gruppen bessere Lobbyisten haben. Am Ende lässt sich die Politisierung des Ausbildungswesens für instrumentelle Zwecke verwenden, die im Hintergrund vieler multikultureller Kämpfe für die Bestimmung des Lehrplans stehen (Vgl. Glazer 1997, Kap.2: „The New York Story”). 3.5 Jeff Spinner: Spinner geht in einer Hinsicht weiter als Galston (in einem anderen Sinn aber nicht, wie wir später sehen werden). Für Spinner sind die Amish „partial citizens”. Da sie weder mit der 5 Hinsichtlich des „Humanities Project” macht uns Hare auf eine Unterscheidung zwischen „substantial values” und „methodological values” aufmerksam (R. M. Hare 1992, 142). Moralische Fragen (wie die Gleichberechtigung zwischen Rassen) können nicht mit Berufung an eine Autorität beantwortet werden (wie z.B. Galstons Pantheon nationaler Helden). Was wir brauchen, ist eine intellektuelle Disziplin, die geeigneten Prozeduren folgt, damit die Kinder selbst auf eine Antwort kommen: „the best way to help children to answer the substantive questions is to teach them a method of arguing fairly and clearly and logically about them” (Hare 1992, 143). Wenn man versteht, was eine moralische Frage ist, muss man wissen, welche Argumente legitim sind. Auf die gleiche Art und Weise weiß man, wenn man versteht, was Mathematik ist, welches ein legitimes Argument in diesem Bereich ist und welches nicht. Dafür spielen die Lehrer eine zentrale Rolle: „there is something else of which a teacher has to set an example: the strenuous desire to find the answers” (Hare 1992, 152). Geeignete Prozeduren, Information usw. sind kein Ersatz für einen guten Lehrer – genau wie die besten Gerichtsprozeduren keinen Ersatz für einen Richter mit den geeigneten Qualitäten bieten. 27 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 27 5/8/2009, 11:14 bürgerlichen Gesellschaft noch mit den öffentlichen Institutionen Kontakt haben, sollten sie in solchen Bereichen Ausnahmen erlangen. Entsprechend sollten sie weder zur Rolle des Staatsbürgers befähigt werden (öffentliche Sphäre), noch sollten ihre Fähigkeiten, außerhalb der Gemeinschaft leben zu können (bürgerliche Gesellschaft), gefördert werden: „The liberal virtues should be encouraged among those who have (or aspire to) full liberal citizenship but not among those who live in a liberal state but who are not, and do not want to be, full members” (Spinner 1994, 97). Das Problem mit diesem Argument ist, dass Kinder keine freiwilligen Mitglieder einer Gruppe sind. Er versucht wahrscheinlich, diese Kritik zu umgehen, indem er über die Amish als „sovereign communities” spricht. Aber es ist ein Irrtum, die Amish, die eine freiwillige religiöse Assoziation bilden und bilden wollen, mit einer souveränen politischen Entität zu verwechseln. Wenn wir die Annahme zurückweisen, dass die Eltern ein absolutes Dominium über ihre Kindern haben, warum sollten Kinder aufgrund des Glaubens ihrer Eltern von der Schulpflicht befreit werden? Ein liberaler Staat kann diesen Kindern nicht die Chance rauben, volle Staatsbürger zu sein. In diesem Schnitt habe ich Argumente gezeigt und diskutiert, die die liberalen Ausbildungsanforderungen von der Rolle des Bürgers einer demokratischen Gesellschaft ableiten. Diese Argumente sind sicherlich wichtig. Ich bin mit vielem, was Gutmann sagt, einverstanden. Dennoch denke ich, dass diese Argumente, die substantiellen Fragen zu umgehen versuchen, im Fall der Kinderausbildung nicht das ganze Gewicht der Argumentation tragen können. Dass „[s]ociety’s concern with education lies in their role as future citizens” (Rawls 1996, 200) ist zu wenig. Dieses Argument bietet nicht genug, um bestimmte Befähigungen zu fördern, die Liberale für wichtig erachten – aber die sie nicht direkt verteidigen wollen. Und der beste Hinweis dafür ist, dass ein Autor wie Galston, der allerdings aus ähnlichen Prämissen argumentiert, die „functional needs of ... sociopolitical institutions” (Galston 1991, 254) viel enger definiert. Es gibt schwierige empirische Fragen, die beantwortet werden müssen. Sind diese zwei Jahre so zentral für die Rolle des Bürgers, wie Shapiro und Anderson denken, oder behält Richter Burger (und Thomas Jefferson) Recht? Ich meine nicht, dass diese Fragen nicht beantwortet werden können. Es bleibt aber viel grundsätzlicher die Frage bestehen, was die „funktionalen” Anforderungen eines demokratischen politischen Systems sind. Für die einen impliziert das 28 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 28 5/8/2009, 11:14 Funktionieren demokratischer Institutionen, dass Kinder die kritischen Fähigkeiten entwickeln müssen, die ihnen ermöglichen, tradierte Lebensformen in Frage zu stellen. Für die anderen müssen diese Fähigkeiten nicht so weit gehen. Wie Richard Dagger, der die Ausbildungsinhalte allerdings aus der Perspektive einer republikanischen Konzeption der Staatsbürgerschaft ableiten will (und gegen Yoder argumentiert), anmerkt: „By setting the educational goals as autonomy and civic virtue..., republican liberalism focuses disagreement on questions of how much and how best” (Dagger 1997, 130-1). Ich denke, dass es im Bereich der Schulpflicht ein genuines Terrain für paternalistische Argumente gibt. Die Ablehnung dieser paternalistischen Argumente impliziert, dass die Ausbildung und die damit erlangten Fähigkeiten von einem funktionalen Verständnis der Anforderung der Demokratie abhängen werden, was – wie wir im Fall von Galston sahen – nur eine sehr eingeschränkte Ausbildung implizieren kann. 4 Der Wert an sich der Ausbildung Wie ereits verdeutlicht, bin ich mit vielen Anforderungen der nichtminimalistischen Theoretiker der demokratischen Ausbildung einverstanden. Die Gesellschaft hat ein genuines Interesse daran, dass die Bürger für sich selbst und ihre Familien Verantwortung übernehmen, dass sie die Gesetze achten, dass sie die Regeln der demokratischen Gesellschaft verstehen und schätzen, dass sie ihre Rechte und Pflichten kennen, usw. Darüber hinaus, und in enger Verbindung zu diesen erwähnten Aspekten, soll die Ausbildung den Menschen mit bestimmten Kunstfertigkeiten ausrüsten, die notwendig sind für ein Leben in modernen Gesellschaften. Das geht von minimalen Kenntnissen wie Lese- und Schreibfertigkeiten, Hygienekenntnissen, sexueller Ausbildung, usw. Bis hin zu spezialisierten Kenntnissen in den letzten Jahren der Ausbildung. In modernen Gesellschaften ist die Entwicklung von Lesefertigkeiten essentiell, um das eigene Leben verbessern zu können. Mit Gutmanns Worten: „Illiteracy is humiliating for many adults because it makes them almost totally dependent for their welfare on the good will of other people” (Gutmann 1999 (1987), 280). Die Entwicklung spezialisierter Kunstfertigkeiten ist notwendig für die Konkurrenz um Ausbildungsstellen in Hochschulen und darüber hinaus 29 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 29 5/8/2009, 11:14 für die Konkurrenz um Arbeitsplätze. In diesem letzten Bereich konkurriert man gegen andere und muss daher besser in der Ausübung der Kunstfertigkeiten sein als andere. Ich führe das nicht weiter aus. Diese Ausbildung ist sicherlich zentral nicht nur für das Wohlergehen der Individuen, sondern auch für eine funktionierende Gesellschaft. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass das nicht alle Aspekte einer liberalen Ausbildung einschließt. Ich denke, dass diese Strategien, die Entwicklung von Befähigungen als Anforderungen eines politischen Systems zu rechtfertigen, eigentlich versuchen, solche Befähigungen, die Liberale als wichtig betrachten (wie kritische Fähigkeiten), in politische Begriffe hineinzuschmuggeln. Auch wenn diese Strategien auf wichtige Elemente hinweisen, denke ich, dass Liberale im Fall von Kindern weiter gehen können und müssen. Liberale sollten sich nicht argumentativ selbst verstümmeln, wenn sie für die Entwicklung bestimmter Befähigungen bei Kindern plädieren. Unabhängig davon, welche die Vorteile einer paternalistischen Theorie wären, stimmt es, wie Vinit Haksar bezüglich Kindern sagt, dass „[i]n any case, it is difficult to avoid appealing to perfectionist considerations here” (Haksar 1979, 186). Der Punkt ist, dass, um mit dem Problem umzugehen, das die Richtung betrifft, in der wir die Entwicklung unserer Kinder beeinflussen, wir entscheiden müssen, was gut für sie ist: „But we cannot adequately decide what is really good for a person whose aims have not yet been formed without resort to perfectionist considerations” (Haksar 1979, 187). Ein treffendes Argument gegen paternalistische Maßnahmen hinsichtlich perfektionistischen Standards bei der Schulausbildung sagt, dass, obwohl Eltern – und als Erweiterung dieser Idee auch private Bildungseinrichtungen – auf eine legitime Art und Weise perfektionistische Standards anwenden können, der Staat keine Autorität hat, sich beim Prozess der Kinderausbildung einzumischen, weil er keine legitime Autorität hat, um perfektionistische Standards anzuwenden. Aber auch wenn man gute Argumente gegen ein staatliches Ausbildungsmonopol vortragen kann, sagen diese Argumente nicht, dass der Staat überhaupt keine Rolle bei diesem Prozess zu spielen hat. Und solange der Staat eine Rolle bei der Ausbildung spielt, sind perfektionistische Betrachtungsweisen also unumgänglich. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass Ausbildung etwas Gutes für das Leben eines Menschen ist. Das bedeutet freilich nicht, dass ein Leben ohne Ausbildung kein gutes Leben sein kann. Sondern 30 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 30 5/8/2009, 11:14 lediglich, dass die Ausbildung das Leben bereichert. Das ist nicht unstrittig. Wir sahen, dass die Amish und andere Gruppe eine ganz andere Meinung vertreten: Die Ausbildung gefährdet die Seelenrettung. Um für die Bereicherungsthese zu argumentieren, müssen wir an Werturteile appellieren, die das Projekt des politischen Liberalismus überfordern. Wenn das durch Ausbildung bereicherte Leben intrinsisch gut ist, ist die Ausbildung als konstitutives Teil dieses Lebens auch intrinsisch gut. Aber warum soll ein Leben mit Ausbildung intrinsisch gut sein? Die These ist, dass Ausbildung den Menschen die Chance bietet, ein besseres Leben zu führen. Sie ist nicht nur deshalb etwas Gutes für das Leben, weil sie uns das Setzen und Verfolgen unterschiedlicher Ziele ermöglicht. Ausbildung ist etwas Gutes, weil sie uns ein besseres Verständnis der Welt und unserer Position in der Welt erlaubt. Das geht über die oben erwähnten Strategien hinaus. Warum soll der Wert des Interpretierens eines Gedichtes oder eines Bildes oder das Verständnis eines mathematischen Theorems auf unsere Rolle als Bürger einer demokratischen Gesellschaft zurückgeführt werden? Die These, gemäß welcher: „we mandate schooling for children because we believe that functional literacy is essential for exercising the rights and responsibilities of democratic citizenship” (Gutmann 1999 (1987), 275) ist nicht nur als Erklärungsversuch unbefriedigend. Sie bietet als normative Grundlage zu wenig. Kunstwerke und humanistische Werke kennen zu lernen oder wissenschaftliche Theorien zu verstehen, ist etwas Gutes für das Leben einer Person, unabhängig von ihrem funktionellen Beitrag für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Wenn dies so ist, dann sollten Kinder Zugang zu diesen künstlerischen, wissenschaftlichen und humanistischen Kenntnissen haben, auch wenn das gegen die Kultur, Religion oder gegen die Präferenzen ihrer Eltern verstößt – und auch wenn sie nicht zu der Rolle eines demokratischen Bürgers beitragen würden. Diese Position muss von denjenigen Positionen unterschieden werden, die die Autonomie als den Zweck der liberalen Ausbildung betrachten. Diese Positionen appellieren an zwei Elemente: Maximierung von Optionen und Entwicklung von kritischen Fähigkeiten. In dieser Konzeption haben die Kinder ein Recht auf Autonomie, die die elterlichen Rechte und die staatlichen Rechte einschränkt. In „The Child‘s Right to an Open Future” schreibt Feinberg z.B. „[Ausbildung] should send him [das Kind] out into the adult world with as many open opportunities as possible, thus maximizing his chances for self31 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 31 5/8/2009, 11:14 fulfilment” (Feinberg 1980, 135). Für Bruce Ackerman müssen wir den Kindern Optionen anbieten. Wir und der Staat haben kein Recht darauf: „to look upon future citizens as if we were master gardeners who can tell the difference between a pernicious weed and a beautiful flower. A system of liberal education provides children with a sense of the very different lives that could be theirs” (Bruce Ackerman 1980, 139). Ackerman weist die Idee zurück, dass sowohl der Staat als auch die Eltern den Charakter der Kinder aufgrund „adult pretensions to moral superiority” (Ackerman 1980, 148) bilden sollten. (Für Ackerman ist die „kulturelle Kohärenz” ein berechtigter Grund für die Charakterbildung der Kinder (Ackerman 1980, 141)). Ein nichtpaternalistischer zugelassener Grund für die Beschränkung von Optionen ist, dass diese Beschränkung in der Zukunft die Optionen maximiert. Aber warum sollten Eltern es nicht anstreben, ihren Kindern moralische Standpunkte weiterzugeben, die sie als wichtig erachten? Das wäre eine extreme Beschränkung der elterlichen Rechte. Liberale fürchten aber, dass die Ablehnung dieser extremen Auffassung impliziert, dass die Eltern ein absolutes Recht über ihre Kinder erlangen. Aber diese beiden Extreme sind nicht zu rechtfertigen. Im Wachstumsprozess bilden Kinder Werte und Präferenzen. Aber diese sind nicht das Produkt einer spontanen Zeugung im Kopf des Kindes. Sie sind das Ergebnis der Interaktion zwischen den Dispositionen des Kindes und sozialisierenden Umweltkräften. Kinder nehmen Standards von Familienmitgliedern, Spielfreunden, Lehrern usw. als eigene an. Und wenn die Schulen (oder die Eltern) sich aus diesem Prozess der Charakterbildung zurückziehen, wird ihre Rolle von anderen Agenten übernommen werden. Es ist ein unmögliches Vorhaben, dass Kinder Erwachsene (also Menschen im Alter, in dem man eigene Entscheidungen treffen kann) ohne Vorurteile und gebildete Meinungen werden (Shapiro/Arneson 1996, 160). Darüber hinaus ist es nicht klar, dass Neutralität die gewünschten Zwecke befördern würde. Gebildete Meinungen oder Vorurteile sind gute Ausgangspunkte für die Ausübung von Autonomie. Galston denkt, dass die Bedrohung für Kinder in liberalen Gesellschaften nicht darin besteht, dass diese an etwas zu tief glauben werden, sondern dass sie an nichts tief genug glauben werden. Und der Deliberationsprozess findet besser dort statt, wo es am Anfang starke Überzeugungen gibt, die man in Frage stellen kann: „The role of parents in fostering such convictions should be welcomed, not feared” (Galston 1991, 255). 32 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 32 5/8/2009, 11:14 Die Idee, die ich von Feinberg zitiert habe, dass das Kind so viele offene Optionen wie möglich haben sollte, um zwischen ihnen Entscheidungen zu treffen, hat dennoch eine starke Appellkraft. Wenn Kinder mit unterschiedlichen Positionen in Kontakt kommen, lernen sie etwas über sich selbst und über ihre Präferenzen. Das kann die Neugier auf Neues wecken, was lebenslange Auswirkungen haben kann. Aber das ist weit von der Idee entfernt, dass Eltern nicht versuchen sollten, ihre Kinder mit bestimmten Optionen im Kontakt zu bringen. Eltern regen oft ihre Kindern zu sportlichen oder anderen Aktivitäten an. In einigen Fällen kann das Zwang implizieren. Typische Beispiele dafür ist das Erlangen von Befähigungen, die viel Hingabe, Anstrengungen und Zeit implizieren, wie z.B. das Spiel eines Musikinstruments zu erlernen. Die Argumente für diesen Zwang sind paternalistisch: Man will das Kind von seinen kurzfristigen Präferenzen zugunsten langfristiger Präferenzen schützen, die man im Interesse des Kindes versteht. Hier gibt es sicherlich Terrain für Missbrauch. Aber ich sehe nicht, warum die Eltern nicht versuchen sollten, solche Befähigungen bei ihren Kindern zu fördern, auch wenn das das Annehmen anderer Optionen schwierig macht. Es gibt sicherlich Grenzen, wie das physische, emotionale und intellektuelle Wohlbefinden des Kindes, die nicht übertreten werden sollten. Es gibt auch Grenzen hinsichtlich der Optionen, die den Kindern noch offen stehen sollten: Auch wenn man sich einer Sportart oder einem Musikinstrument intensiv widmet und deswegen eine besondere Schule besucht, sollten diese Schulen die Kinder auch für andere Optionen vorbereiten, wie sie es in der Regel tun. Aber abgesehen von – oft pathologischen – Extremfällen6 erlaubt dies einen breiten Umfang der legitimen elterlichen Autorität. 6 Wie bekannt, wurde John Stuart Mill Opfer eines intensiven und einsamen Ausbildungsprozesses. Er fing mit Griechisch im Alter von 3 Jahren an und spielte nie mit anderen Kindern. Sicherlich kann man jede Menge Kenntnisse sammeln. Aber die Ergebnisse waren alles andere als optimal. Mill erzählt in seiner Autobiography, dass er in seiner Adoleszenz fast Selbstmord bei dem Gedanken beging, dass irgendwann alle Notenkombinationen erschöpft wären und keine neue musikalische Komposition möglich wäre. Bertrand Russell, der allerdings Objekt einer einsamen und intensiven (aber nicht so intensiven wie bei Mill, wie er selbst zugibt) Ausbildung war, erfuhr in seiner Adoleszenz auch Selbstmordneigungen: „because I thought the laws of dynamics regulated the movements of my body, making the will a mere delusion” (Russell 2000 (1926), 122). Eine Besessenheit wie diese ist für Russell ein deutliches Zeichnen nervöser Erschöpfung. 33 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 33 5/8/2009, 11:14 Befürworter von Yoder weisen oft darauf hin, dass die oben erwähnten Fälle analog zu dem Wunsch der amischen Eltern zu verstehen sind, ihre Kinder früher von der Schule zu nehmen. Wer diese Tatsache übersehe, der tue dies nur deswegen, weil wir den Wert hoher künstlerischer Aktivitäten, die sozial geschätzt sind, über den Wert einfacher Aktivitäten, wie die Landarbeit der Amish, stellen. Das sei diskriminierend. Ich denke, dass diese Fälle analog sind, in dem Sinn, dass weder die einen noch die anderen dazu berechtigt sein sollten, ihre Kinder von der Schulpflicht zu befreien. Das hat mit den Chancen zu tun, die auf dem Spiel stehen. Wenn die Amish ihren Kindern die zwei Jahre Oberschule untersagen, haben diese bestimmte Möglichkeiten nicht, die sie sonst hätten. Ich habe einen Amish zitiert, der sagte, dass sie nicht wollen, dass ihre Kinder Ärzte usw., sondern dass sie wie sie selbst Bauern werden. Und das gelingt in den meisten Fällen, indem sie die Kinder von der Schule nehmen, bevor sie selbst wissen, ob sie Ärzte usw. sein wollen. Es ist kein Zufall, dass die meisten Amish, die die Kongregation verlassen, in andere liberalere anabaptistische Gemeinschaften eintreten (anders können sie kaum handeln). Die Interessen der amischen Eltern sollte nicht über das Interesse an den Chancen gestellt werden, auf die eine gleichheitsliberale Gesellschaft verpflichtet ist. Eine gleichheitsliberale Betrachtung des Konflikts sollte den Jungen und Mädchen (Amish und nicht Amish) nicht nur die Möglichkeit dafür bieten, für diese zwei Pflichtjahre in der Schule zu bleiben, sondern auch, die ganze Oberschule abzuschließen, wenn sie begabt sind und es so wollen, unabhängig davon, ob die Eltern damit einverstanden sind. Die dabei entstehenden Kosten können von den Eltern verlangt werden, wenn sie über die Mittel dafür verfügen.7 7 In anderen Fällen gingen die Gerichte zu weit. In Prince v. Massachusetts (321 U.S. 158 (1944)) verkannte das Gericht die elterliche Autorität. Massachusetts wendete seine Gesetze über Kinderarbeit gegen den Onkel (und gleichzeitig Tutor) eines 9 Jahre alten Mädchens an, der das Mädchen mitgenommen hatte, um Pamphlete der Zeugen Jehovas auf der Straße zu verteilen, wie es die Religion forderte. Auch wenn das Mädchen seinen Onkel bei der Aktivität begleiten wollte, entschied das Gericht, dass unter den Übeln, die die staatliche Intervention rechtfertigen: „are the crippling effects of child employment, more especially in public places, and the possible harms arising from other activities subject to all the diverse influences of the street”. Hier ging m.E. das Gericht zu weit. Das Kind besuchte die Schule, und die „Arbeit” war weder gefährlich noch anstrengend. Es ist noch nicht ein Mal klar, dass das Arbeit ist, weil die Leute fünf cents für die Pamphlete bezahlten. Wahrscheinlich wurden damals (1944) die Zeugen Jehovas im Vergleich zu anderen religiösen Gruppen, die ebenfalls ähnliche Aktivitäten mit der Teilnahme von Kindern betrieben, unfair behandelt. Aber abgesehen davon können diese Aktivitäten, wenn sie innerhalb eines begrenzten Rahmens bleiben, nicht mit der Arbeit verglichen werden, die Kinder an 34 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 34 5/8/2009, 11:14 Wenn Ausbildung etwas Gutes ist, und es entsprechend besser ist, eine als keine und eine bessere als eine schlechtere Ausbildung zu haben, ist die Autonomie nicht der Zweck der Ausbildung. Die Autonomie ist etwas, das sich aus dem Lernprozess ergibt. Etwas zu kennen, impliziert, dass man darüber nachdenkt, und wenn man über etwas nachdenkt, gebraucht man kritische Fähigkeiten, die wiederum mit der Autonomie in Verbindung gebracht werden. In diesem Prozess spielen Lehrer und Lehrmethoden eine zentrale Rolle. 8 Dieser Ausbildungsprozess impliziert nicht, dass jeder Ausgebildete in seinem Leben autonom handeln wird. Was die Ausbildung generiert, ist eine Fähigkeit. Und es ist eine ganz andere Sache, ob man eine bestimmte Fähigkeit benützt oder nicht. Viele werden in ihrem Leben keine andere Fähigkeit als „the ape-like one of imitation” (Mill 2000, 59) anwenden. Dennoch würde ich rein spekulativ sagen: Je besser die Ausbildung ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass man diese kritischen Fähigkeiten im Leben nicht anwendet. Der Grund dafür ist, dass der Lehrprozess selbst uns sagt, dass die Autonomie, die Reflexion und die Anwendung kritischer Fähigkeiten etwas Wertvolles ist. Derjenige, der Sokrates liest, versteht, warum Mill einen liberalen Helden aus ihm gemacht hat. Diejenigen, die so ausgebildet werden: „know they need to use tradition to invigorate their own thought – but this benefit involves a willingness to criticize it when criticism is due”. (Nussbaum 1997, 294) 5 Multikulturelle Ausbildung Es ist eine häufig formulierte multikulturelle Forderung, die unterschiedlichen Geschichten und Traditionen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den Lehrplan einzubeziehen. Diese Forderung tritt oft auf in Form eines Angriffs auf den traditionellen zahlreichen unterschiedlichen Orten in der Welt erledigen müssen, um überhaupt überleben zu können – eine systematische Kinderarbeit, die nicht nur den Schulbesuch unmöglich macht, ungesund und gefährlich ist, sondern auch Teil der nationalen Ökonomien ist. Das Interesse der Eltern oder Tutoren daran, dass ihre Kinder die eigene Religion annehmen, erlaubt diese und ähnliche Formen von gemeinschaftlichen religiösen Aktivitäten. Übrigens schätzen in der Regel die Kinder diese Aktivitäten, die auch oft positive Auswirkungen im Leben der Kinder (ein gemeinschaftliches Gefühl, Entwicklung organisatorischer Fertigkeiten usw.) haben. 8 Russell – mit seinem heute in Kritik und Vergessenheit geratenen säkularen Humanismus – dachte, dass: „With good teaching and the elimination of fear, very many boys and girls would be clever who now seem stupid and lethargic” (Russell 2000 (1926), 182). 35 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 35 5/8/2009, 11:14 Kanon (von weißen, toten Männer, wie man sagt). Hier entsteht ein breites Feld für Missbrauch, der manchmal noch nicht einmal vor der Anforderung an die Bildung stehen bleibt, die Wahrheit zu lehren. Dennoch möchte ich dafür argumentieren, dass es, solange die häufigen multikulturellen Missbräuche vermieden werden, Gründe dafür gibt, diese partikulären Perspektiven in den Lehrplan einzubeziehen. Was hier in Frage kommt, ist ein einschließender Lehrplan. Das müssen wir aber von einer anderen multikulturellen Forderung unterscheiden, die ebenfalls an geteilte Identitäten appelliert, aber die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt: Sich von dem allgemeinen Lehrplan ausnahmsweise auszuschließen. Das kann auch zur Forderung nach (religiös oder ethnisch) geteilten Schulen führen. Diese Art multikultureller Ausbildung ist m.E. nicht zu verteidigen. Kinder sollten in der Schule etwas über Traditionen und Kulturen lernen, auch über die derjenigen, die in der Gesellschaft und im Klassenraum vertreten sind. Wie Todd Gitlin hinsichtlich des amerikanischen Kontextes sagt: „It cannot hurt parochial Americans’ capacity to live more fully in the word to know that Western civilization, for all its achievements, is hardly alone” (Gitlin 1996, 227). Das kann auch positive Auswirkungen haben: „The best antidote to normative chauvinism is curiosity” (Nussbaum 1998 (1997), 133). Aber der primäre Zweck ist nicht, dass diejenigen, über die man etwas lernt, aufgrund ihrer Besonderheit eine höhere Selbstachtung erreichen. Anders gesagt, der Zweck ist nicht, bestimmte Leute aufgrund einer ihnen zugeschriebenen Identität zu würdigen. Der primäre Zweck ist, dass diese Bildung – in dem oben beschriebenen Sinn – eine Bereicherung unseres Lebens ist. Ein zweiter Zweck, dem auch die Liberalen, die paternalistische Argumente verabscheuen, zustimmen können, ist, dass man über eigene und fremde Traditionen und Kulturen lernt, zu sehen, wieviel Gemeinsames es in unterschiedlichen Kulturen und Traditionen gibt, und somit das Fremde (und oft Bedrohliche) nicht so fremd ist. Nussbaum bezeichnet das als die Bildung eines kosmopolitischen Staatsbürgers (Nussbaum 1996; 1998). Es ist wie in der guten Literatur: Man entdeckt das Universelle im Partikularen. Man lernt, dass die Probleme der Menschen in der Welt ähnlich sind. Dass die Probleme von Menschen ferner Kulturen und Länder nicht die Probleme dieser partikulären Menschen sind, weil sie sind, wie sie sind, (oder weil sie nicht wie wir sind) sondern die Probleme jedes Menschen, der sich in 36 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 36 5/8/2009, 11:14 solchen Umständen befindet. Und dass unsere Probleme menschliche Probleme sind, die aus spezifischen Umständen entstehen. Ähnlich hat Appiah bezüglich der afrikanischen Identität argumentiert: „We will only solve our problems if we see them as human problems arising out of a special situation, and we shall not solve them if we see them as African problems generated by our being somehow unlike others” (K. A. Appiah 1991). Weitere Gründe, denen auch diejenigen Liberalen zustimmen können, die keine kosmopolitische Einstellung verteidigen wollen, beziehen sich auf die möglichen stabilisierenden und produktiven Auswirkungen einer solchen Ausbildung auf die Gesellschaft. Die Argumente dafür werden häufig in multikulturellen Einsätzen artikuliert, und ich werde sie nicht wiederholen. Minderheitengruppen oder segregierte Gruppen können damit das Gefühl erlangen, dass die eigene Geschichte ein Teil der gemeinsamen Geschichte ist. Das soll ein Gefühl von Zusammengehörigkeit erwecken. Gleichzeitig lernen Schüler, die der dominanten Gesellschaft oder den Mehrheitsgruppen zuzuordnen sind, die anderen besser zu verstehen und sie als gleichberechtigte Partner des gesellschaftlichen Kooperationsunternehmens zu betrachten, was diskriminierende Verhaltensformen neutralisieren soll. Diese Art von Argumenten beruht auf starken empirischen Annahmen, die ich nicht überprüfen werde. Dennoch haben sie Plausibilität. Bisher habe ich die Diskussion sehr allgemein geführt. Es bleiben eine Reihe wichtiger Fragen, die ich nicht behandle (dazu vgl. z.B. Glazer 1997). In welchem Maß und auf welche Art und Weise sollten welche Geschichten unterrepräsentierter Gruppen im Lehrplan integriert werden? Was sind die besseren Lehrmethoden, um mit einem solchen Lehrplan soziale Stabilität anzustreben? Welches Gewicht sollen wir der nationalen Einheit in einem solchen Lehrplan geben? usw. Auf diese und andere Fragen können wir übertriebene multikulturelle Antworten finden (die möglicherweise verletzten Empfindlichkeiten sind unendlich), die schwer verteidigt werden können. Ich möchte nur einen Punkt erwähnen. Gegen übertriebene multikulturelle Forderungen denke ich, dass der Lehrplan danach streben sollte, die Wahrheit zu lehren. Anhänger des Multikulturalismus argumentieren nicht dafür, die Wahrheit nicht zu lehren. Dennoch erheben sie oft den Anspruch darauf, eine „ignored, hidden, the more extreme say ´stolen‘“ Wahrheit zu lehren 37 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 37 5/8/2009, 11:14 – wie z.B. dass der erste Entdecker von Amerika schwarz war (Für eine Diskussion darüber vgl. Glazer 1997, 38 ff.). Gewiss ist „Wahrheit” in der Sozialwissenschaft ein strittiger, oft herausgeforderter Begriff. Es gibt falsche Methoden oder zweifelhafte Annahmen. Dennoch gibt es auch einige Fakten, die nicht geändert werden sollten, um sowohl die multikulturellen als auch die nationalistischen Zwecke zu würdigen. Wie Glazer erzählt: „In the New York State syllabus there is a reference to the influence of the Iroquios or Hodenosaunee federation on the framers of the Constitution”. Dennoch: „the influence of Native Americans on our Constitutional framework was insignificant, perhaps nonexistent” (Glazer 1997, 40). Glazer denkt, dass es eine schwierige Frage ist, ob diese Erwähnung legitim ist, wenn sie die gesellschaftliche Achtung von Native Americans verbessert. Ein zweiter Fall tauchte mit dem Film The Liberators auf. Der Film zeigte Schwarze unter den ersten amerikanischen Soldaten, die Juden aus den Konzentrationslagern befreiten. Historiker behaupteten, dass es unter den ersten Soldaten keine schwarzen Soldaten gab. Man warb für den Film als „a way to improve black-Jewish relations” (Glazer 1997, 40). Glazer wirft die unbeantwortete Frage auf, ob der Film den Kindern in der Schule hätte gezeigt werden sollen oder nicht. Ich denke, dass es in den zwei erwähnten Fällen keinen Grund dafür gibt, Kindern etwas als Wahrheit zu lehren, das offensichtlich nicht wahr ist. Ob die Kinder den Film sehen dürfen oder nicht, hängt davon ab, ob man ihnen erzählt, dass es eigentlich keine schwarzen Soldaten unter den ersten Befreiern gab. Übrigens bietet das eine ausgezeichnete Möglichkeit, um über die offiziellen diskriminierenden Praktiken zu sprechen, die in der amerikanischen Armee damals in Kraft waren. In der Regel ist es Teil der nationalistischen und populistischen Politik, durch Mythen, die man als falsch erkennt, die Identität bestimmter Sektoren der Gesellschaft zu beeinflussen.9 Das sollte aber nicht die Funktion eines Ausbildungssystems sein. Ich stimme Russells Behauptung zu: „I should absolutely never sacrifice intellect to the fancied interest of morals” (Russell 2000 (1926), 186). Das gilt auch im Fall von Galstons oben zitierten Phantasien über ein „Pantheon of heroes”, das die zentralen Institutionen der Gesellschaft legitimiert 9 Vgl. die interessante Forschung von Krishna Kumar über die Anwendung der Nationalgeschichte in Schulbüchern für politische Zwecke in Indien und Pakistan (2001). 38 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 38 5/8/2009, 11:14 (Galston 1991, 244). Gegenüber vielen schwierigen Fragen (v.a. in Bezug auf die nationale Geschichte) verbleibt die Strategie der multiplen Perspektiven. Aber wir müssen die Fakten oder die strittigen Fakten kennen. Hinsichtlich dieser Evidenz können wir denken und Schlussfolgerungen ziehen. Eine öffentliche, bewusste Erzeugung falscher Überzeugungen ist nicht zu rechtfertigen, auch wenn die damit bezweckten Ziele wünschenswert wären. Es wäre eine Manipulation, die den Menschen nicht genug Achtung schenkt. Ich komme jetzt zu der zweiten multikulturellen Ausbildungsstrategie, die im Gegensatz zu der ersten nicht zu rechtfertigen ist. In der Regel wird sie von religiösen Gruppen vorgetragen. Bei dem viel zitierten Fall Mozert (Mozert v. Hawkins County Board of Education, 827, f.2d 1058) haben die Kläger (fundamentalistische Christen) Einwände gegen Texte eines Schulbuches erhoben. Die Eltern: „objected to teaching children to make critical judgement, to use their imaginations, and to exercise choice ´in areas where the Bible provides the answer‘“ (Gutmann 1995, 571). The required reading to which the parents objected ranged from a picture of a boy having fun cooking while a girl read to him, to an excerpt from Anne Frank’s Diary of a Young Girl, to a passage describing a central idea of the Renaissance as belief in the dignity and worth of human beings. (Gutmann 1999 (1987), 298). Auch wenn der Leseunterricht in den Hawkins County Schulen es nicht anstrebe, dass die Kinder sich zu irgendeinem Glauben bekennen, setze der Leseunterricht die Kinder Kenntnissen aus, die unerwünschte Einflüsse hätten. Die Eltern kritisierten den Unterschied zwischen der Einimpfung von Glauben und der Vermittlung von Kenntnissen. Sie kritisierten, dass die Leseübung, in der ein Junge einen Toast macht und ein Mädchen ihm vorliest („Pat read to Jim. Jim cooks. The big book helps Jim. Jim has fun”), „denigrates the differences between the sexes”, die die Bibel billige. Gegen das Tagebuch der Anne Frank wendeten sie ein, dass sie schrieb, dass ein nichtorthodoxer Glaube an Gott besser als kein Glaube ist. An der Renaissance als Glaube an die Würde und den Wert der Menschen kritisierten sie, dass dieser Glaube inkompatibel mit ihrem Glauben sei. Dazu kritisierten sie einen Text, der eine katholische Siedlung von Indianern in New Mexico beschrieb, weil diese Katholizismus lehre. 39 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 39 5/8/2009, 11:14 Seiner minimalistischen Konzeption entsprechend denkt Galston, dass in diesem Falle das Gericht das – angeblich existierende – Verfassungsrecht der Eltern (gegründet auf das Recht auf freie Religionsausübung) darauf, ihre Kinder von dem verpflichtenden Leselehrplan ausnahmsweise zu befreien, verkannt hatte. Spinner denkt hingegen, dass sie volle Staatsbürger (und nicht teilweise Staatsbürger wie die Amish) seien, da sie im Unterschied zu den Amish nicht danach streben, sich von der Gesellschaft auszuschließen. Insofern sollten sie keine Ausnahme von dem Schulprogramm erlangen. Die logische Schlussfolgerung von Spinners Argument ist, dass die Eltern dann die Ausnahme erlangen sollten, wenn sie die Gründung einer von der breiten Gesellschaft getrennten Gemeinschaft anstreben. Die Gründe, die gegen diese Zerstückelung des Lehrplans sprechen, sind die gleichen, die für die erste Strategie sprechen. Ausbildung ist gut fürs Leben. Sie strebt an, diskriminierende Verhaltensweisen zu beseitigen, was die gesellschaftliche Stabilität und Bereitschaft zur Kooperation fördern soll. Und sie hat eine Funktion bei der Aufrechterhaltung demokratischer Institutionen, indem sie Anforderungen an den zukünftigen Bürger stellt. Mit Gutmanns Worten: „If public schools cannot require students to read about the religious orthodoxy of a New Mexican Indian settlement, or about a boy cooking, or about Anne Frank’s unorthodox religious opinions, or about the dignity and worth of human beings, then liberal democracy might as well give up on civic education beyond teaching literacy and numeracy” (Gutmann 1995, 572). Darüber hinaus sollten religiöse Gruppen nicht die öffentlichen Schulen dazu verwenden können, ihre Kinder zu indoktrinieren. Es ist eine Erweiterung dieser Idee, dass sie kein Vetorecht über Inhalte des Lehrplans haben sollten, weil sie diese Inhalte als WAS heisst ALS ihre religiösen Konzeptionen verletzend empfinden. Im Gegensatz dazu sollten die Schüler öffentlicher Schulen im den letzten Jahren dazu ermutigt werden: „to read all sides in such controversies, not only the orthodox side” (Russell 2000 (1926), 183). Oder wie Hare das „Humanities Project” beschreibt: „Its aim is to facilitate discussion of important current issues in the class-room... Thus the children, it is hoped, become more conversant with the issue, and also better able to handle controversial issues in general” (Hare 1992, 140). Die Zerstückelung des Lehrplans durch religiöse oder ethnische Kriterien bringt uns zu der gesellschaftlichen Zerstückelung, die im Hintergrund vieler multikultureller Theorien droht. 40 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 40 5/8/2009, 11:14 Häufig wird argumentiert, dass man religiöse Eltern dazu ermutigt, eigene Schulen zu gründen, wenn man für sie keine Ausnahme vom Lehrplan öffentlicher Schulen zulässt. Das führt zu einer noch gravierenderen Zerstückelung der Gesellschaft. Für überzeugte Anhänger des Multikulturalismus ist das nicht etwas, das es zu verhindern gilt, sondern ein angestrebtes Ziel. Das können wir als eine dritte extreme multikulturelle Ausbildungsstrategie betrachten. Aus einer liberalen Perspektive (wenn wir extreme aber kohärente Gleichheitsargumente beiseite lassen) gibt es wenig gegen die Gründung von privaten Schulen zu sagen, solange die jeweiligen Eltern sie finanzieren und diese Schulen minimale Anforderungen erfüllen. Das betrifft nicht nur die Einrichtungsqualität, sondern auch die Qualität der Lehrer und des Lehrplans. Lehrer sollten zugelassene Lehrer sein (etwas, das z.B. wenige amishe Lehrer nachweisen können). Der Lehrplan sollte minimale Inhalte einschließen. Und die Schule sollte über einen breiten Raum sowohl hinsichtlich der Erweiterung dieser Lehrinhalte als auch hinsichtlich den Vermittlungsmethoden offen verfügen. Das nicht zu erlauben, kommt (wie ich oben argumentierte) den elterlichen Interessen an der Ausbildung ihrer Kinder zu wenig entgegen. Freilich betrifft das nicht nur ethnisch oder religiös fundierte Schulen. Das betrifft jede Schule, die etwas auf dem Markt anzubieten hat, das Kunden attraktiv finden können. Amish können weiterhin ihre Kinder ihre Schulen besuchen lassen – auch wenn das Niveau bekanntlich schlecht ist –, vorausgesetzt, dass diese die minimalen Anforderungen erfüllen. Schulen, die einen sprachlichen Kulturraum als Sprachunterricht zugänglich machen, kommen nicht nur den Interessen von Eltern oder Kindern entgegen. Sie können auch zur Förderung wichtiger Fähigkeiten beitragen. Aber, soll der Staat bestimmte religiöse oder ethnische Schulen finanzieren? Häufig finanzieren Staaten religiöse Schulen. In der Regel ist das auf historisch entstandene Verträge zwischen dem Staat und bestimmten religiösen Kongregationen zurückzuführen. Damit taucht die Frage nach einer nichtdiskriminierenden Mitfinanzierung von Ausbildungsanstalten auf, die die – auch strittigen – Interessen religiöser Minderheiten vertreten. Bis vor kurzem finanzierte man in Großbritannien mit öffentlichen Ressourcen zahlreiche anglikanische, katholische und jüdische Schulen. Die Ansprüche von Moslems auf eine ähnliche Finanzierung wurden aber abgelehnt (Vgl. Parekh 2000, 254 ff.) – allerdings bis vor kurzer Zeit. Ich bin mit der öffentlichen Finanzierung 41 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 41 5/8/2009, 11:14 religiöser Schulen – und als Erweiterung mit der öffentlichen Finanzierung ethnisch definierter Schulen – nicht einverstanden. Ein solches System nimmt eine diskriminierende Form gegenüber säkularen privaten Schulen an, die sich meiner Meinung nach aus einer liberalen Perspektive nicht rechtfertigen lässt. Ein Weg, solche Probleme zu umgehen, der in unterschiedlichen Demokratien im Trend liegt, ist das Gutscheinsystem (Voucher). Damit können die Eltern ein großes Maß an Autonomie bei ihren Entscheidungen über die Ausbildung ihrer Kinder erlangen (Vgl. Chubb/ Moe 1990). Das Ausbildungssystem wird als eine Erweiterung eines Systems freiwilliger Assoziationen verstanden. Der Vorschlag von Chubb und Moe, dass Eltern ihre Kinder in jegliche Schule, die die definierten Anforderungen erfüllt, einschreiben können, und diese durch einen aus Steuergeldern bezahlten Fonds finanziert werden, verwischt den Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen. Sie schlagen vor: „a equalization approach that requires wealthier districts to contribute more per child... that poor districts do and that guarantees students in all districts and adequate financial foundation” (Chubb/ Moe 1990, 220). Freilich lässt sich das Interesse an einem Gutscheinsystem keineswegs ausschließlich auf die Forderungen des kulturellen Pluralismus zurückführen. Solche Systeme verkörpern viel mehr ideologische Standpunkte. Man will die Ausbildungsbestimmungsmacht dem Staat entziehen. Oder man will den Bürgern eine Wahlmöglichkeit eröffnen, die in der Regel nicht reich genug sind, um ihre Kinder in eine private Schule einschreiben zu können. Ein solches System soll die Bürokratie verringern, die man als ein großes Hindernis für eine effiziente Schule betrachtet. Es soll auch Finanzierungsungleichheiten überwinden, die sich in unterschiedlichen Ausbildungsqualitäten niederschlagen.10 Oft treffen alle diese Elemente zusammen. Ob Qualitätsdefizite bei der Ausbildung mit diesem System überwunden werden können, ist allerdings empirisch strittig. Die Vorteile eines solchen Systems, mit dem die Fragen nach der Zulässigkeit der staatlichen Finanzierung von religiösen Kongregationen umgangen werden sollen, können am Beispiel der heutigen Diskussion 10 Das lässt sich in Nordamerika auf das Verlassen der Mittelklasse der Innenstädte und auf die Entstehung armer Bezirke zurückführen, deren Einwohner in der Regel rassische oder ethnische Eigenschaften teilen. 42 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 42 5/8/2009, 11:14 in den USA betrachtet werden. Die Trennung von Staat und Religionen und die in der Verfassung verankerte Klausel der Enthaltung des Staates bezüglich religiösen Angelegenheiten wird wahrscheinlich durch ein Gutscheinsystem nicht beeinträchtigt, auch wenn die meisten privaten Schulen, die jetzt von einem solchen System profitieren können, religiöse Schulen sind. Der Grund dafür ist, dass es eine individuelle und keine staatliche Entscheidung ist, welche Ausbildungsprodukte die Individuen mit diesem Geld kaufen, auch wenn es sich um öffentliches Geld handelt. In den optimistischen Fassungen kann ein Gutscheinsystem dazu beitragen, dass andere als religiöse Unternehmer Ausbildungsangebote auf dem Markt anbieten. Aber wenn keine anderen als religiöse Schulen sich auf dem Markt behaupten, kann das Gutscheinsystem zu einer extremen Fassung der staatlichen Finanzierung religiöser Schulen umschlagen. Lehrervereinigungen argumentieren, dass es vielleicht besser wäre, das öffentliche Ausbildungssystem zu verbessern, als das Gutscheinsystem anzunehmen. Auch wenn dieses System nicht ausschließlich auf die Forderungen des kulturellen Pluralismus zurückzuführen ist, bietet es eine für viele Autoren gewünschte Strategie, damit Eltern ihre kulturellen oder religiösen Interessen bei der Ausbildung ihrer Kinder in den Vordergrund stellen können. Die Gründe dafür sind zu unterscheiden: Während die einen die Chance dafür sehen, die kulturellen Forderungen des Multikulturalismus zu würdigen (Vgl. Lieberman 1993), denken die anderen, eher aus einer pragmatischen Perspektive, dass dieses System die beste Möglichkeit dafür biete, gesellschaftliche Konflikte zu vermeiden. Manchmal treffen die beiden Elemente zusammen. John Gray denkt z.B., dass ein öffentliches Bildungssystem in kulturell pluralistischen Gesellschaften zur Entstehung gesellschaftlicher Konflikte und zur Politisierung des Lebens beiträgt. Das leitet sich aus der allgemeinen Tatsache ab, dass die staatliche Bereitstellung von gesellschaftlichen Dienstleistungen mit einem Druck zu kultureller Homogenität zusammen laufen soll: The policy implication of this truth is that both social stability and individual liberty are best served if government withdraws from such activities and confines its intervention to funding voluntary choice in education and elsewhere for families and individuals with slight means. (Gray 1996 (1993), 267). 43 Conjectura, Daniel Loewe, v. 14, n. 1, jan./maio 2009 CAPITULO1.pmd 43 5/8/2009, 11:14 Die Forderungen nach getrennten Schulen gehen in der multikulturellen Diskussion sehr weit. Sie beschränken sich keineswegs auf religiöse Schulen. Sie umfassen ethnisch definierte Schulen oder geschlechtsgetrennte Schulen. Wenn solche Schulen durch ein Gutscheinsystem finanziert werden, trifft die oben angeführte Kritik nicht, dass säkulare Schulen damit benachteiligt würden. Dennoch habe ich (zugegeben keine zureichenden) Argumente gegen eine Zerstückelung des Ausbildungssystems vorzubringen: Ich gehe davon aus, dass man in öffentlichen Schulen hinsichtlich der Lehrinhalte mehr verlangen kann als in privaten Schulen. Einige religiöse Schulen können zu einer doppelten Indoktrination der Kinder beitragen (sowohl zu Hause als auch in der Schule), ohne dass man etwas dagegen unternehmen kann. Aber die Schule ist ein wichtiger Ort, um mit Menschen zusammenzukommen, die aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen stammen. Mit ihnen zurechtzukommen, und v.a. als ein Gleicher unter Gleichen behandelt zu werden, ist eine für die demokratische Staatsbürgerschaft wichtige Übung. Das den Mitgliedern einer Klasse durch die Lehrer vermittelte Gefühl, ein Gleicher unter Gleichen zu sein, spielt eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft. Wenn unsere Sorge der gesellschaftliche Konflikt ist, der durch die Anforderungen öffentlicher Schulen an Kinder mit religiösen Eltern entsteht, sollte man diesen Konflikt nicht durch solche kurzfristige Maßnahmen wie getrennte Schulen zu beseitigen suchen, die langfristig als ernsthafte gesellschaftliche Konflikte zurückschlagen können. Bibliographie Ackerman, Bruce: Social Justice in the Liberal State (New York, London: Yale University Press 1980). Aiken, William/ LaFollette, Hugh (Hrsg.) Whose Child? Children´s Rights, Parental Authority, and State Power (Totowa, N.J.: Littlefield, Adams 1980). Appiah, Kwame Anthony: In My Father’s House: African in the Philosophy of Cultures (New York: Oxford University Press 1991). 44 CAPITULO1.pmd Conjectura, Caxias do Sul, v. 14, n. 1, p. 9-46, jan./maio 2009 44 5/8/2009, 11:14 Arneson, Richard/ Shapiro, Ian: “Democratic Autonomy and Religious Freedom: A Critique of Wisconsin v. Yoder”, in Shapiro 1996. Barry, Brian: Culture and Equality. 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