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Finsterland
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ir ist kalt. Das habe ich kommen sehen, denn mir ist ab November
immer kalt. Und ich bekenne freimütig, dass ich den Winter
nicht ausstehen kann. Alle wesentlichen Aspekte dieser
Jahresunzeit gehen mir auf die Nerven: Schnee, Eis, Glätte, Kälte,
Schnupfen und die komplette Dekoration inklusive
Wintersportkleidung
mit
darin
eingenähten
verhaltensauffälligen Niederländern. Der Winter ist die
Jahreszeit der Katastrophen. Die Bahn fährt nicht oder viel später
als man sich das vorstellen kann und wenn, dann auf Kosten der Heizung. Sobald ein
Zentimeter Schnee auf dem Rollfeld liegt, hebt kein Flugzeug mehr ab. Und der
Autovermieter Sixt verlangt eine Extragebühr für Winterreifen, obwohl die vorgeschrieben
sind und man gar keine Autos ohne Schneebereifung mieten kann. Im Winter macht das
Grillen keinen Spaß, die Bundesliga macht Pause und im Sommer fröhlich brummende
Biergärten sehen aus wie Friedhöfe. Es wird nicht einmal richtig hell und das ganze Land ist
mit fiesen kleinen Steinchen paniert, auf denen man angeblich nicht ausrutschen kann. Wir
leben in einem Rollsplitland. Im Winter ist man zudem ständig falsch gekleidet. Alle
Menschen dampfen und kleben vor sich hin und niemals hat man im Winter so viel Spaß wie
George Michael und seine Freunde im Video von „Last-Christmas.“ Bestimmt wurde das im
Sommer auf den Seychellen gedreht. Mit Kunstschnee.
Das sind natürlich larmoyante und uncoole Beschwerden. Man muss das Leben eben so
nehmen wie es kommt, samt Schnee und Graupel und Winterfest der Volksmusik. Es
empfiehlt sich hier mal wieder als Orientierung der oberlässige Willy Brandt. Der wäre in
diesen Tagen 100 Jahre alt geworden. Die Medien haben in diesem Zusammenhang alle
dasselbe Foto gedruckt und es war nicht das vom Kniefall in Warschau bei Sauwetter am 7.
Dezember 1970. Nein, sämtliche Magazine und Zeitungen veröffentlichten stattdessen ein
Bild, dass ihn im Sommer 1976 mit Fluppe im Mund beim Spielen einer Mandoline zeigt.
Willy trägt ein Jeanshemd und sieht nicht so aus, als würde er auch nur einen einzigen trüben
Gedanken an durchweichte Strümpfe und graue Schneehaufen verschwenden.
Ich tröste mich mit der Feststellung, dass eben nicht jeder so cool sein kann wie Willy
Brandt oder eine libanesische Zeder. Im Schlosspark Weinheim steht ein solcher Baum, der
bereits 500 Jahre alt ist und ebensoviele Winter einfach stumm und ohne Murren
durchgestanden hat. Wobei man trotz aller Bewunderung für so viel Standfestigkeit
bemerken darf, dass weder die Libanon-Zeder von Weinheim noch Willy Brandt jemals bei 3
Grad und Nieselregen in Altenbeken umsteigen mussten.
Altenbeken hat zwei Bahnsteige, einen Kiosk und je eine Toilette für Damen und Herren.
Diejenige für die Herren ist kaputt und verschlossen und die für die Damen funktioniert nur
nach Geldeinwurf. Wenn man keine 50 Cent hat, irrt man mit seinem Gepäck auf dem
Parkplatz des Bahnhofs herum und sucht ein Gebüsch. Es spielen aber Kinder dort und es
macht sich nicht gut, als Fremder mit einem Koffer hinter einem fast kahlen Holunderstrauch
zu verschwinden. Also steht man mit leicht abgewinkelten Armen in seiner dicken Jacke wie
ein Pinguin auf dem Bahnsteig, muss mal und denkt über seine Berufswahl nach.
Was soll ich machen? Für mich ist nun einmal der Winter die Hauptreisezeit. An ganz
düsteren Wintertagen stelle ich mir vor, dass ich besser Plagiatsjäger oder Mikrobiologe
geworden wäre, irgendwas, wo es kein Wetter gibt. Aber ich schreibe nun einmal. Aus Rache
am Winter stelle ich mir dann vor, dass ich meine Dienste den Phishing-Verbrechern im
Internet anbiete. Die schicken mir ständig Mails, weil angeblich mein Pay-Pal-Konto
überprüft werden muss oder meine Bankdaten nicht mehr stimmen. Diese Schreiben sind
von derart mieser stilistischer und orthographischer Qualität, dass wahrscheinlich niemand
darauf hereinfällt. Ich könnte gegen ordentliches Honorar die Texte sicher zum Wohle der
internationalen Internet Kriminalität verbessern. Auf solche finstere Gedanken kommt man
wirklich nur im Winter, wenn Graupel auf die Gleise von Altenbeken fällt und der Zug eine
Stunde Verspätung hat. •
25. NOVEMBER 2013