Falllösung lang

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Falllösung lang
Propädeutische Übung im Strafrecht AT I
begleitend zum Grundkurs I bei Prof. Dr. Kudlich
WS 2007/08
Einheit 14: Fahrlässigkeit
Lösungsskizze zum Übungsfall
Generalvertreters Beitrag zur Stabilisierung der
Rentenbeiträge
A.
Strafbarkeit des G
I. §222 StGB durch das Anfahren mit dem Opel Kapitän
1. Dadurch, dass G die O mit seinem Wagen anfuhr, könnte er sich wegen
fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben.
a) Der tatbestandliche Erfolg ist in Gestalt von O’s Tod eingetreten. Das Anfahren durch G war für diesen Erfolg auch, kausal i.S.d. „conditio-sine-quanon“-Formel; insbesondere wird der Kausalzusammenhang auch weder durch
ein möglicherweise pflichtwidriges späteres Unterlassen des G noch durch das
Verhalten des M unterbrochen.
b) G müsste objektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt haben. Der Maßstab für
die im Verkehr einzuhaltende Sorgfalt kann sich dabei aus gesetzlichen Anforderungen, den untergesetzlichen Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise
oder aber dem Maßstab eines besonnenen und gewissenhaften Menschen in
der konkreten Situation des Täters ergeben. Hier ergeben sich gleich drei mögliche Sorgfaltspflichtverstöße des G in engem zeitlichen Umfeld des Unfalls:
aa) G hat die nach § 3 I S. 1, III Nr. 1 StVO zulässige Höchstgeschwindigkeit
überschritten. Da die Geschwindigkeitsbegrenzungen nach der StVO das vom
Gesetzgeber geforderte Verhalten im grundsätzlich gefährlichen Bereich des
Straßenverkehrs konkretisieren, liegt in ihrem Überschreiten eine Sorgfaltspflichtverletzung.
Propädeutische Übung Strafrecht AT I, WS 2007/08
bb) In der überhöhten Lautstärke des Autoradios liegt ein Verstoß gegen
§ 23 I S. 1 StVO. Da auch die dort genannte Regelung der Sicherheit des Straßenverkehrs dienen soll, begründet der Verstoß dagegen ebenfalls eine Sorgfaltspflichtverletzung.
cc) In der Beschleunigung seines Fahrzeuges zum Zeitpunkt, zu dem sich O
inmitten der Straße befand, liegt schließlich zumindest ein Verstoß gegen § 1 I,
II StVO, der „gegenseitige Rücksicht“ fordert und eine Gefährdung anderer
„mehr, als nach den Umständen unvermeidbar“ untersagt. Da diese Forderungen gewissermaßen das Verhalten eines besonnenen Verkehrsteilnehmers allgemein umschreiben, kann im Verstoß gegen sie ebenfalls eine Sorgfaltspflichtverletzung gesehen werden.
Die Sorgfaltspflicht des G ist insoweit auch nicht durch den sog. Vertrauensgrundsatz herabgesetzt. Zwar besagt dieser, dass man sich – insbesondere im
Straßenverkehr – grundsätzlich auf das verkehrsgerechte Verhalten anderer
Verkehrsteilnehmer verlassen darf. Allerdings gilt dieser Vertrauensschutz gerade nicht, wenn erkennbar ist, dass der andere sich nicht sorgfaltsgemäß verhalten wird (wenn mithin ein „triftiger Anlass zum Nichtvertrauen“ besteht).
Ein solcher liegt hier gleich in doppelter Weise vor: Zum einen ist der Vertrauensgrundsatz gegenüber Kindern und alten Menschen generell eingeschränkt;
zum anderen hätte das unentschlossene Verhalten der O (stehen bleiben mitten
auf der Straße) dem G gerade Anlass sein müssen, besonders vorsichtig zu sein.
c) Des Weiteren müsste der Taterfolg objektiv vorhersehbar gewesen sein. Für
einen objektiven Beobachter sind die Gefahren keineswegs unvorhersehbar, die
sich ergeben, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wird und
nach abruptem Abbremsen in einer unklaren Verkehrssituation unter Beteiligung älterer Menschen ein Fahrzeug beschleunigt wird, ehe die Situation geklärt
ist. Hinsichtlich des zu lauten Radiohörens stellt sich allerdings die Frage, ob es
wirklich objektiv vorhersehbar ist deswegen eine erhöhte Gefährdung für Fussgänger zu schaffen. Zwar ist es durchaus vorhersehbar aufgrund des Geräuschpegells akustische Warnsignale – wie etwa eiin Martinshorn – nicht wahrzunehmen und daraufhin einen Unfall zu verursachen, was jedch das Überfahren
von Passanten betrifft, wird man an der obj. Vorhersehbarkeit zweifeln müssen. (a.A. vertretbar, wenn auf die abstrakt generelle Gefährlichkeit zu lauten
Musikhörens wegen allgemeiner Unaufmerksamkeit abgestellt wird. Wer hier
die obj. Vorhersehbarkeit bejaht, muss aber im Rahmen der obj. Zurechnung
an den Pflichtwidirgkeitzusammenhang denken).
Einheit 14: Fahrlässigkeit
d) Schließlich müsste der eingetretene Erfolg dem G auch objektiv zurechenbar sein. Hier stellt sich bei Fahrlässigkeitsdelikten insbesondere die Frage nach
dem sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang sowie nach dem Schutzzweck der
jeweils verletzten Sorgfaltspflicht. Dabei wird zum einen gefragt, ob der tatbestandliche Erfolg auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten des Täters eingetreten wäre; zum anderen wird geprüft, ob sich im konkreten Erfolg
gerade die Gefahr verwirklicht, deren Eintritt nach dem Schutzzweck der verletzten Sorgfaltsnorm gerade vermieden werden sollte:
aa) Hinsichtlich der überhöhten Geschwindigkeit vor dem Unfall könnte man
zwar argumentieren, dass ohne diese der Unfall nicht eingetreten wäre, da G
sich möglicherweise ohne die überhöhte Geschwindigkeit nicht zu dem Zeitpunkt am Unfallort befunden hätte, zu dem O die Straße überqueren wollte.
Allerdings liegt der Schutzzweck von Geschwindigkeitsbegrenzungen grundsätzlich darin, die Sicherheit des Straßenverkehrs in der konkreten Situation zu
gewährleisten; dagegen liegt ihr Zweck nicht darin, dass ein Verkehrsteilnehmer
zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem späteren Ort sein soll oder nicht.
Dies wird schon daraus deutlich, dass mit o.g. Argumentation ein Unfall gerade
auch dann vermieden worden wäre, wenn G die Geschwindigkeit noch viel
stärker überschritten hätte. Denn dann hätte er die Unfallstelle möglicherweise
bereits passiert, als O die Straße überqueren wollte.
Exkurs: Dies gilt nach Ansicht des BGH allerdings dann nicht uneingeschränkt, wenn die Geschwindigkeit in der „kritischen Situation“ erhöht ist. Hier soll die Schutzrichtung von Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht nur dahin gehen, dass der Fahrer einem eventuellen Hindernis noch selbst ausweichen bzw. rechtzeitig bremsen kann;
vielmehr erfasse der Schutzzweck hier auch die bei geringeren Geschwindigkeiten größere „Chance“ des Opfers, die Straße doch noch
knapp vor dem nahenden Fahrzeug überqueren und sich in Sicherheit bringen zu können. Da vorliegend jedoch die überhöhte Geschwindigkeit eindeutig nur vor der kritischen Situation vorlag, musste
auf dieses Spezialproblem der Lösung nicht eingegangen werden.
bb) Sofern die Vorhersehbarkeit oben bejaht wurde, könnte hinsichtlich des
zu laut eingestellten Autoradios bereits der Pflichtwidrigkeitszusammenhang
fehlen. Nach dem Sachverhalt ist nicht ersichtlich, dass sich an dem Ablauf des
Geschehens irgend etwas geändert hätte, wenn das Radio des G leise eingestellt
gewesen wäre. Da nicht einmal Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein leiseres
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Radio im konkreten Fall auch nur das Risiko für O verringert hätte, ist daher
vom Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs auszugehen, ohne dass eine
Auseinandersetzung mit der insoweit strengeren sog. Risikoerhöhungslehre
erforderlich wäre.
cc) Möglicherweise ist der eingetretene Erfolg dem G jedoch mit Blick auf den
Verstoß gegen § 1 I, II StVO zuzurechnen: Sieht man das pflichtwidrige Verhalten hier gerade im Beschleunigen trotz unklarer Verkehrslage (vgl. o.), so ist
der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu bejahen. Denn bei einem ordnungsgemäßen Verhalten des G (z.B. Stehenbleiben oder nur ganz langsames Anfahren, um reagieren zu können) wäre der Erfolg nicht eingetreten. Der Erfolg
fällt aber auch in den Schutzbereich der verletzten Sorgfaltspflicht, da es gerade
Sinn und Zweck des § 1 I, II StVO ist, durch vorausschauendes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr auf Gefahren rechtzeitig reagieren zu
können. Da G dies durch sein forsches Beschleunigen in einer unklaren Verkehrssituation unter Beteiligung eines älteren Menschen nicht mehr konnte,
fällt der Tod der O hier gerade auch in den Schutzbereich der verletzten Sorgfaltsnorm.
Auch ein Ausschluss der objektiven Zurechenbarkeit unter dem Gesichtspunkt
einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der O scheidet aus: eine solche
ist zwar nach herrschender Meinung bei der bloßen Veranlassung, Förderung
oder Ermöglichung fremder Selbstgefährdung möglich. Die Grenzen eines
solchen zurechnungs- und damit tatbestandsausschließenden Verhaltens liegen
allerdings dort, wo der andere Teil das Risiko besser erfasst und dessen Realisierung letztlich selbst in der Hand hat. Vorliegend ist gerade nicht davon auszugehen, dass O die drohende Gefahr erkannt hat (oder auch nur hätte erkennen können). Insoweit gilt das oben zum Ausschluss des Vertrauensgrundsatzes angeführte entsprechend.
Exkurs: Aufbaumäßig wäre hier auch ein anderes Vorgehen möglich gewesen:
Man hätte ebenso gut nach jeder einzelnen Feststellung des Sorgfaltspflichtverstoßes prüfen können, ob der Erfolg gerade mit Blick
auf diese Sorgfaltspflichtverletzung objektiv zurechenbar ist.
2. Auch durch die Verwirklichung des Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts
wird die Rechtswidrigkeit indiziert. Ein Rechtfertigungsgrund, der das Verhalten des G ausnahmsweise rechtmäßig machen könnte, ist nicht ersichtlich. G
handelte daher rechtswidrig.
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3. Schließlich müsste G auch schuldhaft gehandelt haben. Hier ist bei den
Fahrlässigkeitsdelikten besonders zu prüfen, ob Sorgfaltspflichtverletzung und
Vorhersehbarkeit auch subjektiv vorliegen: Da der Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte enthält, dass es gerade dem M unmöglich gewesen wäre, sich verkehrsgerecht zu verhalten sowie die drohende Gefahr vorherzusehen, ist dies
hier zu bejahen. Mangels weiterer Anhaltspunkte im Sachverhalt ist daher davon auszugehen, dass G auch schuldhaft handelte.
Exkurs: Weitere vom Vorsatzdelikt abweichende Merkmale der Schuldprüfung bei Fahrlässigkeitsdelikten liegen in Folgendem: Zum einen ist
insbesondere bei der unbewussten Fahrlässigkeit die Frage nach dem
Unrechtsbewusstsein dahingehend zu modifizieren, dass ein „potentielles Unrechtsbewusstsein“ genügt; es ist also ausreichend, dass der
Täter das Unrecht seiner Tat hätte erkennen können, wenn ihm bewusst gewesen wäre, dass er ein Rechtsgut verletzt. Zum anderen ist
bei den Fahrlässigkeitsdelikten – anders als generell bei den Vorsatzdelikten – die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als Entschuldigungsgrund teilweise anerkannt. Eine besondere Konfliktsituation, die dem G die Erfüllung der Sorgfaltspflicht in außergewöhnlichem Maße erschwert hätte, ist hier allerdings nicht ersichtlich. Insoweit gilt für diese beiden Punkte das gleiche wie für viele Prüfungspunkte auf der Stufe der Schuld auch beim Vorsatzdelikt: Sie sind nur
anzusprechen, wenn im Sachverhalt Anhaltspunkte bestehen, dass sie
problematisch sein könnten. Dagegen sollte man die subjektive Vorhersehbarkeit der Sorgfaltspflichtverletzung m.E. immer zumindest
in der kurzen Art und Weise ansprechen, wie es hier erfolgte.
II. §§ 212, 211, 13 StGB
Eine Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts durch Unterlassen
scheidet hier jedenfalls deswegen aus, weil G auf Grund seines eigenen Eindrucks und noch bestärkt durch die Äußerung des M davon ausging, dass O
keinesfalls mehr zu retten war.
Exkurs: Hier stellt sich wieder die Frage, wie ausführlich der objektive Tatbestand geprüft werden muss, wenn der subjektive Tatbestand ersichtlich nicht vorliegt: Dass hier auf eine ausführliche Prüfung verzichtet
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wurde, liegt zwar auch daran, dass das Unterlassungsdelikt in der
Vorlesung noch nicht näher behandelt wurde; es wäre aber auch in
einer (zumindest Fortgeschrittenen-) Klausur durchaus zulässig, diese
Frage hier so knapp abzuhandeln, wenn der Sachverhalt hinsichtlich
des fehlenden Vorsatzes so deutlich ist wie hier. Vorliegend besteht
auch kein Erfordernis, „nebenbei und unaufdringlich“ sein „Wissen“
mit Blick auf eine Garantenstellung des G aus Ingerenz (vgl. dazu unten) „abzuladen“; denn diese kann im Zusammenhang mit der anschließenden Prüfung der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen,
§§ 222, 13 StGB, etwas zwangloser angesprochen werden.
III. §§ 222, 13 I StGB
Durch den Abbruch der Wiederbelebungsversuche könnte sich G wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen gemäß §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht
haben.
Exkurs: Das Unterlassungsdelikt war noch nicht Gegenstand einer vertieften
Behandlung in der Vorlesung, wird aber im kommenden Semester
behandelt, so dass man sich schon einmal folgende Punkte klar machen kann:
(1)
Wird ein Tatbestand, den das Gesetz für den Normalfall
durch ein aktives Tun umschreibt, durch Unterlassen begangen, spricht man von sog. unechten Unterlassungsdelikten.
Dass eine Strafbarkeit wegen eines solchen Unterlassens
möglich ist, ergibt sich klar aus § 13 I StGB. Dort wird
zugleich auch statuiert, dass wegen Unterlassens nur strafbar ist, wer für den Nichteintritt des Erfolges „rechtlich
einzustehen hat“ und daher zur aktiven Erfolgsabwendung
verpflichtet ist (sog. Garantenstellung). Wann dies freilich
der Fall ist, lässt sich § 13 I StGB nicht entnehmen, was als
ernst zu nehmendes Bestimmtheitsproblem mit Blick auf
Art. 103 II GG kritisiert wird (zu den verschiedenen Arten
der Garantenstellung näher in Skript und Vorlesung zu den
Unterlassungsdelikten). Eine weitere Abweichung gegenüber den Begehungsdelikten ergibt sich daraus, dass eine
Kausalität eines Unterlassens schwer vorstellbar ist und
statt dessen eine „Quasikausalität“ ausreichend sein soll.
Einheit 14: Fahrlässigkeit
S. 3
1.
2.
3.
(3)
Diese liegt nach h.M. vor, wenn bei Vornahme der pflichtgemäßen Handlung der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unterblieben wäre. (2) Aus all dem
ergibt sich folgendes Prüfungsschema für das unechte Unterlassungsdelikt:
Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
* Abgrenzung Tun / Unterlassen
* Erfolgseintritt
* Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz
physisch-realer Handlungsmöglichkeit
* Quasi-Kausalität
* Garantenstellung
* Objektive Zurechnung
* Gleichwertigkeit des Unterlassens
b) Subjektiver Tatbestand
Rechtswidrigkeit
Schuld
Für das – vorliegend interessierende – fahrlässige Unterlassungsdelikt ergibt sich aus einer Kombination dieses Schemas mit dem des Fahrlässigkeitsschemas folgendes Bild:
1. Tatbestand
* Abgrenzung Tun / Unterlassen
* Erfolgseintritt
* Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz
physisch-realer Handlungsmöglichkeit
* Quasi-Kausalität
* Garantenstellung
* Sorgfaltspflichtverletzung
* Objektive Zurechnung
* Gleichwertigkeit des Unterlassens
2. Rechtswidrigkeit
3. Schuld
Da vorliegend die spezifischen Aspekte des Unterlassens ganz unproblematisch sind, werden diese hier so knapp wie möglich abgehandelt.
Dies gilt um so mehr, als selbst bei einer – hier nicht erfolgten – BePÜ Strafrecht AT I, WS 2007/08
jahung einer Strafbarkeit nach §§ 222, 13 StGB diese hinter die nach
§ 222 StGB durch aktives Tun zurücktreten würde.
1. Zwar ist in einem Fall, in dem der „ Retter“ seine aktiven Bemühungen beendet, auf jeden Fall ein Unterlassen anzunehmen, das hier dem G auch physisch real möglich gewesen wäre. Auf Grund des pflichtwidrigen Anfahrens
(vgl. o.) traf den G auch eine sog. Garantenstellung aus Ingerenz, die von der
ganz überwiegenden Ansicht anerkannt wird.
2. Die Nichtvornahme des gebotenen Tuns, also das Nichtweiterbeatmen, ist
vorliegend jedoch nicht objektiv sorgfaltswidrig gewesen. Da G die O bereits
fünf Minuten lang - offenbar fachkundig, aber vergeblich – beatmet hatte,
konnte einem sorgfältigen Menschen in der Lage des G, der selbst weder Arzt
ist noch über spezielle Kenntnisse in solchen Situationen verfügt, durchaus der
Gedanke kommen, die weitere Beatmung der G sei sinn- und aussichtslos. Dies
um so mehr, wenn auch ein außenstehender Dritter spontan diesen Eindruck
teilt. Dass eine Ex-post-Betrachtung hier etwas anderes ergibt, ist demgegenüber irrelevant. Selbst wenn man aber mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ einen strengeren Maßstab anlegt, wäre eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen gegenüber der Vorangegangenen durch aktives Tun jedenfalls subsidiär.
G hat sich daher nicht gemäß §§ 222, 13 I StGB strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit des M
I. §§ 212, 26, 27
Eine Strafbarkeit des M als Teilnehmer an einer Tötungshandlung des G scheidet mangels vorsätzlicher, rechtwidriger Haupttat aus (Grundsatz der Akzessorietät der Teilnahme).
Exkurs: Diese Feststellung ist gewiss auch verzichtbar. Täterschaft und Teilnahme sind im Übrigen erst Stoff der Veranstaltung Strafrecht II im
nächsten Semester. Man kann sich aber schon einmal einprägen, dass
beide Formen der sog. Teilnahme, nämlich Anstiftung und Beihilfe
(§§ 26, 27 StGB) stets eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat voraussetzen, was das Gesetz auch klarstellt.
II. § 222
1. Dadurch, dass M den G veranlasst hat, die Beatmung der O abzubrechen,
könnte er sich gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben.
Einheit 14: Fahrlässigkeit
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a) Im Gegensatz zum Abbruch eines eigenen Rettungsversuches durch den
Helfer greift ein Dritter, der ein derartiges Rettungsbemühen beeinträchtigt,
aktiv in das Geschehen ein. Dies ist nach herrschender Meinung als ein Tun zu
bewerten.
b) Allerdings ist schon fraglich, ob die Einmischung des M überhaupt kausal
im Sinne der Äquivalenztheorie (condicio-sine-qua-non-Formel) war, da auch
G selbst schon große Zweifel an den Erfolgsaussichten weiterer Bemühungen
hatte. Jedenfalls war M’s Äußerung aber nicht objektiv sorgfaltswidrig: Auch
ein sorgfältiger Mensch in seiner Lage hätte sich hier nicht zwingend anders
verhalten. Denn es ist durchaus naheliegend, dass demjenigen, der die erfolglosen Wiederbelebungsversuche eines anderen schon eine Zeit lang beobachtet
hat, die Fortsetzung dieser Bemühungen sinn- und aussichtslos erscheinen.
Insbesondere gilt aber für solche Äußerungen – die nicht mit der besonderen
Autorität besonderer Sachkunde unterstrichen werden – auch kein zu hoher
Sorgfaltsmaßstab, da M den G ja nicht intensiv von weiteren Bemühungen
abhalten wollte, sondern nur seiner Meinung Ausdruck gab.
M hat sich nicht gemäß § 222 StGB strafbar gemacht.
PÜ Strafrecht AT I, WS 2007/08
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