Den ganzen Textauszug lesen

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Textauszüge aus dem Buch:
"Geboren in Zürich" von Ursula Biondi
Eine Lebensgeschichte
Ursula Biondi 18 Jahre
Ursula Biondi hält ihren kleinen Sohn
In Freiheit 1. Mai 1968
… Es
war mir ein Graus, wie all diese halbnackten bleichen Würmchen
zusammengepfercht in einem Raum steckten, die meisten apathisch auf ihrem Hafen
sitzend. …
Am 29. April 1968 wurde ich aus Hindelbank entlassen. Ich war 18 ¼ Jahre alt, mein
Sohn acht Monate.
Ich trug die Kleider, die ich schon beim Eintritt in Hindelbank getragen hatte. In einer
kleinen Tasche steckten ein paar Windeln und Babykleider für meinen Sohn (Geschenk
meiner Mutter), ein paar schwarze flache Lackschuhe, die ich von meiner Schwester
bekommen hatte, und ein hellblaues ärmelloses, enganliegendes Kleid nach der
damaligen Mode – ich hatte mich gut geführt und deswegen die Erlaubnis bekommen,
es mir während der Arbeitsstunden zu nähen.
Ich hatte eine Arbeitsstelle in einem Kinderheim für Sozial-Kinder (Kinder aus
zerrütteten Familien) in Brunnen zugewiesen bekommen, für voraussichtlich zwei
Jahre. Es war in einem ziemlich alten Haus untergebracht; als ich eintrat, roch es
penetrant nach kleinen Kindern und abgestandenem Essen. Bei der ersten
gemeinsamen Mahlzeit in diesem Hause machte die Heimleiterin eine unbedachte
Bemerkung; sie sagte, „Du hast so ein wunderschönes Baby – am liebsten würde ich
es adoptieren.“ Vielleicht meinte sie das gar nicht ernst, aber ich bekam einen grossen
Schreck. Auf diesem Ohr war ich ziemlich hellhörig geworden. Ich nahm mir vor, so
schnell wie irgend möglich mit meinem Sohn aus diesem Heim zu verschwinden.
In der Nacht durfte mein Sohn nicht in meinem Zimmer bleiben, nicht einmal auf der
gleicher Etage, sondern er schlief in einem Raum neben dem Schlafzimmer des
Heimleiter-Ehepaares. Auch am Tag bekam ich ihn nur selten zu Gesicht, denn ich
musste mich um die etwa 15 anderen Kinder kümmern, die alle zwischen ein und zwei
Jahre alt waren. Es war mir ein Graus, wie all diese halbnackten bleichen Würmchen
zusammengepfercht in einem Raum steckten, die meisten apathisch auf ihrem Hafen
sitzend. Ihr „Kaki“ (Stuhlgang) sah dementsprechend ungesund aus.
Die Heimkinder taten mir leid; ich hatte das Gefühl, dass sie mich alle ganz traurig
anschauten; gern hätte ich mich ihrer angenommen, aber ich musste an meinen Sohn
und mich selber denken.
Um 11 Uhr fütterte ich meinen Sohn, wickelte ihn, holte mir aus der Küche eine
Banane als Wegzehrung, ging zurück in meine Kammer, rollte mein selbstgenähtes
Kleid zusammen und versteckte es zusammen mit den schwarzen Lackschuhen unter
der Latzschürze, die ich von der Heimleiterin bekommen hatte. Meine hüftlangen
Haare band ich zu einem Pferdeschwanz. Ich nahm meinen Sohn auf den Arm, um
keine Aufmerksamkeit durch den Kinderwagen zu erregen.
Der Zufall wollte, dass mich der Heimleiter sah, als ich das Haus verliess. Er fragte, ob
ich mit meiner Arbeit schon fertig sei. Ich lächelte ihn an und sagte, mein Sohn hätte
nach dem Essen sein „Bäuerlein“ noch nicht gemacht, deswegen sei ich mit ihm für
ein paar Schritte an die frische Luft gegangen; ich würde gleich wieder an die Arbeit
zurückkehren. In Babysprache redete ich ein paar Worte zu meinem Sohn; der
Heimleiter ging ins Haus zurück.
In diesem Moment bemerkte ich, wie etwa 100 Meter vom Haus entfernt ein junger
Mann aus seinem Auto stieg. Er war vielleicht Mitte zwanzig; sein Auto war zu
Werbezwecken mit Farben bekleckst, deswegen nehme ich an, dass er Künstler, Maler
oder Dekorateur war. Mit meinem Sohn auf dem Arm lief ich so schnell es ging auf ihn
zu. Ich fragte ihn, ob er mich ganz rasch zum Bahnhof bringen könne, da ich sonst
meinen Zug verpassen würde. Er tat es. Nun ging alles blitzschnell. Am Bahnhof von
Brunnen verabschiedete ich mich mit tausend Dankeschön. Ich eilte zum Schalter, um
mir ein Zugticket zu kaufen. Aber plötzlich gab ich das auf: Wie in Trance steuerte ich
auf ein Taxi zu und liess mich bis zur nächsten Station Seewen fahren. Erst da löste
ich ein Zugticket nach Zürich. So würde in Brunnen niemand wissen, wo ich
hingefahren war. Bevor der Zug eintraf, schloss ich mich mit meinem Sohn in einer
engen Bahnhofstoilette ein und änderte mein Aussehen. Ich setzte ihn, der sich bis
dahin still verhalten hatte, auf den Boden, aber er wollte getragen werden und fing an
zu weinen. Ich nahm ihn wieder auf und gab ihm ein Stück Banane, um keine
Aufmerksamkeit zu erregen. Als er sich beruhigt hatte, setzte ich ihn ab, zog, so rasch
es ging, die Heimkleidung aus und legte das hellblaue Kleid mit den schwarzen
Lackschuhen an. Dann öffnete ich den Pferdeschwanz und liess meine hüftlangen
Haare offen fallen. Die Heimkleider liess ich im nächsten Abfallkorb verschwinden.
Der Zug fuhr ein. Ich wartete noch einen Augenblick in der Toilette und stieg im
letzten Moment auf. Die Wagontür schloss sich hinter uns; der Zug fuhr ab.
Ich setzte mich mit meinem Sohn auf dem Arm in ein Abteil, vis-à-vis von einem
älteren, etwa siebzigjährigen Herrn. Er musterte uns beide, lächelte und fragte, ob
dies mein kleiner Bruder sei. Ich fasste sofort Vertrauen zu ihm; ich weiss heute noch
nicht, wieso. Ich erzählte ihm, dass ich nach Zürich müsste, in die Otter-Bar im
Oberdorf in der Altstadt, um den Vater meines Kindes dort zu finden. Ich schilderte
ihm das Kinderheim, und weshalb ich es dort nicht ausgehalten hatte.
Als er meine Situation begriffen hatte, schaute er ernst drein und sagte, dass im
Zürcher Bahnhof alles voller Polizisten sein würde, wegen der Krawalle, die zum ersten
Mai erwartet wurden. Erschrocken fragte ich ihn, wieso er das wisse. Er antwortete, er
sei in Zürich Polizeiinspektor gewesen und kenne das Vorgehen.
Meine Verzweiflung muss er bemerkt haben, denn nach einigem Überlegen machte er
mir einen Vorschlag: Ich solle ihm im Hauptbahnhof Zürich für kurze Zeit meinen
Sohn überlassen. Er mit meinem Sohn und ich allein würden dann auf getrennten
Wegen zum Taxistand gehen. Dann werde er uns mit dem Taxi zur Otter-Bar bringen.
Ich ging auf seinen Vorschlag ein. Meine einzige Bedingung war, dass er vor mir
hergehen müsse, damit ich ihn und meinen Sohn nicht aus den Augen verlöre.
Ich flehte ihn an, mich nicht zu betrügen – ausser meinem Sohn hätte ich auf dieser
Welt nichts zu verlieren.
Er hielt sein Wort. Ich bekam meinen Sohn zurück; wir langten glücklich in der OtterBar an, – aber dann kam die schreckliche Enttäuschung: Man sagte mir, dass mein
Freund seit Monaten nicht mehr dort gewesen sei.
Der freundliche ehemalige Inspektor schenkte mir fünfzig Franken und gab mir den
Rat, zu meinen Eltern zu gehen, dann fuhr er mit dem Taxi davon; ich bin ihm noch
heute sehr dankbar.
Natürlich konnte ich meine Eltern nicht um Hilfe bitten. Ich fragte den Barkeeper noch
ein paar Mal aus, ob er wirklich keine Ahnung habe, wo mein Freund sich befinde. In
der Bar waren Leute, die ich vom Sehen kannte; aber auch sie konnten mir nichts
sagen. Langsam stieg in mir Verzweiflung auf. Was sollte ich tun? Mein Freund war
nicht da – der Traum war aus. Es wäre unsere letzte Chance gewesen, zu einer Familie
zu werden. Seit einem Jahr hatte mich nur dieser Gedanke aufrechterhalten; in
keinem Augenblick hatte ich die Hoffnung ganz aufgegeben; eine eigene kleine
Wohnung hatte ich mir vorgestellt, gemeinsam ausgesuchte Möbel, vielleicht sogar
einen kleinen Garten. – Ich setzte mich an die Theke und liess mir einen Cognac
einschenken.
Von weitem hörte ich Schreie, dumpfe Schläge, verzerrte Lautsprecherklänge –
schliesslich war heute der erste Mai des Jahres 1968. Die 68-er Generation war nicht
mehr gewillt, die konservativen, patriarchalischen Ansichten ihrer Eltern hinzunehmen.
Wilde Strassenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten, dazu Tränengas und
Wasserwerfer: so sah Zürich am 1. Mai 1968 aus. – Auch ich gehöre dieser Generation
an und bin stolz darauf.
Ich nahm meinen Sohn hoch und verliess die Bar. Auf einmal war ich mitten in der
Demo: Steine flogen um uns herum, und alles mögliche andere. Ich schaute besorgt
meinen Sohn an, er quietschte vor Vergnügen: anscheinend gefiel ihm dieses Chaos.
Was sollte ich tun? Ob mir diesmal meine Eltern helfen würden? – Dann hätten wir
beide noch eine Lebenschance. Wenn nicht: Die Bahngeleise vom Hauptbahnhof
Zürich standen mir plötzlich vor Augen; ich begann zu schwitzen. Wie in Trance
marschierte ich mit dem demonstrierenden Menschenstrom mit, merkte kaum, dass
mein Sohn schon ein rechtes Gewicht hatte, und schrie mit den Demonstranten im
Chor mit für eine bessere Zukunft in Zürich und auf der ganzen Welt.
Ich schaue meinen Sohn an: Er ist acht Monate alt, seine unsagbar unschuldigen
Augen geben mir plötzlich ein immense Kraft. – Aus den fünfzig Franken nehme ich
das Geld für ein Taxi zum Bucheggplatz. Ich wage nicht, einfach an der Tür der
elterlichen Wohnung zu erscheinen, deshalb rufe ich zuerst von einer Telefonzelle aus
an. Meine Mutter ist am Apparat, sofort stellt sich heraus, dass sie alles weiss. Sie
schreit ins Telefon: „Um Himmels willen, bleib’ wo ihr seid, ich hole euch ab. Du weißt,
was passiert, wenn Du der Polizei und der Vormundschaft in die Hände fällst.“ Ich
schreie zurück: „Nur über unsere Leichen“.
Ich bin sicher: Hätte man mich erwischt, man hätte mir mein Kind weggenommen. Ich
selbst hätte die nächsten zwei oder drei Jahre in Hindelbank verbracht, und meine
Mutter hätte nochmals einige tausend Franken gezahlt. – Aber fünf Minuten später
kommt sie uns im Laufschritt entgegen, nimmt ihren Enkel auf den Arm und sagt:
„Hake mich unter, dann seid ihr beide in „elterlicher Gewalt“, und man kann euch
nichts tun.“
Als wir kaum zu Hause angelangt sind, läutet es an der Tür. Dr. Fravi steht davor. „Wo
ist das Kind?“ fragt er. Er sieht mich an und sagt: „Du bist ja noch viel schlimmer
geworden!“ – Da platzt meiner Mutter der Kragen. Sie schreit ihn an, dass er
mitverantwortlich sei für all dieses Leid: dass ihre Tochter in einem Gefängnis gelandet
sei, dass sie mehr Geld bezahlen müsse, als sie habe – er solle sofort aus unserem
Leben verschwinden. Auf seine unsichere Entgegnung hört sie gar nicht mehr; sie
schiebt ihn aus der Tür und schliesst sie hinter ihm zu.
An diesem Tag, am 1. Mai 1968, um 17:00 Uhr, 18 1/4 Jahre alt, hatte ich endlich
meine Freiheit gewonnen.
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