Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land
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Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land
Eine Kammer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen B E R I C H T Z U R L AG E 2 013 ❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen vertritt als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Interessen der Beschäftigten. ❚ Mitglieder der Arbeitnehmerkammer sind – so bestimmt es das ›Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen‹ – alle im Bundesland Bremen abhängig Beschäftigten (mit Ausnahme der Beamten). Zurzeit sind dies rund 291.000 im Land Bremen hatten, sind Mitglieder der Arbeitnehmerkammer. ❚ Neben einer umfassenden Rechtsberatung bietet die Arbeit- nehmerkammer ihren Mitgliedern zahlreiche Informationen zu den Themen Wirtschaft, Arbeit, Bildung und Kultur. ❚ Darüber hinaus berät sie Betriebs- und Personalräte sowie die Politik und öffentliche Verwaltung im Land Bremen. ❚ Die berufliche Weiterbildung übernimmt die Wirtschafts- und Sozialakademie (wisoak). ❚ Zusätzlichen Service und Vergünstigungen gibt es mit der KammerCard, die jedes Mitglied auf Wunsch kostenlos erhält. w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e BERICHT 2013 // Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und knapp 70.500 Minijobber. Auch Arbeitslose, die zuletzt ihren Arbeitsplatz Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e Arbeitnehmerkammer Bremen Arbeitnehmerkammer Bremen B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen Arbeitnehmerkammer Bremen 2 IMPRESSUM HER AUSGEBER Arbeitnehmerkammer Bremen Bürgerstraße 1 28195 Bremen Telefon 0421· 36301- 0 Telefax 0421·36301- 89 [email protected] www.arbeitnehmerkammer.de R E DA K T I O N V E R FA S S E R I N N E N / V E R FA S S E R Nathalie Sander Susanne Achenbach, Elke Heyduck Referentin für Bildung und Ausbildung LEK TOR AT Referentin für Gesundheitspolitik Carola Bury, Martina Kedenburg Regine Geraedts, Referentin für Arbeitsmarkt- und GR AFISCHE GESTALTUNG Beschäftigungspolitik Designbüro Möhlenkamp, Bremen Kai-Ole Hausen, Marlis Schuldt Referent für Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik Jörg Möhlenkamp Susanne Hermeling, FOTOS Elke Heyduck, Referentin für Bildungspolitik Kay Michalak Geschäftsführerin und Leitung Politikberatung Cindi Jacobs Jörg Muscheid, DRUCK Dr. Guido Nischwitz, Referent für Wirtschaftspolitik Girzig & Gottschalk, Bremen Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW) Barbara Reuhl, Abgeschlossen im März 2013 Referentin für Arbeits- und Gesundheitsschutz Peer Rosenthal, Referent der Geschäftsführung und für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Dr. Marion Salot, Referentin für regionale Wirtschaftspolitik Ingo Schäfer, Referent für Sozialversicherungs- und Steuerpolitik Dr. Esther Schröder, Referentin Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik Thomas Schwarzer, Referent für kommunale Sozialpolitik Bernd Strüßmann, Referent für regionale Strukturpolitik 3 Inhalt 1 4 Vorwort 6 Teil 1: Wirtschaft, Arbeit /Arbeitsmarktpolitik 7 13 18 24 29 34 36 52 59 64 68 75 Arbeit / Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsschutz Arbeitsmarktpolitik: Kürzungen und neue Instrumente als doppelte Herausforderung Qualifizieren statt Aktivieren: Bildungschancen für Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfänger Ausbildung in Bremen und Bremerhaven: Noch immer gehen zu viele verloren Minijobs: Umfassende Reform notwendig Vom Job direkt in ›Hartz IV‹: Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung Menschen mit Behinderungen auf dem (Bremer) Arbeitsmarkt Exkurs: Jetzt auf Dauer: Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene 78 Teil 2: Gesundheit, Rente, Bildung und Integration 79 87 Gesundheit Zur Situation in der Pflege – Zwischen Fachkräftebedarf und Pflegenotstand Exkurs: Fachkräftebedarf in der Bremer Pflege: Engpassanalyse mittels Arbeitslosenund Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit 90 95 Rente Lebensstandardsicherung oder Armutsbekämpfung? Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit: Gesundheitliche und soziale Risiken für Beschäftigte – Bremen im Ländervergleich 40 46 2 Wirtschaft Wirtschaftsentwicklung: Europa in der Rezession, Bremer Lage noch stabil Verdienste in Bremen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven Exkurs: Schiffahrt in der Krise, Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde Strukturwandel und gute Arbeit im Land Bremen – welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik? Für eine transparente und effiziente Wirtschaftsförderung Exkurs: EU-Strukturpolitik in Bremen 100 108 114 118 Bildung und Integration Betriebsräte und berufliche Weiterbildung von Beschäftigten Perspektivwechsel in Bremen – von Integration zu Vielfalt und Partizipation Exkurs: Anerkennung von Abschlüssen – als Weg zu qualifizierter Beschäftigung Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen 124 Teil 3: Soziales und Stadtentwicklung 125 Familien müssen planen: Bremen und die Bundespolitik taktieren und improvisieren beim U3-Ausbau Wohnungsbaupolitik: Neubau alleine reicht nicht Bremen-Nord: Zwischenfazit für einen Stadtbezirk im politischen Fokus 3 131 140 4 VO R WO RT Zu der Zeit, als dieser Lagebericht bei der Arbeitnehmerkammer geschrieben wurde, zerbrachen sich im Rathaus Haushälter und Politiker die Köpfe über das Budget für die einzelnen Bremer Politikbereiche. Die Schuldenbremse – sie wirft ihre Schatten voraus – gilt ab 2020, dann muss das Land ohne neue Schulden seine Ausgaben bewältigen können. Um die bereits aufgelaufenen sogenannten Altschulden in Höhe von aktuell 19 Milliarden Euro zu bedienen, also nur um die Zinsen zu bezahlen, gibt das Land Bremen jährlich 650 Millionen Euro aus. Die Zinsen verschlingen rund ein Sechstel des Gesamthaushalts. Zum Vergleich ein anderer Posten: Die Sozialausgaben betrugen im Jahr 2012 knapp 800 Millionen Euro. Es ist aus unserer Sicht schwer vermittelbar, dass man den Arbeitnehmern und Bürgern die hier leben und arbeiten, den Gürtel immer enger schnallt, wenn am Ende dieses Weges nicht eine deutlich verlässlichere finanzielle Grundlage für das Gemeinwesen geschaffen ist. Eine Anstrengung, wie sie im bremischen Haushalt und damit von den Menschen zu leisten ist, muss sich lohnen. Es wird sonst früher oder später keine ausreichende Zustimmung mehr für diesen Weg geben. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Schuldenbremse dann funktionieren kann, wenn es eine politische und solidarische Lösung für die Altschulden gibt (nicht nur Bremen hat damit ein Problem!). Wir haben gleichzeitig dafür plädiert, die Einnahmesituation der öffentlichen Hand zu verbessern: unter anderem durch die Einführung einer Vermögensteuer, die Neuregelung der Erbschaftsteuer und die Abschaffung des flachen Steuersatzes für Kapitaleinkünfte. Länder und Kommunen benötigen einen ausreichenden finanziellen Handlungsspielraum, etwa um in die Integration unserer bunter werdenden Gesellschaft, in die Betreuung und Bildung unserer Kinder und damit in mehr Chancengerechtigkeit und in die Förderung von Arbeitsuchenden investieren zu können. 5 Unser diesjähriger Lagebericht zeigt die Herausforderungen: In unseren Schulen werden Menschen gebildet, die einen immer unterschiedlicheren kulturellen und auch Bildungshintergrund haben. Die Arbeitslosigkeit in unseren Städten geht wesentlich zurück auf eine viel zu große Gruppe von Menschen, die keinen Berufsabschluss hat und auch der regionale Arbeitsmarkt selbst birgt für Arbeitnehmer nicht unerhebliche Prekaritätsrisiken. Die erfolgreiche Ansiedlung neuer Industrien – etwa die Windenergiebranche – hat zudem mit schwierigen politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Was der Bericht aber auch zeigt: Bremen und Bremerhaven sind ›dran‹ an den Themen, die die Zukunftsfähigkeit unserer Städte ausmachen. In den Städten entscheiden sich die heute wichtigen Fragen der Integration, des sozialen Zusammenhalts, neuer Arbeitsmärkte und wirtschaftlicher Entwicklungen. Diese Rolle des ›Treibers‹ müssen wir im Land Bremen selbstbewusst wahrnehmen. Dafür müssen die fiskalischen Schwierigkeiten gemeistert werden, dafür muss aber auch die Politik ihren Gestaltungswillen auf den Arbeitsmärkten und bei der angemessenen Ausstattung unseres Gemeinwesens behaupten. Mit unserem Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Peter Kruse Ingo Schierenbeck Präsident Hauptgeschäftsführer 6 1 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Wirtschaft Arbeit Arbeitsmarktpolitik 7 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Wirtschaftsentwicklung Europa in der Rezession, Bremer Lage noch stabil JÖRG MUSCHEID Was sich bereits im Jahresverlauf 2011 in einer Reihe europäischer Staaten abzeichnete, ist Mitte 2012 bittere Realität in Europa geworden: Die Wirtschaft im Euroraum schrumpfte zwei Quartale in Folge und befindet sich damit in der Rezession. Vor dem Hintergrund der nach wie vor ungelösten Schuldenkrise in Europa und angesichts der massiven Sparprogramme war es allerdings keine Frage, ob die Rezession eintritt, sondern nur wann sie eintritt. Denn dass angesichts der einseitig auf Konsolidierung ausgerichteten Krisenpolitik die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in Europa nachhaltig gedrosselt werden würde, war zu erwarten. Bei der konjunkturellen Situation ist Europa gespalten: Griechenland und Portugal mussten 2012 eine weitere Verschärfung ihres wirtschaftlichen Rückgangs, der bereits im Vorjahr einsetzte, erleiden. Im Jahresverlauf kamen dann mit Italien und Spanien auch die dritt- und viertgrößten Volkswirtschaften des Euroraums in die Rezession. Auf der anderen Seite hat sich die Wirtschaftsentwicklung in den übrigen Ländern 2012 als vergleichsweise robust erwiesen, vor allem in Deutschland. Deutliche Bremsspuren in der Wirtschaft Gleichwohl zeigen die ersten Wirtschaftszahlen vom Jahresende 2012, dass der Euroraum noch tiefer in die Rezession gerutscht ist. Obwohl der Einkaufsmanagerindex, einer der wichtigsten Frühindikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum, im Dezember leicht um 0,7 Prozentpunkte auf 47,2 Prozent und auch im Januar 2013 auf 48,6 Prozent stieg, verbleibt er noch immer unter der sogenannten ›Wachstumsschwelle‹ von 50 Punkten. Auch der Exportsektor schwächelt mittlerweile: Die Exportwirtschaft in Deutschland, die trotz der Krise bislang auf robust hohem Niveau war, musste im November ein Minus von insgesamt 3,4 Prozent gegenüber dem Vormonat verzeichnen, wobei der Rückgang der Nachfrage aus dem Euroraum mit 5,7 Prozent deutlich stärker ausfiel und nur durch die gestiegene Nachfrage aus den übrigen Ländern teilweise kompensiert werden konnte. Im Ergebnis stieg das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland nach einem Plus von 4,2 Prozent 2010 und 3,0 Prozent 2011 im abgelaufenen Jahr lediglich um 0,7 Prozent. Risiken außerordentlich hoch Vor dem Hintergrund der Rezession in den südeuropäischen Euroländern war für 2012 kein höheres Wachstum in Deutschland zu erwarten, die Zahlen zeigen aber auch: Die Krise hat Europas Kern erreicht. Von der rigiden Sparpolitik der südeuropäischen Euroländer mit Lohn- und Rentenkürzungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst, Kürzungen von Sozialleistungen – bei der die wohlhabenden Schichten allerdings weitgehend verschont blieben, ist in Deutschland (und den anderen mittel- und nordeuropäischen Euroländern) allerdings keine Rede und auch für dieses Jahr herrscht bei allen Prognosen der Forschungsinstitute und der Bundesregierung ein grundsätzlicher Optimismus vor. Ausgehend von der Annahme, dass es keine Eskalation der europäischen Schuldenkrise gibt und dass die Weltwirtschaft weiterhin moderat expandiert, wird allgemein von einer Fortsetzung der Krisenbewältigung und des konjunkturellen Aufschwungs – wenn auch auf niedrigerem Niveau – ausgegangen. Ob diese grundsätzliche Annahme, dass es keine Eskalation der europäischen Schuldenkrise gibt, auch zum Tragen kommt, lässt sich allerdings kaum seriös beantworten. Denn es setzt voraus, dass die Krisenländer weiterhin an ihrem Konsoli- 8 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 1: Wirtschaftswachstum im Land Bremen und dem Bundesgebiet 1,4 1,1 2012 3,9 2011 3,0 5,7 2010 3,7 -7,9 2009 -5,1 -10 Bremen -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 Bund Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder dierungskurs festhalten und dass auch die übrigen Länder konsequent ihre Defizite abbauen. Gleichzeitig brauchen die krisengeschüttelten Länder auch Wachstumsimpulse, um ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln. Angesichts der schon jetzt deutlich werdenden sozialen Verwerfungen und der massiven Proteste gegen die Konsolidierungspolitik in den südeuropäischen Eurostaaten ist auch ein Scheitern der Sparpolitik, wie sie zurzeit praktiziert wird, durchaus realistisch – mit unabsehbaren Konsequenzen für die konjunkturelle Entwicklung und die gemeinsame Währung. Land Bremen: Lage stabil, Skepsis nimmt zu Diese Zweischneidigkeit der Analyse – einerseits eine zunehmende Gefährdung durch die Entwicklung der Rahmenbedingungen, andererseits aktuell noch keine konkreten Auswirkungen – trifft auch zu beim Blick auf die Bundesländer. Von einzelnen besonders betroffenen Standorten in Deutschland (wie beispielsweise das Opel-Werk in Bochum) abgesehen, lassen sich weder auf der regionalen noch der sektoralen Ebene größere Auswirkungen der Rezession im Euroraum benennen. Gleichwohl mehren sich die skeptischen Stimmen hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Diese zunehmende Unsicherheit spiegelte sich schon im Ergebnis der Betriebsräte-Befragung der Arbeitnehmerkammer Bremen, die Anfang 2012 zum dritten Mal durchgeführt wurde. Wie im Vorjahr wurde auch diesmal die wirtschaftliche Lage des jeweils eigenen Betriebs von rund 76 Prozent aller Befragten als grundsätzlich positiv eingeschätzt, zugleich nahm aber der Anteil der skeptischen Stimmen hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage insgesamt doch zu. Beim Blick auf das Wirtschaftswachstum im Land Bremen erweist sich diese Skepsis als durchaus berechtigt, denn die ersten Ergebnisse für 2012 zeigen hier wie auch im Bundesgebiet eine deutliche Abschwächung. Mit einem Wachstum von 1,4 Prozent (Bundesgebiet: 1,1 Prozent) war gegenüber den beiden Vorjahren ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, wenngleich nach wie vor das Wachstum im Land Bremen leicht über dem Bundesdurchschnitt liegt. Beschäftigung konnte 2012 weiter zulegen Auch 2012 verlief die Beschäftigungsentwicklung wie bereits im Vorjahr positiv. Beim Blick auf die Beschäftigungsentwicklung zeigt das Land Bremen – anders als beim Wirtschaftswachstum – allerdings keine überdurchschnittlichen Ergebnisse: Das Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung belief sich auf 1,9 Prozent – ebenso wie im Bundesgebiet. Im Ländervergleich liegt Bremen damit im Mittelfeld. Einen wesentlichen Anteil an der stabilen Entwicklung im Land Bremen hatte 2012, wie auch in den Vorjahren, das verarbeitende Gewerbe. Hier konzentrieren sich in der Stadt Bremen mit dem Mercedes-Benz-Werk, Airbus, Atlas Elektronik und den Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie große Unternehmen mit starker Bedeutung für die jeweiligen Zulieferbetriebe und die nachgelagerten Dienstleistungsbereiche; in Bremerhaven haben Firmen der Offshore-Windenergienutzung in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen und zu einer positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in der Seestadt geführt. 9 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK deutschen Werke für die nächsten sieben Jahre gesichert sein wird. ❚ Nachdem OHB bereits 2010 beim Galileo-Satellitenprogramm, das als europäische Alternative zum amerikanischen GPS konzipiert ist, den Zuschlag für die ersten 14 Satelliten bekam, erfolgte im Frühjahr 2012 der Anschlussauftrag für weitere acht Satelliten. Damit ist in absehbarer Zeit der Raumfahrtstandort Bremen ausgelastet. ❚ Die Krise der Automobilindustrie, die sich vor allem in der beabsichtigten Schließung des Opel-Werks in Bochum zeigt, betrifft ausschließlich Massenhersteller wie Peugeot, Opel oder Ford, die besonders von den Absatzeinbrüchen in Europa betroffen sind. Mercedes – wie auch die übrigen Premiumhersteller – verzeichnet dagegen weiterhin wachsende Absatzzahlen in den anderen Absatzmärkten, vor allem in den USA und China. Im verarbeitenden Gewerbe gab es 2012 eine Reihe positiver Meldungen, hier sind allerdings auch Abschwächungstendenzen im vierten Quartal 2012 festzustellen. Zudem stockt der Ausbau der Offshore-Windenergienutzung, eine Entwicklung, die sich ab 2013 insbesondere in Bremerhaven niederschlagen wird (dazu ausführlicher im Beitrag Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven, S. 21 ff.): ❚ Trotz eingetrübter Auftragseingänge zeigen die jüngsten Zahlen des Statistischen Landesamtes für das verarbeitende Gewerbe vor allem positive Ergebnisse: So stieg der Umsatz der bremischen Industriebetriebe 2012 auf ein neues Rekordhoch von 24,3 Milliarden Euro (6 Prozent). Die Auslandsumsätze konnten mit 7,3 Prozent sogar stärker zulegen. ❚ Im Herbst vermeldete Airbus, mit eines der größten Unternehmen in Bremen, dass angesichts einer Auftragsflut bei Flugzeugen die Auslastung der nord- Abb. 2: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Bundesländern (Juni 2011/ Juni 2012) 3,4 Berlin Niedersachsen 2,7 Bayern 2,6 Hamburg 2,3 Baden-Württemberg 2,2 Deutschland 1,9 Bremen 1,9 Schleswig-Holstein 1,8 Hessen 1,7 Nordrhein-Westfalen 1,5 1,4 Rheinland-Pfalz 1,3 Saarland Sachsen 1,2 Brandenburg 1,0 Thüringen 0,9 Mecklenburg-Vorpommern 0,5 Sachsen-Anhalt -0,2 -0,5 0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, Länderreport, Stichtag 30. Juni 2012 10 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ❚ Anders dagegen die Situation in der OffshoreIndustrie. Nachdem in den vergangenen Jahren hier ein rasanter Anstieg zu verzeichnen war, der zu einer deutlich stärkeren Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven (im Vergleich zur Stadt Bremen) geführt hat, zeigen die aktuellen Probleme der Netzanbindung erste Wirkungen. Aktuell wird der Abbau von bis zu mehreren Tausend Arbeitsplätzen in Norddeutschland befürchtet. Tourismus ohne Zuwachs 2012 – im langfristigen Vergleich zudem unterdurchschnittlich Weitgehend unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren der Tourismussektor gezeigt. Der Städtetourismus gilt seit Jahren als ›Basistrend‹, von dem alle Städte mehr oder weniger profitiert haben. Bremen und Bremerhaven hatten zudem durch die Entwicklung der ›Erlebniswelten‹ voll auf diesen Trend gesetzt, um attraktive Zielorte für Tages- und Übernachtungstouristen zu werden. Durch die Ansiedlung von Ryanair konnten zudem zusätzliche Impulse für die Stadt Bremen in den vergangenen Jahren gegeben werden. Die seit Jahren andauernden Probleme bei der Botanika sowie die aktuell rückläufigen Besucherzahlen beim Universum in Bremen und dem Klimahaus in Bremerhaven machen aber deutlich, dass auch in der Tourismuswirtschaft Probleme bestehen. Das betrifft nicht nur die Tagesbesucher. Auch die Zahl der Übernachtungsgäste wird aller Voraussicht nach nicht an die Vorjahresergebnisse anknüpfen können. Nach deutlichen Zuwächsen 2010 und 2011 – sowohl in Bremen wie auch in Bremerhaven – stagniert 2012 (Stand: Oktober) bislang die Zahl der Übernachtungen (Stadt Bremen) beziehungsweise war leicht negativ (Bremerhaven) gegenüber dem jeweiligen Vorjahresergebnis. Vergleicht man die langfristige Entwicklung der großen Städte, relativieren sich zudem die alljährlichen Erfolgsmeldungen in Bremen: So hat die Stadt Bremen im Zehn- Jahres-Vergleich zwischen 2001 und 2011 mit einem Wachstum der Übernachtungen von rund 44,7 Prozent einen erheblichen Zuwachs verzeichnen können, doch deutlich weniger als zum Beispiel Hamburg (99,8 Prozent), Hannover (68,7 Prozent) oder Düsseldorf (60,9 Prozent). Im Vergleich der Großstädte war die langfristige Entwicklung in Bremen unterdurchschnittlich. Wirtschaftspolitische Weichenstellung für die Zukunft Zwei Schlüsselprojekte für die weitere Entwicklung des Landes wurden Ende des Jahres 2012 in die Wege geleitet. Mit dem Projekt ›EcoMaT‹ wird ein Technologiezentrum in der Nähe von Airbus, Astrium und Flughafen etabliert, in dem rund 500 Wissenschaftler und Techniker interdisziplinär zum Bereich ›Leichtbau‹ zusammenarbeiten werden, um so Synergien zu bündeln. Nicht nur für die Luft- und Raumfahrtbranche, sondern in vielen anderen Branchen gewinnt der Leichtbau zunehmend an Bedeutung, so dass mit diesem Projekt auch über die ›Kernbranchen‹ hinaus Ausstrahlungseffekte angestrebt und möglich sind. Während das Projekt ›EcoMaT‹ keine weitere öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zog, schlug das Projekt ›Offshore-Terminal Bremerhaven‹ vergleichsweise hohe Wellen. Nach dem vergeblichen Versuch, einen privaten Investor zu finden, wurde beschlossen, den geplanten Offshore-Terminal mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Schon dieses Vorgehen zeigt das hohe Risiko an, dass Bremen bei dieser Entscheidung auf sich nimmt. Weder waren private Investoren zu finden noch sah man offensichtlich die Möglichkeit einer staatlichprivaten Kofinanzierung dieses Projektes. Auch die Details der Finanzierung überraschten, denn unter dem Regime der Schuldenbremse war klar, dass die Aufnahme neuer Kredite nicht infrage kommt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme in der Offshore-Windenergiebranche sind 11 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK die Irritationen ein Stück weit zu verstehen, zumal kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung mit PowerBlades nun auch eine Bremerhavener Firma erste Entlassungen ankündigt. In der Tat geht Bremen mit der Entscheidung für die öffentliche Finanzierung dieses Projekts ein erhebliches finanzielles Risiko ein und bindet vor allem die Mittel des Wirtschaftsressorts in den nächsten Jahren in deutlichem Umfang. Bei aller Kritik aus finanzpolitischen und umweltpolitischen Gründen: Die grundsätzliche Entscheidung für den OffshoreTerminal war angesichts der wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Bedeutung der Offshore-Branche nötig. Denn mit der Entscheidung für die Energiewende und den Ausbau der Offshore-Windenergienutzung sind seitens der Bundesregierung langfristige Strukturentscheidungen getroffen worden, die – unabhängig von den aktuellen Problemen der Netzanbindung – in den nächsten Jahren erhebliche Beschäftigungspotenziale für Norddeutschland haben werden. Auch wenn die von Prognos in diesem Zusammenhang vorausgesagten Beschäftigungseffekte sich als zu hoch erweisen sollten, muss doch gesehen werden, dass industrielle Neuansiedlungen außerhalb dieser Branche kaum zu erwarten sind. Die Alternative des weiteren Abwartens wäre angesichts der Standortkonkurrenz an der Nordseeküste ein verheerendes Signal für die vor allem in Bremerhaven ansässigen Unternehmen dieser Branche gewesen. Bei aller Kritik an den derzeitigen Arbeitsbedingungen und hier insbesondere der hohen Leiharbeitsquote in der Windenergiebranche ist dieser Bereich nach wie vor der Hoffnungsträger für die aktuelle und zukünftige Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven. Gleichwohl ergibt sich aus dieser Entscheidung ein Dilemma für die bremische Wirtschaftspolitik: Die Bindung von rund 200 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren für ein einziges Projekt fällt zum einen zu einem Zeitpunkt der konjunkturellen Eintrübung mit nach wie vor unabsehbarem Risiko aufgrund der europäischen Staatsschuldenkrise. Zudem zeigen sich schon jetzt weiter wirtschaftspolitische ›Baustellen‹, vor allem im Tourismussektor; ganz abgesehen vom Finanzbedarf in anderen Bereichen wie etwa den Krankenhäusern, die natürlich auch eine wirtschaftspolitische Bedeutung haben. Im Verlauf der weiteren konjunkturellen Entwicklung 2013/2014 und bei der Vorlage des nächsten Strukturkonzepts wird von daher die Frage zu diskutieren sein, ob das Land in den nächsten Jahren noch genügend wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit hat. Während mit der Zusage für den OffshoreTerminal beim ›Fördern‹ eine zügige Entscheidung seitens des Landes getroffen wurde, steht beim ›Fordern‹ bislang die Umsetzung eines wichtigen Projekts aus: Das Tariftreue- und Vergabegesetz des Landes sollte 2012 weiterentwickelt werden unter Einbeziehung der Kriterien ›guter Arbeit‹. Kerngedanke dabei ist, dass das Land Bremen angesichts öffentlicher Millionenbeträge für die direkte und indirekte Förderung von Unternehmensansiedlungen und Infrastrukturmaßnahmen auch Einfluss nehmen will auf die Qualität der Arbeitsplätze. Andere Bundesländer sind hier schon vorangegangen; der für 2012 in Bremen geplante Gesetzentwurf steht allerdings bislang aus. Beschäftigungsentwicklung nach Branchen in Bremen (Stadt) positiv Vor dem Hintergrund der nach wie vor stabilen wirtschaftlichen Lage gab es in der Stadt Bremen wie schon im Vorjahr eine positive Beschäftigungsentwicklung mit einem Plus von rund 3.800 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen (1,5 Prozent); die Zahl der geringfügig entlohnten Beschäftigten nahm dagegen leicht ab (0,2 Prozent). Während es zwischen Männern und Frauen nur geringfügige Unterschiede in der Entwicklung gab, fällt hinsichtlich der Altersgruppen auf, dass 2012 der Zuwachs praktisch ausschließlich 12 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 3: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsabschnitten (Juni 2011/Juni 2012) – Stadt Bremen verarbeitendes Gewerbe Energie- und Wasserversorgung Baugewerbe -193 -112 448 516 Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kfz Plus von rund 1.500 Arbeitsplätzen, gefolgt vom Gesundheits- und -47 Information und Kommunikation Sozialwesen, dem Ver-12 Finanz- und Versicherungsdienstleistungen kehrsbereich, Handel -59 Grundstücks- und Wohnungswesen und Baugewerbe. Auch 1.468 freiberuf., wissenschaftl., techn. Dienstleistungen das Gastgewerbe und 414 sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen die ›sonstigen wirt122 öffentliche Verwaltung schaftlichen Dienstleis34 Erziehung und Unterricht tungen‹ verzeichneten 854 Gesundheits- und Sozialwesen ein Plus an Arbeitsplät-320 Kunst, Unterhaltung und Erholung zen. Der Anstieg dieser -496 sonstige Dienstleistungen ›sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen‹ -1000 -500 0500 1000 1500 2000 war in der VergangenQuelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, heit allerdings stets von Beschäftigung am Arbeitsort, Bremen, Stadt, Ende Juni 2012 der Leiharbeit getragen, die zu dieser Wirtschaftsabteilung zählt. Aktuell war hier ein Minus von rund 80 in der Altersgruppe ›50 bis 64 Jahre‹ stattfand Arbeitsplätzen zu verzeichnen; eine Entwick(5,1 Prozent), eine Entwicklung ähnlich der im lung, die durchaus als ein frühes Zeichen für Bundesgebiet. Dies hat nicht mit Neueinsteleine konjunkturelle Eintrübung zu werten ist. lungen von Menschen dieser Altersgruppe zu Die geringfügige Beschäftigung nahm dagetun, sondern mit dem ›Auffüllen‹ dieser Kogen in der Stadt Bremen mit einem Minus von horte durch den demografischen Wandel: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden 100 Arbeitsplätzen leicht ab. Hinsichtlich der verschiedenen Strukturmerkmale verlief die älter. Bei der Unterscheidung zwischen DeutEntwicklung ähnlich wie im Bund; auch beim schen und Ausländern nahm die BeschäftiAnstieg der Beschäftigung von Ausländerinnen gung von Ausländerinnen und Ausländern und Ausländern sind Besonderheiten wie in ebenfalls deutlich überproportional zu (5,3 Bremerhaven (vgl. Beitrag Wirtschafts- und Prozent). Hier war die Entwicklung im BundesBeschäftigungsentwicklung in Bremerhaven, gebiet aber mit einem Plus von 8,4 Prozent S. 18 ff.) nicht zu erkennen. Die stärksten Rücknoch ausgeprägter. In diesen letztgenannten gänge bei der Beschäftigungsentwicklung Entwicklungen können erste Anzeichen dafür der Minijobs musste dabei der Bereich ›Inforgesehen werden, dass die Umsetzung der mation und Kommunikation‹ (um 12,5 ProArbeitnehmerfreizügigkeit in Europa zu einer zent auf jetzt 2.260 Beschäftigte) verzeichnen, Verstärkung der Arbeitsmigration und eventuwährend im Einzelhandel, wo die meisten ell auch zu einer Entlastung bei fehlenden Fachkräften führt. Beim Blick auf die Branchen geringfügigen Arbeitsverhältnisse bestehen, zeigen sich vor allem unternehmensnahe der Rückgang um 1,5 Prozent (auf 7.149 Dienstleistungen als Boombranche mit einem Beschäftigte) moderat ausfiel. 765 Verkehr und Lagerei Gastgewerbe 388 13 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Verdienste in Bremen JÖRG MUSCHEID Nachdem 2011 die Entwicklung der Spitzeneinkommen und ihre Verteilung im Land Bremen analysiert wurde, stand 2012 die Betrachtung der ›mittleren‹ Arbeitnehmereinkommen und der Niedriglohnbezieher im Fokus unserer Verdienstanalyse. Zwei Quellen mit unterschiedlicher Qualität standen dafür zur Verfügung: Zum einen die Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die umfassend monatlich alle Arbeitnehmereinkommen aller Betriebe erfasst. Die Möglichkeiten der Auswertung dieser Daten sind aber relativ beschränkt, vor allem können Arbeitnehmereinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze (2012: 5.600 Euro) nicht analysiert werden. Zum anderen steht als Quelle die im Vier-Jahres-Rhythmus (zuletzt 2010) stattfindende Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes zur Verfügung. Sie erfasst auf repräsentativer Basis die Arbeitnehmerverdienste in Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten und ermöglicht eine Auswertung nach vielfältigen strukturellen Merkmalen. Die Auswertungsmöglichkeiten, gerade auf der kleinräumigen regionalen Ebene, sind hier durch den Umfang der Fallzahlen zum Teil eingeschränkt, die Verdienststrukturerhebung erlaubt aber einen detaillierten Blick sowohl auf den Hochlohnbereich wie auch auf den Niedriglohnbereich – wobei anzumerken ist, dass durch diese Erhebung rund 12.000 Kleinstbetriebe (mit weniger als zehn Beschäftigten) im Land Bremen mit insgesamt rund 36.000 Beschäftigten nicht erfasst sind. Von daher ist der Niedriglohnbereich vermutlich größer als in Abbildung 4 angegeben. nach wie vor stabilen Wirtschaftsentwicklung stieg 2012 der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen, die Lohnquote, weiter an; mit einem Plus von gut einem Prozentpunkt liegt die Lohnquote jetzt bei 68,0 Prozent. Damit setzte sich der Aufwärtstrend des Jahres 2011 fort; gleichwohl ist der Anteil der Arbeitnehmereinkommen noch weit vom Niveau früherer Jahre entfernt (siehe Abbildung 1). Auch die Arbeitnehmereinkommen im Land Bremen sind 2012 gestiegen. Im Durchschnitt verdiente ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer im Land Bremen 3.481 Euro brutto im Monat (Stand: Juli 2012, ohne Sonderzahlungen). Damit sieht die aktuelle Situation im Land Bremen auf den ersten Blick gut aus: Im Land Bremen verdienen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überdurchschnittlich. Der wesentliche Grund für diesen überdurchschnittlichen Verdienst ist allerdings das deutliche Gefälle der Verdienste zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Bundesländern. Letztere liegen im Abb. 1: Lohnquote 1991 bis 2012 74 72,5 71,8 72 69,9 70 70,8 71,1 71,1 68,1 71,0 68 68,0 66,4 66 66,9 64 62 63,2 60 Deutschland, Anteil des Arbeitnehmerentgelts am Volkseinkommen Quelle: Statistisches Bundesamt 2012 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 1999 1998 1997 1996 1995 1994 1993 1992 Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht war 2012 wie bereits das Vorjahr positiv für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Im Gefolge der 58 1991 Lohnquote gestiegen 14 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 2: Arbeitnehmerverdienste 2012 in Euro Hamburg 3.828 Hessen 3.722 Baden-Württemberg 3.662 Nordrhein-Westfalen 3.544 Bayern 3.517 Bremen 3.481 Deutschland 3.385 Rheinland-Pfalz 3.356 Saarland 3.289 Berlin 3.282 Niedersachsen 3.222 Schleswig-Holstein 3.153 Brandenburg 2.738 Sachsen-Anhalt 2.637 Sachsen 2.626 Mecklenburg-Vorpommern 2.594 Thüringen 2.576 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 Quelle: Statistisches Bundesamt 2012; Vollzeitbeschäftigte, Stand: 2. Quartal Ländervergleich auf den hinteren Plätzen. Bei einem Vergleich der ›alten‹ Bundesländer liegt Bremen dagegen im Mittelfeld; deutlich unterdurchschnittlich verdienen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Die Bremer Verdienste verzeichneten insgesamt ein Plus von 0,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal, während die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste im Bundesgebiet um 2,1 Prozent zulegten. Durchschnittliche Monatsverdienste in den Branchen Betrachtet man die einzelnen Branchen im Land Bremen, zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede bei den Verdiensten der Beschäftigten: Auf der einen Seite finden sich das Gastgewerbe und der Einzelhandel. Hier verdient ein Vollzeitbeschäftigter rund 1.900 Euro (Gast- gewerbe) beziehungsweise rund 2.400 Euro (Einzelhandel) brutto. Am anderen Ende der Skala liegen Wirtschaftszweige wie die Finanzdienstleistungen mit rund 4.400 Euro. Auch das Durchschnittseinkommen in der Industrie ist mit rund 4.000 Euro vergleichsweise hoch. Das Land Bremen ist vor allem in der Industrie und in Teilen des Dienstleistungsbereichs (Versicherungswesen und Finanzen) stark aufgestellt, wie ein Vergleich der Branchenverdienste mit dem Durchschnitt der ›alten‹ Bundesländer zeigt: So sind die Löhne und Gehälter in der Industrie insgesamt mit seinen dominierenden Großbetrieben rund zehn Prozent höher als im früheren Bundesgebiet. Ebenso hoch ist die Lohndifferenz im Verkehrsbereich, auch im Baugewerbe werden rund sieben Prozent mehr verdient als im früheren Bundesgebiet. Bei den Dienstleistungen insgesamt ist dagegen ein Minus von 3,8 Prozent zu verzeichnen. Beim Blick auf einzelne Branchen des Dienstleistungssektors treten die Unterschiede noch deutlicher hervor: So beträgt etwa der Verdienstrückstand im Einzelhandel rund zehn Prozent gegenüber dem früheren Bundesgebiet, im Verlagswesen werden im Durchschnitt 16 Prozent weniger verdient und im Bereich ›Information und Kommunikation‹ sogar 20 Prozent – jeweils bezogen auf Vollzeitbeschäftigte. Der Blick auf die einzelnen Branchen zeigt: In den meisten Wirtschaftszweigen gibt es Lohnrückstände gegenüber dem früheren Bundesgebiet. 15 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 3: Bruttomonatsverdienste im Land Bremen in Euro, Vollzeitbeschäftigte, Dezember 2011 Erbringung von Finanzdienstleistungen 4.386 Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen 4.150 Versicherungen 4.134 verarbeitendes Gewerbe 4.013 Maschinenbau 3.939 Grundstücks- und Wohnungswesen 3.832 freiberufliche, wissenschaftl. und techn. Dienstleistungen 3.773 Verlagswesen 3.637 Herstellung von Druckerzeugnissen 3.633 Information und Kommunikation 3.619 Herstellung von chemischen Erzeugnissen 3.527 nicht marktbestimmte Dienstleistungen 3.453 Telekommunikation 3.332 Großhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen) 3.308 Dienstleistungsbereich 3.266 Herstellung von elektrischen Ausrüstungen 3.247 Verkehr und Lagerei 3.221 Baugewerbe 3.189 marktbestimmte Dienstleistungen 3.159 Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln 3.129 Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen 2.977 Sammlung etc. von Abfällen; Rückgewinnung 2.862 Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren 2.840 Herstellung von Glas, Keramik etc. 2.752 Fleisch- und Fischverarbeitung 2.605 Einzelhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen) Gastgewerbe 2.353 1.887 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte, Arbeitnehmerverdienste 4/2011 4.500 16 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ¢ Was versteht man unter Niedriglohn? Unter Niedriglohn wird nach der allgemein üblichen Definition der OECD ein Bruttolohn verstanden, der unterhalb von zwei Dritteln des Medianlohns liegt. Der Medianlohn teilt alle Verdienste in genau zwei Hälften: Genau eine Hälfte verdient weniger; die andere Hälfte verdient mehr. Als Grundlage wird üblicherweise der Monatsverdienst von Vollzeitbeschäftigten herangezogen. Um auch Teilzeitbeschäftigte und Minijobberinnen und Minijobber in die Analyse einzubeziehen, legt die Statistik den Stundenlohn zugrunde. Der Grenzwert für Niedriglöhne beträgt danach aktuell 10,36 Euro/Stunde; bei Vollzeitbeschäftigten sind es 1.907 Euro im Monat. Der Niedriglohnsektor boomt Ein Problem mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Auswirkungen ist die Entwicklung des Niedriglohnbereichs. Niedrige Verdienste hat es seit jeher gegeben. Doch dieser Sektor gewinnt in Deutschland in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung. Die Verdienststrukturerhebung zeigt zunächst einmal Fakten auf, die aus verschiedenen Studien bereits bekannt sind: Es sind vor allem ›atypisch‹ Beschäftigte (Teilzeitbeschäftigte, befristet oder geringfügig Beschäftigte), die zu den Geringverdienern zählen. Frauen sind stärker betroffen als Männer, Jüngere eher als Ältere. Und auch die Qualifikation und die Betriebsgröße spielen eine wichtige Rolle. Aber auch die Frage, ob der Betrieb tarifgebunden ist, hat einen wichtigen Einfluss: So sind bei ›atypisch‹ Beschäftigten in 27 Prozent aller Fälle Niedriglöhne bei tarifgebundenen Betrieben der Fall; bei nicht tarifgebundenen dagegen sind es mehr als doppelt so viele mit 61 Prozent. Und bei ›normalen‹ Arbeitsverhältnissen ist das Ergebnis noch gravierender: Lediglich zwei Prozent aller Beschäftigten haben in tarifgebundenen Unternehmen einen Niedriglohn; bei nicht tarifgebundenen ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten mit 13 Prozent sechsmal höher. Schon diese Statistik zeigt, dass nicht nur in ›atypischen‹ Beschäftigungsformen Niedriglöhne gezahlt werden. Nimmt man die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, die zwar nicht so detailliert sind, aber auch Kleinstbetriebe umfassen, zeigt sich, dass der Trend hin zu Niedriglöhnen auch bei ›normalen‹ Vollzeitarbeitsplätzen immer weitergeht. Im Land Bremen fiel die Zunahme des Anteils der Niedriglohnbezieher sogar noch stärker aus als im Bundesgebiet: Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte arbeitet hier mittlerweile für einen Niedriglohn. Ein Ergebnis dieser Entwicklung: Für immer mehr Menschen reicht die Erwerbsarbeit nicht mehr zur Existenzsicherung aus. Indiz dafür ist die Zahl der ›Aufstocker‹, also derjenigen Erwerbstätigen, die staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, um ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zu haben. Die Zahl dieser Menschen nimmt seit Jahren stetig zu: Schon 2007 zählten rund 15.700 Erwerbstätige dazu; 2011 mussten rund 18.900 Erwerbstätige ihr Einkommen durch Leistungen nach dem SGB II aufstocken; eine Zunahme von rund 20 Prozent. Im Jahresverlauf 2012 (aktuelle Zahlen liegen bis August 2012 vor) wurde die Schwelle von 19.000 schließlich überschritten. Beim Vergleich der beiden Städte fällt auf, dass die Zahl der Aufstocker in Bremerhaven seit 2007 weitgehend stagniert; der Anstieg findet fast ausschließlich in der Stadt Bremen statt. 17 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Fazit zende staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zugleich ist das ›Auseinanderdriften‹ der Arbeitnehmerverdienste ein weiterer Beleg für die Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft. Ein Mindestlohn, wie wir als Arbeitnehmerkammer ihn seit Langem fordern, löst hier zwar längst nicht jedes Problem und kann insbesondere die Spaltung des Arbeitsmarktes nicht überwinden – jedoch würde ein Mindestlohn insgesamt für eine Stabilisierung des Lohngefüges sorgen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade in prekären Beschäftigungsverhältnissen vor Dumpinglöhnen schützen. Die Studie zur Entwicklung der Spitzeneinkommen im vergangenen Jahr hat die außerordentlich starke Zunahme hoher und höchster Einkommen im Land Bremen deutlich gemacht. Die aktuelle Analyse der Verdienste zeigt zudem die teils gravierenden Unterschiede bei den ›normalen‹ Arbeitnehmereinkommen auf. Dabei gibt vor allem die Entwicklung des Niedriglohnsektors im Land Bremen Anlass zur Sorge, gerade auch angesichts des hohen Anteils der ›normalen‹ Vollzeitarbeitsverhältnisse: Immer mehr Beschäftigte müssen ergän- Abb. 4: Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn nach Beschäftigungsform 2010 in Prozent Anteil an allen Arbeitnehmer/ innen Normalarbeitnehmer/ innen atypisch Beschäftigte insgesamt 16 7 45 Frauen 23 13 43 Männer 11 4 50 Alter von … bis unter … Jahren 15 bis 25 49 / 67 25 bis 35 21 10 46 35 bis 45 12 6 35 45 bis 55 12 6 43 55 bis 65 15 8 50 ohne anerkannte Berufsausbildung 50 16 79 mit Berufsausbildung 13 9 35 Hochschulabschluss 2 0 8 10 bis 49 28 17 63 50 bis 249 24 11 56 250 bis 499 13 6 37 500 bis 999 10 3 / 4 1 17 7 2 27 24 13 61 Arbeitgeber mit … bis … Beschäftigten 1.000 und mehr Arbeitgeber ist ... tarifgebunden nicht tarifgebunden Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, 2012 18 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven DR. MARION SALOT 1 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen, Beschäftigung nach Ländern in wirtschaftsfachlicher Gliederung (WZ 2008). Der Strukturwandel in Bremerhaven schreitet voran und hat sich auch 2012 weiter positiv auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat zwischen Juni 2011 und Juni 2012 um 1.756 Stellen oder 3,7 Prozent zugenommen. In diesem Zeitraum wurde damit der größte Arbeitsplatzzuwachs seit 2005 verzeichnet. Wie in den vergangenen Jahren haben von diesem Zuwachs aber überwiegend die Männer profitiert (1.354 Arbeitsplätze), während die Zahl der weiblichen Beschäftigten nur um 402 Stellen anstieg. Im Juni 2012 lag damit der Frauenanteil unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit 42,8 Prozent nur knapp über den bisherigen Negativrekord von 2008 mit 42,7 Prozent (siehe Abbildung 1). Neue Arbeitsplätze sind vor allem in männerdominierten Branchen entstanden, dass ist der Grund, warum der Frauenanteil trotz stei- Abb. 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Bremerhaven (Juni 2001 bis Juni 2011) 46 44.442 42.700 41.726 42.062 43 43.090 44,3 44.047 44.968 44,9 46.932 45.924 45,4 45,3 46.034 45,3 46.193 45,6 45 44 48.688 47 44,0 43,6 42,8 43,5 43,1 42,7 SvB insgesamt (in absoluten Zahlen) Frauenanteil (in Prozent) Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven, Stadt, Ende Juni 2012; eigene Berechnungen 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 42 gender Beschäftigung rückläufig ist. Ebenso wie in den vergangenen Jahren entfiel der größte Beschäftigungszuwachs auf den Bereich ›Verkehr und Lagerei‹, in dem auch die Beschäftigten in den Häfen erfasst werden. Hier sind während dieser zwölf Monate 434 Arbeitsplätze entstanden. Der im Jahr 2012 realisierte Umschlagrekord (siehe Exkurs: Schiffahrt in der Krise, S. 24 ff.) hat sich offensichtlich dementsprechend positiv auf die Arbeitsplatzentwicklung ausgewirkt. Auch die Leiharbeit – in der zu 75 Prozent Männer beschäftigt sind – entwickelte sich wieder zum Jobmotor. Zwischen Juni 2011 und Juni 2012 sind hier 336 neue Arbeitsplätze entstanden. Damit hat die Zahl der Stellen gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent zugenommen. Insgesamt sind in Bremerhaven im Juni 2012 2.020 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Leiharbeit beschäftigt gewesen. Hiermit wurde fast der Rekordwert von 2008 wieder erreicht. In diesem Jahr waren in dieser Branche 2.097 Menschen beschäftigt. Der Anteil der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter an allen sozial49.000 versicherungspflichtig Beschäf48.000 tigten lag im Juni 2012 bei 4,1 Prozent und war damit weiter47.000 hin überdurchschnittlich hoch. 46.000 Im Bundesdurchschnitt lag die45.000 ser Wert bei 2,7 Prozent.1 44.000 Ähnlich stark wie in der Leih43.000 arbeit stieg auch die Beschäftigung im Bereich Metallerzeu42.000 gung und -bearbeitung (21,3 41.000 Prozent). Den höchsten prozen40.000 tualen Zuwachs von fast 60 Pro39.000 zent gab es hingegen im Bereich ›Herstellung von chemischen und pharmazeutischen Erzeugnissen‹ (vgl. Abbildung 2). 19 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung nach Wirtschaftsabschnitten in Bremerhaven (Juni 2011 bis Juni 2012) in absoluten Zahlen 434 Verkehr und Lagerei 336 Überlassung von Arbeitskräften Herstellung chem., pharmaz. Erzeugnisse, Gummi, Kunststoff, Glas 256 231 Metallerzeugung und -bearbeitung 174 Gastgewerbe 160 Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kfz 143 Gesundheits- und Sozialwesen freiberufliche, wissenschaftliche, technische Dienstleistungen -98 -121 Maschinenbau, Fahrzeugbau -200 -100 0 100 200 300 400 500 Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven, Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung im selben Zeitraum ›nur‹ 3,7 Prozent, im BunAuch im Gastgewerbe (15,4 Prozent), im Handesdurchschnitt 3,6 Prozent. Unter den deutdel (2,6 Prozent) und im Bereich ›Gesundheit schen Beschäftigten stieg die Zahl der Minijobs und Soziales‹ (2,2 Prozent) ist die Beschäftizwischen 2011 und 2012 nur um 19 Stellen. gung angestiegen. Die umfangreichsten Die Zahl der männlichen geringfügig BeschäfArbeitsplatzverluste gab es in dem Wirtschaftstigten war hingegen leicht rückläufig. abschnitt Maschinenbau und Fahrzeugbau Die Minijob-Zuwächse konzentrierten sich (121 Stellen oder 14,9 Prozent), dicht gefolgt aber nicht nur auf eine bestimmte Menschenvon den freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen (98 Stellen Abb. 3: Minijobber nach Wirtschaftsabschnitten oder 3,1 Prozent). am 30. Juni 2012, in absoluten Zahlen Während die Leiharbeit in Bremerhaven weiter boomte, Baugewerbe 329 hat die Zahl der geringfügig Information und Kommunikation 331 entlohnten Beschäftigten zwischen Juni 2011 und Juni 2012 Kunst, Unterhaltung, Erholung 403 kaum zugenommen. Sie ist Grundstücks- und Wohnungswesen 425 von 11.483 auf 11.638 Stellen geVerkehr und Lagerei 632 stiegen. 139 dieser 155 zusätzsonstige Dienstleistungen 693 lichen Minijobs wurden mit ausländischen Beschäftigten freiberufliche, wissenschaftliche, 1.066 technische Dienstleistungen besetzt – und zwar vor allem mit männlichen (106). Die Zahl sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen 1.069 der männlichen, ausländischen Gesundheit und Soziales 1.239 Minijobber ist damit in BremerGastgewerbe 1.728 haven innerhalb eines Jahres Einzelhandel um über 26 Prozent angestie1.795 gen. Zum Vergleich: In Bremen0 500 1.000 1.500 2.000 Stadt betrug der Zuwachs in Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven, Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung dieser Beschäftigungsgruppe 20 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die umfangreichen Veränderungen in der Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen abermals die schwierige Auftragslage im Schiffbau. gruppe, sondern auch auf eine Branche, denn zwei Drittel der zusätzlichen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse entstanden im Gastgewerbe. Mittlerweile gibt es in dieser Branche 1.728 geringfügig Beschäftigte, aber nur 1.306 sozialversicherungspflichtige Arbeitskräfte. Die Zahl der Minijobber übersteigt die Zahl der regulär Beschäftigten damit deutlich. Setzt sich diese Entwicklung fort, ist das Gastgewerbe auf dem besten Wege, den Einzelhandel als die Branche mit der größten Anzahl an Minijobs abzulösen (vgl. Abbildung 3). Investitionen in den Tourismusstandort Bremerhaven 2 Vgl. Statistisches Landesamt Bremen: Statistisches Jahrbuch 2012. 2012 wurden weitere Investitionen beschlossen, die Bremerhaven als Tourismusstandort stärken und die Museumslandschaft attraktivieren sollen. Hierzu gehören zum einen die Entscheidung für den Bau des neuen 1,5 Millionen Euro teuren Aquariums im Zoo am Meer und zum anderen das mit einem Volumen von 42 Millionen Euro deutlich umfangreichere Projekt zur Modernisierung des Deutschen Schiffahrtsmuseums (DSM ). Das DSM ist als nationales deutsches Forschungsmuseum Mitglied der Leibniz-Forschungsgemeinschaft und wird deshalb vom Bund mitfinanziert. Dieser Status kann aber nur dann aufrechterhalten werden, wenn das Museum modernisiert wird und verbesserte Forschungsmöglichkeiten bekommt. Die 42 Millionen Euro, von denen die Hälfte aus Bundesmitteln stammt, fließen bis 2014 zunächst in die Sanierung des denkmalgeschützten Scharoun-Baus. Außerdem soll die Dauerausstellung neu konzipiert und der Erweiterungsbau modernisiert werden. Auch der Bau eines neuen Magazins steht auf dem Programm. Der gesamte Masterplan umfasst ein Gesamtvolumen von 100 Millionen Euro. Ausgebaut wird in Bremerhaven auch das Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten: Nachdem erst im November 2012 mit der Eröffnung des Im-Jaich-Hotels am Neuen Hafen die Zahl der Betten in der Seestadt um 87 zugenommen hat, werden 2013 zwei weitere Hotels mit 195 beziehungsweise 300 Betten folgen. Während 2011 in 20 Hotels knapp 2.000 Betten bereitstanden, wird die Übernachtungskapazität damit 2013 um 25 Prozent zunehmen. Angesichts der leicht rückläufigen Übernachtungszahlen (siehe Beitrag Wirtschaftsentwicklung: Europa in der Rezession, Bremer Lage noch stabil, S. 7 ff.) bleibt zu hoffen, dass diese Kapazitätsausweitung auch eine entsprechende Auslastung nach sich zieht. Der Inhaber des Im-Jaich-Hotels geht von einer durchschnittlichen Belegung von 60 Prozent aus. 2011 lag dieser Wert über alle Hotels hinweg bei 43 Prozent.2 Umstrukturierung der Bremerhavener Schiffbauindustrie Die schwierige Wirtschaftslage der Reedereien (siehe Exkurs: Schiffahrt in der Krise, S. 24 ff.) ging auch an der Bremerhavener Schiffbauindustrie nicht spurlos vorbei. Weil diese ihre Wartungs- und Reparaturaufträge auf ein Minimum reduzierten, ist der Umsatz der Lloyd Werft gesunken. Das Jahr 2012 stand daher unter dem Zeichen massiver Umstrukturierungen. Bereits im Dezember 2011 gab die Geschäftsführung der Lloyd Werft bekannt, dass der Betrieb in eine Besitz- und eine Produktionsgesellschaft aufgeteilt wird. Zukünftig sollen neben dem Schiffbau weitere Geschäftsfelder erschlossen werden, wie die OffshoreBranche und der Yachtbau. Während die Beschäftigten in die Produktionsgesellschaft, die Lloyd Werft AG, übergehen, fließt das Vermögen der Werft (also das Gelände, die Docks und die Hallen) in die Besitzgesellschaft ein. Weil der Weg aus der Krise nur dann möglich sein soll, wenn die Lohnkosten deutlich gesenkt werden, sollten ursprünglich 42 Mitarbeiter ihren Job verlieren. Mittlerweile konnte diese Zahl auf 25 gesenkt werden. Mit der Gründung der Lloyd Werft AG ist die Umstrukturierung der Bremerhavener 21 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK ¢ Schiffbaubetriebe allerdings nicht abgeschlossen. Unter dem Dach der ›German Dry Docks‹ sind die Schiffbauabteilungen der MWB Motorenwerke und der Rickmers Lloyd Dockbetrieb zusammengefasst worden. Hier werden insgesamt etwa 100 Beschäftigte im Schiffsreparaturgeschäft arbeiten. Im Zuge der Gründung der ›German Dry Docks‹ wurde der Schiffstechnik-Bereich von den MWB Motorenwerken abgespalten. Bei MWB sind noch 145 Mitarbeiter tätig, die sich unter anderem mit den Bereichen ›Energietechnik‹ und ›Schiffsantriebe‹ befassen. Nach der Umstrukturierung agieren die drei Firmen MWB Motorenwerke (ohne den Bereich Schiffstechnik), die Lloyd Werft und das Unternehmen ›German Dry Docks‹ in direkter Nachbarschaft am Kaiserhafen. Diese Struktur soll helfen, Synergien zu erzielen und Doppelstrukturen abzubauen. Um die Beschäftigung in diesen Unternehmen zu sichern, wurde ein Zukunftstarifvertrag abgeschlossen. Solange dieser gültig ist, dürfen keine Entlassungen vorgenommen werden. Die umfangreichen Veränderungen in der Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen abermals die schwierige Auftragslage im Schiffbau. Einer aktuellen Schiffbauumfrage zufolge, ist im Jahr 2012 das erste Mal seit 20 Jahren in Deutschland kein einziger Auftrag für Containerschiffe, konventionelle Frachter, Bulker oder Tanker eingegangen. Gleichzeitig wurde eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Schiffen ausgeliefert, was sich negativ auf die zukünftige Auftragslage auswirken wird. Für 2013 wird gegenüber 2011 mit einem Produktionseinbruch von über 30 Prozent gerechnet.3 Perspektiven der OffshoreWindenergiebranche trüben sich ein Problematisch stellt sich aktuell auch die Entwicklung der Offshore-Windenergiebranche dar. Ende des Jahres 2012 wurden in der Boombranche der vergangenen Jahre Entlassungen aufgrund von Auftragslücken angekündigt. Der Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB) Am 4. Dezember 2012 hat der Bremer Senat beschlossen, den geplanten Offshore-Terminal, für den kein privater Investor gefunden wurde, mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Insgesamt belaufen sich die Kosten hierfür auf 180 Millionen Euro. Die Finanzierung soll über fünf Jahre und ohne Kreditaufnahme erfolgen. Den Löwenanteil der Kosten übernimmt das Wirtschaftsressort mit 108 Millionen Euro. Diese Summe soll bei anderen Projekten, beispielsweise bei der Weservertiefung, gekürzt werden. 50 Millionen Euro sollen landeseigene Firmen beisteuern. So sollen unter anderem Gewinne der BLG und der Gewoba abgeschöpft werden. Die Höhe richtet sich nach den finanziellen Ausgangslagen der Unternehmen. Die restlichen 22 Millionen werden aus dem Gesamthaushalt finanziert. Das Planfeststellungsverfahren für den Terminal wird Ende 2012 /Anfang 2013 eingeleitet, der Projektbeginn ist für 2014 geplant, die Fertigstellung für 2016. An dem neuen Terminal können bis zu 160 Offshore-Anlagen pro Jahr umgeschlagen werden. Die Entscheidung für die öffentliche Finanzierung des OTB sieht Bremen zum einen als deutliches Bekenntnis zur Offshore-Windenergiebranche und zur Energiewende. Zum anderen versteht die Politik den OTB als zentrale Investition in die Seestadt Bremerhaven und die Zukunft des Landes Bremen. Ein Ausbleiben der Investitionen würde der bestehenden Entwicklung laut Senat großen Schaden zufügen und neu entstandene Arbeitsplätze gefährden.4 Bereits 2011 wurde vom Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen die Studie ›Regionalwirtschaftliche Potenzialanalyse für ein Offshore-Terminal Bremerhaven‹ bei der Prognos AG in Auftrag gegeben. Hier haben die Gutachter berechnet, dass durch den Bau des Offshore-Terminals in Bremerhaven bis zum Jahr 2040 zwischen 7.000 und 14.000 Arbeitsplätze in Bremerhaven gesichert und geschaffen werden können. Ob diese Prognosen angesichts der derzeit schwierigen Rahmenbedingungen auch nur annähernd eintreten werden, ist gegenwärtig allerdings mehr als unsicher. 3 Vgl. Kühn, Manuel u.a.: Eine Studie des Instituts 4 Vgl. Pressekonferenz Beschäftigung, Auftrags- Arbeit und Wirtschaft des Bremer Senats zur lage und Perspektiven (IAW) und der Agentur für Entscheidung über im deutschen Schiffbau, Struktur- und Personal- den Bau des Offshore- Ergebnisse der 21. entwicklung GmbH, Terminals Bremerhaven, Betriebsrätebefragung IG Metall Küste, IAW- 4.12.2012. im September 2012. Schriftenreihe 14, S. 29. 22 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 5 Vgl. Döll, Sebastian: Die Windenergiebranche im Lande Bremen, Arbeitnehmerkammer, Juni 2012. Und das, obwohl der Senat nur wenige Tage vorher beschlossen hat, nach dem Scheitern der Suche nach einen privaten Investor, den Bau des Offshore-Terminals Bremerhaven selbst in die Hand zu nehmen. Bis zur Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals hat Bremen bereits in den vergangenen Jahren etwa 130 Millionen Euro an öffentlichem Geld investiert, um Bremerhaven als Standort für die Offshore-Windenergiebranche zu profilieren – und das mit beachtlichem Erfolg. Nach und nach siedelten sich namhafte Hersteller der Branche an, unter anderem die Areva Wind GmbH, REpower Systems und WeserWind. Allein in den großen Kernunternehmen arbeiteten etwa 2.500 Beschäftigte. Rund um diese Betriebe hat sich außerdem ein Netzwerk aus Dienstleistungs-, Ausbildungsund Zulieferunternehmen niedergelassen. Insgesamt umfasst die Branche demnach etwa 3.000 Beschäftigte. Trotz dieser positiven Entwicklung standen die Offshore-Windener- giebetriebe häufig in der Kritik, weil einige einen unzumutbar hohen Anteil an Leiharbeitern beschäftigen. Den Angaben der im Jahr 2012 von uns durchgeführten Befragung von Unternehmen aus der Windenergiebranche zufolge, liegt dieser Anteil in der Produktion bei bis zu 70 Prozent.5 Ein Teil dieser Leiharbeiter ist nun von den angekündigten Entlassungen betroffen. Spätestens nach dem Brandbrief, den der niederländische Netzbetreiber Tennet an die Bundesregierung geschickt hat, wurde deutlich, welche großen Hürden beim Netzausbau hier noch zu nehmen sind. Vor allem mangelt es dem Unternehmen an dem entsprechenden Kapital, um die Windparks an das Stromnetz auf dem Festland anzuschließen. Durch die Verzögerungen beim Netzausbau werden immer mehr Windparks auf Eis gelegt. Damit bleiben die Aufträge für die Anlagenhersteller ebenso aus. Dies betrifft unter anderem den Bremerhavener Rotorblatthersteller 23 PowerBlades. Da RWE die Entscheidung zum Bau des Windparks ›Innogy Nordsee 1‹, für den das Unternehmen die Windräder liefern sollte, verschoben hat, entsteht ab Mitte 2013 im Offshore-Bereich ein Auftragsloch. PowerBlades wird sich zunächst von 120 Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern trennen. Im Sommer 2013 folgen dann weitere 180. Die Stammarbeitskräfte sollen dem Unternehmen erhalten bleiben und an der Produktion für Komponenten an Land (Onshore) arbeiten. Aber nicht nur bei PowerBlades gibt es Auslastungsprobleme. Auch bei WeserWind stehen Verhandlungen darüber an, wie die Auftragslücke in diesem Jahr geschlossen werden kann. Da das Unternehmen Fundamente (sogenannte Gründungsstrukturen) für Offshore-Windenergieanlagen herstellt, kann WeserWind die stockende Auftragslage nicht – wie andere Unternehmen – mit Arbeiten für das Onshore-Geschäft überbrücken. Bereits Mitte 2012 haben Unternehmensführung, Betriebsrat und Gewerkschafter Verhandlungen darüber aufgenommen, wie die sich abzeichnende Auftragslücke überbrückt werden kann. WeserWind beschäftigt knapp 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mehr als die Hälfte davon sind Leiharbeiter. Insgesamt droht in der Bremerhavener Offshore-Windenergiebranche der Verlust von bis zu 1.000 Arbeitsplätzen. Experten gehen davon aus, dass die Auftragslage 2014 / 2015 wieder anziehen wird. Das Jahr 2013 muss aber möglichst ohne den Verlust von qualifizierten Beschäftigten überbrückt werden. Die IG Metall fordert hier die Einführung einer erweiterten Kurzarbeiterregelung für Leiharbeit. Außerdem kann die Auftragsdelle für Qualifizierungsmaßnahmen genutzt werden. Wichtig ist es, die vor allem mit öffentlichem Geld qualifizierten Beschäftigten in der Region zu halten, damit sie bei einer verbesserten Auftragslage wieder eingesetzt werden können. 24 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 EXKURS ¢ Schifffahrt in der Krise Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde DR. MARION SALOT te zu bedienen. Viele Schiffsfonds kämpfen ums Überleben. Diese Entwicklung bedroht besonders die maritime Wirtschaft in Deutschland, denn etwa ein Drittel der weltweiten Containerschiffsflotte wurde von deutschen Fonds und Banken finanziert. 30 Prozent dieser Schiffe sind aber fast insolvent, weil sie angesichts der Überkapazitäten einen rapiden Wertverlust zu verzeichnen haben. Nicht selten liegt der Marktwert eines neuen Frachters schon während des Baus um 20 bis 30 Prozent unter den Baukosten. Angesichts dieser angespannten Lage hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin ) nun beschlossen, die Schiffskredite der deutschen Banken prüfen zu lassen, um ihren tatsächlichen Wert zu ermitteln. Zu den fünf größten Schiffsfinanzierern weltweit gehört auch die Bremer Landesbank, die mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro an der Finanzierung von Schiffen beteiligt ist. Weil es immer schwieriger wird, Banken oder Fonds für die Finanzierung von neuen Schiffen zu gewinnen, sehen ausländische Investoren hier eine Chance, auf den deutschen Markt zu drängen. Chinesische Banken versuchen diese Schwäche auszunutzen, indem sie deutschen Reedern den Bau von Containerschiffen finanzieren. Allerdings nur dann, wenn diese Aufträge Abb. 1: Die weltweit größten Containerreedereien auch an chinesische (Dezember 2012) Werften gehen. Auf die162 sem Wege soll der Welt182 marktanteil der eigenen 320 Schiffbauindustrie suk412 zessive ausgebaut werden – zum Nachteil der 458 deutschen Werften (siehe 604 hierzu auch Abschnitt 100 200 300 400 500 600 700 ›Wirtschafts- und BeschäfAnzahl der Schiffe tigungsentwicklung in Quelle: Schneider, Mark C.: Großreeder prüfen Fusion. In: Handelsblatt vom 19.12.2012, S. 16 Bremerhaven, S. 18 ff.). Nach dem Einbruch der Wirtschafts- und Finanzmärkte im Jahr 2008 befindet sich die Containerschifffahrt nach wie vor in einer schweren – zum Teil aber hausgemachten – Krise. Die enormen Wachstumsraten und Gewinne, die im Containerverkehr bis dahin verbucht werden konnten, haben die Reeder dazu veranlasst, immer größere Schiffe zu ordern. Selbst als bereits massive Einbrüche im Frachtaufkommen zu verzeichnen waren, wurden ganz gezielt weitere Neubauaufträge vergeben, denn die Schiffspreise waren niedrig wie selten und die Reeder gingen von einer schnellen Erholung der wirtschaftlichen Lage aus. Diese Kapazitätsausweitung hat allerdings im Zusammenspiel mit der sinkenden Nachfrage nach Frachtraum den Preisdruck in der Branche erheblich erhöht. Vor allem die großen Containerreedereien versuchten bis vor Kurzem sich mit Billigangeboten ihre Marktanteile zu sichern, allen voran Maersk und MSC . Die Frachtraten, also die Transportpreise für Container, fielen dadurch dramatisch in den Keller. Die Charterraten für Containerschiffe sanken teilweise sogar um 80 Prozent. Weil diese Preise allenfalls ausreichen, um die Betriebskosten der Schiffe zu decken, sind viele Reeder nicht mehr in der Lage, ihre Kredi- Cosco Evergreen Hapag-Lloyd und Hamburg Süd CMA CGM MSC Maersk Linie 25 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 2: Güterverkehr über See (Land Bremen) Rekordumschläge an den Bremerhavener Kajen Trotz der schwierigen Gesamtsituation in der Schifffahrt, geht es den bremischen Häfen weiter gut. Im Februar dieses Jahres konnte Wirtschaftssenator Martin Günthner den bislang höchsten Seegüterumschlag mitteilen. Insgesamt wurden 84 Millionen Tonnen an Gütern umgeschlagen (siehe Abbildung 2). Gegenüber 2011 stieg der Umschlag damit um 4,2 Prozent, obwohl er in vielen anderen europäischen Häfen aufgrund des schwierigen konjunkturellen Umfeldes stagnierte oder sogar zurückging. Der Containerumschlag ist von 5,9 auf 6,1 Millionen Standardcontainer (TEU) und damit um 3,4 Prozent gestiegen. Im Jahr 2012 wurden in Bremerhaven 2,2 Millio- 46,0 46,5 2002 48,9 44,8 2001 30 63,1 54,2 36,0 40 2000 50 52,3 60 69,1 64,6 70 68,9 74,5 80,6 80 84,0 90 20 10 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 0 1999 Da ein schnelles Ende der Krise nicht in Sicht ist, sind die Reedereien zunehmend dazu übergegangen, ihre Position über das Eingehen von Allianzen zu sichern. Bereits seit März 2012 kooperieren mit MSC und CMA CGM die zweitund drittgrößte Reederei der Welt. Außerdem hat sich die G6-Alliance1 gebildet, an der auch Hapag-Lloyd beteiligt ist. Sie bildet eine Art ›Abwehrallianz‹ gegen Maersk und MSC und wird mit mehr als 90 Schiffen über 40 Häfen in Asien, Europa und im Mittelmeer anlaufen. Mitte Dezember wurde schließlich bekannt, dass auch die beiden Hamburger Reedereien Hapag-Lloyd und Hamburg Süd über einen Zusammenschluss nachdenken. Hierdurch würde die viertgrößte Reederei entstehen (siehe Abbildung 1). Die Konzentrationsstrategien der Reedereien werden nicht ohne Folgen für die Konkurrenzsituation zwischen den Häfen der Nordrange2 bleiben, denn die wachsende Marktmacht stärkt ihre Verhandlungsposition gegenüber den Umschlagplätzen. Damit erhöht sich der Druck auf die Preise und die Löhne in den Häfen. Vor allem dann, wenn das Frachtaufkommen fällt und es auch hier Überkapazitäten gibt. in Mio. Tonnen Quelle: Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen: Hafenspiegel 2011; Pressemitteilung vom 13.02.2013: Hafenbilanz 2012 fällt erstklassig aus nen Fahrzeuge umschlagen, 6,3 Prozent mehr als 2011. Auch in diesem Bereich wurde damit ein Rekordergebnis erzielt. Getragen wurden diese Zuwächse von der Exportstärke der bremischen Wirtschaft. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass die Ausfuhren gegenüber 2011 um etwa 20 Prozent gestiegen sind. Im Vergleich mit anderen Bundesländern erzielt Bremen damit einen Spitzenwert. Vor allem der Export von Kraftfahrzeugen hat zugenommen. Er ist gegenüber dem Vorjahr um 22 Prozent gestiegen. Die insgesamt positive Umschlagentwicklung in den vergangenen beiden Jahren hat sich entsprechend auf die letzten Tarifverhandlungen ausgewirkt. Hier wurde für die 15.000 Beschäftigten in den deutschen Seehäfen im Mai 2012 eine 4,1-prozentige Lohnsteigerung vereinbart. Aufgrund der besseren wirtschaftlichen Entwicklung konnten die Gewerkschaf- 1 Die G6 setzt sich aus den Mitgliedern der bisherigen Grand Alliance und der New World Alliance zusammen. Sie besteht aus den Reedereien APL, Hapag-Lloyd, Hyundai Merchant Marine, Mitsui O.S.K. Lines, Nippon Yusen Kaisha (NYK) und Orient Overseas Container Line (OOCL). 2 Zur Nordrange gehören die Nordseehäfen Antwerpen, Rotterdam, Bremen und Bremerhaven sowie Hamburg. 26 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ten für die Beschäftigten in den Containerumschlagbetrieben außerdem einen jährlichen Zuschuss von 400 Euro aushandeln. Für 2013 wird erwartet, dass die Umschlagmenge und die Beschäftigung in den Häfen stabil bleiben, der Verhandlungsspielraum hat sich allerdings aufgrund des stagnierenden Frachtaufkommens und der schwierigen finanziellen Situation der Reeder verkleinert. Der Konkurrenzkampf in der Schifffahrt geht – trotz des gegenwärtig noch wachsenden Umschlags – auch an den bremischen Häfen nicht spurlos vorbei. So hat beispielweise die Reederei Wallenius Wilhelmsen, über die zwei Drittel des Bremerhavener Automobilumschlags abgewickelt werden, im Sommer des vergangenen Jahres einen eigenen Terminal und eine 50.000 Quadratmeter große Fläche in Bremerhaven gefordert, damit sie ihre Schiffe unabhängig von der BLG löschen kann. Als Druckmittel wurde angeführt, dass die Reederei ihre Fahrzeuge auch in Cuxhaven, Emden oder Zeebrügge abfertigt. Ein Abzug der Reederei würde für die Arbeitsplätze in Bremerhaven eine massive Bedrohung darstellen.3 Der JadeWeserPort: Konkurrenz oder Ergänzungshafen? 3 Vgl. Mündelein, Klaus: Groß-Reederei legt sich mit BLG an. In: NordseeZeitung vom 24.7.2012. Ein für die Hafenwirtschaft herausragendes Ereignis war 2012 sicherlich die Eröffnung des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven, an dem auch das Land Bremen beteiligt ist. Seit September ist der einzige deutsche Tiefwasserhafen in Betrieb, in dem auch die größten Containerschiffe der Welt tideunabhängig anlegen können. Bei vollständiger Fertigstellung stehen hier gut 1.700 Meter Kaje und vier Liegeplätze bereit. Insgesamt können bei maximaler Auslastung 2,7 Millionen Standardcontainer pro Jahr umgeschlagen werden. Zum Vergleich: 2012 wurden an den Bremerhavener Kajen 6,1 Millionen Container verladen. Betrieben wird der neue Hafen von Eurogate und der Maersk-Tochter APM-Terminals, die zu 30 Prozent an der Betreibergesellschaft beteiligt ist. Bereits vor seiner Eröffnung hat der JadeWeserPort auch jenseits der löchrigen Spundwand und der Verzögerungen beim Bau in mehrfacher Hinsicht für Diskussionen gesorgt. Weil sich mit Maersk eine der wichtigsten im Bremerhavener Containerumschlag agierenden Reederei auch am JadeWeserPort niedergelassen hat, war es nicht auszuschließen, dass es nach der Eröffnung des Tiefwasserhafens zu einer Verlagerung von Liniendiensten nach Wilhelmshaven kommen könnte. Zumal gerade Maersk überdurchschnittlich viele Schiffe mit einer Kapazität von über 12.000 TEU im Dienst hat und gegenwärtig sogar zehn Containerschiffe mit einer Transportkapazität von 18.000 TEU bei der koreanischen Werft Daewoo Shipbuildung Marine Engineering bauen lässt. Sie sollen in diesem Jahr ausgeliefert werden. Bei diesen Frachtern handelt es sich um die größten Containerschiffe, die je in Dienst gestellt wurden. Diese XXL- Schiffe könnten in Wilhelmshaven tideunabhängig anlegen. Der JadeWeserPort hätte hier also gegenüber Bremerhaven einen deutlichen Wettbewerbsvorteil. Dennoch ist die Auslastung des Hafens bislang noch relativ gering. Zwei Liniendienste laufen den JadeWeserPort wöchentlich an, darunter befindet sich ein Großschiff. Der JadeWeserPort soll sich in der Startphase über günstige Umschlagkosten auf den internationalen Routen etablieren. Zwischen den Betreibern und der JadeWeserPort-Realisierungsgesellschaft wird deshalb gegenwärtig über die Höhe der zu leistenden Hafengebühren gestritten. Der Hafen sollte bis Ende 2012 mit einem Rabatt von 70 Prozent starten, bis August 2018 wird ein Preisnachlass von 50 Prozent gewährt. Einschließlich der Rabatte liegen die Hafengebühren für den JadeWeserPort in etwa auf dem Niveau von Hamburg und Bremerhaven. Nach den Vorstellungen von Eurogate und Maersk sind diese Gebühren allerdings zu hoch. Sie sollen in den ersten Jahren 50 Prozent unter den in Bremerhaven und Hamburg zu entrichtenden Gebühren liegen. Nach Ansicht von Eurogate wurden im 27 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK ¢ Rahmen des Betreibervertrages andere Entgelte für das Anlaufen des Tiefwasserhafens festgeschrieben. Um diese Frage gerichtlich zu klären, hat Eurogate im Dezember 2012 Klage eingereicht. Anhand der Diskussionen um die Hafengebühren wird deutlich, wie wichtig die Umschlagkosten bei der Positionierung der Häfen im Wettbewerb sind. Dass in diesem Zusammenhang auch die Personalkosten zur Disposition stehen, ist daher wenig überraschend. Da für die Hafenbeschäftigten der von ver.di und dem Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) ausgehandelte Tarifvertrag gilt, wird ein Ausspielen der Standorte über die Lohnkosten hierdurch zunächst eingeschränkt. Allerdings wird dennoch nach Schlupflöchern gesucht, wie die Diskussionen um die Einführung eines Gesamthafenbetriebsvereins (GHBV) in Wilhelmshaven verdeutlichen. Die Hafenbeschäftigten und ver.di befürchten, dass hier stattdessen Leiharbeiter zum Einsatz kommen, die zu deutlich niedrigeren Löhnen arbeiten. Nach massiven Protesten der Hafenarbeiter hat Eurogate im Dezember 2011 zugesagt, Schritte zur Gründung eines GHBV einzuleiten. Bislang ist dies aber noch nicht erfolgt. Unter anderem deshalb, weil hierfür politischerseits die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden müssen (siehe Kasten). Der Regierungswechsel in Niedersachsen könnte allerdings die Einführung eines GHBV in Wilhelmshaven in Zukunft begünstigen. Da der JadeWeserPort gegenwärtig nur mit einer geringen Auslastung betrieben wird und die Abfertigung der Schiffe von den 250 EurogateBeschäftigten in Wilhelmshaven vorgenommen werden kann, wurde zwischen dem ver.di Landesbezirk Niedersachsen-Bremen und dem Unternehmensverband Bremische Häfen als Übergangslösung vereinbart, dass bei eventuell auftretenden Auftragsspitzen GHBV-Beschäftigte aus Bremerhaven zum Einsatz kommen. Aufgrund der geringen Auslastung des JadeWeserPorts stellt sich gegenwärtig aber Was ist der GHBV? Der Gesamthafenbetriebsverein im Lande Bremen e. V. (GHBV) wurde 1950 von Hafenunternehmen und der ÖTV als Arbeitnehmerpool gegründet, damit die hier angestellten Beschäftigten einspringen können, wenn die Umschlagfirmen selber überlastet sind und nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen. Gibt die Auftragslage eine Beschäftigung der GHBV-Mitarbeiter nicht her, werden sie aus der Garantielohnkasse bezahlt, in die die über 50 Mitgliedsunternehmen einzahlen und die über ein Volumen von 12 bis 15 Millionen Euro verfügt. Als gemeinnütziger Verein darf der GHBV keine Gewinne machen, aber Rücklagen bilden. Die GHBV-Mitarbeiter werden nach Tarifen bezahlt, die denen der aufnehmenden Betriebe entsprechen. Grundlage für die Monopolstellung des GHBV in den Häfen ist das 1950 verabschiedete Gesetz über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb).4 Hierdurch wird geregelt, dass zusätzlich benötigte Arbeitskräfte ausschließlich beim GHBV und nicht über andere Verleihfirmen ausgeliehen werden dürfen. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise mussten aufgrund des Umschlageinbruchs umfangreiche Einsparmaßnahmen vorgenommen werden. Mehr als 1.000 Beschäftigte mussten entlassen werden, die Löhne wurden deutlich gesenkt und die tariflichen Leistungen eingeschränkt. Inzwischen wurde die Beschäftigung beim GHBV wieder aufgestockt. Im November 2012 waren 1.550 Beschäftigte in Bremen und 1.450 Beschäftigte in Bremerhaven für die Bereiche Hafen und Logistik tätig. Außer im Land Bremen wurde auch in Hamburg ein GHBV ins Leben gerufen. Hier sind 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. 4 Vgl. Gesetz über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb) vom 3.8.1950. Bei diesem Bundesgesetz ist die Genehmigung der Regelungen durch die oberste Arbeitsbehörde des jeweiligen Bundeslandes erforderlich. 28 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 5 Nach Aussage der Eurogate-Sprecherin Corinna Romke. In: Mündelein, Klaus: Angst vor Kollegen von der Jade, Nordsee-Zeitung vom 13. Januar 2013. weniger die Frage, wie mit Umschlagspitzen am JadeWeserPort umgegangen wird, sondern eher die, wie die Eurogate-Mitarbeiter aus Wilhelmshaven beschäftigt werden können. Zwischenzeitlich wurde bei Eurogate sogar ›eine Austauschvereinbarung zwischen den Standorten Wilhelmshaven und Bremerhaven bezüglich der Einsätze von Arbeitskräften‹ diskutiert.5 Sollten in Bremerhaven Arbeitskräfte aus Wilhelmshaven eingesetzt werden, würde sich dies wiederum unmittelbar auf die Auslastung des GHBV auswirken und dort Arbeitsplätze gefährden. Wie sich die Anzahl und die Qualität der Arbeitsplätze im Hafen perspektivisch entwickelt, hängt damit zusammen, wann die Fracht- und Charterraten und damit die Gewinnspannen wieder ansteigen und ob die Kapazitäten der Umschlagplätze weiter zunehmen. Dass in Wilhelmshaven bereits jetzt – trotz der geringen Auslastung – laut über eine zweite Ausbaustufe nachgedacht wird, dürfte nicht zu einer Entschärfung der angespannten Wettbewerbssituation beitragen. 29 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Strukturwandel und gute Arbeit im Land Bremen Welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik? DR. MARION SALOT Seit Ende der 1980er-Jahre hatten sowohl Bremen als auch Bremerhaven mit schwerwiegenden Strukturkrisen zu kämpfen. Während Bremen von dem Konkurs der AG Weser, dem Abbau von Arbeitsplätzen in der Kaffeeund Tabakverarbeitung sowie bei Nordmende betroffen war, litt Bremerhaven nach der Fischerei- und Schiffbaukrise auch unter den Folgen des Abzugs der US-amerikanischen Streitkräfte. Hierdurch kam es nicht nur zu einem drastischen Anstieg der Arbeitslosenquote, die in Bremerhaven im Jahr 2005 sogar bei 25 Prozent lag, sondern das Land verlor auch den Anschluss an die westdeutsche Wirtschaftsentwicklung.1 Erst nach 2005 ist es gelungen, eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt einzuleiten. Seitdem sind bis 2011 etwa 21.000 neue Arbeitsplätze entstanden; zwischen 2005 und 2007 alleine mehr als 9.000 Jobs. Diese Beschäfti- gungszuwächse konzentrierten sich allerdings weitgehend auf zwei Branchen: Die Hälfte der neuen Stellen ging auf das Konto der Leiharbeit (4.600), ein Viertel entfiel auf den Wirtschaftsabschnitt ›Hilfs- und Nebentätigkeiten für den Verkehr‹ und ist damit weitgehend der boomenden Hafenwirtschaft zuzuordnen. Nach 2008 verlangsamte sich der Arbeitsplatzzuwachs, denn die Wirtschafts- und Finanzkrise hat gerade die beiden Jobmotoren der Vorjahre empfindlich ausgebremst. Die Arbeitsplatzzuwächse fielen dementsprechend geringer aus, konzentrierten sich dafür aber auf mehrere Branchen, beispielsweise auf den Bereich ›Gesundheit und Soziales‹ (+1.026) und den Bereich ›Erziehung und Unterricht‹ (+1.002). Auch das Gastgewerbe und der Einzelhandel konnten expandieren. In beiden Branchen sind in diesem Zeitraum etwa 800 neue Arbeitsplätze entstanden. Abb. 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (SvB) in Bremen und Bremerhaven 48.000 250.000 46.932 245.000 47.000 46.193 45.924 240.000 46.000 46.034 44.948 235.000 44.787 45.000 44.442 44.659 SvB Bremen SvB Bremerhaven Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. 2011 244.130 2010 238.274 2009 236.878 2008 239.063 41.726 43.000 2007 234.340 42.062 42.700 2006 229.167 2003 237.436 2002 240.606 2001 241.712 2000 238.628 215.000 1999 235.497 220.000 1998 234.117 225.000 44.000 227.983 43.090 2005 44.110 2004 230.000 231.372 44.047 42.000 41.000 1 Vgl. Prognos: Wirkungsanalyse des Investitionssonderprogramms (ISP) des Landes Bremen, August 2002. 30 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die Erholung auf dem Bremer Arbeitsmarkt war allerdings kein Selbstläufer, sondern ist auch auf entsprechende strukturpolitische Anstrengungen zurückzuführen. So wurden beispielsweise seit 1997 etwa 900 Millionen Euro in den Bau von acht zusätzlichen Liegeplätzen für den Containerumschlag investiert. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist aber seit Jahren die Tourismusbranche. Allein in die Bremerhavener Havenwelten mit dem Klimahaus, dem Mediterraneo, dem Hotel Sail City und dem Auswandererhaus sind öffentliche Investitionen in Höhe von 315 Millionen Euro geflossen. Und auch in Bremen-Stadt wurden zahlreiche touristische Großprojekte umgesetzt, beispielsweise die interaktive Wissenschafts-Ausstellung Universum, das Musical Theater, die Modernisierung der Schlachte und so weiter. Wachstumsbranche Tourismus 2 Vgl. Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte, Arbeitnehmerverdienste 4/2011. Die Investitionen in die touristische Infrastruktur wirkten sich durchaus positiv auf die Zahl der Tages- und Übernachtungsgäste aus. Im Land Bremen stiegen die Ankünfte pro Jahr zwischen 1999 und 2011 um gut 380.000 Besucher oder 60 Prozent auf über eine Million, die Übernachtungen nahmen immerhin um 49 Prozent (oder 580.000) auf 1,8 Millionen zu. Strukturpolitisch machen sich die Ausgaben der Tages- und Übernachtungsgäste vor allem im Einzelhandel und im Gastgewerbe bemerkbar. Dementsprechend ist es in den vergangenen Jahren in beiden Branchen zu einem kontinuierlichen Umsatzzuwachs gekommen: Im Einzelhandel ist er zwischen 2005 und 2010 um 25 Prozent gestiegen, im Gastgewerbe sogar um 60 Prozent. Diese durchaus positiven Entwicklungen legen den Schluss nahe, dass Bremen mit seiner Strategie, auf den Tourismus zu setzen, goldrichtig gefahren ist. Aber: Wie hat sich die gesteigerte Attraktivität auf die Arbeitsplatzentwicklung ausgewirkt? Zwischen 2003 und 2011 sind hier im Land Bremen zwar gut 1.100 sozialversicherungs- pflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden, gleichzeitig aber etwa 3.200 Minijobs. Nach dieser Entwicklung ist das Gastgewerbe damit die einzige Branche im Land Bremen, in der die Zahl der Minijobs die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse übersteigt. Im Bundesvergleich gehört Bremen inzwischen zu den drei Bundesländern mit dem höchsten Minijob-Anteil im Gastgewerbe. Aber nicht nur wegen seines überaus hohen Anteils an prekären Beschäftigungsverhältnissen lassen die Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe zu wünschen übrig: Der Bruttostundenlohn eines Vollzeitbeschäftigten beträgt im Durchschnitt nur 11,43 Euro, bei den Teilzeitbeschäftigten liegt er sogar nur bei 9,74 Euro. Im Vergleich zu allen anderen Branchen weist das Gastgewerbe damit das mit Abstand niedrigste Lohnniveau in Bremen auf.2 Dies hat zur Folge, dass jeder zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Dieser Anteil wird im Land Bremen nur noch von den Reinigungskräften übertroffen. Erschwerend kommt hinzu, dass 37 Prozent der Beschäftigten aus dem Gastgewerbe bei Arbeitslosigkeit direkt in das SGB-II-System übergehen – entweder, weil ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld I wegen der geringen Löhne zu niedrig ist oder weil ihre Beschäftigungsdauer so kurz war, dass sie noch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I vorweisen können. Viele pendeln deshalb zwischen einer Beschäftigung im Gastgewerbe und dem Hartz-IV-Bezug ständig hin und her. Minijob- und Teilzeitboom im Einzelhandel Die zweite Branche, die vom Tourismus profitiert, ist der Einzelhandel. Auch hier schreitet die Prekarisierung unaufhaltsam voran. Grund ist der herrschende ruinöse Wettbewerb. Vor allem der hierdurch entstehende Preisdruck führt dazu, dass viele Einzelhändler versu- 31 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung im Land Bremen (2003 bis 2011) chen, die Personalkosten so gering wie möglich zu halten. Somit wird der Konkurrenzkampf in dieser Branche vorwiegend auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen. Diese Tendenz lässt sich auch in Bremen beobachten. Insgesamt sind hier knapp 20.000 Beschäftigte in dieser Branche tätig; 75 Prozent sind davon Frauen. Zwischen 2007 und 2011 sind in Bremen-Stadt zwar mehr als 1.100 neue Arbeitsplätze entstanden, dieser Beschäftigungszuwachs fällt allerdings nicht nur vor dem Hintergrund des Tourismus-Booms verhältnismäßig klein aus: Zum einen erfolgte 2007 eine erhebliche Erweiterung der Ladenöffnungszeiten und zum anderen wurde im darauffolgenden Jahr auf dem ehemaligen Space-Park-Gelände die Waterfront eröffnet – ein 44.000 Quadratmeter umfassendes Shoppingcenter ganz im Norden der Stadt Bremen. Von beiden Ereignissen hätte ein deutlich größerer Beschäftigungszuwachs ausgehen sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen ausschließlich um Teilzeit- und Minijobs handelt, während die Zahl der Vollzeitstellen rückläufig ist. Viele Einzelhändler begründen diese Entwicklung mit dem Argument: ›Wir brauchen Hände!‹ Sie führt vor Augen, mit welch dünner Personaldecke mittlerweile geplant wird: Weil sie bei Krankheit oder Urlaub den Ausfall einer Vollzeitkraft nicht kompensieren können, werden lieber zwei Teilzeitkräfte oder Minijobber eingestellt. Das Verdrängen existenzsichernder Arbeitsplätze ist in dieser Branche deshalb besonders problematisch, weil sie nach dem Bereich ›Gesundheit und Soziales‹ das mit Abstand wichtigste Beschäftigungsfeld für Frauen ist. In Bremen arbeitet jede zehnte Frau im Einzelhandel, in Bremerhaven sogar jede siebte. Allerdings kann nur jede dritte auch von ihrem Arbeitsplatz leben. Der Niedriglohnanteil ist hier doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft, das Einkommen eines Vollzeitbeschäftigten liegt bereits jetzt 20 Prozent unter dem Durchschnittslohn. Da der Wettbewerb Leiharbeit 7.370 Minijobs 14.206 Teilzeit Vollzeit 11.121 -716 -5.000 0 5.000 10.000 15.000 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit im Einzelhandel fast täglich zunimmt, unter anderem durch die kürzlich erfolgte Entfristung der Freigabe der Ladenöffnungszeiten und möglicherweise auch im Zuge der anvisierten Verkaufsflächenerweiterungen der Waterfront und in der Bremer Innenstadt, ist zu befürchten, dass sich der Prekarisierungsprozess weiter beschleunigt und der Druck auf die Löhne noch zunimmt. Die Tendenz zum Abbau existenzsichernder Arbeitsplätze ist aber nicht nur im Einzelhandel und im Gastgewerbe zu beobachten. Ein Blick auf die Beschäftigungsentwicklung zwischen 2003 und 2011 zeigt, dass in den vergangenen Jahren im Land Bremen deutlich mehr prekäre als reguläre Arbeitsplätze entstanden sind. In diesem Zeitraum wurden gut 14.000 Minijobs geschaffen, außerdem mehr als 11.000 Teilzeitstellen (Abbildung 2). Aber nicht nur die Zahl der Minijobs und Teilzeitstellen hat seit 2003 deutlich zugenommen, auch in der Leiharbeit ist die Beschäftigung massiv angestiegen. Bis zum Einsetzen der Wirtschafts- und Finanzkrise war sie sogar die Boombranche Nummer eins in Bremen. Trotz der krisenbedingten Einbrüche sind hier zwischen 2003 und 2011 etwa 7.400 Arbeitsplätze entstanden. Mittlerweile arbeiten vier Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dieser Branche. Bremen weist damit im Bundesländervergleich den höchsten Anteil an Leiharbeitern auf. Die Zahl der Vollzeitstellen war seit Inkrafttreten der Hartz-I- und II-Gesetze 2003 im Land Bremen rückläufig. Der Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist damit in den 32 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Weil aber der Anteil der Niedriglohnempfänger gerade unter den Leiharbeitern (70 Prozent) und den Minijobbern (80 Prozent) besonders hoch ist, verschärft dies die Armutsgefährdung im Land ganz erheblich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass auch die Zahl der Erwerbstätigen, die auf ergänzenden Arbeitslosengeld-II-Bezug angewiesen sind, gewachsen ist: Zwischen 2007 und 2011 alleine um 3.100 Personen oder knapp 20 Prozent. Auch wenn die Verantwortung für die HartzReformen auf Bundesebene liegt, machen sich die Folgen vor allem auf regionaler Ebene bemerkbar. Zum einen, weil über die Aufstocker Niedriglöhne quasi subventioniert werden und zum anderen, weil sich hier auch die sinkende Kaufkraft am schnellsten auswirkt, vor allem natürlich auf den Einzelhandel. Kriterien guter Arbeit mit der Wirtschaftsförderung verknüpfen Die Politik sollte deshalb gerade auf regionaler Ebene jede Möglichkeit nutzen, um diesen Prozess nicht noch weiter zu beschleunigen. In Bremen wird diesbezüglich schon einiges getan. Bereits 2009 ist das bremische Tariftreue- und Vergabegesetz in Kraft getreten, mit dem Auftragnehmer von öffentlich geförderten Aufträgen verpflichtet werden, ihren Beschäftigten mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen. Darüber hinaus wurde kürzlich das Mindestlohngesetz verabschiedet, mit dem Bremen bundesweit Vorreiter ist. Seit September 2012 müssen alle öffentlich geförderten Arbeitgeber, also auch solche, die Zuschüsse oder Bürgschaften erhalten, ihren Beschäftigten den Mindestlohn bezahlen. Mit dem neuen Gesetz werden also auch städtische Unternehmen, Vereine, Kultureinrichtungen und so weiter erfasst. 33 Dieser sicherlich richtige Schritt wird langfristig allerdings nicht ausreichen. Angesichts des kontinuierlichen Rückgangs existenzsichernder Arbeitsplätze ist es wichtig, dass die Wirtschaftsförderung insgesamt eine Sensibilität für die Qualität von Arbeitsplätzen entwickelt und auch bei anstehenden Investitionen oder anderen politischen Entscheidungen (beispielsweise die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten) im Vorfeld darauf achtet, welche Auswirkungen dies auf die Arbeitsbedingungen und die Beschäftigungsstruktur haben wird. Diese Erkenntnisse müssen systematisch in die Entscheidungen einfließen. ❚ Unternehmen sollten davon überzeugt werden, ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden. ›Belohnungen‹ für gute Arbeit, Boni für überdurchschnittliche Ausbildungszahlen, ein Wirtschaftspreis für gute Arbeit bieten sich an. Wo Gesetze und Richtlinien dies zulassen, muss die Förderung von Unternehmen auch an Höchstquoten für prekäre Beschäftigung und Mindestquoten für Ausbildungsplätze geknüpft werden.3 ❚ Politik muss offensiv kommunizieren, dass gute Arbeit auch ein Faktor für nachhaltige Wirtschaftserfolge ist. Mitbestimmte und tarifgebundene Betriebe sind häufig wirtschaftlich erfolgreicher, Arbeitnehmer sind hier enger mit dem Unternehmen verbunden. Ein ausreichendes Angebot an Weiterbildung hilft den Beschäftigten, ihre Qualifikation zu erhalten und zu verbessern – ein Plus für die Unternehmen. ❚ Wirtschaftsförderung im engeren Sinne darf sich nicht allein als Dienstleister für Unternehmen verstehen. Sie ist kommunaler Dienstleister und muss die Folgen für benachbarte Politikbereiche miteinbeziehen. Eine einseitig an Unternehmenszielen orientierte Wirtschaftsförderung ist nicht mehr zeitgemäß. ❚ Qualifizierungspolitik – und zwar von der Förderung Arbeitsloser über Weiterbildung bis zur Durchlässigkeit zwischen Ausbildungsberuf und Studium – ist ein entscheidender Bestandteil von Wirtschaftspolitik. Die kritischen Übergänge im Bildungswesen – etwa von der Schule in Ausbildung – müssen so gestaltet werden, dass auch im System Benachteiligte mehr Chancen finden. Sie laufen Gefahr, die Aufstocker oder Langzeitarbeitslosen von morgen zu werden. 3 Auch Niedersachsen hat diesbezüglich in seinem aktuellen Koalitionsvertrag schon wichtige Weichen gestellt. Hier soll die Wirtschaftsförderung konsequent an sozialen Kriterien ausgerichtet werden. Dies umfasst sowohl die Einhaltung von Tarifverträgen beziehungsweise gesetzlichen Mindestlöhnen als auch eine Höchstquote für Leiharbeit, Minijobs und Befristungen. Vgl. Erneuerung und Zusammenhalt. Nachhaltige Politik für Niedersachsen. Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen für die 17. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2013 bis 2018, S. 55. 34 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Für eine transparente und effiziente Wirtschaftsförderung DR. MARION SALOT 1 Vgl. Alecke, Björn, Meyer, Stefan: ›Evaluierung der Darlehensvergabe im Rahmen der Wirtschaftsförderung des Landes Bremen, insbesondere mit Blick auf die Förderperiode 2014–2020 des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)‹, Vorgelegt von: GEFRA – Gesellschaft für Finanz- und Regionalanalysen, Münster und MR Gesellschaft für Regionalberatung mbH, Bremen, November 2012, S. 126. 2007 wurde im Land Bremen beschlossen, betriebliche Projekte statt über ›verlorene‹, nicht rückzahlbare Investitionszuschüsse zunehmend auch über die Vergabe von Darlehen zu fördern. Vor dem Hintergrund knapper Haushaltsmittel sollen hierdurch die Transparenz und die Effizienz der Wirtschaftsförderung erhöht werden. Diese Neuausrichtung wird seit 2008 im Rahmen des Landesinvestitionsförderprogramms (LIP) und seit 2009 im Rahmen der Richtlinie zur betrieblichen Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation (FEI-Richtlinie) angewendet. Über das LIP wurden seit 2008 38 Unternehmen über Zuschüsse und 22 Unternehmen über Darlehen gefördert. Außerdem erhielten 27 Betriebe eine kombinierte Förderung aus Zuschüssen und Darlehen. Dabei wurden zwischen 2008 und 2011 Zuschüsse in Höhe von 14,8 Millionen Euro und Darlehen in Höhe von 31,25 Millionen Euro vergeben. Die Zuschussförderung konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Branchen ›Herstellung von Metallerzeugnissen‹ und ›Maschinenbau‹. Auf diese beiden Bereiche entfielen alleine 23,7 beziehungsweise 15 Prozent der insgesamt vergebenen Fördermittel. Über die FEI-Richtlinie wurden 20 von insgesamt 56 Unternehmen zwischen 2009 und 2011 mit Darlehen gefördert. In diesem Zeitraum wurden 2,8 Millionen Euro an Zuschüssen und 3,6 Millionen Euro an Darlehen gewährt. Darlehen haben dementsprechend bislang die Zuschussförderung keineswegs ersetzt, sondern allenfalls ergänzt. Im Rahmen eines vom Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen in Auftrag gegebenen Gutachtens wurde die Umstellung von Zuschuss- auf die Darlehensförderung evaluiert. Die Gutachter kamen dabei zu dem Ergebnis, dass die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze pro investierten Euro an Fördermitteln zugenommen hat. Die Effizienz der Förderung durch die Vergabe von Darlehen ist dementsprechend deutlich gestiegen, Mitnahmeeffekte wurden vermieden und Haushaltsmittel eingespart.1 Es wird aber auch festgestellt, dass kleinere Unternehmen nach der Umstellung weniger von der Förderung profitieren als vorher. Die Gutachter schlagen vor, im Rahmen des LIP -Programms im Regelfall über Darlehen zu fördern. Nur noch in begründeten Fällen und für strukturpolitisch bedeutsame Investitionsvorhaben soll eine kombinierte Förderung von Darlehen und Zuschüssen als Maximalvariante möglich sein. Vor dem Hintergrund der Schuldenbremse und der Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals werden die finanziellen Handlungsspielräume in der Wirtschaftspolitik deutlich kleiner. Hierdurch gewinnt eine effiziente Förderpolitik zunehmend an Bedeutung. Die Arbeitnehmerkammer schließt sich deshalb den Empfehlungen der Gutachter an. Zudem sollte vonseiten des Wirtschaftsressorts transparent gemacht werden, welche Projekte mit Darlehen gefördert werden, wann eine zusätzliche Vergabe von Zuschüssen erfolgt und auf welcher Grundlage diese Entscheidungen getroffen werden. Sollte aus strukturpolitischen Erwägungen die Vergabe 35 von Zuschüssen sinnvoll sein, muss diese Förderung mit dem Einhalten der Kriterien guter Arbeit verknüpft werden. Dies beinhaltet auch die Berücksichtigung einer entsprechenden Leiharbeitsquote, wie es vonseiten des Wirtschaftssenators bereits zugesagt wurde. Angesichts der guten Erfahrungen, die mit der Darlehensförderung gemacht wurden, sollte dieses Instrument im Rahmen der nächsten EFRE-Förderperiode zum Einsatz kommen, wie es SPD und Bündnis 90/Die Grünen bereits im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer sollte hierfür im Vorfeld ein Kriterienkatalog aufgestellt werden, wann eine Förderung ausschließlich über Darlehen erfolgt und wann eine kombinierte Vergabe von Zuschüssen und Darlehen ermöglicht wird. 36 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 EXKURS ¢ EU-Strukturpolitik in Bremen DR. GUIDO NISC HWITZ, INS TITUT ARBEIT UND WIRT SC HAFT (IAW) 1 Siehe auch: Akademie für Raumforschung und Landesplanung, ARL (Hrsg.) (2012): Ausgestaltung der EU-Strukturpolitik der Förderperiode 2007–2013 in den norddeutschen Bundesländern. Arbeitsmaterial 358. Hannover. Nischwitz, Guido (2012): Das EFRE-Programm in Bremen 2007–2013. Struktur, Umsetzungsstand und Erfahrungen in der laufenden Programmplanungsperiode. IAW Arbeitspapier 2. Bremen. 2 Vgl. Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales (2011): Bundesprogramme mit arbeitsmarktpolitischem Bezug: Bericht über die Einwerbung von Fördermitteln im Land Bremen. Vorlage für die Sondersitzung der staatlichen Deputation für Arbeit und Gesundheit am 05.05.2011. 3 Vgl. Senator für Wirtschaft und Häfen (2004): Einheitliches Programmplanungsdokument für die Ziel-2Förderung 2000–2006 im Land Bremen. Senator für Wirtschaft und Häfen (2007): Operationelles Programm. EFRE Bremen 2007– 2013. Investition in Bremens Zukunft. Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales (2007): Operationelles Programm für den Europäischen Sozialfonds im Land Bremen. Ziel: Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Förderperiode: 2007 –2013. Die erheblichen strukturellen Umbrüche in der Bremer Wirtschaft unter anderem in den Bereichen Stahl-, Rüstungs- und Werftindustrie sind bis heute in ihren krisenhaften Folgen deutlich spürbar. Dies betrifft sowohl die Finanzkraft des Landes, den Arbeitsmarkt und die Sozialstruktur als auch die städtische Entwicklung in Bremen und in Bremerhaven. Um diese Umbrüche zu bewältigen, profitiert das Land Bremen seit Ende der 1980-Jahre von den strukturpolitischen Maßnahmen und Zuwendungen der Europäischen Union (EU ).1 Wesentliche strukturpolitische Instrumente, die Bremen seit mehr als zwanzig Jahren nutzt, sind der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE ) und der Europäische Sozialfonds (ESF ). In der aktuellen EU-Programmplanungsperiode 2007–2013 stehen dem Land aus beiden Fonds zusammen rund 231 Millionen Euro zur Verfügung (vgl. Abb. 1). Weitere 37,3 Millionen Euro hat das Land Bremen aus den ESF -Programmen des Bundes erhalten.2 Hinzu kommen noch Finanzmittel aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des Ländlichen Raums (ELER) und dem Europäischen Fischereifonds (EFF ). Alleine aus dem EFRE- Topf der EU konnte das zuständige Wirtschaftsressort zwischen 1989 und 2013 rund 427 Millionen Euro an finanziellen Zuwendungen einwerben. Diese seit fast 25 Jahren kontinuierlich fließenden und vergleichsweise hohen Zuwendungen führen allerdings zu einer wachsenden Abhängigkeit von der Europäischen Strukturpolitik. Die regionale Wirtschafts- und Strukturpolitik des Landes Bremen erscheint ohne die Förderung seitens der EU kaum handlungsfähig. Der inhaltliche, finanzielle und personelle Gestaltungsspielraum des Wirtschaftsressorts wird dabei zunehmend begrenzt. Dies ist auch eine Folge einer stetigen Reduzierung von Investitionsmitteln, die der Bund und insbesondere das Land Bremen bereitstellen. Die Verringerung der ›frei‹ verfügbaren Landesmittel kollidiert mit der erforderlichen Kofinanzierung von EFRE- Mitteln. Mit Blick auf die angespannte HausAbb. 1: Finanzielle Ausstattung der EUhaltslage, auf veränderte wirtschaftStrukturfonds für das Land Bremen (2000–2020) liche und förderpolitische RahmenEU-Fonds Förderperiode Zuwendung bedingungen und Herausforderungen seitens der EU in Millionen Euro hat das Land Bremen in den vergangeEuropäische Fonds für 2000 – 2006 117,96 nen Jahren eine Neujustierung seiner regionale Entwicklung (EFRE) 142,01 2007 – 2013 regionalen Struktur- und Wirtschaftsca. 90,00 – 100,00* 2014 – 2020 politik vorgenommen. Im laufenden Europäische Sozialfonds (ESF) 139,60 2000 – 2006 EFRE- Programm des Landes findet die89,05 2007 – 2013 se Neuorientierung Ausdruck in einer starken Fokussierung auf die Unterca. 40,00 – 50,00* 2014 – 2020 stützung eines Wissens- und TechnoFonds Ländlicher Raum (ELER) 15,00 2000 – 2006 logietransfers in der Region, einer 10,50 2007 – 2013 Förderung innovativer Technologien ca. 10,00* 2014 – 2020 sowie einer Stärkung der AnpassungsEuropäischer Fischereifonds (EFF) 2000 – 2006 22,90 fähigkeit von Wirtschaftsstruktur und 10,91 2007 – 2013 Unternehmen. Mehr als zwei Drittel n. b. 2014 – 2020 (94,8 Millionen Euro) der verfügbaren Quellen: Eigene Zusammenstellung nach Senator für Wirtschaft und Häfen (2004, 2007); Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales (2007) 3 * Schätzung 37 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 2: EFRE-Bremen 2007–2013 Beispielprojekte nach Prioritätsachsen Prioritäten / Förderbereiche/ Projekte Gebiet Projektvolumen insgesamt davon EFRE in Euro Prioritätsachse 1 ›Wissen und Innovation voranbringen‹ Initiierung und Aufbau eines Bremen 6.356.000 3.178.000 Land 10.008.481 4.530.250 Bremerhaven 7.000.000 2.750.000 Bremen 19.000.000 9.500.000 Bremerhaven 10.000.000 4.520.000 Bremen 11.000.000 5.500.000 Land n. b. 11.600.000 Bremer Technologie-Centrums BRE-TeC Programm zur Förderung anwendungsnaher Umwelttechniken (PFAU) Förderung des Centers für Windenergie und Meerestechnik (CWMT) Institut für Raumfahrtsysteme Förderung des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik IWES Überführung der MeVis Research GmbH in ein Institut der Fraunhofer-Gesellschaft Landesinvestitionsförderprogramm (LIP) Prioritätsachse 2 ›Städtische Wirtschafts- und Lebensräume aktivieren‹ Quartiersbildungszentrum Robinsbalje Bremen 2.764.500 1.319.000 Aufwertung des Stadtteilzentrums Leherheide Bremerhaven 1.935.000 967.500 Ansiedlungskonzept Offshore-Windenergie Bremerhaven 4.701.884 2.350.942 Bremen 19.546.000 9.773.000 Bremerhaven 4.500.000 1.000.000 in Bremerhaven, 2. Bauabschnitt Potenzialgebiet Überseestadt Erweiterung des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven Quelle: eigene Zusammenstellung nach www.efre-bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen59.c.2683.de (Zugriff am 29.10.12) EFRE- Mittel fließen in Maßnahmen der ersten Prioritätsachse ›Wissen und Innovation voranbringen‹. Das EFRE- Programm setzt insbesondere bei den Innovations- und Kompetenzfeldern Umwelt- und Energiewirtschaft sowie der Maritimen Wirtschaft seine Schwerpunkte. In den entsprechenden Förderbereichen konnte das Land bis zum Oktober 2012 zwischen 85 und 99 Prozent der vorgesehenen Finanzmittel für konkrete Projekte bewilligen. In einem hohen Maße wurden dabei größere Vorhaben der Forschungs- und Infrastruktur unterstützt (vgl. Abb. 2). Die zweite Prioritätsachse ›Städtische Wirtschafts- und Lebensräume aktivieren‹ konzentriert sich auf die Erschließung innerstädtischer Verdichtungs- und Attraktivierungs- potenziale sowie auf die Verbesserung der Lebensqualität in den beiden Städten Bremen und Bremerhaven. Knapp 31 Prozent der EFREMittel (45,0 Millionen Euro) sind für entsprechende Projekte vorgesehen. Während das Budget für Stadtentwicklungsprojekte, insbesondere für die Stadt Bremen, fast ausgeschöpft ist, stand im Herbst 2012 für die Entwicklung von Wirtschaftsräumen noch rund ein Drittel der Finanzmittel zur Verfügung. Von den bewilligten EFRE -Mitteln, die sich eindeutig den beiden Städten Bremen und Bremerhaven zuordnen lassen, entfällt bislang rund ein Drittel auf die Stadt Bremerhaven. Dabei setzt Bremerhaven seine Schwerpunkte auf die Förderung der Forschungs- und Wirtschaftsinfrastruktur (vgl. Abb. 2). 38 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Fazit EU-Förderperiode 2007–2013 4 Vgl. Senator für Wirtschaft und Häfen/Prognos AG (2010): Analyse zu den Wirkungen der EFREFörderung auf das regionale Innovationssystem im Land Bremen. 5 Vgl. Nischwitz, Guido/Douglas, Martyn/Knutz, Thade (2012): Die EU-Kohäsions- und Strukturpolitik ab 2014. Hintergrund, Rahmensetzungen und aktuelle Diskussion. IAW Arbeitspapier 1. 6 Mit der Einigung auf eine Obergrenze an Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 959,9 Milliarden Euro liegen die Finanzmittel 73 Milliarden Euro unter den Vorschlägen der EU-Kommission sowie 35,2 Millionen Euro unter dem letzten EU-Haushalt. Bis Ende 2012 konnten in Bremen knapp 82 Prozent der EFRE- Mittel für konkrete Projekte zur Verfügung gestellt werden. Diese vergleichsweise hohe Mittelbindung ergibt sich aus einer gewissen Kontinuität in der Innovationsförderung, aus zahlreichen Folgeprojekten im Bereich der Forschungsinfrastruktur sowie der anhaltenden Restrukturierung von Hafenund Industriegebieten. Demgegenüber fällt der geringe Umsetzungsstand (50 Prozent) in den Bereichen ab, die unter der Federführung des Arbeitsressorts liegen. Projektideen konnten nicht umgesetzt und/oder Komplementärmittel seitens der Unternehmen nicht aufgebracht werden. Darüber hinaus erscheinen einige im EFRE- Programm aufgeführten Zielwerte, was die Anzahl an Projekten, Investitionen und Arbeitsplätzen betrifft, kaum bis zum Ende des Programms realisierbar. In einer Gesamtschau hat sich das aktuelle EFRE- Programm mit seiner schlanken, flexiblen und offenen Struktur bewährt. Die Fokussierung auf die zwei Prioritätsachsen hat sowohl bei den regionalen Innovationsaktivitäten als auch in der Stadtentwicklung wichtige Impuls- und Finanzierungsfunktionen übernommen.4 Ausblick EU-Förderperiode 2014–2020 Seit Oktober 2011 liegen seitens der EU-Kommission Vorschläge zur Ausgestaltung der neuen Programmplanungsperiode 2014–2020 vor.5 Die reformierte EU- Kohäsions- und Strukturpolitik soll stärker zur Bewältigung der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise beitragen und die neue ›Europa 2020‹-Strategie unterstützen. Erst Anfang Februar 2013 konnten sich die 27 europäischen Regierungs- und Staatschefs über die Höhe und Eckpunkte des kommenden EU- Haushalts verständigen.6 Allerdings bedarf es noch einer Zustimmung des Europaparlaments. Von daher liegen zurzeit keine rechtsverbindlichen Vorgaben der EU zur finanziellen Ausstattung und zur inhaltlichen Ausgestaltung des neuen EFRE vor. Dennoch lassen sich folgende Entwicklungstrends ablesen: Bremen wird in die Kategorie ›stärker entwickelte Regionen‹ eingeordnet. Das Land muss mit deutlich weniger Finanzmitteln aus den Strukturfonds auskommen. Allein beim EFRE werden die Zuwendungen von 142 Millionen Euro in der laufenden Förderperiode auf maximal 90 bis 100 Millionen Euro sinken (siehe Abb. 1). Bei einer Abfrage der beteiligten Ressorts wurde aber ein Mittelbedarf von 267 Millionen Euro gemeldet. Die verfügbaren Finanzmittel werden auf elf thematische Ziele konzentriert. Zwischen 60 und 80 Prozent der EFRE-Mittel sind für die drei Zielbereiche Innovation, Wettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU ) und die Verringerung von CO2-Emissionen bereitzustellen. 39 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Das Wirtschaftsressort hat Ende 2012 ein überarbeitetes EFRE- Programmschema für 2014–2020 vorgelegt.7 Demnach würde das Land in die Verhandlungen mit der EU ab dem Frühsommer 2013 mit einer Verdopplung auf vier Prioritätsachsen gehen: ❚ unternehmensorientierte Innovationssysteme (EFRE- Mittelvolumen: 40 Prozent), ❚ Diversifizierung und Spezialisierung der Wirtschaftsstruktur (20 Prozent), ❚ CO2 -effizienzte Wirtschafts- und Stadtstruktur (20 Prozent) und ❚ städtische Wirtschafts- und Sozialräume (16 Prozent). Inwieweit diese vergleichsweise breite Programmstruktur in der EU- Kommission auf Zustimmung stößt, ist mehr als fraglich. Dieses widerspricht den Vorgaben der EUKommission, sowohl Finanzmittel als auch Themen auf weniger Förderachsen zu konzentrieren. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Fokussierung auf Innovation zusammen mit der Kürzung der EFRE- Mittel eine Förderung benachteiligter Stadtteile im Land Bremen deutlich erschwert. Mit einem EFREBudget von rund zwei Millionen Euro pro Jahr sind die Impuls- und Finanzierungsfunktionen für eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik begrenzt. Forderungen der Arbeitnehmerkammer an das EFRE- Programm 2014–2020 Mit dem EFRE-Programm werden sowohl in programmatischer, als auch in finanzieller Hinsicht wichtige wirtschaftspolitische Weichen bis zum Jahr 2020 gestellt. Da bereits jetzt deutlich wird, dass die zur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen werden, um die gemeldeten Mittelbedarfe der Ressorts abzudecken, wird eine gezielte Prioritätensetzung hinsichtlich der zu fördernden Projekte immer wichtiger. ❚ Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer werden deshalb bei der Auswahl der Projekte nicht nur die Anzahl, sondern auch die Qualität der im Zuge der Förderung entstehenden und gesicherten Arbeitsplätze eine Rolle spielen. Dies bezieht sich nicht nur auf Höhe der Leiharbeitsquote in den Unternehmen, die von der EFRE-Förderung profitieren. Auch die Anzahl der Minijobs muss hier Berücksichtigung finden. Prioritär gefördert werden sollten Unternehmen, die nach Tarif bezahlen, über einen Betriebsrat verfügen und eine noch festzulegende Ausbildungsquote erfüllen. ❚ Denkbar wäre es außerdem, positive Beispiele im Bereich ›Vereinbarkeit von Familie und Beruf‹ entsprechend zu belohnen. ❚ Vor dem Hintergrund knapper Haushaltsmittel und der Ergebnisse des Gutachtens zur Evaluierung der Umstellung der Wirtschaftsförderung auf die Vergabe von Darlehen, sollte dieses Instrument auch im Rahmen der EFRE-Förderung zur Anwendung kommen (vgl. Beitrag ›Für eine transparente und effiziente Wirtschaftsförderung, S. 34 f.‹). ❚ Wichtig ist außerdem, eine stärkere Verzahnung mit dem ESF anzustreben. Sowohl die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit als auch die Probleme im Bereich des Fachkräftebedarfs erfordern ein besseres und gezieltes Abstimmen von Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik; insbesondere vor dem Hintergrund der starken Fokussierung des EFRE auf Innovationsprojekte. ❚ In Bremen und Bremerhaven besteht weiterhin erheblicher Nachholbedarf bei der Förderung benachteiligter Stadtteile. Da die auf Bundesebene hierzu bereitgestellten Mittel deutlich gekürzt wurden, sollte dieser Förderbereich im Rahmen des EFRE-Programms weiterhin ein wichtiger Schwerpunkt bleiben. 7 Vgl. Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen (2013): Vorlage für die Sitzung des Senats am 29.01.2013. Neue EU-Förderperiode ab 2014. ›Programmierung ESF und EFRE‹. 40 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Arbeitsmarktpolitik Kürzungen und neue Instrumente als doppelte Herausforderung REGINE GERAEDTS Bundesweit wurde mit zwei Rekorden über die Arbeitsmarktbilanz des Jahres 2012 berichtet. ›Neuer Höchststand bei Erwerbstätigen‹ und ›Tiefstand bei Arbeitslosigkeit‹ stimmten auch die Bremer Lokalpresse in den ersten Tagen nach dem Jahreswechsel ein. Bei genauerem Hinsehen hat sich der Arbeitsmarkt in Bremen allerdings kaum entspannt. Nur in Bremerhaven hat sich ein positiver Trend durchsetzen können. Dort gingen die Arbeitslosenzahlen zurück. Die Kernprobleme aber sind geblieben. Die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich weiter verfestigt und vor allem die große Gruppe der Ungelernten droht dauerhaft auf der Verliererseite des Arbeitsmarkts zu stehen. Für Bremen und Bremerhaven sind die Herausforderungen enorm. Die regionale Arbeitsmarktpolitik muss neue Antworten finden. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bleiben auf hohem Niveau 1 Alle Daten in diesem Abschnitt sind den Materialen zur Pressemitteilung der Agentur für Arbeit BremenBremerhaven vom 3. Januar 2013 entnommen, wenn nicht anders vermerkt. 2 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Analytikreport der Statistik, Analyse des Arbeitsmarkts Bremen, Dezember 2012. 3 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Analytikreport der Statistik, Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen in Bremen im Dezember 2012. Von einem Rückgang der registrierten Arbeitslosen wie im Bund kann im Land Bremen für das Jahr 2012 kaum die Rede sein. Jahresdurchschnittlich waren rund 36.800 Menschen arbeitslos gemeldet und damit 1,7 Prozent weniger als im Vorjahr.1 Dabei entwickelte sich die Situation in Bremerhaven positiv. Dort sank die Arbeitslosenzahl von jahresdurchschnittlich 8.950 auf 8.300 Menschen und die Arbeitslosenquote von 16,3 auf 14,9 Prozent. In Bremen-Stadt dagegen stagnierte die Arbeitslosenzahl und blieb mit 28.500 auf dem Vorjahresniveau. Dabei zeichnet die registrierte Arbeitslosigkeit nur ein unvollständiges Bild. Der Status der Arbeitslosigkeit ist nämlich gesetzlich so definiert, dass einige Gruppen statistisch nicht als arbeitslos zählen, obwohl sie es eigentlich sind. Dazu gehören Teilnehmerinnen und Teilnehmer von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Menschen, die kurzfristig arbeitsunfähig erkrankt sind und ein Teil der älteren Arbeitslosen. Die Arbeitslosenstatistik berichtet deshalb ergänzend über die ›Unterbeschäftigung‹. Diese Daten sollen zeigen, wie viel höher die Arbeitslosigkeit im Grunde ist. Im Monat Dezember 2012 waren im Land Bremen etwa 35.900 Menschen arbeitslos registriert, aber 48.900 Menschen waren unterbeschäftigt.2 Arbeitslos waren ähnlich viele, unterbeschäftigt etwa 1.300 Menschen weniger als im Vorjahresmonat. Betrachtet man die Arbeitslosigkeit nach Strukturmerkmalen, fällt der sehr hohe Anteil der Langzeitarbeitslosen im Land Bremen auf. Er erreichte im Dezember 2012 die 45-ProzentMarke. In der Grundsicherung/Hartz IV war sogar mehr als jeder zweite Arbeitslose zwölf Monate oder länger durchgehend ohne Arbeit. Dabei erfasst auch hier die statistische Definition nicht die ganze Realität. Wird die Arbeitslosigkeit nämlich beispielsweise durch eine Weiterbildungsmaßnahme, eine Arbeitsgelegenheit oder eine kurzfristige Arbeitsaufnahme unterbrochen, gilt sie nicht mehr als durchgehend. Die Langzeitarbeitslosigkeit endet dann scheinbar und die Zählung der Dauer beginnt wieder bei null. Ebenfalls sehr auffällig ist der mit 60 Prozent sehr hohe Anteil der Arbeitslosen ohne Berufsabschluss. Auch dieses Merkmal ist in der Grundsicherung/Hartz IV stärker ausgeprägt. Mit rund 20.000 Menschen fehlt mehr als zwei Dritteln eine abgeschlossene Ausbildung als wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen und dauerhaften Einstieg in Beschäftigung.3 41 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 1: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im Land Bremen 80.000 70.000 65.680 66.772 66.703 66.535 66.396 65.543 65.366 50.229 51.272 50.847 49.960 50.120 48.947 48.913 35.477 37.305 37.921 36.502 37.697 36.248 35.881 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 Jan 13 Dez 12 Nov 12 Okt 12 Sep 12 Aug 12 Jul 12 Jun 12 Mai 12 Apr 12 Mrz 12 Feb 12 Jan 12 Dez 11 0 registrierte Arbeitslosigkeit Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit) Beziehende von Arbeitslosengeld II (erwerbsfähige Leistungsberechtigte) Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosigkeit ist kein fest gefügter Block, sie ist beständig in Bewegung. Sie nimmt ab, wenn mehr Arbeitslose aus der Arbeitslosigkeit abgehen oder wenn weniger Beschäftigte arbeitslos werden. Im Idealfall geschieht beides gleichzeitig, bei ungünstiger Entwicklung verlaufen die Ströme andersherum. Zwar ist im Land Bremen der Zustrom in Arbeitslosigkeit etwa unverändert geblieben. Doch im Verlauf des Jahres 2012 ließ sich eine Trendveränderung ausmachen. Im Arbeitslosenversicherungssystem, das unmittelbarer auf konjunkturelle Veränderungen reagiert, stiegen die Arbeitslosenzahlen um insgesamt 2,6 Prozent, nachdem 2011 noch ein stabiler Rückgang zu verzeichnen gewesen war. Gleichzeitig sind die Chancen gesunken, aus der Arbeitslosigkeit heraus einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Insgesamt wurden bei der Agentur für Arbeit Bremen-Bremerhaven 10,4 Prozent weniger offene Arbeitsstellen gemeldet als noch im Vorjahr. Die Dynamik auf dem Bremer Arbeitsmarkt ist also deutlich rückläufig. Joboffensive – neue Spaltung am schwierigen Arbeitsmarkt für Arbeitslose In dieser Situation entschieden die Arbeitsverwaltung und das Land Bremen, das Konzept des Berliner Modellprojekts ›Joboffensive‹ auf die Jobcenter in Bremen und Bremerhaven zu übertragen. Die ›Joboffensive‹ war in Berlin im Juni 2011 in einer konjunkturell guten Arbeitsmarktphase gestartet. Der wachsende Personalbedarf von regionalen Unternehmen sollte auch aus den Potenzialen der Jobcenter gedeckt werden. In Bremen ist das Projekt dagegen seit März 2013 unter anderen Arbeitsmarktvorzeichen gestartet. Das Ziel ist ungeachtet dieser unterschiedlichen Ausgangslagen identisch: die schnelle Vermittlung von sogenannten ›marktnahen‹ Arbeitslosen. Etwa 7.700 Menschen hat das Jobcenter Bremen als ›marktnah‹ identifiziert. Sie sind eher gut qualifiziert und die Prognose, innerhalb von sechs bis maximal zwölf Monaten eine Arbeitsstelle zu finden, gilt als positiv. Im Rahmen des Projekts ›Joboffensive‹ wird diese 42 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 4 Interview mit Götz von Einem, Kurier am Sonntag, 27. Januar 2013. 5 Siehe beispielsweise Stellungnahme der Arbeitnehmerkammer für die öffentliche Anhörung von Sachverständigen im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am 5. September 2011. Gruppe in speziellen Teams mit einem Personalschlüssel von 1:100 betreut. Mit einer mindestens vierzehntägigen Termindichte und dem Stellenangebot des Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit soll die schnelle Integration in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erreicht werden. Mit etwa 32.000 Menschen gilt die weit überwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden im Jobcenter Bremen dagegen als ›marktfern‹. Bei ihnen gehen die Prognosen von einem höheren Förderbedarf und einem mittel- oder sogar langfristigen Zeithorizont bis zur Arbeitsmarktintegration aus. Das Konzept der ›Joboffensive‹ sieht vor, dass diese Gruppe in sogenannten Basis-Teams mit einem deutlich schlechteren Personalschlüssel von 1:214 betreut wird. Im Ergebnis schafft das Modellprojekt innerhalb des Grundsicherungssystems Strukturen für Arbeitsuchende erster und zweiter Klasse, für ›produktive‹ und für ›unproduktive‹ Arbeitslose. Wenn personelle Ressourcen und Fördermittel konsequent auf ›marktnahe‹ Menschen konzentriert werden, drohen Menschen mit mehr Unterstützungsbedarf weiter ins Abseits zu geraten. Das Konzept ›Joboffensive‹ erklärt zudem die ›schnelle Vermittlung‹ zum ›Kerngeschäft‹ der Grundsicherung /Hartz IV und treibt damit das Primat der kurzfristigen Arbeitsmarktintegration auf die Spitze (siehe dazu auch den Beitrag ›Qualifizieren statt Aktivieren‹, S. 46 ff.). Anlass zur Sorge bieten auch die potenziellen Zielbranchen im Projekt ›Joboffensive‹. Manche Arbeitgeber bedienen sich bevorzugt der Vermittlungsdienstleistungen der Arbeitsagentur, wenn sie auf dem Markt nicht genügend Kräfte finden. Die Wahlmöglichkeiten von Arbeitslosen sind gesetzlich begrenzt und der Druck ist hoch, auch unattraktive Stellen anzunehmen. Mit jahresdurchschnittlich 50 Prozent des Stellenangebots ist die Zeitarbeitsbranche der mit Abstand größte Nachfrager beim Arbeitgeberservice Bremen-Bremerhaven.4 Wenn die Zielbranchen der ›Joboffensive‹ aber strukturell durch hohe Personalfluktuation und einen überdurchschnittlichen Anteil prekärer Beschäftigung gekennzeichnet wären, dann könnte der Preis für schnelle Vermittlungserfolge die kurzlebige Integration in prekäre Beschäftigung sein. Drehtüreffekte und Zuwächse beim ergänzenden Leistungsbezug wären die heimlichen Begleiterscheinungen. Es wird darauf ankommen, die Umsetzung des Projekts kritisch zu begleiten und die Ergebnisse differenziert zu evaluieren. Arbeitslose so schnell wie möglich in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu integrieren ist ein richtiges Ziel. Allerdings muss die Entwicklung nachhaltiger Arbeitsmarktperspektiven und die Vermittlung in existenzsichernde Arbeit Vorrang haben, übrigens auch im Sinne einer weitsichtigen regionalen Fachkräftestrategie. Auf die eigentlichen Herausforderungen der regionalen Arbeitsmarktpolitik – verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und ein hoher Anteil Ungelernter – findet die ›Joboffensive‹ keine Antworten. Instrumentenreform und massive Mittelkürzungen bestimmen die Arbeitsmarktpolitik Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ konzentriert die Ressourcen der Jobcenter auf die Gruppen, die mit geringen Kosten schnell in Arbeit integrierbar sind. In dieser Grundausrichtung stimmt das Konzept überein mit den Intentionen des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, kurz Instrumentenreform, das seit dem 1. April 2012 den gesetzlichen Rahmen der regionalen Arbeitsmarktpolitik bildet. Die Arbeitnehmerkammer hatte im Vorfeld ausführlich und kritisch Stellung dazu genommen.5 Eine einschneidende Wende hat es bei der öffentlich geförderten Beschäftigung gegeben, der zweiten großen Säule in der Arbeitsförderung. 43 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Zwar war der Großteil der Maßnahmen im Land Bremen noch nach altem Recht bewilligt worden, so dass die ganz großen Einschnitte im Jahr 2012 ausblieben. Nach deren Auslaufen Anfang 2013 wird es nun aber deutlich schwieriger, sinnstiftende und zugleich an Stadtteilbedarfen orientierte Tätigkeitsfelder zu entwickeln. Denn die Arbeitsgelegenheiten als wichtigstes Instrument wurden in Ausgestaltung und Dauer erheblich beschnitten. Die Anforderungen an ihre Zusätzlichkeit und das öffentliche Interesse wurden erhöht und darüber hinaus das Kriterium der Wettbewerbsneutralität eingeführt. Erste Erfahrungen mit den neuen Prüfpraktiken haben gezeigt, dass sie nur schwer mit lokalen Zielsetzungen und Stadtteilinteressen in Einklang zu bringen sind. Außerdem kann flankierende Unterstützung für die Teilnehmenden wie die persönliche Stabilisierung, individuelle Qualifizierung oder die Erarbeitung beruflicher Alternativen nun nicht mehr integriert angeboten werden. Erste Versuche, Arbeitsgelegenheiten mit den neu eingeführten ›Aktivierungsgutscheinen‹ zu verknüpfen und den Teilnehmenden auch weiterhin Qualifizierung zu ermöglichen, zeigten vor allem, wie hoch die bürokratischen Hürden dafür sind. Arbeitsgelegenheiten in der sozialversicherungspflichtigen Entgeltvariante sind seit der Reform nicht mehr möglich und laufen aus. Das neue sozialversicherungspflichtige Instrument ›Förderung von Arbeitsverhältnissen‹ wurde bisher kaum genutzt. Im Dezember 2012 waren im Land Bremen erst 183 Plätze geschaffen. In Arbeitsgelegenheiten als ›Ein-Euro-Jobs‹ waren dagegen 2.488 Menschen beschäftigt. Es bleibt zweifelhaft, wie es unter den neuen Bedingungen gelingen kann, einen Bremer Weg fortzusetzen, der idealtypisch Individualförderung und sozialräumliche Strukturförderung in öffentlich geförderter Beschäftigung miteinander verbindet, der die sozialintegrative Dimension der Arbeitsförderung unterstreicht und schließlich einen Förderschwerpunkt in der sozialversicherten Variante setzt. Mit der Instrumentenreform verband die Bundesregierung das Ziel, die schnelle und effiziente Arbeitsmarktintegration in den Fokus zu rücken, das Maßnahmerepertoire zu straffen und schließlich Kosten bei der Arbeitsförderung einzusparen. Das ist gelungen, denn quantitativ ließ sich im Jahr 2012 über alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente hinweg eine rückläufige Entwicklung beobachten, so auch im Land Bremen. Nur noch jahresdurchschnittlich 9.976 Menschen nahmen an arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen teil. Das waren im Bestand 17,8 Prozent weniger als im Vorjahr. In der beruflichen Weiterbildung gingen die Teilnahmezahlen um 15,4 Prozent zurück, bei den Beschäftigung schaffenden Maßnahmen war der durchschnittliche Bestand um 10,4 Prozent niedriger als im Vorjahr. Besonders große Rückgänge waren mit einem Minus von 38 Prozent im Bereich geförderter Selbstständigkeit zu verzeichnen.6 Die Einbrüche sind drastisch. Sie vollziehen die radikalen Kürzungen der Bundesmittel nach. Seit 2010 sind die Budgets für die Eingliederung in den Jobcentern Bremen und Bremerhaven um mehr als ein Drittel (35 Prozent) reduziert worden. Im Jahr 2012 standen in der Grundsicherung/Hartz IV im Land Bremen nur noch 60,3 Millionen Euro für die Arbeitsförderung zur Verfügung. Dabei ist der Problemdruck unverändert groß. 6 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen – Förderstatistik, Jahreszahlen zu arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, Dezember 2012. 44 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 2: Leistungen zur Eingliederung – zugewiesene Bundesmittel und geleistete Bruttoausgaben, in Millionen Euro 70 70,0 70,4 80 45,7 53,8 50,2 50 38,7 40 30 10 14,7 11,7 20 17,0 14,1 23,4 22,1 Millionen Euro 60 zugewiesene Bundesmittel verausgabte Bundesmittel 0 Jobcenter Bremen Jobcenter Bremerhaven 2010 Jobcenter Bremen Jobcenter Bremerhaven 2011 Jobcenter Bremen Jobcenter Bremerhaven 2012 Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, eigene Darstellung Geschenke aus Bremen an den Bundeshaushalt 7 Vgl. Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, BIAJ-Materialien vom 12. Februar 2013. Die Landesregierung hat im Jahr 2012 leider nicht die Initiative ergriffen, den Bundeskürzungen mit Landesmitteln entgegenzuwirken, und sei es auch nur als Signal für eigene politische Schwerpunktsetzungen. Die finanzielle Situation in der Arbeitsförderung hat sich unterdessen noch weiter verschärft, weil die Bundesmittel nicht im vollen Umfang genutzt worden sind. Von dem ohnehin gekürzten Etat für Leistungen zur Eingliederung haben die Jobcenter zehn Millionen Euro weniger ausgegeben als vom Bund dafür zugewiesen, sieben Millionen in Bremen und drei Millionen in Bremerhaven. Nach Umschichtungen in das Verwaltungskostenbudget im Jobcenter Bremerhaven flossen am Ende rund 9,4 Millionen Euro an den Bund zurück.7 Es bleibt offen, wieso die Jobcenter in Bremen und Bremerhaven nun schon im zweiten Jahr in Folge nicht in der Lage waren, die Bundesmittel besser auszuschöpfen, wieso also nicht alle Möglichkeiten zur Förderung von Arbeitsuchenden genutzt wurden. Es ist zudem nun schwieriger geworden, glaubwürdige Argumente gegen die fortgesetzte Kürzungsspirale des Bundes vorzubringen, die sich auch 2013 weiterdreht. Bundesweit brauchen die Jobcenter bessere Möglichkeiten, ihre Planungen über mehrere Haushaltsjahre auszugestalten, mehr Mittel längerfristig binden zu können und Restmittel ins Folgejahr übertragen zu dürfen. Vor Ort sind die Träger der Jobcenter in der Pflicht, eine Arbeitsmarktstrategie zu entwickeln, die den tatsächlichen regionalen Herausforderungen begegnet, Programm- und Mittelplanung zieladäquat auszugestalten und schließlich die Umsetzung und Mittelausschöpfung mit zu steuern. 45 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Neujustierung der Arbeitsmarktstrategie als Antwort auf regionale Herausforderungen Die besondere strukturelle Herausforderung für die Bremer Arbeitsmarktpolitik ist der große Anteil von Arbeitslosen, die den gestiegenen Anforderungen der Arbeitswelt mit ihrer Belastbarkeit oder ihren Qualifikationen tatsächlich oder auch nur vermeintlich nicht gewachsen sind. Dazu gehören in besonderem Maß Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Eine nachhaltige und individuelle Unterstützung würde die Integrationschancen auch dieser Gruppen verbessern, die heute kaum Chancen am Arbeitsmarkt haben. Für sie muss die Förderung langfristig angelegt sein, ihre soziale Situation muss nachhaltig stabilisiert, die Qualifikation schrittweise gestärkt werden. Ein Element einer solchen nachhaltigen Strategie ist ein sozialer Arbeitsmarkt mit klaren und verlässlichen Rahmenbedingungen und integrierter Unterstützung, die sich auch an den Bedarfen und Möglichkeiten des Einzelnen orientiert. Die aktuellen Diskussionen, ihn mithilfe der Umwandlung der passiven Leistungen zum Lebensunterhalt sozialverträglich auszugestalten, weisen in eine gute Richtung. Seit Langem plädiert die Arbeitnehmerkammer außerdem dafür, systematisch eine auf Abschlüsse orientierte Qualifizierung als zentrales Handlungsfeld in der Arbeitsförderung zu entwickeln – sei es traditionell als Umschulung, als Nachqualifizierung oder kleinschrittig mit aufeinander abgestimmten Modulen. Während Arbeitsmarktpolitik klassisch darauf ausgerichtet ist, den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung zu ermöglichen, sollte sie mehr die Qualität von Beschäftigung in den Blick nehmen und schnelle Wiedereintritte in Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Eine nachhaltige Arbeitsförderung zielt auf Beschäftigungsstabilität und auf ein Einkommensniveau, das den Lebensunterhalt sichert. Schließlich wird es künftig zunehmend darum gehen müssen, Übergänge innerhalb des Beschäftigungssystems zu erhöhen, den Aufstieg in höherwertige Beschäftigung und die Mobilität von den Randbereichen des Arbeitsmarktes in seine gesicherten Zonen zu stärken. Eine solche Mobilitätsbewegung würde im gleichen Zuge Luft im Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte schaffen und neue Beschäftigungschancen für arbeitslose Ungelernte entstehen lassen. Die Möglichkeiten für veränderte landespolitische Schwerpunktsetzungen in der Arbeitsförderung ergeben sich mit der neuen Förderperiode der europäischen Strukturfonds ab 2014 und dem zeitgleich zu überarbeitenden Beschäftigungspolitischen Aktionsprogramm. Das Ziel einer neu justierten regionalen Arbeitsmarktstrategie wäre in einem Dreiklang, die Beschäftigungsqualität zu steigern, das Fachkräftepotenzial zu entwickeln und die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Zeiten kurzfristig angelegter Aktivierung und schneller Vermittlung haben sich dagegen überlebt. 46 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Qualifizieren statt Aktivieren Bildungschancen für Arbeitslosengeld-IIEmpfängerinnen und -Empfänger SUSANNE HERMELING 1 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung Im Land Bremen sind zwei Drittel der arbeitslosen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher ohne Berufsabschluss und fast zwei Drittel sind schon länger als zwei Jahre arbeitslos. Diese Gruppen haben besonders geringe Erwerbschancen. Die Arbeitslosenquote für nicht formal Qualifizierte lag in Deutschland (2009) bei 22 Prozent und bei Erwerbspersonen mit beruflichem oder akademischem Abschluss nur bei sechs Prozent.1 Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat ermittelt, dass viele Betriebe Bewerbungen von Langzeitarbeitslosen grundsätzlich aussortieren, weil ihre Qualifikation als entwertet gilt.2 Daher ist die Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) eines der wichtigsten Instrumente der Arbeitsförderung. Die Arbeitnehmerkammer untersuchte 2011 und 2012 die gesamten Prozesse von der jährlichen Bildungszielplanung der Jobcenter, über die Vergabe und Einlösung von Bildungsgutscheinen bis hin zur Planung und Durchführung einzelner Maßnahmen im SGB II im Land Bremen. In Interviews wurden die Perspektiven von erwerbslosen Maßnahmeteilnehmern, von Führungskräften und Vermittlungsfachkräften in Jobcentern sowie von Leitungen und Lehrkräften bei Bildungsträgern erfasst. Zusätzlich wurden Förderstatistiken und Studien der vergangenen Jahre ausgewertet. Dezember 2011, S. 5 f. 2 Vgl. Kettner, Anja: Fachkräftemangel – Fakt oder Fiktion? IAB-Bibliothek 337 2012, S. 57. Wettbewerb, Mittelkürzungen und das Primat der schnellen Vermittlung prägen seit zehn Jahren das Feld der beruflichen Weiterbildung in der Arbeitsförderung 3 Vgl. Paul M. Schröder: BIAJ-Materialien vom 05.12.2012 www.biaj.de/images/ stories/2012-1205_asmk-jobcenterbudgets-uebertragen2012-2013.pdf Bis 2002 haben die Arbeitsagenturen Maßnahmen direkt bei den Bildungsträgern mit festgelegten Platzzahlen in Auftrag gegeben. In diesem System waren Bildungsanbieter oft auf persönliche Kontakte zu Arbeitsberatern angewiesen. Außerdem kam es vor, dass Teilnehmer ohne Eignung und Motivation Umschulungen zugewiesen wurden, nur um Plätze zu belegen. Das alte System bot jedoch andererseits eine hohe Planungssicherheit für alle Beteiligten. Die Arbeitsverwaltung konnte ihre Ausgaben für den Bereich gut steuern und Maßnahmen gezielt auswählen, denn die Weiterbildungsangebote und deren Qualität waren bekannt. Die Bildungsträger konnten ihr Angebot langfristig planen. Arbeitsuchende konnten sicher sein, dass ihre Maßnahme stattfindet. Mit dem Ziel, einen freien Wettbewerb in der Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) zu schaffen, wurden 2003 Bildungsgutscheine eingeführt. Die Vermittlungsfachkräfte geben seitdem lediglich Gutscheine mit definierten Bildungszielen aus und die Empfänger suchen sich selbst eine Maßnahme. Konkrete Empfehlungen dürfen die Vermittler nicht abgeben. Die Bildungsträger müssen ihre Einrichtung und die einzelnen Maßnahmen von unabhängigen Stellen kostenpflichtig zertifizieren lassen und im Wettbewerb mit anderen Einrichtungen Teilnehmer gewinnen. Auch die Aussagen von Weiterbildungsträgern in den Interviews der Arbeitnehmerkammer legen nahe, dass seitdem viele Maßnahmen aufgrund zu geringer Teilnehmerzahlen ausfallen. In den Jobcentern wird oft nach aktueller Haushaltslage entschieden, ob Bildungsgutscheine ausgegeben werden. Da die Kosten über das Jahr nicht kalkulierbar sind und ein Teil der ausgegebenen Gutscheine nicht eingelöst wird, schöpfen die Jobcenter gar nicht alle Mittel aus, die ihnen zur Verfügung stehen beziehungsweise die sie für die Förderung beruflicher Weiterbildung eingeplant hatten.3 Auch in den Interviews mit der Arbeitnehmerkammer äußerten sich Vertreter der Jobcenter zu diesen Steuerungsproblemen. Diese Steuerungsproblematik erweist sich derzeit als schwerwiegend, da Mittelkürzun- 47 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 1: Entwicklung der Eintritte in berufliche Weiterbildung mit Abschluss (2000–2011) Bemen 480 630 2010 375 172 200 622 194 300 309 400 584 532 346 500 323 Eintritte 600 2009 628 604 662 2001 706 749 682 700 2000 800 783 823 SGB II 900 100 2011 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 0 Bremerhaven SGB II 450 400 350 120 114 80 82 2010 2011 79 59 101 71 93 2008 66 77 75 2005 50 2007 94 100 2004 150 104 112 186 155 200 233 250 227 300 Eintritte 2009 2006 2003 2002 2001 0 2000 gen in der Arbeitsförderung das Weiterbildungssystem zusätzlich destabilisieren. Innerhalb von zehn Jahren erlebt es bereits die zweite Trockenperiode. Schon 2003 wurde gleichzeitig mit Einführung der Gutscheine der Mittelfluss gedrosselt und in den Jahren der Krise und Konjunkturprogramme 2008 bis 2010 wieder aufgefüllt. Seit 2011 greift das Sparpaket der Bundesregierung. Die drastischen Einschnitte von einem Viertel des Budgets von 2010 auf 2011 und weitergehenden Kürzungen in den Folgejahren stehen in keinem Verhältnis zur Entwicklung der Erwerbslosigkeit (vgl. Beitrag Arbeitsmarktpolitik: Kürzungen und neue Instrumente als doppelte Herausforderung, S. 40 ff.). Die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II ist nämlich in demselben Zeitraum in Deutschland nur um sechs Prozent, in Bremen und in Bremerhaven nur um drei beziehungsweise vier Prozent (von 53.620 auf 51.928 bzw. von 15.158 auf 14.527) gesunken.4 Die Schwankungen in den förderpolitischen Entscheidungen sind unabhängig vom Bedarf, bezogen auf die Zahl der erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-IIBezieherinnen und -Bezieher. Die Kürzungen der Bundesmittel passen außerdem nicht zu den Bekundungen der Politik, dass die Qualifizierung von Fachkräften volkswirtschaftlich, sozial- und bildungspolitisch eins der wichtigsten Anliegen unserer Zeit sei. Es sei denn, die Politik identifiziert die potenziellen Fachkräfte kaum mehr unter den Erwerbslosen. Als Folge der Kürzungen hat sich von 2010 auf 2011 die Zahl der Eintritte in der Stadt Bremen nicht nur bei den abschlussbezogenen Maßnahmen, sondern bei allen Weiterbildungen mehr als halbiert, insgesamt von 4.050 auf 1.749 Eintritte. In Bremerhaven sind die gesamten Eintritte zwischen 2009 und 2011 von 891 auf 635 zurückgegangen. Doch die Förderung von abschlussbezogenen Maßnahmen (siehe Abbildung) ist gestiegen, da dieser Bereich in Bremerhaven aufgebaut werden soll, während die bisher dominante Förderung von Arbeitsgelegenheiten abgebaut wird. Quelle: Statistikservice der Bundesagentur für Arbeit; Eintritte Jahressumme; eigene Darstellung Obwohl in Bremen ein im Bundesländervergleich hoher Anteil der Mittel für berufliche Weiterbildung verwendet wird, lösen die Schwankungen regelrechte Umwälzungen in der Bildungsinfrastruktur aus. Auch einige bremische Bildungsträger äußerten in Interviews 2011 Befürchtungen vor drohendem Personalabbau und Standortschließungen. Mit den Hartz-Reformen wurde das Primat der schnellen Vermittlung handlungsleitend für die Kundenbetreuung im Jobcenter. Dies prägt das Prinzip des Forderns, indem die 4 Vgl. Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen: Informationen zum Arbeitsmarkt – Dezember 2011, S. 21 (Entwicklung September 2011 im Vergleich zum Vorjahresmonat) www.arbeit.bremen.de/ sixcms/media.php/13/ AM%20%20%20SGB%20 II-Bericht_2011_12.pdf 48 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind neue Maßnahmeformen geschaffen worden, bei denen eher das Fordern als die Qualifizierung im Mittelpunkt steht. 5 Vgl. Kruppe, Thomas: Bildungsgutscheine in der Aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sozialer Fortschritt 1/2009, S. 13. 6 Bosch, Gerhard: Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Entwicklung und Reformoptionen. In: Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft: vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. VS-Verlag, S. 99 f. 7 Vgl. Kruppe, Thomas: Bildungsgutscheine in der Aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sozialer Fortschritt 1/2009, S. 10 f. 8 wbmonitor Umfrage 2011: Weiterbildungsanbieter im demographischen Wandel, S. 6 f. www.bibb.de/dokumente/pdf/wb_monitor_ umfrage_2011_ koscheck_schade.pdf Zumutbarkeitsschranken zur Aufnahme unterwertiger Beschäftigung in der Vermittlung gefallen sind. Damit wird für formal Qualifizierte der Zugang zu beruflichen Arbeitsmärkten oft abgeschnitten und für Geringqualifizierte kein Zugang ermöglicht. Die Förderstatistik im Gegenzug zeigt den deutlichen Trend zu kürzeren Weiterbildungen, Trainings oder Aktivierungsmaßnahmen und die Abkehr von abschlussbezogenen Qualifizierungen.5 Das ist die Folge der arbeitsmarktpolitischen Wende weg von vorausschauender Weiterbildung hin zur Qualifizierung als schneller Vermittlungshilfe. In den 1970er-Jahren wurden sogar Anreize zur Weiterbildung gesetzt, um Aufstiege zu ermöglichen und unterwertige Beschäftigung zu vermeiden. In den 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurde ›auf Vorrat‹ qualifiziert. Diese Ansätze zur Prävention von Langzeitarbeitslosigkeit einerseits und Fachkräfteengpässen andererseits sind in der Arbeitsförderung stark zurückgedrängt worden.6 Mit Einführung der Bildungsgutscheine wurden die Arbeitsagenturen angewiesen, nur bei einer hohen Eingliederungswahrscheinlichkeit von 70 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. 2005 wurde diese Regelung zwar gelockert, jedoch sind die Verbleibsquoten immer noch ausschlaggebend für die Förderung. Bildungsträger müssen im Anschluss an Maßnahmen den Verbleib von Teilnehmenden dokumentieren. Inzwischen konnte durch verschiedene Studien nachgewiesen werden, dass Erwerbslose mit schlechten Vermittlungschancen, wie Geringqualifizierte, Ältere oder Langzeitarbeitslose, seltener durch Bildungsgutscheine gefördert werden. Die erste Auslese zugunsten arbeitsmarktnaher Kunden passiert in der Gutscheinausgabe durch Vermittlungsfachkräfte, dies bestätigten auch Rückmeldungen von Vermittlern in Bremen.7 Die zweite Auslese betreiben die Bildungsträger, die ebenfalls ein hohes Interesse daran haben, sichere Kandidaten in ihre Maßnahmen aufzunehmen. Weiterbildungsträger haben in Umfragen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) gleich nach Einführung des Gutscheinsystems bestätigt, dass gezielt ›gute‹ Bewerberinnen und Bewerber für Maßnahmen ausgewählt werden. Auf die Ausgrenzung von arbeitsmarktfernen Menschen hat man in den vergangenen Jahren mit dem Programm Initiative zur Flankierung des Strukturwandels (IFlaS) zur Förderung des Erwerbs von Berufsabschlüssen von arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmern reagiert. Damit stellen sich auch die Bildungsträger wieder etwas mehr auf die Qualifizierung von Un- und Angelernten ein.8 Von einem wesentlich verbesserten Angebot ist aufgrund der Mittelkürzungen dennoch nicht auszugehen. Aufgrund der arbeitsmarktpolitischen Vorgaben sind Barrieren in der Qualifizierungsförderung also systematisch erhöht und das Angebot verengt worden. Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind neue Maßnahmeformen geschaffen worden, bei denen eher das Fordern als die Qualifizierung im Mittelpunkt steht. Dazu gehören neben Maßnahmen zur Kenntnisvermittlung und Eignungsfeststellungen für Berufsbereiche 49 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK auch Bewerbercenter und sogenannte Kombinationsleistungen mit einer Mischung aus Profiling, Bewerbungstraining, Praktikum und einer Art ›Vermittlungscoaching‹. Seit 2009 werden diese Formen in dem Instrument ›Maßnahmen zur Aktivierung und Wiedereingliederung‹ zusammengefasst. Die entsprechenden, hochstandardisierten Maßnahmen bei Bildungsträgern kauft die Arbeitsverwaltung vor Ort über Ausschreibungen ein. Diese Ausschreibungen werden in der Regel nicht vom Jobcenter, sondern vom Regionalen Einkaufszentrum der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Hannover abgewickelt. Die angesetzten Kostensätze liegen zum Teil unter zwei Euro pro Teilnehmerstunde. Sie werden von Trägern, die sich auf diese Angebote spezialisiert haben, oft noch unterboten. Die Qualität ist bei vielen Aktivierungsmaßnahmen dementsprechend gering. Auch die Bildungsträger berichteten im Rahmen der Studie von einem Unterbietungswettbewerb in diesem Bereich, aus dem sich ›seriöse‹ Anbieter zunehmend zurückziehen. Erwerbslose äußerten in den Interviews frustrierende Erfahrungen in ihnen sinnlos erscheinenden Trainingsmaßnahmen. Die Vermittler weisen Arbeitsuchende zu und belegen die Nichtteilnahme mit einer Sanktionsdrohung. Häufig soll lediglich die Verfügbarkeit der Arbeitslosen überprüft werden. Diese Aktivierungspraxis folgt dem seit den Hartz-Reformen gängigen Bild von Arbeitslosen mit mangelnder Arbeitsmoral oder Arbeitsunfähigkeit. Das Bild von trägen und inkompetenten Arbeitslosen ist bereits fest etabliert. Wissenschaftliche Studien belegen jedoch unter Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfängern eine ausgeprägte Erwerbsorientierung sowie hohe Konzessionsbereitschaft hinsichtlich der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.9 Auch die Interviews mit Teilnehmern von Maßnahmen in Bremen und Bremerhaven bestätigten, dass die Erwerbschancen in den Motiven für eine Weiterbildung noch vor persönlichen Interessen rangieren. Die meisten Erwerbslosen haben zudem wechselvolle Erwerbs- und Lebensverläufe und ruhen sich keinesfalls in der ›sozialen Hängematte‹ aus. Resignation lässt sich nur bei einer geringen Zahl von älteren und gesundheitlich beeinträchtigen Menschen ausmachen. Dennoch hält sich das Klischee und prägt weiterhin die Nutzung von Förderinstrumenten. In den Jahren 2012 und 2013 werden in Bremen und Bremerhaven Pläne für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen erstellt. Dabei sollen regionale Spielräume innerhalb des vorgegebenen Systems genutzt werden. Im Jobcenter Bremerhaven haben die Bildungsträger inzwischen die Möglichkeit, auf einer Messe Erwerbslosen und Vermittlern ihre Angebote vorzustellen. Die Arbeitsverwaltung in Bremen-Stadt plant, im ersten Halbjahr 2013 bereits 65 Prozent der Eintritte in FbW-Maßnahmen zu realisieren, um nach Ende des Haushaltsjahres weniger Bundesmittel ›verschenken‹ zu müssen. Die Arbeitnehmerkammer wird in diesem Jahr einen genauen Bericht mit den Auswertungen der Förderstatistik und ihrer qualitativen Studie mit Interviewausschnitten vorlegen. 9 Vgl. IAB-Kurzbericht 15/2010: ALG-II-B ezug ist nur selten ein Ruhekissen www.doku.iab.de/ kurzber/2010/kb1510. pdf; Brenke, Karl: Fünf Jahre Hartz IV – Das Problem ist nicht die Arbeitsmoral; in: DIWWochenbericht 6/2010, S. 10 ff.; Mayrhofer et al.: Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit. UVK 2009, S. 172 ff. 50 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Handlungsfelder für eine regionale Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik ❚ Für eine Neujustierung seiner Arbeitsmarktpolitik braucht das Land Bremen eigene Mittel. Das Arbeitsmarktprogramm des Landes, das ›Beschäftigungspolitische Aktionsprogramm‹ (BAP), wird nahezu ausschließlich aus Mitteln des Bundes und der EU finanziert. Deshalb dominieren die beiden großen Mittelgeber seine Ausgestaltung mit ihren zentralistisch vorgegebenen Zielen und Instrumenten. Der regionalen Arbeitsmarktpolitik kann es in diesem engen Korsett kaum gelingen, auf die spezifischen Probleme vor Ort die passenden Antworten zu finden. Hinzu kommt, dass Bund und EU ihre Mittel immer weiter zurückfahren. Die Bundesregierung setzt ihre Kürzungspolitik in der Arbeitsförderung fort und auch für die ab 2014 beginnende neue Förderperiode des ESF ist mit einem drastisch verringerten Volumen zu rechnen. Sicherlich kann das Land diese wegbrechenden Fördermittel nicht kurzerhand kompensieren. Landesmittel könnten im BAP aber gezielt und punktuell investiert werden, um programmatische Schwerpunkte zu setzen. ❚ Auch die neue Förderperiode von ESF und EFRE bietet Chancen für die strategische Neujustierung der Landesarbeitsmarktpolitik. Das ESF-Programm des Landes Bremen sollte sich wie bisher auf Arbeitsförderung konzentrieren und sich dabei stärker auf soziale Teilhabe, auf die Begleitung erwerbsbiografischer Übergänge, auf Beschäftigungsqualität und auf nachhaltige Beschäftigungssicherheit konzentrieren. ❚ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeitsmarktpolitik setzt der Bund, die programmatische Ausrichtung bestimmt die Region. In Bremen und Bremerhaven können die Kommunen stärker als bisher die Schwerpunktsetzungen der Arbeitsmarkt- und Integrationsprogramme der Jobcenter akzentuieren. Regionale Spielräume, wie die seit April 2012 bestehende Möglichkeit, berufliche Weiterbildungsmaßnahmen zu beauftragen, sollten genutzt werden, um einzelne Zielgruppen besser zu erreichen. Die Kooperation von Bildungsträgern und Arbeitsverwaltung sowie der Bildungsträger untereinander muss hierfür verbessert werden. 51 ❚ Die Arbeitsfördermittel, die vom Bund zur Verfügung gestellt werden, müssen ausgeschöpft werden, solange es im Land Bremen Förderbedarfe gibt. Die Sozialministerkonferenz forderte, dass Restmittel in das nächste Haushaltsjahr übertragen werden können. Die Landesregierung sollte dieser Forderung Nachdruck verleihen. Im Bund muss man sich dafür einsetzen, dass hohe Haushaltsschwankungen im Haushalt der Agentur vermieden werden, da diese Bildungsinfrastrukturen gefährden und Bedarfe von Arbeitslosen angesichts der Budgetvorgaben nachrangig werden. ❚ Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ sollte differenziert ausgewertet werden. Dabei ist nicht nur die Zusätzlichkeit und Qualität der Arbeitsmarktintegrationen zu hinterfragen, sondern auch die Wirkungen abseits vom schnellen Vermittlungsgeschäft. Zu befürchten ist, dass nachhaltige Förderstrategien wie berufliche Weiterbildung zugunsten der schnellen Vermittlung zurückgehen. Zu befürchten ist auch, dass die Chancen auf Teilhabe und Integration für die Gruppen sinken, die nicht als ›marktnah‹ gelten. ❚ Insgesamt gilt, dass Qualifizierungsangebote sozial- und arbeitsmarktpolitisch vorrangig sind. Evaluationen des Instruments ›Förderung beruflicher Weiterbildung‹ (FbW) zeigen, dass längerfristige und abschlussbezogene Maßnahmen nachhaltige Integration, verbesserte Einkommenschancen und Aufstiege ermöglichen. ❚ Individuelle Förderung erfordert eine Anpassung der Maßnahmen an die Lebensumstände und (Vor-) Qualifikationen der Teilnehmenden. Unterstützung in Form von kursbegleitenden Hilfen sollte verstärkt angeboten werden. Förderketten müssen für die ›marktfernen‹ Zielgruppen über längere Zeiträume ineinandergreifen. ❚ Die Zahl der Kunden pro Vermittlungsfachkraft sollte reduziert werden – nicht nur im Rahmen der Joboffensive, nicht nur für ›marktnahe‹ Kunden und nicht zulasten des Budgets für Fördermaßnahmen. Eine verbesserte Betreuungsrelation ist wichtig, da gerade bei intensiven Betreuungsbedarfen Integrationsfortschritte und die Auswahl geeigneter Fördermaßnahmen von der Intensität und Qualität der Beratungsgespräche abhängt. 52 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Ausbildung in Bremen und Bremerhaven Noch immer gehen zu viele verloren REGINE GERAEDTS Viele erwarten eine Wende am Ausbildungsmarkt. In der öffentlichen Diskussion werden inzwischen eher der demografische Wandel, Nachwuchsmangel und Besetzungsengpässe thematisiert als die mangelnden Ausbildungschancen von Jugendlichen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Jedes Jahr aufs Neue suchen junge Menschen vergeblich nach einem passenden Ausbildungsplatz. Die Folge: Mehr als jeder fünfte junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren im Land Bremen bleibt ohne Berufsabschluss.1 Dieser hohe Anteil hält sich konstant seit vielen Jahren, denn die betroffene Altersgruppe wird beständig von unten mit jüngeren Jahrgängen aufgefüllt. Ausbildungsnachfrage der Bremer Jugendlichen bleibt stabil 1 Vgl. Vorlage Nr. 18/274L für die Sitzung der staatlichen Deputation für Wirtschaft, Arbeit und Häfen des Landes Bremen am 28. November 2012. 2 Wenn nicht anders vermerkt, vergleiche zu allen Daten das Zahlenmaterial der ›Bremer Vereinbarung‹ für das Jahr 2012 in der Fassung vom 29.01.2013. Die Ausbildungsinteressierten in der Region werden nicht weniger. Im Land Bremen werden für die nächsten Jahre etwa konstante Schulabgangszahlen prognostiziert.2 Im Jahr 2012 sorgte der doppelte Abiturjahrgang sogar für einen statistischen Ausschlag nach oben, insgesamt 9.121 Schulabsolventinnen und Schulabsolventen wurden gezählt. Sie sind die potenziellen Auszubildenden. Hinzu kommen die jungen Menschen, die in den Vorjahren keinen Erfolg bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz hatten. Allein 2.473 junge Frauen und Männer waren als sogenannte ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹ statistisch erfasst. Die tatsächliche Anzahl liegt darüber. Der Ausbildungsmarkt in Bremen ist außerdem geprägt von engen Pendlerverflechtungen mit dem Umland. Deshalb bewerben sich junge Bremerinnen und Bremer zusammen mit zahlreichen Interessierten aus Niedersachsen um die Lehrstellen vor Ort. Im Jahr 2012 meldeten bremische Betriebe 2.467 neue Ausbildungsverträge mit Jugendlichen aus dem Umland, das entspricht 40 Prozent. Der Druck auf den Bremer Ausbildungsmarkt ist demnach deutlich stärker, als die oft zitierte Angebots-Nachfrage-Relation abbilden kann. Ausbildungsangebot reicht nicht für alle aus Die offizielle Statistik der Agentur für Arbeit gewährt einen ersten Blick auf den Ausbildungsmarkt im Land Bremen. 4.485 Bewerberinnen und Bewerber waren 2012 hier registriert. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Plus von 1,1 Prozent, in Bremerhaven sogar von 8,1 Prozent. Gleichzeitig waren 4.672 Ausbildungsstellen gemeldet. Das entspricht einem Minus von 6,7 Prozent. Trotz dieser gegenläufigen Entwicklung von Nachfrage und Angebot scheint das Verhältnis auf den ersten Blick günstig. Doch der Schein trügt. Denn die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens. Es suchen nämlich längst nicht alle Jugendlichen dort Beratung und längst nicht alle Ausbildungsbetriebe lassen ihre Lehrstellen registrieren. Aussagekräftigere Daten bietet die Statistik über die tatsächlich abgeschlossenen Ausbildungsverträge. Im Jahr 2012 waren das 6.209 und damit 1,3 Prozent weniger Verträge als im Vorjahr. Die 82 verlorenen Ausbildungsplätze gingen allesamt in die Negativbilanz der Stadt Bremen ein. Mag der Ausbildungsplatzverlust in anderen Bundesländern auch größer gewesen sein, so ändert das nichts an der negativen Entwicklung. Besonders bedenklich ist der Trend bei den mit Abstand wichtigsten Anbietern, den Mitgliedern von Handels- und Handwerkskammern. Dort stagnierten die Vertragsabschlüsse oder gingen gar zurück. Die einzige Ausnahme war die Handwerkskammer Bremerhaven, deren Mitglieder 21 Ausbildungsverträge mehr abschlossen als im Vorjahr. Auch der 53 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK öffentliche Dienst gehört zu den dualen Ausbildern und könnte mit seinen Lehrstellen negative Marktentwicklungen zumindest symbolisch korrigieren. Prozentual führte er aber 2012 das Ranking beim Ausbildungsplatzabbau mit einem Minus von 8,2 Prozent an. Es gibt Berufsgruppen, die bis heute nicht im dualen, sondern ausschließlich im Schulberufssystem erlernt werden können. Der Schwerpunkt liegt bei den Erziehungs- und Gesundheitsberufen und damit in Bereichen mit expandierender Fachkräftenachfrage. Doch auch im Schulberufssystem ist das Platzangebot zurückgegangen. 1.307 schulische Erstausbildungsplätze wurden im Jahr 2012 im Land Bremen besetzt, im Vorjahr waren es 1.280.3 Die Gesamtbilanz für das Jahr 2012 ist also negativ: Die potenzielle und registrierte Ausbildungsnachfrage ist gestiegen, das Angebot ist dagegen rückläufig. Weder die gute Konjunktur im vergangenen Jahr noch die Diskussionen über den erwarteten Fachkräftemangel haben Impulse für eine Ausweitung des Ausbildungsangebots gesetzt. Beste Bildungsvoraussetzungen bei Bewerberinnen und Bewerbern – unbesetzte Ausbildungsstellen bei Betrieben Den Erfolg von Bewerberinnen und Bewerbern können wir für die Menschen nachvollziehen, die bei der Agentur für Arbeit gemeldet sind. Von den 4.485 dort registrierten jungen Menschen hatte lediglich gut ein Drittel am Ende einen Ausbildungsvertrag in der Tasche (1.584 Jugendliche). Zusätzlich erhielten 358 junge Menschen mit Benachteiligungen, Lernschwächen oder Behinderungen einen öffentlich geförderten außerbetrieblichen Ausbildungsplatz. In Bremen-Stadt war dieser Anteil geringer als in Bremerhaven (BremenStadt 6,3 Prozent, Bremerhaven 11,8 Prozent). Zum Stichtag am 30.09. wurden noch insgesamt 135 junge Menschen als sogenannte ›unversorgte Bewerberinnen und Bewerber‹ gezählt. Sie hatten also weder eine Ausbildung begonnen noch ein Alternativangebot beispielsweise im Übergangssystem gefunden und hatten selbst zwei Monate nach Beginn des Ausbildungsjahres die aktive Suche noch nicht aufgegeben. Auffallend war die Situation in Bremerhaven. Dort stieg die Zahl der ›Unversorgten‹ im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent, in Bremen-Stadt waren es 40 Prozent. Immer wieder ist zu hören, der Grund für den Misserfolg am Ausbildungsmarkt seien schlechte Bildungsvoraussetzungen. Es lohnt deshalb ein Blick auf die Bildungsstruktur der Bewerberinnen und Bewerber. Nach der Statistik der Agentur für Arbeit4 brachten die meisten jungen Frauen und Männer 2012 gute bis beste Voraussetzungen für eine duale Ausbildung mit. Der Anteil der Bewerberinnen und Bewerber ohne Schulabschluss war verschwindend, Hauptschulabsolventinnen und -absolventen machten ein Viertel aus. Die meisten brachten den Realschulabschluss mit. Fast ebenso viele können mit der Fachhochschul- oder der Hochschulreife aufwarten. Insgesamt verfügten gut 70 Prozent über einen mittleren oder höheren Schulabschluss. Mit 2.473 jungen Menschen gehörte etwas mehr als die Hälfte der bei der Agentur für Arbeit beratenen Ausbildungsinteressierten zur Gruppe der ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹. Auch bei diesen schon im Vorjahr erfolglosen jungen Menschen waren die schulischen Bildungsvoraussetzungen überwiegend gut. Etwas mehr als je ein Drittel verfügte über den Hauptschulabschluss oder die mittlere Reife und ein Viertel über die (Fach-)Hochschulreife. Mangelnde schulische Bildung scheint als Hauptursache für das Scheitern beim Übergang in Ausbildung demnach auszuscheiden. 3 Entsprechend des Korrekturhinweises der Bremer Vereinbarung, der dort leider nicht im Zahlenmaterial berücksichtigt wurde, wird hier die Ausbildung zum Erzieher/zur Erzieherin nicht zu den Erstausbildungen gezählt (287 Plätze). Als Erstausbildung wurde sie mit dem Schuljahr 2012/2013 durch den zweijährigen Bildungsgang ›Sozialpädagogische Assistenz‹ (121 Plätze) ersetzt und ist seitdem als berufliche Weiterbildung definiert. 4 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen, Ausbildungsstellenmarkt, September 2012. 54 B ER IC H T ZU R L AGE 2012 Insgesamt 234 Lehrstellen blieben offen. Dabei gingen die Entwicklungen in den beiden Kommunen deutlich auseinander. 5 Vgl. Ebbinghaus/ Loter: Besetzung von Ausbildungsstellen; welche Betriebe finden die Wunschkandidaten – welche machen Abstriche bei der Bewerberqualifikation – bei welchen bleiben Ausbildungsplätze unbesetzt? Hrsg.: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), 2010. 6 Vgl. Bildungsberichterstattung für das Land Bremen Bd. 1, Bildung – Migration – soziale Lage. Hrsg.: Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, 2012, S. 222 f. 7 Vgl. Modellprojekt Jugend stärken: Aktiv in der Region, Bestandsaufnahme in Bremen, Oldenburg, Februar 2012. Auch die Zahl der als unbesetzt gemeldeten Ausbildungsplätze nahm zu, und zwar im Land Bremen um knapp ein Drittel. Insgesamt 234 Lehrstellen blieben offen. Dabei gingen die Entwicklungen in den beiden Kommunen deutlich auseinander. In Bremen-Stadt war die Steigerung mit 70 Prozent erheblich, in Bremerhaven konnten dagegen die meisten bei der Agentur für Arbeit registrierten Ausbildungsstellen besetzt werden. Die Situation erscheint paradox: Auf der einen Seite bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt, auf der anderen Seite suchen ausbildungsinteressierte Jugendliche vergeblich eine Lehrstelle. Tatsächlich gehört dieses Phänomen in begrenzten Größenordnungen zum Marktgeschehen und das Grundrecht auf Berufswahlfreiheit verlangt geradezu nach einem Überhang auf der Angebotsseite. Zieht man für das Ausbildungsjahr 2012 die Daten über die tatsächlich abgeschlossenen Ausbildungsverträge zurate, fallen die beachtlichen Rückgänge im Hotel- und Gaststättengewerbe auf. Jeder fünfte Ausbildungsplatz ist hier gegenüber dem Vorjahr nicht besetzt worden (- 90 Plätze). Die Branche steht wegen ihrer Arbeitsbedingungen, der schlechten Bezahlung und schließlich der Ausbildungsqualität immer wieder öffentlich in der Kritik. Mit einer Minijobquote von etwa 50 Prozent bietet sie jungen Menschen kaum Zukunftsperspektiven. Ein Teil der Lehrstellenvakanzen lässt sich also mit mangelnder Ausbildungsattraktivität erklären. Ein anderer relevanter Erklärungsansatz deutet darauf hin, dass erfolglose Auswahlverfahren häufig mit überzogenen Wunschvorstellungen von Betrieben an die Bewerberinnen und Bewerber einhergehen.5 Auch im Land Bremen gibt es entsprechende Hinweise, denen nachzugehen sich lohnt. Das Übergangssystem – verwirrende Angebotsvielfalt und intransparente Entwicklung Der Bildungsbericht des Landes Bremen zeigt, dass nur gut jeder fünfte Jugendliche direkt aus der allgemeinbildenden Schule in die duale Berufsausbildung wechselt. Dagegen gehen 43,2 Prozent (in Bremen-Stadt 39,3 Prozent und in Bremerhaven 58,2 Prozent) in das sogenannte Übergangssystem.6 Etwa 3.300 Plätze im Übergangssystem wurden 2012 öffentlich finanziert. Weshalb es bremischen Schulabgängerinnen und Schulabgängern so vergleichsweise selten gelingt, direkt in Ausbildung einzumünden, und was die Ursachen misslingender Übergänge sind, bleibt eine offene Frage. Auch wissen wir nichts darüber, wie viele Jugendliche ganz ›verloren gehen‹. Allein die Agentur für Arbeit verzeichnet in ihrer Statistik 2012 mehr als 1.000 Jugendliche, über deren Verbleib nichts bekannt ist. Nach vielen Jahren manifester ›Ausbildungskrise‹ fehlen belastbare regionale Daten, überzeugende Erklärungsansätze und Analysen über die tatsächlichen Bedarfe. So bleibt auch unklar, ob die bestehenden Übergangsangebote überhaupt passen. Selbst Expertinnen und Experten fällt es schwer, sich einen Überblick zu verschaffen.7 Politisch gewollt ist im Land Bremen der Vorrang von Ausbildung. Alle Akteure sind sich einig, dass das Übergangssystem zugunsten von Berufsausbildung abgebaut werden soll. Dieser Abbau ist im vollen Gange – währenddessen im Hintergrund das Ausbildungsplatzangebot ebenso zurückgeht wie die öffentlichen Finanzierungsmittel. So sind die über Bundesmittel geförderten Maßnahmen der Agentur für Arbeit allesamt rückgängig (-3,3 Prozent). Bei der Einstiegsqualifizierung ist etwa jeder zehnte Platz entfallen. Dabei hatte die ›Bremer Vereinbarung‹ für dieses Instrument den Ausbau verabredet. Denn es erreicht überproportional viele 55 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 1: Struktur der Bewerberinnen und Bewerber bei der Agentur für Arbeit nach Bildungsvoraussetzungen im Land Bremen 2012 Anteil an allen Bewerberinnen und Bewerbern in Prozent alle Bewerberinnen und Bewerber ohne Hauptschulabschluss 25 0,6 Hauptschulabschluss 1.220 27,2 Realschulabschluss 1.590 35,5 Fachhochschulreife 826 18,4 allgemeine Hochschulreife 687 15,3 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber ohne Hauptschulabschluss 0 0 Hauptschulabschluss 33 24,4 Realschulabschluss 31 23,0 Fachhochschulreife 38 28,1 allgemeine Hochschulreife 30 22,2 Struktur der ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹ alle ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹ 14 0,5 Hauptschulabschluss 835 33,8 Realschulabschluss 888 35,9 Fachhochschulreife 368 14,9 allgemeine Hochschulreife 236 9,5 ohne Hauptschulabschluss unversorgte ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹ 0 0 Hauptschulabschluss 26 35,6 Realschulabschluss 20 27,4 Fachhochschulreife 17 23,3 7 9,6 ohne Hauptschulabschluss allgemeine Hochschulreife Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Ausbildungsstellenmarkt im September 2012 Übergänge in duale Ausbildung (Übergangsquote 58,9 Prozent) und in Kombination mit dem Berufsschulbesuch und der Anrechenbarkeit auf eine folgende Ausbildung ist gerade die Einstiegsqualifizierung keine Warteschleife. Anlass zur Sorge ist auch der drastische Rückgang von außerbetrieblicher Ausbildung. Das Instrument gehört zwar nicht im eigentlichen Sinn zum Übergangssystem, verdient aber deshalb Beachtung, weil es besonders benachteiligten Jugendlichen einen Ausbildungsabschluss ermöglicht. In zwei Kürzungsrunden wurden die Plätze innerhalb von zwei Jahren mehr als halbiert. Im schulischen Übergangssystem hat das Bildungsressort seine Angebote ebenfalls abgeschmolzen. Inwieweit das Ziel erreicht wurde, etwa durch die nun obligatorische Beratung bei Anmeldung zur berufsvorbereitenden Berufsfachschule mehr Schülerinnen und Schüler direkt in duale Ausbildung zu vermitteln, ist bisher nicht veröffentlicht. Gerade für Jugendliche mit geringen Chancen macht der Rückbau des Übergangssystems die Situation schwieriger. Zu ihnen gehören die Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss, die pauschal als ›nicht ausbildungsgeeignet‹ definiert und von 56 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 der Arbeitsagentur in aller Regel noch nicht einmal als Bewerberinnen und Bewerber geführt werden. Auch Hauptschulabsolventinnen und -absolventen – im Jahr 2012 immerhin 1.220 Jugendliche – gehören häufig zu den ›Marktverlierern‹. Denn sie müssen sich der ungleichen Konkurrenz mit vielen Bewerberinnen und Bewerbern mit höheren Schulabschlüssen stellen. Schließlich gibt es ganz unabhängig vom Bildungsstatus junge Menschen, die sozial unangepasst wirken oder aus schwierigen Herkunftsfamilien stammen, Sprachschwierigkeiten haben oder aus einem anderen Kulturkreis kommen. Nicht einmal der demografische Wandel wird ihre Chancen absehbar verbessern. Der Markt wirkt nicht integrativ, sondern selektiv. Die Auslesemechanismen nach schulischer Vorbildung, nach Geschlecht oder Migrationshintergrund sorgen hartnäckig für Ausschlüsse. Solange Unternehmen aber eher auf Nachwuchsförderung verzichten als sich auf junge Menschen einzulassen, die Unternehmenskulturen vielfältiger machen oder mehr Begleitung brauchen, bleiben viele junge Frauen und Männer auf systematische Unterstützung angewiesen. Mehr Ausbildungsplätze schaffen – Übergangssystem optimieren Das Übergangssystem ist in der nun schon Jahrzehnte andauernden Ausbildungskrise als Alternativangebot für Jugendliche entstanden, die im ersten Anlauf am Markt scheitern. In den vergangenen Jahren ist es massiv in die Kritik geraten: Es schaffe weder Übergänge, noch habe es System. Als dritte Säule des Berufsbildungssystems wird es aber solange gebraucht, bis genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Doch es muss sich verändern. Die Instrumente müssen sich an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen orientieren – nicht umgekehrt. Wer Berufsorientie- 57 rung und Berufsvorbereitung braucht, soll sie bekommen. Doch wir wissen längst, dass diese standardisierten Übergangswege nicht für alle passen. Die vielfältigen Lebenssituationen junger Menschen machen es nötig, vielfältige Wege zu eröffnen. Der Übergang in Ausbildung muss vorrangig sein und da, wo er nicht gelingt, muss die Abschlussorientierung in den Fokus rücken, und sei es in noch so kleinen Schritten. Am Ende muss für alle, die wollen, ein Berufsabschluss stehen. In diesem Sinne ist die Berufseinstiegsbegleitung ein neues Instrument, das bundesweit modellhaft bis 2014 erprobt wird. Dieser individuelle und institutionenübergreifende Ansatz setzt neue Impulse und verspricht interessante Erkenntnisse. Seit dem 1. Oktober 2012 entwickelt ein Pilotprojekt in BremenNord das Konzept für einen ›Bremer Weg‹ für die Einstiegsbegleitung. Über Umsetzung, Ausstattung und Qualitätsstandards wird weiter zu diskutieren sein. Die oberste Priorität bleibt aber: Endlich mehr Ausbildungsplätze schaffen! Die ›Bremer Vereinbarung‹, der auch die Arbeitnehmerkammer angehört, hat sich diesem zentralen Ziel verpflichtet. Dennoch lässt sich seit der Erstunterzeichnung im Jahr 2008 im Land Bremen ein Rückgang der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge von insgesamt 5,1 Prozent feststellen. Zuletzt bildeten nur 24,1 Prozent mit leicht rückläufiger Tendenz aus.8 Es ist also nicht gelungen, die Ausbildungsplatzlücke zu schließen. Denn am Ende bleibt es allein der Entscheidung von Unternehmen überlassen, wie viele Lehrstellen sie schaffen. Bei knapp gehaltenem Angebot und anhaltend hoher Nachfrage bleiben die Betriebe in der komfortablen Lage, aus einem großen Bewerberinnen- und BewerberPool auswählen zu können. Auf der anderen Seite beschränkt das knappe Ausbildungsangebot die Chancen von jungen Erwachsenen, eine zu ihrem Wunschberuf passende Lehrstelle zu finden. 8 Vgl. Tabellen zur jährlichen Erhebung der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge zum Stichtag 30. September des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), abrufbar unter www.bibb.de/de/ wlk8225.htm 58 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die seit vielen Jahren andauernde Ausbildungskrise hat tiefe Spuren hinterlassen. Im Land Bremen haben fast 27 Prozent der Erwachsenenbevölkerung zwischen 25 und unter 65 Jahren keinen Berufsabschluss. Das ist bundesweit der höchste Wert und liegt zehn Prozentpunkte über dem bundesdeutschen Durchschnitt.9 In der Altersgruppe der unter 35-Jährigen ist der Anteil groß und verfestigt, die Risikolagen Arbeitslosigkeit und Armut sind für den gesamten Lebensverlauf programmiert. So hatten im Land Bremen 60,5 Prozent der Arbeitslosen keinen Berufsabschluss. Das sind 21.723 Menschen. Bei den unter 25-Jährigen waren es sogar 75 Prozent.10 Teile einer ganzen Generation drohen abgehängt zu werden. Sie brauchen eine zweite Chance mit Nachqualifizierungsangeboten, die einen Berufsabschluss mit guten Perspektiven zum Ziel haben. Ausbildung bleibt die gesellschaftliche Verpflichtung der Arbeitgeber. Solange Wirtschaft und Verwaltung nicht ausreichend in Nachwuchsförderung investieren, verlieren Klagen über einen Fachkräftemangel ihre Glaubwürdigkeit. Handlungsbedarfe – was zu tun ist 9 Vgl. Bildungsberichterstattung für das Land Bremen Bd. 1, Bildung – Migration – soziale Lage. Hrsg.: Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, 2012, S. 62. 10 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Zahlen, Arbeitslose nach Rechtskreisen, Dezember 2012 und Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Analyse des Arbeits- und Ausbildungsstellenmarktes für unter 25-Jährige in Bremen, Oktober 2012. ❚ Betriebliche Ausbildungsplätze sind der Kern des Berufsbildungssystems. Die Arbeitgeber tragen die besondere gesellschaftliche Verantwortung, betriebliche Ausbildung sicherzustellen. Sie müssen deutlich mehr Ausbildungsplätze im dualen System schaffen. Solange aber nur jedes vierte Unternehmen ausbildet, Fachkräfte gebraucht werden und dennoch junge Menschen ohne Ausbildungsplatz bleiben, ist diese Verantwortung nicht eingelöst. Die Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe wird angesichts der fehlenden Plätze und auch der Quote ausbildender Betriebe wieder aktuell. ❚ Solange nicht alle jungen Menschen mit Ausbildungsplätzen versorgt sind, ist das Übergangssystem nicht überflüssig. Sparanstrengungen dürfen nicht vor dem Erhalt von sinnvollen Angeboten, Eigeninteressen nicht vor der passgenauen Weiterentwicklung stehen. Das Übergangssystem muss optimiert und systematisiert werden. Übergänge ›ins Nichts‹ darf es nicht geben. Da, wo das direkte Einmünden in Ausbildung nicht gelingt, muss Abschlussorientierung in den Fokus rücken, und sei es in noch so kleinen Schritten. Die Erfahrungen aus dem Modellprojekt ›Berufseinstiegsbegleitung‹ in Bremen-Nord müssen orientiert an diesen Zielsetzungen ausgewertet und bilanziert werden. Ob eine flächendeckende Einführung des Instruments gelingen kann, wird davon abhängen, ob der gesetzliche Kofinanzierungsvorbehalt fällt. Dafür sollte sich das Land Bremen im Bund einsetzen. Bestehende Angebote wie die Einstiegsqualifizierung oder die 2012 neu eingerichtete ›Dualisierte Berufsfachschule‹ mit hohen Praktikumsanteilen im handwerklichen Bereich bieten Möglichkeiten zur Anrechenbarkeit auf Ausbildung. Es ist im Sinne von Jugendlichen fahrlässig, dass diese Chancen im Land Bremen kaum genutzt werden. ❚ Auszubildende mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf sollen ebenso wenig allein bleiben wie Betriebe, die sich ihnen öffnen. Es gibt neue und bewährte Instrumente zur Unterstützung wie die Berufseinstiegsbegleitung, die Einstiegsqualifizierung oder auch ausbildungsbegleitende Hilfen. Sie werden zurzeit gekürzt. Sie müssen stattdessen ausgeweitet, miteinander verknüpft und koordiniert an den Lernorten Berufsschule und Betrieb eingesetzt werden. So können auch als schwierig angesehene Jugendliche erfolgreich zum Berufsabschluss begleitet werden. ❚ Je länger der Schulabschluss zurückliegt, desto geringer werden die Chancen auf duale Erstausbildung. Im Februar 2013 hat ein Nachqualifizierungsprojekt begonnen, das auf das Instrument ›Externenprüfung‹ setzt. Es ist für eine begrenzte Gruppe Arbeitsloser geeignet, denen jenseits einer Erstausbildung und einer klassischen Umschulung ein dritter Weg zum Berufsabschluss eröffnet werden soll. Das ist ein guter erster Schritt. Er muss ausgebaut werden, um auch andere Arbeitslose und nicht zuletzt ungelernte Beschäftigte mit abschlussbezogener Nachqualifizierung erreichen zu können. 59 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Minijobs Umfassende Reform notwendig REGINE GERAEDTS Im Oktober 2012 hat der Deutsche Bundestag eine ›Minireform‹ für ›Minijobs‹ beschlossen. Schon im Vorfeld war dadurch die Diskussion über die sozial- und arbeitsmarktpolitische Bedeutung geringfügiger Beschäftigung neu entfacht. Darin wurden immer mehr Stimmen laut, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln Argumente für eine umfassende Neuordnung der ›kleinen‹ Beschäftigungsverhältnisse und auch konkrete Reformmodelle einbrachten. Auch die Arbeitnehmerkammer hat sich mit zwei Expertisen an der Debatte beteiligt.1 Seit Beginn des Jahres 2013 gilt nun die neu beschlossene gesetzliche Grundlage für Minijobs: Erhöhung der Einkommensgrenze von bisher 400 auf 450 Euro und verbesserte Integrationsmöglichkeiten in der Rentenversicherung. Antworten auf die problematischen Auswirkungen von Minijobs auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liefern diese Veränderungen nicht. Ein Blick zurück Im Rahmen der Agenda 2010 und der sogenannten ›Hartz‹-Gesetze wurde 2003 die geringfügige Beschäftigung grundlegend reformiert. Die Verdienstgrenze wurde damals auf 400 Euro angehoben, die Beschäftigten wurden vollständig von Steuern und Sozialabgaben befreit, die Arbeitgeber dagegen mit Pauschalabgaben von knapp über 30 Prozent belastet. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstanden trotz der eingezahlten Beiträge keine nennenswerten Ansprüche auf Leistungen der Sozialversicherung. Die steuer- und abgabenfreie Nebenbeschäftigung wurde im Minijob wieder zugelassen und schließlich wurde die Limitierung der Wochenarbeitszeit auf maximal 15 Stunden aufgehoben, die bis dahin die zeitliche Obergrenze für Geringfügigkeit markiert hatte. Bei den politischen Zielsetzungen der Reform stand im Vordergrund, mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor und Flexibilität vordringlich für Unternehmen zu schaffen. Außerdem wurde den Minijobs eine Brückenfunktion für Arbeitslose zugeschrieben, indem sie den ersten Schritt auf dem Weg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung darstellen sollten. Die Bilanz nach zehn Jahren Reform ist bei Expertinnen und Experten selten einhellig und gleichzeitig ernüchternd: Minijobs sind kein guter Einstieg in sozialversicherte Beschäftigung, sie entwickeln eher einen besonders festen ›Klebeeffekt‹.2 Zum Ausbau eines flexiblen Niedriglohnsektors in Deutschland haben sie dagegen entscheidend beigetragen. 1 Vgl. Rosenthal, Zehn Jahre Minijobs: Anhebung der Verdienstgrenze auf 450 Euro weist in die falsche Richtung – umfassende Reform notwendig, Hrsg.: Minijobs als Massenphänomen Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen 2012 und Rosenthal/Kunkel: Nach der Reform stieg die Zahl der Minijobs sprunghaft von 4,2 Millionen (2002) auf 5,5 Millionen nach Inkrafttreten des Gesetzes im Juni 2003 bis auf derzeit knapp 7,3 Millionen (März 2012). Die größten Zuwächse waren in den ersten beiden Jahren nach der Reform zu verzeichnen. Seit 2009 hat sich das Wachstum zwar abgeschwächt, die Anzahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse liegt seitdem auf einem stabil hohen Niveau knapp über sieben Millionen. Der bisher höchste jemals gemessene Wert war im Dezember 2011 mit 7,5 Millionen Minijobs zu verzeichnen. Im Land Bremen verläuft die Anstiegskurve ähnlich steil von 56.000 (2003) auf 70.866 (März 2012). Hier, wie auch bundesweit, übt ungefähr ein Drittel der Minijobberinnen und Minijobber die geringfügige Beschäftigung als Nebentätigkeit aus, während bei ungefähr zwei Dritteln der Minijob das einzige Arbeitseinkommen darstellt.3 Zehn Jahre Minijobs, Bilanz und Weiterentwicklungsformen einer problematischen Beschäftigungsform, Hrsg.: Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen 2012. 2 Vgl. Wippermann, Carsten: Frauen im Minijob, Motive und (Fehl‐)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2012. 3 Wenn nicht anders vermerkt, vergleiche zu allen Daten Rosenthal/ Kunkel, Zehn Jahre Minijobs, Bilanz und Weiterentwicklungsformen einer problematischen Beschäftigungsform, Hrsg. Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen 2012. 60 B ER IC H T ZU R L AGE 2012 Noch immer arbeiten überwiegend Frauen in diesem Arbeitsmarktsegment. Besonders bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten dominieren sie im Bundesdurchschnitt mit knapp zwei Dritteln, während der Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Nebentätigkeiten geringer ausfällt (57,1 Prozent Frauen gegenüber 42,9 Prozent Männern). Der Trend geht aber längst in eine andere Richtung, denn insgesamt ist der Anstieg des Männeranteils rasanter und das Männer-FrauenVerhältnis gleicht sich kontinuierlich an. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung in Berlin. Dort sind 44,7 Prozent aller geringfügig Beschäftigen Männer. Andere Bundesländer rücken nach. Im Land Bremen hat der Männeranteil die 40-Prozent-Marke bereits überschritten. Minijobs werden bis heute gern als kleine Zuverdienstmöglichkeit für Hausfrauen betrachtet. Diesem Randbereich des Arbeitsmarkts sind sie aber längst entwachsen. Mittlerweile sind sie zu einem Massenphäno- 4 Vgl. ebenda; Stellungnahme Deutscher Rentenversicherungsbund. 5 Vgl. ebenda; Stellungnahme Claudia Weinkopf. Abb. 1: Minijobs im Land Bremen 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 ausschließlich Nebenjob insgesamt Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremen und Bremerhaven, Ende Juni 2012 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 0 2003 10.000 men geworden. Etwa jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis ist inzwischen geringfügig, bundesweit und auch in Bremen. Nach der sozialversicherten Teilzeitbeschäftigung sind Minijobs die am stärksten verbreitete atypische Beschäftigungsform. Klein ist beim Minijob nur der Verdienst Die meisten Verdienste im Minijob liegen unterhalb der bisher gültigen Grenze von 400 Euro. So weist die Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2009 ein durchschnittliches Entgelt über alle Branchen hinweg von 293 Euro aus. Das mittlere Einkommen variiert dabei je nach Wirtschaftsabschnitt zwischen 162 Euro und 344 Euro. Aktuellere Daten unterstreichen, dass die Rede von ›400-EuroJobs‹ nicht der Realität entspricht. Nur etwa zehn Prozent der Minijobberinnen und Minijobber erzielen ein monatliches Einkommen von annähernd 400 Euro.4 Jenseits der Monatsverdienste sind auch die Stundenlöhne von Minijobberinnen und Minijobber aufschlussreich. Das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen ermittelte auf Stundenlohnbasis für das Jahr 2010 einen Niedriglohnanteil von 86 Prozent bei geringfügig Beschäftigten. Das heißt, dass nahezu neun von zehn Minijobberinnen und Minijobber in Westdeutschland Stundenlöhne unter 9,54 Euro und in Ostdeutschland unter 7,04 Euro beziehen. Knapp die Hälfe verdient dabei unter sieben Euro und ein Viertel sogar weniger als fünf Euro pro Stunde. Inzwischen stellen Minijob-Beschäftigte einen Anteil von mehr als einem Drittel (35,8 Prozent) im Niedriglohnsektor. Er hat sich seit 1995 verdoppelt. Dabei macht die Qualifikation der Beschäftigten bei der Bezahlung keinen großen Unterschied. Minijobberinnen und Minijobber ohne Berufsabschluss tragen zwar das höchste Niedriglohnrisiko, aber auch von den geringfügig beschäftigten Akademikerinnen und Akademiker erhielten 61,4 Prozent nur einen Niedriglohn.5 61 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Ein Minijob bietet auch bei vollen Rentenbeiträgen am Ende immer nur eine Minirente, der Verzicht auf eigene Beitragszahlungen lässt dagegen ein bisschen mehr vom verfügbaren monatlichen Einkommen übrig. Die Erhöhung der Verdienstgrenze auf 450 Euro hat die Bundesregierung vor allem damit begründet, geringfügige Beschäftigung würde nun ›erstmals an die seither erfolgte Lohnentwicklung angepasst‹ und Minijobberinnen und Minijobber könnten nun ›mehr hinzuverdienen‹. In den durchschnittlichen und mittleren monatlichen Arbeitsentgelten kann diese Anpassung nicht begründet sein. Dass die neue Verdienstgrenze zur Anhebung der Stundenlöhne führt, wird kaum gemeint sein. Wahrscheinlicher ist, dass bei gleichbleibend niedrigen Stundenverdiensten die Arbeitszeiten ausgeweitet werden, also ein höherer Monatslohn durch noch mehr schlecht bezahlte Arbeitsstunden erreicht wird. Ein ganz neues Problemfeld eröffnet sich durch die Reform für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute zwischen 401 und 450 Euro in sozialversicherter Teilzeit verdienen. Spätestens nach der längstens bis zum 31. Dezember 2014 währenden Übergangszeit werden sie von der neuen Verdienstgrenze ›eingeholt‹ und verlieren ihren vollen Sozialversicherungsschutz. Noch weit kleiner als die Verdienste bleiben die Rentenansprüche. Zwar gilt nun grundsätzlich die Rentenversicherungspflicht für Minijobs, die eingebaute Opt- out- Regelung wird aber dazu führen, dass der größte Teil der geringfügig Beschäftigten sich aus der Rentenversicherung herauswählen wird. Davon geht selbst die Bundesregierung aus. Die Rechnung ist einfach: Ein Minijob bietet auch bei vollen Rentenbeiträgen am Ende immer nur eine Minirente, der Verzicht auf eigene Beitragszahlungen lässt dagegen ein bisschen mehr vom verfügbaren monatlichen Einkommen übrig. Benachteiligungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Die gesamte Konstruktion geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse basiert darauf, dass soziale Sicherung und insbesondere die Krankenversicherung durch andere Systeme garantiert sind. Denn gegen soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und vor allem Krankheit sind Minijobberinnen und Minijobber trotz abgeführter Pauschalbeiträge nicht abgesichert. Nach dieser Sicherungslücke definieren sich automatisch die Gruppen, für die geringfügige Beschäftigung überhaupt möglich oder attraktiv ist. Bei einem groben Überblick über die ausschließlich geringfügig Beschäftigten stellen Ehefrauen bisher noch die größte Gruppe. Der Familienernährer sorgt für das Haupteinkommen, aus dem sich auch der familiäre Versicherungsschutz ableitet. Weil sich mit dieser Konstruktion für Frauen familiäre Abhängigkeitsverhältnisse im gesamten Lebensverlauf verfestigen, hat der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung Minijobs als ›gleichstellungspolitisch desaströs‹ bezeichnet. Bei Minijobberinnen und Minijobbern, die ergänzende ›Hartz-IV‹-Leistungen beziehen, trägt die steuerfinanzierte Grundsicherung die Krankenkassenbeiträge. Bundesweit sind etwa 15 Prozent der Minijobberinnen und Minijobber auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen, im Land Bremen ist es sogar jede/r fünfte, wie die ›Aufstockerstudie‹ der Arbeitnehmerkammer gezeigt hat. Betrachtet man andersherum die Gruppe der sogenannten Aufstockerinnen und Aufstocker insgesamt, ist jeder zweite Mensch im Minijob.6 Geringfügig Beschäftigte sind deutlich häufiger von Armut betroffen als andere Gruppen von Erwerbstätigen. Während die Armutsgefährdungsquote von Minijobberinnen und Minijobber bei 23 Prozent liegt, trifft dies nur auf 3,2 Prozent der Normalbeschäftigten zu. Allein mit einem Minijob lässt sich schließlich schon aufgrund der maximalen Verdienstgrenze kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Dabei würden zwei Drittel der geringfügig Beschäftigten ihre Arbeitszeit gerne ausweiten. Minijobberinnen und Minijobber partizipieren auch in deutlich geringerem Umfang als Normalbeschäftigte an betrieblicher Weiterbildung. Während 34 Prozent der Normalbeschäftigten an solchen Angeboten teilnehmen, trifft dies nur auf 15 Prozent der Minijobberin- 6 Vgl. Rosenthal/ Farke/von den Berg: Aufstocker im Land Bremen. Hrsg.: Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen 2010. 62 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 nen und Minijobber zu. Zudem entspricht bei der Hälfte der geringfügig Beschäftigten die ausgeführte Tätigkeit nicht dem erlernten Beruf. Diese Kombination trägt dazu bei, dass Minijobs sehr viel häufiger den Einstieg in eine qualifikatorische Abwärtsspirale und biografische Sackgasse darstellen als eine Brücke in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Schieflagen am Arbeitsmarkt – ganze Branchen verändern ihr Gesicht 7 Vgl. Hanau, Peter: Das Rätsel Minijob. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht. Zweiwochenschrift für die betriebliche Praxis 15/2006. 8 Vgl. Hohendanner/ Stegmaier: Umstrittene Minijobs – geringfügige Beschäftigung in deutschen Betrieben. In: IAB-Kurzbericht Nr. 24, Dezember 2012. 9 Vgl. Die Welt vom 26.12.12: ›Rösler fordert einen flexibleren Arbeitsmarkt‹; vgl. dazu auch Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP zur 17. Legislaturperiode des Bundes vom 26. Oktober 2009; vgl. Geringfü g ige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen; Bertelmann Stiftung, Gü t ersloh 2012; vgl. IW-Dienst Nr. 51/52, Hrsg. Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Dezember 2012. Die niedrigen Stundenverdienste deuten auf eine weitere gravierende Benachteiligung von Minijobberinnen und Minijobber hin. Die eigentlich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtete Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern dürfte in der Praxis häufig an die Arbeitgeber als ›Bruttolohnzugeständnis‹ übergehen und den Stundenlohn reduzieren. Der brutto-für-nettoVorteil erweist sich dann als Illusion. Dabei haben geringfügig Beschäftigte die gleichen tariflichen Ansprüche wie sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Verletzung des Diskriminierungsverbots ist offenbar nicht nur in Bezug auf die Stundenlöhne, sondern auch auf weitere Arbeitsrechte wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüche und Jahressonderzahlungen gängige Praxis. Dies scheint die Lösung des ›Rätsels Minijob‹7, weshalb geringfügige Beschäftigung trotz der im Vergleich hohen Pauschalabgaben für Arbeitgeber so attraktiv ist, dass sie in manchen Arbeitsmarktsegmenten inzwischen Normalität geworden ist. Branchenanalysen zeigen, dass Minijobs vor allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe, in der Gebäudereinigung und im Gesundheitsund Sozialwesen entstanden sind. Absolut gesehen finden sich die meisten Minijobs im Einzelhandel. In der Gebäudereinigung und im Gastgewerbe sind dagegen die Anteile an der Gesamtbeschäftigung besonders hoch. Fast jeder zweite Arbeitsplatz ist hier ein Minijob. In Branchen mit besonders hohen Konzentrationen mehren sich die Hinweise auf Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.8 Im Land Bremen ist das Gastgewerbe die Branche, die die Entwicklung antreibt. Hier gibt es mittlerweile mehr Minijobs als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. In manchen Branchen hat sich so ein paralleler Arbeitsmarkt entwickelt, auf dem die Löhne besonders niedrig und die Arbeitsverhältnisse besonders unsicher sind. Solange die Legende sich hält, Minijobs seien eine besondere, nicht reguläre Beschäftigungsform, bleiben sie ein Einfallstor für Rechtsverletzungen und die Diskriminierung von Beschäftigten. Allein durch ihre quantitative Ausweitung haben sie inzwischen prägende Bedeutung im gesamten Erwerbssystem. Das bietet Anlass zu der Sorge, dass soziale Schutzstandards unterhöhlt werden und sich Normen dauerhaft verschieben, die doch eigentlich als unteilbar und selbstverständlich einzuhalten gelten. Dass diese Sorge nicht unbegründet ist, zeigen die mit Jahresende 2012 schon wieder neu ausgebrochenen Diskussionen um die Minijobs. Da ist in der Bundespolitik die Rede davon, die Zone für geringfügige und nicht mehr sozialrechtlich geschützte Beschäftigung noch weiter auszudehnen, das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) spielt im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durch, wie sich die Anhebung der Verdienstgrenze auf 600 Euro auswirken würde, und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln deutet Sozialversicherungsschutz in ›Sozialversicherungsbürokratie‹ um, deren ›Maschinerie‹ nicht für jedes Beschäftigungsverhältnis anlaufen müsse.9 Dahinter scheint eine Arbeitswelt auf, in der das selbstverständliche und starke Band zwischen abhängiger Beschäftigung und Sozialversicherungssystem aufgelöst ist. Um dem Einhalt zu gebieten, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund ein Reformmodell in die Debatte eingebracht, das diese Verbindung 63 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb. 2: Erweitertes Gleitzonenmodell Handlungsbedarfe – was zu tun ist Die notwendige umfassende Reform ist nur durch den Bundesgesetzgeber umsetzbar. Wichtige Impulse dafür können die Bundesländer geben. Für die Beschäftigten im Land Bremen sind aber auch vor Ort Verbesserungen umsetzbar. ❚ Ein gravierendes Problem sind Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in der betrieblichen Praxis, die ohne rechtliche Reaktionen hingenommen werden. Dies führt nicht nur zu Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch von all den Unternehmen, die sich gesetzeskonform verhalten. Wirksame Kontrollen können Missstände aufdecken, Verstöße sanktionierbar machen und den Gleichbehandlungsgrundsatz durchsetzen helfen. Nach dem Vorbild der Mindestlohn-Hotline in Großbritannien könnte eine Hotline für Beschäftigte das niedrigschwellige Melden von Verstößen ermöglichen. ❚ Zur Eindämmung von Minijobs sind in NordrheinWestfalen und auch in Berlin Pilotprojekte gestartet, die geringfügige Beschäftigung gezielt in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umwandeln. Denn Minijobs belasten auch die öffentlichen Kassen, nicht zuletzt, wenn besonders 21 800 niedrig entlohnte Beschäfti21 gung durch Sozialleistun20 750 22 gen subventioniert wird. In Nordrhein-Westfalen 19 700 23 sind mit Unterstützung der Sozialpartner in ausgewähl18 650 24 ten Jobcentern MinijobTeams gebildet worden. Sie 17 600 25 animieren offenbar erfolg16 reich Arbeitgeber, geringfü550 26 gige Beschäftigung zu Teil15 zeit- oder sogar Vollzeitbe500 27 schäftigung auszubauen. In 14 Schwerpunktbranchen mit 450 28 hoher Minijobquote werden 12 sie dabei aktiv von Arbeitge400 30 berverbänden unterstützt. 10 350 Ein solches Vorhaben wäre 32 auch im Land Bremen 8 300 unmittelbar umsetzbar. 34 ❚ Angemessen bezahlte und 6 250 sozial gesicherte Arbeitsplät36 ze sind nicht nur im Interes4 200 38 se von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, son2 150 40 dern auch im öffentlichen Interesse. Das hat die Verab100 0 42 schiedung des Bremischen Mindestlohngesetzes noch 0 10 20 30 40 einmal unterstrichen und Beiträge zur Sozialversicherung in Prozent gleichzeitig übertragbare Arbeitnehmer Arbeitgeber landespolitische Spielräume Quelle: Claudia Weinkopf, Minijobs – politisch aufgezeigt. Wirtschaftsförstrategische Handlungsoptionen; eigene Darstellung derung und öffentliche Mittelzuwendungen des Landes können auch einen aktiven Beitrag zur Begrenzung von Minijobs 10 Der Reformvorschlag leisten. Nehmen Arbeitgeber öffentliche Förderung entspricht dem von in Anspruch, wäre die Anzahl der Minijobs durch Dr. Claudia Weinkopf Quoten für den Anteil geringfügiger Beschäftigung entwickelten Modell; limitierbar. vgl. Weinkopf, Claudia, Arbeitnehmereinkommen in Euro wieder stärkt. Der Bremer Öffentlichkeit ist dieser Vorschlag mit einer Veranstaltung in der Arbeitnehmerkammer vorgestellt worden. Er hebt den Sonderstatus der Steuer- und Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigung auf und führt die Sozialversicherungspflicht ab der ersten Stunde ein. Die Beiträge sind in einer erweiterten Gleitzone progressiv zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verteilt, um Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu entlasten. Sie werden zudem nicht mehr pauschal, sondern personenbezogen abgeführt und sichern wieder individuelle Ansprüche auf Leistungen im Versicherungsfall.10 Tatsächlich ist nach zehn Jahren Minijobs eine umfassende Reform notwendig. Dafür liefert das Modell des DGB einen richtungweisenden und weiterzuverfolgenden Beitrag. Minijobs – politisch strategische Handlungsoptionen, Expertise im Auftrag des Projekts Wert.Arbeit, Berlin 2011. 64 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Vom Job direkt in ›Hartz IV‹ Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung P E E R RO S E N T H A L / FA L K - C O N S T A N T I N WAG N E R Immer weniger Menschen können im Fall von Arbeitslosigkeit beziehungsweise Jobverlust ihren Lebensstandard durch Arbeitslosengeld I sichern. Daran hat sich auch im Jahr 2012 nichts geändert. Eine wachsende Zahl an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat trotz vorheriger Beschäftigung bei Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Andere erhalten zwar Arbeitslosengeld I, bekommen aber so wenig, dass sie parallel noch Arbeitslosengeld II (›Hartz IV‹) beziehen müssen. Absicherung bei Arbeitslosigkeit durch die Arbeitslosenversicherung ist damit vom Regel- zum Ausnahmefall geworden. Ursache hierfür sind politische Maßnahmen, mit denen die Arbeitslosenversicherung als Netz der sozialen Sicherung in den vergangenen Jahren geschwächt wurde. Bundesweit erhielt im September 2012 einer von vier Arbeitslosen Leistungen der Arbeitslosenversicherung nach Sozialgesetzbuch (SGB) III, also das sogenannte Arbeitslosengeld I. Im Land Bremen ist es sogar nur einer von sechs. Im September 2004 hingegen waren es im Bund noch einer von drei Arbeitslosen, im Land Bremen nur etwas weniger (29 Prozent). Diese Entwicklung kann einerseits auf die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I auf zwölf Monate zurückgeführt werden, die im Zuge der ›Hartz‹-Reformen vorgenommen wurde. Damit gehen Menschen, die nach einem Arbeitsplatzverlust längere Zeit arbeitslos bleiben, deutlich schneller in die Grundsicherung des SGB II – ›Hartz IV‹ – über. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass auch die Zugänge in Arbeitslosigkeit aus Arbeit am ersten Arbeitsmarkt häufig direkt in die Grundsicherung führen. Abbildung 1 zeigt, dass davon im Jahr 2012 im Land Bremen 8.273 von 23.182 neu arbeitslos geworde- Abb. 1: Entwicklung der Zugänge aus einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt in Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen im Land Bremen 2007–2012 40 30.000 31,6 35 30 28,9 15.000 8.273 8.059 7.788 20.000 8.303 7.407 33,3 25 14.909 0 15.319 15 16.450 5.000 18.196 20 15.602 10.000 2007 2008 2009 2010 2011 2012 SGB III SGB II Anteil SGB II in Prozent 34,7 15.137 Zugänge in Arbeitslosigkeit 25.000 35,7 7.598 35,2 0 Anteil SGB II Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen; eigene Darstellung. Anmerkung: Daten ohne Auszubildende. Arbeitslosigkeit definiert als Reduzierung der Wochenarbeitsstunden von ≥15 auf <15; ausschließlich geringfügig Beschäftigte finden daher abhängig vom genauem Arbeitsumfang Eingang 65 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung zu erfüllen. nen Personen betroffen waren. Damit ging über ein Drittel der aus regulärer Beschäftigung heraus von Arbeitslosigkeit Betroffenen in Bremen und Bremerhaven trotz geleisteter Beitragszahlungen direkt in den Bezug von Arbeitslosengeld II über. Sie beziehen aufgrund kurzer Beschäftigungsdauer oder geringer Entlohnung keine oder nur geringe Leistungen der Arbeitslosenversicherung, so dass sie unmittelbar bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit auf die Grundsicherung angewiesen sind. Verursacht wird diese Entwicklung durch politische Maßnahmen am Arbeitsmarkt. Mit den ›Hartz‹-Reformen wurde der Zugang zum Arbeitslosengeld I erschwert, indem die Anwartschaftszeit auf zwölf und die Rahmenfrist auf 24 Monate festgelegt wurde. Das bedeutet, dass innerhalb von 24 Monaten mindestens zwölf Monate Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet werden müssen, damit ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I besteht. Gleichzeitig wurden die atypischen Beschäftigungsverhältnisse massiv ausgeweitet. Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung zu erfüllen. So haben befristet Beschäftigte durch mangelnde sofortige Anschlussverträge oft diskontinuierliche, also immer wieder von Arbeitslosigkeit unterbrochene, Erwerbsverläufe. Dadurch kommen sie oft nicht auf die geforderte Anwartschaftszeit innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist, um Arbeitslosengeld I beziehen zu können. Auch unbefristete und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stellt nicht immer sicher, im Fall der Arbeitslosigkeit in das System der Arbeitslosenversicherung (SGB III) übergehen zu können: Bei Teilzeitbeschäftigung ist die Höhe des monatlichen Verdienstes häufig zu gering, um Arbeitslosengeld I in existenzsichernder Höhe zu erzielen. Für diesen Fall muss mit Arbeitslosengeld II auf das Niveau der Grundsicherung aufgestockt werden. Brisant ist, dass diese Parallelbezieherinnen und Parallelbezieher nicht mehr im Rechtskreis SGB III, sondern im SGB II verbleiben – also trotz ihrer erworbenen Ansprüche als Bezieher der Fürsorgeleistung Arbeitslosengeld II und nicht der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I behandelt werden. Damit unterliegen sie – neben der Bedürftigkeitsprüfung und der Einbeziehung der weiteren Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft – auch den ›restriktiveren, gegenüber der Qualität von Beschäftigung gleichgültigen‹ Zumutbarkeitskriterien des SGB II. Gleich doppelt betroffen sind Beschäftigte in der Leiharbeit. Sie erhalten durchschnittlich deutlich geringere Entgelte als die Stammbeschäftigten und erwerben dadurch nur geringe Versicherungsansprüche. Gleichzeitig sind sie zu 60 Prozent weniger als drei Monate lang beschäftigt, so dass es für viele in weite Ferne rückt, die Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen: Jede/r zweite Leiharbeitnehmer/in stürzt bei Jobverlust direkt in ›Hartz IV‹. Die sogenannten ›Minijobs‹ schließlich unterliegen überhaupt keiner Pflicht zur Beitragsleistung in der Arbeitslosenversicherung und könnten durch den geringen Stundenumfang und den hohen Anteil an Niedriglöhnen ohnehin kaum existenzsichernde Ansprüche erzeugen. 66 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die Arbeitslosenversicherung ist durch die genannten Schritte – Erschwerung des Zugangs, Kürzung der Leistungsdauer und Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse – deutlich weniger als früher in der Lage, Menschen im Fall von Arbeitslosigkeit abzusichern. Stattdessen ist die Grundsicherung nach SGB II inzwischen der Regelfall der Unterstützung für Arbeitslose. Für das Land Bremen gilt dies in besonderem Maße: hohe Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch besonders viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse tragen dazu bei, dass sowohl der Anteil der Arbeitslosen im Rechtskreis SGB II als auch der Anteil der Zugänge aus Beschäftigung in Arbeitslosigkeit aus dem ersten Arbeitsmarkt direkt in ›Hartz IV‹ im Bundesvergleich überdurchschnittlich hoch sind. Diese Probleme sind durch Maßnahmen auf Bundesebene jedoch lösbar, indem die Arbeitslosenversicherung als soziales Sicherungsnetz wieder gestärkt wird. Konkret ist die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I wieder auf 24 Monate zu erhöhen, um die Absicherung bei Arbeitslosigkeit verlässlicher zu gestalten. Darüber hinaus ist die Rahmenfrist auf drei Jahre zu erhöhen und die Anwartschaftszeit 67 auf sechs Monate zu verringern. Auf diese Weise können Menschen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wieder verstärkt von den Leistungen der Arbeitslosenversicherung profitieren. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit würden von solch einer Neuregelung 200.000 bis 250.000 Menschen pro Jahr profitieren. Gleichzeitig wird die Legitimation der Arbeitslosenversicherung gestärkt: Wer einbezahlt, erhält häufiger auch Leistungen. Geringe und nur kurze Bezüge aus der Arbeitslosenversicherung werden sich dadurch aber nicht verhindern lassen. Um die Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung in dieser Hinsicht zu stärken, müssen atypische Beschäftigungsverhältnisse zurückgedrängt und der politische Fokus auf das Normalarbeitsverhältnis gelegt werden. 68 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Menschen mit Behinderungen auf dem (Bremer) Arbeitsmarkt BARBARA REUHL 1. Vgl. Bundesagentur für Arbeit. 2012. Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Der Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen. März 2012 (aktualisiert Juni 2012). 2. Vgl. Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10.12.2008. 3. Der GdB bezieht sich auf die Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen, im Gegensatz zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Renten- und Unfallversicherungsrecht, um die es im Beitrag über das Erwerbsminderungsrenten-Geschehen im Land Bremen auf Seite 95 ff. geht. ¢ In Deutschland leben derzeit fast neun Millionen Menschen mit Behinderung, davon waren im Jahr 2011 etwa 3,2 Millionen im Erwerbsalter. Sie sind mit fast 15 Prozent mehr als doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen als die Allgemeinheit (rund 6,5 Prozent).1 ›Behinderung‹ wird oftmals gleichgesetzt mit reduzierter Leistungsfähigkeit. Jemand, der eine Gehhilfe nutzt, sehbehindert oder schwerhörig ist, vielleicht auch eine Werkstatt für behinderte Menschen wie der Martinshof in Bremen sind häufige Assoziationen. Doch viele Behinderungen sind erst auf den zweiten Blick oder von Außenstehenden gar nicht wahrnehmbar und ob die Betroffenen in der Lage sind, die im Erwerbsleben geforderten Leistungen zu erbringen, hängt nicht zwangsläufig mit ihrer Beeinträchtigung zusammen. Wer gilt als schwerbehindert? Die amtliche Feststellung einer Schwerbehinderung erfolgt auf Antrag bei der am Wohnort zuständigen Behörde. Diese stellt nach bundesweit einheitlichen Kriterien2 fest, in welchem Maß sich körperliche, geistige, seelische und soziale Auswirkungen auf alle Lebensbereiche aus der Funktionsbeeinträchtigung ergeben. Der Grad der Behinderung (GdB) wird in Zehnerschritten von 20 bis 100 festgesetzt.3 Wer einen GdB von 50 oder darüber attestiert bekommt, gilt als schwerbehindert. Mit einem GdB von 30 bis 50 ist es möglich, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt zu werden (§ 2 SGB IX). Wer als schwerbehindert anerkannt oder gleichgestellt ist, hat nach Kapitel 2 SGB IX Anspruch auf Ausgleich von Nachteilen. Dazu zählen steuerliche Erleichterungen, die vergünstigte Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, der besondere Kündigungsschutz sowie Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, wie die Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen und/oder einer der Behinderung angepassten Ausstattung des Arbeitsplatzes. Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen mit Behinderung in Deutschland leben, gibt es nicht, nur über die Zahl der Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung und diesen Gleichgestellten. Ende 2011 gab es in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts rund 7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen (knapp 9 Prozent bzw. jede/r Zwölfte). Im Land Bremen leben aktuell mehr als 58.000 schwerbehinderte Menschen (10,5 Prozent bzw. jede/r Neunte der gesamten Bevölkerung). Nur gut vier Prozent der Behinderungen sind angeboren, wie beispielsweise Schädigungen von Gliedmaßen durch das in den 1960erJahren vertriebene Schlafmittel Contergan, Kleinwuchs oder Autismus. Die meisten schwerbehinderten Menschen im Land Bremen haben diesen Status infolge einer chronischen Erkrankung oder durch Unfälle im Lauf des Lebens erworben. Dazu zählen beispielsweise die Einschränkung der Beweglichkeit infolge eines Schlaganfalls oder durch Rheuma, innere Erkrankungen wie insulinpflichtiger Diabetes, eine Suchtkrankheit und andere psychische Erkrankungen. Zwei Drittel der Behinderungen entfallen auf körperliche Ursachen, in gut 30 Prozent der Fälle liegt eine seelische oder geistige Behinderung vor oder die Behinderungsart ist nicht ausgewiesen. ❚ Auch die Arbeitsbedingungen können chronische Erkrankungen verursachen. So können schweres Heben und Tragen, die Arbeit mit gefährlichen Stoffen oder unter Lärm, Stress und psychischen Belastungen dauerhaft den Rücken, die Haut, das Gehör oder die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Etwa 43 Prozent der schwerbehinderten Menschen im Land Bremen waren 2011 im Erwerbsalter. Wer sich nicht ›outet‹, wird nicht in der Statistik der Agentur für Arbeit erfasst, denn viele Behinderungen sind nicht sichtbar. 69 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Abb.1: Altersstruktur schwerbehinderter Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland 2009, in Prozent 70 54 62 60 50 33 40 29 30 17 20 10 5 Zahlreiche schwerbehinderte Menschen melden sich jedoch nicht arbeitslos, weil sie ihre Chancen auf Ausbildung oder Beschäftigung gering einschätzen. Sie gehen ebenfalls nicht in die Statistik ein. Die Zahl der von Behinderung Betroffenen nimmt mit dem Lebensalter zu, wie Abbildung 1 zeigt. Im Jahr 2011 entfielen auf die Gruppe der unter 25-Jährigen vier Prozent der Schwerbehinderungen. Von den gut 3,2 Millionen schwerbehinderten Menschen im Erwerbsalter waren nach Hochrechnungen der Bundesagentur für Arbeit nahezu zwei Drittel zwischen 55 und 65 Jahren alt. Nach Schätzungen wird die Zahl der Menschen wachsen, die in der zweiten Hälfte des Erwerbslebens von Behinderungen betroffen sind, denn die geburtenstarken Jahrgänge altern. Zudem bewirken das erhöhte Renteneintrittsalter und auslaufende Altersteilzeit- und Vorruhestandsregelungen, dass mehr gesundheitlich angeschlagene und von Behinderung bedrohte Beschäftigte länger am Arbeitsmarkt verbleiben – allerdings tragen sie ein höheres Risiko, erwerbslos oder von Hartz IV betroffen zu sein. In der Gruppe der Jüngeren sind Menschen mit Behinderungen ebenfalls im Nachteil gegenüber nicht Behinderten. Insbesondere wer keinen Schulabschluss hat oder von der Förderschule kommt, hat es schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden und eine nachhaltige Qualifikation mit entsprechenden Erwerbsmöglichkeiten zu erwerben. 0 15 bis unter 25 Jahre 25 bis unter 50 Jahre 50 bis unter 65 Jahre Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schwerbehinderte Menschen Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2012. Auch ein Blick auf die Geschlechterverteilung ist interessant: Etwas mehr als 51 Prozent der Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung sind männlich. Nach Daten des Mikrozensus 2005 waren in Deutschland 9,7 Prozent der männlichen, aber 7,4 Prozent der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen 18 bis 64 Jahren schwerbehindert. Beide Geschlechter sind stärker von Erwerbslosigkeit betroffen, wenn eine Behinderung vorliegt: Die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behinderungen liegt bei 23 Prozent, bei Frauen ohne Behinderungen bei 53 Prozent. Abb. 2: Besetzung von Pflichtarbeitsplätzen, Arbeitgeber nach Ausgleichsabgabe im Land Bremen, Berichtsjahr 2010 private Arbeitgeber mit mehr als 20 Beschäftigten gesamt davon Arbeitgeber mit beschäftigten schwerbehinderten Menschen ohne beschäftigte schwerbehinderte Menschen ohne Ausgleichsabgabe mit 105 Euro Ausgleichsabgabe 574 1.379 968 411 mit 180 Euro Ausgleichsabgabe mit 260 Euro Ausgleichsabgabe 179 162 464 gesamt 915 Quelle: Bundesagentur für Arbeit 70 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Schwerbehinderte Männer sind zu 30 Prozent erwerbstätig, Männer ohne Behinderungen zu 71 Prozent.4 Die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich allerdings auch hier. Laut § 2 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) sind die besonderen Belange von Frauen mit Behinderungen deshalb bei der Gleichstellung der Geschlechter einzubeziehen. Kein Ablass: die Ausgleichsabgabe 4 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, September 2011. Um Nachteile auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, sind Betriebe mit mehr als 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens fünf Prozent davon für Schwerbehinderte vorzuhalten. Andernfalls ist eine Ausgleichsabgabe an das zuständige Integrationsamt zu entrichten – das enthebt den Arbeitgeber jedoch nicht von der Beschäftigungspflicht! Die Ausgleichsabgabe soll zugleich einen Anreiz setzen, damit die Beschäftigungspflicht erfüllt wird. Sätze für das Jahr 2013 belaufen sich jeweils monatlich auf 115 bis 290 Euro, je nachdem ob und inwieweit die Beschäftigungsquote erfüllt wird. Aus der Ausgleichsabgabe finanziert das Integrationsamt technische Anpassungsmaßnahmen am Arbeitsplatz, Qualifizierungsmaßnahmen oder fördert auch die Einstellung von schwerbehinderten Beschäftigten durch Zuschüsse. Trotz einer Vielzahl von Beratungs- und Förderangeboten sowie Projekten, die das Integrationsamt durchführt, erfüllt ein Großteil der Betriebe die Zielzahlen für die Beschäftigung nicht. Von 7.230 Pflichtarbeitsplätzen für Schwerbehinderte in der Privatwirtschaft waren nur 5.635 besetzt. Mit einer durchschnittlichen Quote von 3,7 Prozent lagen die privatwirtschaftlichen Betriebe im Land Bremen deutlich unter den vorgeschriebenen fünf Prozent. Demzufolge zahlten von den 1.379 privaten Arbeitgebern mit mehr als 20 Arbeitsplätzen 915 Betriebe eine Ausgleichsabgabe, 71 Wo sind die Barrieren? wie Abbildung 2 zeigt. In 411 Betrieben war niemand mit einer Schwerbehinderung beschäftigt, die Quote war nur in 464 Unternehmen voll erfüllt, die damit von der Ausgleichsabgabe befreit waren. Im bremischen öffentlichen Dienst fällt die Bilanz besser aus: Im Dezember 2011 waren laut Bericht der Senatorin für Finanzen 1.712 Arbeitsplätze mit schwerbehinderten oder gleichgestellten Beschäftigten beziehungsweise Auszubildenden besetzt: 979 mit Frauen, 733 mit Männern. Berechnet auf den Jahresdurchschnitt von 24.809 Arbeitsplätzen im Jahr 2011 waren dies 6,9 Prozent der Arbeitsplätze, so der Bericht der Senatorin für Finanzen für das Jahr 2011. Der Anteil der schwerbehinderten Beschäftigten bei den öffentlichen Arbeitgebern ist steigend, infolge von Neueinstellungen, aber auch weil bei bereits Beschäftigten eine Schwerbehinderung attestiert wurde. Verschiedene Faktoren können die Einstellung oder Weiterbeschäftigung von Menschen mit Behinderungen erschweren. So haben viele der Arbeitgeber, die keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen beziehungsweise Vorbehalte haben, bisher noch keine Erfahrung mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen gemacht, wie in einer Studie des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW) im Auftrag des Bremer Versorgungsamts festgestellt wurde.5 Doch neben den Barrieren in den Köpfen gibt es auch handfeste materielle Hemmnisse. Es geht darum, Beschäftigte in Arbeit zu halten, die im Lauf der Erwerbstätigkeit eine Schwerbehinderung erworben haben, und es geht um die Einstellung von Bewerberinnen und Bewerbern mit Behinderung. Erfahrene Kräfte können für die Unternehmen gewonnen werden, oder ihre Kompetenz bleibt erhalten, wenn sie im Lauf des Lebens eine Behinderung 5 Vgl. Fietz/Gebauer/ Hammer: Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Einstellungsgründe und Einstellungshemmnisse – Akzeptanz der Instrumente zur Integration. Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung in Unternehmen des Landes Bremen, Januar 2011. 72 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 erworben haben. Je mehr Fortschritt in dieser Hinsicht erzielt wird, desto weniger Anstrengungen zur Integration sind für alle Beteiligten erforderlich. So könnte beispielsweise ein Arbeitgeber in die Situation kommen, eine für die betrieblichen Bedarfe bestens qualifizierte junge Ingenieurin nur deshalb nicht einstellen zu können, weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist, der Betrieb ihr aber keinen rollstuhlgerechten Zugang zum Gebäude und zu der Abteilung, wo sie eingesetzt werden würde, bieten kann. Der Bewerberin wird eine berufliche Chance versperrt, es sei denn, es würde extra für sie umgebaut. Umbauen und umorganisieren ist in den Betrieben gang und gäbe – die gesundheitlichen Belange der Beschäftigten, insbesondere derjenigen, die durch bauliche Gegebenheiten benachteiligt sind, müssen dabei einbezogen werden. In vielen Fällen ist der Aufwand für barrierefreie Gestaltung weniger groß, als es vielleicht erscheint, wenn sie denn frühzeitig ›mitgedacht‹ wird. Eine kleine, aber äußerst wirksame Gestaltungslösung beispielsweise dürfte den meisten, die am PC arbeiten und nicht behindert sind, noch nicht aufgefallen sein: Bei den Buchstaben F und J sowie auf der Ziffer fünf auf dem Nummernblock aller Tastaturen ist jeweils eine kleine tastbare Markierung angebracht. Das reicht aus, um eine wichtige Barriere für blinde und stark sehbehinderte Menschen abzubauen: Sie können die normale Tastatur nutzen, indem sie ›blindschreiben‹. Barrieren abzubauen erfordert ein Umdenken, es verursacht aber auch Umstände und Kosten im Unternehmen. Besser ist es, aufwendige und teure Bau- und Nachrüstungsmaßnahmen von vornherein zu vermeiden: Das macht es selbstverständlicher und erleichtert es dem Arbeitgeber auch praktisch, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Wer seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, verfügt über eine wesentliche Voraussetzung dafür, gleichberechtigt zu sein und ein selbst- bestimmtes Leben führen zu können, statt von anderen Menschen und von Sozialleistungen abhängig zu sein. Arbeitsschutz – auch ein Feld der Inklusion Barrierefreiheit ist im öffentlichen Raum und in öffentlichen Gebäuden bereits weiter fortgeschritten und fast schon Normalität geworden: Geh- und Radwege sind mit Steinen in unterschiedlichen Farben oder Farbtönen kontrastreich gestaltet, Gehwegkanten abgesenkt, Türen automatisch zu öffnen, um nur einige Beispiele zu nennen. In die Arbeitswelt hält der Gedanke der Barrierefreiheit erst langsam Einzug. So erhielt die Bundesregierung bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz/BGG) im Jahr 2002 den Auftrag, das Arbeitsstättenrecht dahingehend zu ergänzen, dass die besonderen Belange von behinderten Menschen hinsichtlich der ›behindertengerechten Gestaltung‹ von Arbeitsstätten berücksichtigt werden. Deshalb wurde bei der Novellierung der Arbeitsstättenverordnung im Jahr 2004 unter dem Punkt ›Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten‹ auch die barrierefreie Gestaltung einbezogen. Auch in den Betrieben überfällig: barrierefreie Gestaltung Wenn im Betrieb Beschäftigte mit Behinderung arbeiten, ist der Arbeitgeber zur barrierefreien Gestaltung verpflichtet, damit ›bauliche und sonstige Anlagen, Transport- und Arbeitsmittel, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische, visuelle und taktile Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen für Beschäftigte mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind‹, so die Begriffsbestimmung aus der Arbeitsstättenverordnung. 73 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK Sie bezieht sich auf das Verständnis des Begriffes ›Behinderung‹ aus dem BGG und meint somit alle Beschäftigten mit einer Behinderung, nicht nur diejenigen mit einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichgestellte: ›Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist‹, definiert das Behindertengleichstellungsgesetz. Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) ergänzt die Vorgaben aus dem Arbeitsschutzgesetz. Sie enthält Mindestanforderungen an die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten ›beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten‹, für die der Arbeitgeber verantwortlich ist. Das Arbeitsschutzgesetz verlangt, dass er die erforderlichen Schutzmaßnahmen anhand der für seine Beschäftigten mit der Arbeit verbundenen Gefährdungen ermittelt. Auch müssen die besonderen Gefahren für Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden, wie die Beschäftigten, die von einer Behinderung betroffen sind. Die Arbeitsstättenregel ›Barrierefreie Gestaltung‹ Die Regel besteht aus einem allgemeinen Vorspann und einem Anhang, der die Anforderungen aus den übrigen Fachregeln, zum Beispiel für Fluchtwege und Notausgänge oder für Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung um die Kriterien für barrierefreie Gestaltung ergänzt. Dabei orientiert sie sich am Stand der Technik der barrierefreien Gestaltung, beispielsweise an DIN-Normen. Welche Bereiche des Betriebs für eine barrierefreie Gestaltung berücksichtigt werden müssen, muss der Arbeitgeber durch die Gefährdungsbeurteilung ermitteln. Wird in den in der Regel beschriebenen Fällen in der Weise verfahren wie vorgeschlagen, kann der Arbeitgeber davon ausgehen, dass er die Vorgaben erfüllt. Dabei kann er sich durch seine Fachkraft für Arbeitssicherheit, den Betriebsarzt, von der Berufsgenossenschaft oder der Gewerbeaufsicht beraten lassen. Auch das Integrationsamt oder der Integrationsfachdienst kommen für fachkundige Beratung infrage.6 Ein Beispiel veranschaulicht die ›Denkweise‹ der Regel: ❚ Wesentliches Prinzip einer barrierefreien Gestaltung ist das Zwei-Sinne-Prinzip, das es ermöglicht, Informationen alternativ wahrzunehmen: Wenn einer der drei Sinne, beispielsweise das Hören ausfällt, muss die Information über einen der beiden anderen Sinne aufgenommen werden können. So kann ein blinder oder stark sehbehinderter Beschäftigter beispielsweise den Rettungsplan ›lesen‹, wenn die Informationen auch fühlbar, zum Beispiel als Relief gestaltet, dargestellt sind. Informationsund Leitsysteme ermöglichen es ihm, den Fluchtweg zu finden. Neubauten oder umfangreichere Umbaumaßnahmen werden nicht wesentlich teurer, wenn die Barrierefreiheit schon ab der Planung einbezogen wird. Teure Nachbesserungen können entfallen. Wenn es die individuellen Bedarfe schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Beschäftigter erfordern, sind zusätzlich zur barrierefreien Gestaltung auch behindertengerechte Anpassungsmaßnahmen am einzelnen Arbeitsplatz möglich. Sie können vom Integrationsamt bezuschusst werden. Eine barrierefreie Gestaltung macht nicht nur den direkt Betroffenen, sondern auch anderen das Leben leichter – breitere Türen, Rampen oder gut wahrnehmbare Sicherheitszeichen nutzen auch der Hausmeisterin, der Reinigungskraft oder dem Besucher, der mit Kinderwagen in eine Dienststelle kommt. 6 Zahlreiche anschauliche Beispiele bietet die online verfügbare Handlungshilfe ›Barrierefreie Arbeitsstätten planen und gestalten‹ der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG): www.vbg.de/barriere/ 74 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Einige der Vorgaben aus der Regel zur barrierefreien Gestaltung wirken jedoch einschränkend auf die Chancen eines barrierefreien Zugangs zu Arbeitsstätten, im wörtlichen und im übertragenen Sinn: ❚ Nur, wenn im Betrieb Beschäftigte mit Behinderungen arbeiten, ist der Arbeitgeber zu einer barrierefreien Gestaltung verpflichtet. ❚ Es sind lediglich die Bereiche barrierefrei zu gestalten, zu denen die jeweiligen Beschäftigten mit Behinderungen Zugang haben müssen, wie der Zugang zum jeweiligen Arbeitsplatz, zur Kantine, zum Betriebsrat und das WC. ❚ Und wenn in bestehenden Gebäuden ›ein unverhältnismäßiger Aufwand‹ betrieben werden müsste, um die Barrierefreiheit zu erreichen, kann auch auf einen geringeren Arbeitsschutz- beziehungsweise Gestaltungsstandard zurückgegriffen werden. Höchste Zeit für Inklusion: Handlungsbedarfe Inklusion ist nicht ›nice to have‹, sondern ein Menschenrecht. Menschen mit Behinderungen sind Mann oder Frau, alt oder jung, gut oder weniger gut qualifiziert und motiviert – kurz, sie unterscheiden sich eigentlich nicht so sehr von den Menschen, die keine Behinderung haben. Die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen hängen häufig mehr von ihrer Bildung und Qualifikation und von ihrem sozialen Rückhalt ab, als von den gesundheitlichen Einschränkungen. Beste Beweise dafür geben diejenigen, die mit einer Behinderung leben und in Schlüsselstellungen des öffentlichen Lebens erfolgreich sind, als Politikerin, als Wissenschaftler, als Künstler. Notwendig sind technische und materielle Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt, die Menschen mit Behinderungen nicht länger behindern. Allerdings sitzt ein großer Teil der Hemmnisse in den Köpfen: Genauso wie im Straßenbild der Rollator inzwischen alltäglich geworden ist, muss es auch selbstverständlich werden, dass Menschen mit Behinderungen erwerbstätig sind. Um Inklusion in der Erwerbsarbeit zu verwirklichen, muss und kann an verschiedenen Stellen angesetzt werden: ❚ Aus Kindern werden Leute: Es kommt darauf an, Armut und Ausgrenzung schon ab dem Kinderund Jugendalter vorzubeugen. Inklusion im Erziehungs- und im Bildungsbereich trägt zur Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit und dazu bei, dass Jugendliche gute Bedingungen für den Start ins Erwerbsleben haben. Allerdings muss Inklusion Rahmenbedingungen vorfinden, die sie auch tatsächlich ermöglichen. Dies so konkret wie möglich zu definieren, muss Teil des gerade entstehenden Aktionsplans zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention im Land Bremen werden. ❚ Rückenkurse und Gutscheine fürs Fitnessstudio reichen nicht: Arbeitsschutz, die Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und auch das Betriebliche Eingliederungsmanagement gehören zu den Pflichten des Arbeitgebers und machen ein systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement aus. Hier sind auch der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung gefragt. ❚ Der Topf der Ausgleichsabgabe ist im Land Bremen gut gefüllt und er wird trotz einer schier unübersehbaren Fülle von Maßnahmen, die das Integrationsamt fördert, nicht leerer, sondern eher noch voller – weil zahlreiche Betriebe keine oder zu wenige schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Arbeitgeber und Sozialpartner sind gefragt, Menschen mit Behinderungen den Weg in den Betrieb zu ebnen und/oder mindestens die Mittel aus dem Ausgleichstopf für entsprechende Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. ❚ Die Arbeitsstättenverordnung und die Arbeitsstättenregel ›Barrierefreie Gestaltung‹ enthalten wichtige erste Schritte. Die Vorschriften sind technisch auf der Höhe der Zeit, sie sind aber noch nicht ›stark‹ genug für die Verwirklichung von Barrierefreiheit. So gilt sie bislang nur für Betriebe, die bereits Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Betriebe, die dies nicht tun, werden aus der Verantwortung entlassen. Das Land Bremen muss sich auf Bundesebene dafür einsetzen, dass Barrierefreiheit Ziel aller Betriebe ist. 75 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK EXKURS ¢ Jetzt auf Dauer: Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene BARBARA REUHL Auf Beschluss des Bremer Senats wird das Beratungsangebot für von Berufskrankheiten Betroffene in der Geschäftsstelle Bremen-Nord der Arbeitnehmerkammer fortgesetzt.1 Nach der Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) werden im Land Bremen seit 2007 jährlich durchschnittlich etwa 1.060 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit (BK-Anzeigen) gestellt. Im Jahr 2011 wurde in 372 Fällen eine Berufskrankheit neu anerkannt, in 184 Fällen wurde eine Berufskrankheiten-Rente (BK-Rente) erstmals festgesetzt. In Bremen wird – betrachtet man die Zahl der jährlichen Anzeigen – ein größerer Teil der angezeigten BK-Fälle anerkannt als im Bund. Auch BK-Renten werden in mehr Fällen gezahlt und es kommt zu mehr Todesfällen infolge einer Berufserkrankung. Ein Grund dafür ist, dass in Bremen nach wie vor sehr viele Berufserkrankungen im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen in der Werftindustrie und im Hafenumschlag auftreten. Bei den im Jahr 2011 angezeigten 1.066 Berufskrankheiten in Bremen geht es in mehr als einem Drittel der Fälle um Asbestose (216 Fälle), Lungenoder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbest sowie Lungen- oder Rippenfellkrebs (Mesotheliom, 59 Fälle). In der gesamten Bundesrepublik machen diese Erkrankungen lediglich 12 Prozent der BK-Anzeigen aus. Beim Berufskrankheiten-Verfahren (BKVerfahren) handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren mit festgelegtem Ablauf. Es kommt nur in Gang, wenn jemand den Verdacht hegt, bei einer Erkrankung könnte es sich um eine Berufskrankheit handeln und dies bei der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) anzeigt.2 Die BG ist dann verpflichtet zu ermitteln, ob bei der beruflichen Tätigkeit die in der BK-Liste beschriebene, genau definierte schädigende Einwirkung (= Exposition) vorgelegen hat. 1 Das Beratungsangebot wird auf den Erfahrungen und Ergebnissen aus dem ¢ Trägerschaft der Arbeitnehmerkammer Bremen durchgeführt wurde. 2013 auslaufenden Pro- 2 Eine Berufskrankheitenan- jekt ›Wissenstransfer zur zeige kann jeder stellen: präventiven Unterstützung der oder die Betroffene von Betrieben zur Verhin- selbst, Angehörige, der derung von Berufskrank- Betriebsrat, die Kranken- heiten‹ aufbauen, das – kasse oder die Renten- gefördert mit Mitteln aus versicherung. Der dem Europäischen Struk- Arbeitgeber und Ärzte turfonds (EFRE) – von Mai müssen es tun. 2011 bis Juni 2013 in Warum brauchen die Betroffenen Unterstützung? Die Berufskrankheiten sind ein Sonderfall der arbeitsbedingten Erkrankungen. Nur diejenigen Krankheiten, die in der Berufskrankheiten-Liste (BK-Liste) aufgeführt sind, können unter eng definierten Kriterien als Berufskrankheit anerkannt werden. Berufskrankheiten fallen nicht wie andere Erkrankungen in die Zuständigkeit der Krankenversicherung. Die durch eine Berufskrankheit entstehenden Kosten werden wie beim Arbeitsunfall aus der gesetzlichen Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften (BG), getragen. Dieser Zweig der Sozialversicherung wird ausschließlich aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert, denn die gesetzliche Unfallversicherung übernimmt die Haftpflicht des Arbeitgebers, wenn Beschäftigte einen Schaden erleiden. Die BG zahlt die infolge von Unfällen oder Berufskrankheiten anfallenden Behandlungskosten, gesundheitliche und berufliche Rehabilitationsleistungen sowie Renten zur Kompensation von Erwerbsminderung. Das Berufskrankheiten-Modell baut auf dem Verständnis des Unfallversicherungsrechts auf: Eine (eindeutige) Ursache erzeugt eine (eindeutige) Wirkung. Der Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis und dem Unfallschaden leuchtet ein, denn sie liegen in der Regel zeitlich nahe beisammen. Bis sich die Symptome einer Berufserkrankung bemerkbar machen, vergehen aber meist mehrere Jahre, bei Asbest- und Krebserkrankungen oft Jahrzehnte. Ein Ursache-Wirkungszusammenhang ist dann nur noch schwer abzuklären – beweisen müssen ihn die Betroffenen. 76 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 1: Land Bremen: angezeigte, anerkannte und erstmals entschädigte Berufskrankheiten 2011 75 Lendenwirbelsäule 7 3 120 Lärmschädigung 50 3 216 Asbestose 165 65 111 Lungen-/Kehlkopfkrebs, Asbest 44 44 314 Hautkrankheiten 8 2 100 0 angezeigte Berufskrankheiten 200 300 anerkannte Berufskrankheiten 400 BK-Rente Quelle: DGUV Statistik 2013 Ist das der Fall, wird der Zusammenhang zwischen Einwirkung und Krankheit durch ein medizinisches Gutachten abgeklärt. Bis eine Berufskrankheit anerkannt wird, gibt es viele Hürden, wie die Erfahrungen aus mehr als 180 Beratungsfällen im Projekt ›Wissenstransfer Berufskrankheiten‹ zeigen. In vielen Fällen stehen die Chancen auf Anerkennung einer Berufskrankheit schlecht, wenn beispielsweise die mit der beruflichen Tätigkeit verbundenen Belastungsfaktoren nicht qualifiziert beschrieben oder im Betrieb keine Unterlagen über Arbeitsstoffe mehr vorhanden sind. Viele der Ratsuchenden können ihre berufliche Biografie auch deshalb nicht vollständig belegen, weil sie als Leiharbeiter oder als Beschäftigter einer Fremdfirma in verschiedenen Unternehmen eingesetzt waren, oder weil Betriebe nicht mehr existieren. Das trifft Abb. 2: Beweisschritte im Berufskrankheitenverfahren versicherte Tätigkeit e schädigende Einwirkung Zusammenhangsbeweis e Erkrankung Zusammenhangsgutachten beispielsweise auf den Hafenumschlag zu. Der Bremer Überseehafen war bis in die 1970erJahre Deutschlands Hauptumschlagsplatz für Asbest. Um jedoch im konkreten Fall eine Asbestexposition zu beweisen, braucht es oft detektivischen Spürsinn. Ein wesentlicher Teil der Beratung besteht darin, die Ratsuchenden beim Nachweis des beruflichen Zusammenhangs zu unterstützen. Einige Berufskrankheiten werden nur dann anerkannt, ›wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können‹, so § 9 Siebtes Sozialgesetzbuch. Diese einschränkende Bedingung gilt für neun Berufskrankheiten, die mehr als die Hälfte aller BK-Anzeigen, darunter Haut-, Sehnenscheiden- und Wirbelsäulenerkrankungen ausmachen. Forderungen/ Perspektiven Vor allem die Betroffenen, aber auch die Sozialversicherungssysteme und vor allem die Arbeitgeber haben Vorteile, wenn Ansprüche der Versicherten zügiger abgeklärt und vor allem die Aktivitäten zur Prävention von 77 WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK ¢ Eine BK-R ente ist nicht mit einer Altersrente gleichzusetzen. Entschädigt wird der Grad, in dem die ›Minderung der Erwerbsfähigkeit‹ (MdE), die ausdrückt, inwiefern durch die Berufserkrankung der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigt ist. Durch eine abstrakte Schadensberechnung auf Grundlage des Jahresarbeitsverdienstes (JAV )3, maßgeblich das Arbeitseinkommen im Jahr, bevor die Berufserkrankung aufgetreten ist, wird die Rente festgesetzt. Der Zahlbetrag errechnet sich als Prozentsatz, analog dem Prozentsatz der MdE. Gezahlt wird erst ab einer MdE von 20 Prozent – dieser Wert wird jedoch meist infolge einer Berufserkrankung nicht erreicht – bis maximal zwei Drittel des JAV , bei einer MdE von 100 Prozent. Die BK-Rente ist ein abstrakt berechneter Zahlbetrag und wird zusätzlich zum Gehalt gezahlt, auf Alters- oder Erwerbsminderungsrente aber teilweise und auf Hartz-IV-Leistungen voll angerechnet. Frauen sind häufig nicht direkt, sondern als Angehörige oder Hinterbliebene von einer Berufskrankheit betroffen. Auch Witwen und Witwer haben Anspruch auf Rente, die jedoch auf Erwerbseinkommen, Altersrenten und Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird. Berufskrankheiten verbessert werden. Die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten kann erhalten und Kosten für Behandlung und Rehabilitation können eingespart werden, Lohnnebenkosten, wie die Beiträge für die Krankenkassen und für die gesetzliche Unfallversicherung gesenkt werden. Es bleibt zu hoffen, dass alle beteiligten Stellen dazu beitragen, künftig die mit dem Projekt aufgebaute Vernetzung zu pflegen und weiterzuentwickeln. Handlungsbedarf gibt es auf verschiedenen Ebenen: ❚ In den Betrieben: Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung gerecht werden und durch systematischen Arbeitsschutz und eine bessere betriebliche Prävention Berufskrankheiten verhüten und die Gesundheitsrisiken bei der Arbeit dokumentieren. ❚ Bei Institutionen und Experten: Die Berufsgenossenschaften müssen ihrem gesetzlichen Auftrag, Berufskrankheiten mit allen geeigneten Mitteln zu verhüten, nachkommen – durch Beratung und Kontrolle in den Betrieben. Die Abklärung einer Berufskrankheit muss von den zuständigen Stellen zwar zügig, aber vor allem qualitätsgesichert, also sorgfältig und auf Grundlage des Standes der Wissenschaft erfolgen. Ärzte sollten systematischer als dies bisher der Fall ist, bei der Diagnose und Behandlung die Möglichkeit einer Berufskrankheit berücksichtigen und im Verdachts- oder Zweifelsfall eine BK-Anzeige stellen. ❚ Für die Politik: Die staatliche Gewerbeaufsicht und insbesondere der Landesgewerbearzt haben wichtige Funktionen für die Prävention von Berufskrankheiten und als unabhängige Experten im BK-Verfahren. Deshalb muss auf Landesebene dafür gesorgt werden, dass die personelle Ausstattung auch künftig zumindest erhalten bleibt. Weil die Beweislast die Betroffenen oft in Beweisnot bringt, hat das Land Bremen eine Initiative zur Änderung der rechtlichen Vorgaben vorbereitet, um die Beweislast umzukehren oder mindestens zu erleichtern. Sie stand zunächst in der Arbeits- und Sozialministerkonferenz auf der Tagesordnung. Die Chancen auf Durchsetzung sind auch aufgrund der veränderten Sitzverteilung im Bundesrat gestiegen und deshalb ist an der Zeit, die Initiative auch auf dieser Ebene voranzubringen. Auch sollte geprüft werden, ob das einschränkende Kriterium der Tätigkeitsaufgabe bei der weiteren Verfolgung der Initiative zur Erleichterung der Beweislast einbezogen werden kann. 3 Der JAV ist nach oben und nach unten begrenzt auf 32.340 Euro bzw. höchst unterschiedlich 62.400 bis 84.000 Euro, für Ostdeutschland gelten niedrigere Beträge. 78 2 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Gesundheit, Rente, Bildung und Integration 79 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Zur Situation in der Pflege Zwischen Fachkräftebedarf und Pflegenotstand CAROL A BURY Der ›demografische Wandel‹ wird häufig als Grund für einen steigenden Bedarf an Pflegekräften angeführt. Verschiedene Prognosen gehen bundesweit von mehreren Hunderttausend fehlenden Pflegekräften aus – umgerechnet in Vollzeitstellen und bezogen auf das Jahr 2030.1 Zwischen Panikmache und Beschwichtigung liegt derzeit – je nach Interessenlage – die Haltung in Bezug auf die Pflege und die Versorgung Pflegebedürftiger und Kranker. Das Schlagwort ›Pflegenotstand‹ beschrieb in den 1960er- und 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland den akuten Mangel an Personal vor allem in den Krankenhäusern. Heute wird es sowohl auf die stationäre Krankenpflege wie auf die Altenpflege angewendet, um die durch Unterbesetzung und Minutenpflege angespannte Situation der Beschäftigten und die nicht ausreichende Versorgung der Pflegebedürftigen zu kritisieren. Damals wie heute wird als Lösung die Anwerbung ausländischer hoch qualifizierter Krankenschwestern sowohl aus den europäischen Staaten, aber auch aus Indien und China gefordert. ›Pflegenotstand‹ bedeutet, dass für die Versorgung nicht genügend Personal zur Verfügung steht und der Versorgungsauftrag von Kommunen und Staat nicht mehr ausreichend erfüllt werden kann. Dabei muss in Bezug auf die ›Diagnose‹ genau unterschieden werden: ❚ Personalmangel kann durch schlechte Arbeitsbedingungen entstehen, wenn zum Beispiel Fachkräfte abwandern und Unternehmen Fachkräfte nicht binden können oder eine Unterbeschäftigung besteht. ❚ Ein Arbeitskräftemangel würde sogar bestehen, wenn Arbeitskräfte auf allen Qualifikationsniveaus nicht zur Verfügung stehen – im Fall des Berufsfelds Pflege also beispielsweise auch Helferinnen und Helfer. ❚ Fachkräftemangel bedeutet, dass Arbeitskräfte mit qualifizierten Berufsabschlüssen und Kompetenzen nicht ausreichend zur Verfügung stehen, etwa weil nicht ausreichend ausgebildet beziehungsweise qualifiziert wurde und/oder Fachkräfte nicht gebunden werden können. 1 Entscheidende Frage bei den verschiedenen Szenarien kommt den jeweiligen Pflegearrangements zu und den regional unterschiedlichen Entwicklungen in Bezug auf die Pflegefälle und den Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung. Die Modellrechnungen des IAB unterscheiden nach gleichbleibenden Raten die Versorgung durch Angehörige (46 Prozent), durch die ambulante Versorgung (22 Prozent) und in stationären Einrichtungen (32 Prozent). Dabei wäre ein Personalbedarf Die Agentur für Arbeit spricht bei ihren Analysen häufig von ›Engpässen‹, um deutlich zu machen, dass nicht geklärt ist, inwieweit die angebotenen Stellen so unattraktiv sind, dass sie nicht besetzt werden können, oder ob es an einem Mangel an Fachkräften liegt. In der Pflege im Land Bremen gibt es derzeit zwar keinen Arbeitskräftemangel – denn Helferinnen und Helfer werden teilweise sogar über Bedarf ausgebildet. Ein Personal- und Fachkräftemangel lässt sich in der Pflege aber durchaus belegen: Schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und ein hoher Teilzeitanteil machen den Beruf unattraktiv und halten junge Menschen davon ab, eine Ausbildung in der Pflege anzustreben. Im Ergebnis steht also zu wenig Personal zur Verfügung. Gleichzeitig gibt es nicht genügend Fachkräfte, weil zu wenig qualifiziert und ausgebildet wird. Statt also qualifizierte Kräfte einzustellen, müssen Einrichtungen teilweise auf Helferinnen und Helfer zurückgreifen. in Höhe von 796.000 Vollzeitäquivalenten bundesweit für 2030 nötig, um die Versorgung sicherzustellen. Im Alternativszenario wurde angenommen, dass die Zahl der pflegenden Angehörigen stagniert. Danach würde dann ein Personalbedarf in Höhe von 888.000 Vollzeitäquivalenten für ambulante und stationäre Versorgung gemeinsam errechnet. Vgl. Pohl, Carsten: Arbeitsmarkt Altenpflege. Der Ruf nach Hilfe wird immer lauter. In: IAB-Forum 1/2012, S. 92–93. Die Studie der Bertelsmann Stiftung geht von rund 500.000 Vollzeitäquivalenten zum Jahre 2030 aus. Vgl. Rothgang/ Müller/Unger: Themenreport ›Pflege 2030‹, 2012. 80 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 2 Zwischen 1996 und 2001 lagen die Gründe für den Stellenabbau vor allem in den politisch vorgegebenen pauschalen Kürzungen und Deckelungen der Budgets. Ab 2001 geht der Stellenabbau deutlich über das Maß der Budgetreduzierung hinaus. ›Offensichtlich wurden Pflegepersonalstellen vielfach auch reduziert, um Finanzmittel für andere Zwecke freizusetzen. Im Vordergrund standen dabei vor allem die Finanzierung dringend notwendiger Investitionen und die Bereitstellung von Mitteln für zusätzliche Stellen im ärztlichen Dienst.‹ Vgl. Simon, Michael: Beschäftigte und Beschäftigungsstrukturen in Pflegeberufen. Eine Analyse der Jahre 1999 bis 2009. Berlin 2012, S. 35 f. 3 Vgl. Simon, Michael: Beschäftigte und Beschäftigungsstrukturen in Pflegeberufen. Eine Analyse der Jahre 1999 bis 2009. Berlin 2012. Beim Fachkräftebedarf im Pflegesektor sind neben der Gesundheitspolitik und natürlich den Arbeitgebern auch die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik gefragt, ihren Teil zu einer ausreichenden und fachgerechten Ausbildung der jeweiligen Fachkräfte beizutragen. Zudem müssen für die Branche Lohn-, Einstellungsund Weiterbildungsfragen bearbeitet werden, um langfristig Fachkräfte auszubilden, an Betriebe zu binden und dadurch den Fachkräfte- und Personalmangel abzubauen. Im Unterschied zu anderen Berufsbereichen, die ebenfalls Fachkräfte suchen, wie Mediziner oder Ingenieure, hat die Pflege gleich mehrere Herausforderungen. Zum einen lässt die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach Dienstleistungen in der Gesundheitsbranche vermutlich steigen, zum anderen gehen immer mehr Fachkräfte in den Ruhestand. In der Konkurrenz um motivierten Nachwuchs zwischen den Branchen werden die Gesundheitswirtschaft und Pflege nicht nur an ihrer Krisensicherheit gemessen, sondern sie müssen sich dem Wettbewerb mit anderen Beschäftigungsbranchen bei sinkenden Geburtenraten stellen. Während im Handwerk und Gewerbe der Markt Möglichkeiten hat, zum Beispiel durch Anheben der Löhne und Verbesserung von Arbeitsbedingungen zu punkten, ist dies beim Sozialsektor nur in geringem Ausmaß möglich. Die über Krankenkassenbeiträge, Pflegeversicherung oder durch private Mittel aufzubringenden Etats sind begrenzt und häufig ›gedeckelt‹. Seit Jahren wurden die Tagessätze weder im Krankenhausbereich noch in der ambulanten oder Heimpflege ausreichend angepasst. Als Reaktion auf die begrenzten Mittel wurde Personal abgebaut. Deutlich wird dies am Beispiel der Krankenhäuser: In den vergangenen Jahren sind viele Stellen gekürzt worden – bundesweit waren es zwischen 1999 und 2006 mehr als umgerechnet 50.000 Vollzeitstellen (-15 Prozent). Die Zahl der Beschäftigten ging aber lediglich um 36.300 (-8,5 Prozent) zurück. Dies führte zu einer überproportionalen Zunahme von Teilzeit-Arbeitsverhältnissen. So stieg die Teilzeitquote bis 2009 auf 47,3 Prozent in den Krankenhäusern an.2 In den Bremer Kliniken wurden seit Einführung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern mehrere Hundert Vollzeitstellen gestrichen. Dies führte zu einer steigenden Arbeitsbelastung und teils chronischer Unterbesetzung von Stationen. Viele Pflegekräfte sind auf die ambulante Pflege ausgewichen, die zugleich ein stark wachsender Bereich ist.3 a) Sicherstellung der Pf lege und Pf legearrangements Die Sicherstellung der Pflege und Pflegearrangements ist eine Herausforderung für Kommunen, Kassen und Sozialpolitik und dies sowohl im Hinblick auf die Organisation und Finanzierung der Versorgung als auch mit Blick auf die Legitimation des Sozialstaats. Noch immer ist die Familie der größte Pflegebetrieb der Nation, doch die ›aufopfernden‹ Ehefrauen und Töchter werden weniger. Erwerbsarbeit und Familienstrukturen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Die vom Arbeitsmarkt geforderte Mobilität bedeutet auch, dass Kinder und pflegebedürftige Eltern oft räumlich entfernt voneinander leben. Professionelle Unterstützung durch ambulante Pflege oder stationäre Pflege eröffneten für immer mehr Pflegebedürftige eine bessere Versorgung und damit neue gewerbliche Entwicklungsmöglichkeiten für Dienstleister. Voraussetzung dafür war die neu begründete Pflegeversicherung (SGB XI) ab 1995. Die ambulanten Pflegeeinrichtungen haben inzwischen mit rund 3.500 Beschäftigten im Land Bremen eine wirtschaftliche und beschäftigungsrelevante Größe erreicht, auch die Beschäftigung in stationären Einrichtungen ist mittlerweile auf 5.500 Pflegekräfte angewachsen. Entsprechend wird mit Prognosen versucht, den zukünftigen Bedarf an Pflegekräften hochzurechnen. So wurden Ende des Jahres 81 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION 2012 die kleinräumigen Prognosen des Bremer Gesundheitsökonomen Prof. Heinz Rothgang und seiner Mitarbeiter vorgestellt. Auf der Basis von Bevölkerungsvorausberechnungen führten die Bremer Wissenschaftler des Zentrums für Sozialpolitik im Auftrag der Bertelsmann Stiftung Vorausberechnungen zur Situation der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 durch. Im Vergleich zu anderen Bundesländern stellt sich die Situation in Bremen weniger dramatisch dar. So wiesen die Modellrechnungen für den Stadtstaat Bremen im Zeitraum von 2009 bis 2030 ein Wachstum der Zahl der Pflegebedürftigen von 28 Prozent aus. Wie unterschiedlich die Ergebnisse auch sind: Die Kommunen müssen handeln. Und auch auf Bundesebene ist klar, dass endlich Versorgungs- und Finanzierungsfragen der Pflegeversicherung geklärt werden müssen. b) Die Ökonomisierung der Pf lege Auf den wachsenden ökonomischen Druck im Gesundheitswesen ist die Arbeitnehmerkammer bereits im Lagebericht 2012 eingegangen. Dieser lässt sich unter anderem daran ablesen, dass Fragen der Versorgung als ›gesundheitswirtschaftliche Fragen‹ behandelt werden – und eben nicht als Fragen der angemessenen Versorgung. Die Kostenträger für Pflege unterscheiden sich nach Bereichen der stationären beziehungsweise ambulanten Krankenversorgung (SGB V) und nach dem Sozialgesetzbuch XI, das die stationäre und ambulante Versorgung Pflegebedürftiger, meist älterer Menschen, regelt. Größter Ausgabenträger im Gesundheitswesen bundesweit war 2011 die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) mit rund 169 Milliarden Euro.4 Für die Pflegeversicherung (SGB XI) wurden 2011 etwa 20,9 Milliarden Euro für Leistungen aufgewandt.5 In allen Bereichen vollzog sich die Entwicklung seit den 1990er-Jahren in einem Spannungsfeld zwischen gedeckelten Budgets und der Bedarfsdeckung. Dabei wurde für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung 1989 der Grundsatz der Beitragssatzstabilität aufgenommen. Dieser begrenzt nicht nur die Gesamtausgaben der Krankenversicherung, sondern auch die Ausgaben der Leistungserbringer. Die tatsächlichen Bedarfe spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Die Pflegeversicherung ist vom Anfang ihrer Entstehung an nie eine Vollversicherung, sondern lediglich eine Teil-Versicherung gewesen. Auch bei der Pflegeversicherung war es Vorgabe der Bundesregierung, die Lohnnebenkosten insgesamt nicht weiter ansteigen zu lassen. Der zunehmende Kosten- und Leistungsdruck, der im Rahmen personenbezogener Dienstleistungen eben nicht einfach durch Rationalisierung beziehungsweise eine erhöhte Produktivität erzielt werden kann, hat in der Pflege verschiedene Auswirkungen: ❚ Die Rahmenbedingungen verändern sich erheblich durch neue Berechnungsgrundlagen. Es entkoppeln sich aber auch die Entgeltstrukturen von den erbrachten pflegerischen Leistungen, da die Budgets für die Dienstleistungen gedeckelt sind. Die Folge: Belastung und Arbeitsverdichtung nehmen zu. ❚ Darüber hinaus wird das patientenbezogene Denken und Handeln durch eine betriebswirtschaftliche Handlungslogik verändert. Medizinisch-pflegerische Versorgungsziele werden durch wirtschaftliche Vorgaben bestimmt. 4 Vgl. GKV Spitzenverband 2013, Leistungsausgaben insgesamt. 5 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, amtliche Statistik PV 45/2010. 6 DRG: Diagnosis Related Groups, diagnosebezogene Fallgruppe ist ein Klassifikationssystem, das Grundlage für die Abrechnung beim Deutlich wird dies aus Sicht der Pflegekräfte zum Beispiel an der veränderten Dokumentation der Pflegearbeit: Der Anteil der Dokumentation hat sich im Vergleich zu früher erheblich gesteigert und dient nicht mehr allein der Sicherstellung der Versorgungsqualität, sondern vor allem zur rechtlichen Absicherung und Beleg gegenüber Ansprüchen von Patienten, Angehörigen und Leistungsträgern. Zudem ist die Dokumentation Grundlage für die Optimierung der Erlöse im DRG6-System des Krankenhauses und auch in der ambulanten Pflege. Kostenträger ist. Muss bei der Behandlung eines Patienten mehr aufgewendet werden, als durch die pauschale Vergütung gedeckt ist, kommt es zu Verlusten. Ein Gewinn lässt sich nur erzielen, wenn es gelingt, wirtschaftlicher zu arbeiten, als bei der Kalkulation der DRGPauschale berechnet wurde. Basis ist das Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) von 2002. 82 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 7 Mit den Auswirkungen durch die Umstellung auf DRG-System haben sich in den vergangenen Jahren vor allem zwei Forscherteams beschäftigt und dazu veröffentlicht. Vgl. Buhr, Petra/ Klinke, Sebastian: Qualitative Folgen der DRG-Einführung für Arbeitsbedingungen und Versorgung im Krankenhaus unter Bedingungen fortgesetzter Budgetierung, Bd. SP I 2006311, WZB Discussion Paper. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2006. Braun, Bernard u.a.: Einfluss der DRGs auf Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität von Pflegekräften im Krankenhaus – Ergebnisse einer bundesweiten schriftlichen Befragung repräsentativer Stichproben von Pflegekräften an Akutkrankenhäusern in den Jahren 2003, 2006 und 2008. artec-paper Nr. 173, Bremen Januar 2011. 8 Zum Beispiel EuGHUrteil zum Beschäftigungsdienst von Ärzten. 9 Vgl. Braun u.a. (2006), S. 9–12. Was den Personalbestand angeht, so bestehen zwar in der ambulanten und stationären Pflege Vorgaben über Fachkraftquoten, nicht jedoch über Personalrichtwerte, also die Ausstattung von Bereichen mit Personal. Zudem sind die Entgelte niedrig angesetzt und wurden in den zurückliegenden Jahren nicht ausreichend angepasst. Im Krankenhaus wurde mit dem DRG-System der bis dahin bestehende Personalschlüssel bei den Pflegekräften aufgehoben. Mit dieser Entwicklung einhergehen Arbeitsverdichtung und Erhöhung der Arbeitstempi als wesentliche Veränderungen der Arbeitssituation von Pflegekräften in einem System der Versorgung, das ökonomische Anreize vor allem in der Erhöhung von Fallzahlen, zeitlichen Reglementierungen oder der Zerlegung von Dienstleistungen setzt. Diese Entwicklungen kennzeichnen inzwischen alle Bereiche der Pflege. Im Krankenhaus gingen mit der neuen Orientierung auf das DRG-Abrechnungssystem auch Statusveränderungen und eine Umbildung der Hierarchie einher. Während der Einfluss des Managements und der Controller wuchs, verloren sowohl Ärzte, vor allem aber die Pflege an Einfluss, Anerkennung und Funktionen.7 Interne Umverteilungen gingen meistens zulasten der Pflege, während die ärztlichen Dienste eher entlastet wurden.8 Angesichts klammer kommunaler Kassen wurden die nach der dualen Krankenhausfinanzierung notwendigen Investitionen zusätzlich auf die Krankenhäuser abgewälzt, die mögliche Gewinne zur Finanzierung von Investitionen ebenfalls zulasten der Pflegedienste zu generieren suchten. Höhere Tarifabschlüsse werden seit Jahren nicht durch Erhöhungen auf der Seite der Kostenträger gegenfinanziert. Die Folge ist wiederum ein angekündigter Stellenabbau. In der Not, ›dem Mangel an Händen und Köpfen‹, wird von Pflegedienstleitungen und Politik der Einsatz niedrig Qualifizierter angedacht. Doch der Personalabbau zum Beispiel im Krankenhaus ist längst so weit fortgeschritten, dass häufig nur noch Mindestbesetzungen vorhanden sind. Aus den ›Fürsorgeanstalten‹ wurden Krankenhaus-Dienstleistungsunternehmen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit am Markt behaupten müssen und auf ›Kundenbindung‹ angewiesen sind. Der einzelne Patient ist Teil einer Gewinnschöpfungs-Kette, alle Teile sind immer weiter zu optimieren. Hier wird häufig nicht differenziert, dass das Problem der Krankenhäuser nicht allein ein Fachkraftmangel ist. Der massive Stellenabbau hat zu einer Abwanderung von Fachkräften geführt und zu einer steigenden Arbeitsbelastung und chronischen Unterbesetzung. Damit einhergeht bei den Pflegekräften eine Auseinandersetzung mit dem eigenen beruflichen Selbstverständnis und der Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten. Pflegekräfte erleben diese Entwicklung auf zwei Ebenen: ❚ Bei den optimierten und stärker medizinisch ausgerichteten ›normierten‹ Behandlungen werden pflegerische Elemente zurückgedrängt. Sie erscheinen als untergeordnete Assistenzarbeit zur medizinisch-ärztlichen (abrechnungsrelevanten) Tätigkeit. Angesichts des Stellenabbaus und neuer administrativer Aufgaben entwickelte sich ein Selbstverständnis, als Pflegekraft nicht gut genug ausgebildet zu sein und keinen eigenständigen Einfluss aus pflegerischer Sicht zu haben. Kooperation und Kommunikation zwischen den ärztlichen und pflegerischen Tätigkeiten werden faktisch erschwert.9 ❚ Das Erleben der Sinnhaftigkeit der pflegerischen Tätigkeit in diesem traditionell geprägten Berufsbild gilt als eine der wichtigsten Positivressourcen und auch als Positivfaktor in der Konkurrenz um potenzielle Berufskandidatinnen und -kandidaten. Durch die beschleunigten Abläufe wird 83 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 1: Pflege in Zahlen Land Bremen Pflege 2011 männlich weiblich Stadt Bremen insgesamt männlich weiblich Bremerhaven insgesamt männlich weiblich insgesamt Personal stationäre Einrichtung 15,55 % 84,45 % 5.478 15,81 % 84,19 % 4.763 13,85 % 86,15 % 715 davon Vollzeitbeschäftigte 26,11 % 73,89 % 1.348 27,89 % 72,11 % 1.083 18,87 % 81,13 % 265 davon Teilzeitbeschäftigte 11,23 % 88,77 % 3.909 11,44 % 88,56 % 3.497 9,47 % 90,53 % 412 10,55 % 89,45 % 2.682 10,48 % 89,52 % 2.423 11,20 % 88,80 % 259 91 n davon Teilzeitbeschäftigte über 50% n davon 50% und weniger, nicht geringfügig n geringfügige Teilzeitbeschäftigung 8,42 % 91,58 % 546 9,67 % 90,33 % 455 2,20 % 97,80 % 16,15 % 83,85 % 681 16,48 % 83,52 % 619 12,90 % 87,10 % 62 Personal ambulante Dienste 14,34 % 85,66 % 3.472 14,86 % 85,14 % 2.881 11,84 % 88,16 % 591 davon Vollzeitbeschäftigte 22,73 % 77,27 % 748 22,91 % 77,09 % 563 22,16 % 77,84 % 185 davon Teilzeitbeschäftigte 11,91 % 88,09 % 2.696 12,71 % 87,29 % 2.298 7,29 % 92,71 % 398 12,12 % 87,88 % 1.510 13,15 % 86,85 % 1.278 6,47 % 93,53 % 232 6,45 % 93,55 % 372 7,67 % 92,33 % 300 1,39 % 98,61 % 72 14,00 % 86,00 % 814 14,03 % 85,97 % 720 13,83 % 86,17 % 94 n davon Teilzeitbeschäftigte über 50% n davon 50% und weniger, nicht geringfügig n geringfügige Teilzeitbeschäftigung Empfänger/innen SGB XI, 33,46 % 66,54 % 22.178 32,96 % 67,04 % 17.771 35,49 % 64,51 % 4.407 n ambulante Pflege 28,53 % 71,47 % 6.222 0,00 % 0,00 % 0 0,00 % 0,00 % 0 n stationäre Pflege 26,28 % 73,72 % 6.263 0,00 % 0,00 % 0 0,00 % 0,00 % 0 n Angehörigenpflege/Pflegegeld und Kombi 38,86 % 61,14 % 12.476 0,00 % 0,00 % 0 0,00 % 0,00 % 0 Pflege-Versicherung, insgesamt Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Pf legestatistik die psychosoziale Versorgung der Patientinnen und Patienten, die in der traditionellen Pflege Leitbild war, zurückgedrängt und findet keinen Raum mehr. Damit erleben Pflegekräfte im Ergebnis weniger Arbeitszufriedenheit. c) Veränderung der Beschäftigungsstruktur Die veränderten gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen schlagen durch auf die Struktur der Beschäftigung in diesem Sektor. Dies machen auch die Ergebnisse aus der Pflegestatistik10 deutlich, die für Bremen-Stadt, Bremerhaven und das Land Bremen die Veränderung im vergangenen Jahrzehnt nachvollziehen. Während die Zahl der Beschäftigten sich für den Bereich der ambulanten und stationären (Alten-)Pflege im Land Bremen von 2001 auf 2011 um 33,44 Prozent auf 8.950 erhöht hat, sind die Effekte in den einzelnen Bereichen und Regionen sehr unterschiedlich. Während in Bremen der ambulante Bereich bei den Beschäftigten mit 30 Prozent in der ambulanten Pflege und in der stationären Pflege um 40 Prozent zulegen konnte, wuchs in Bremerhaven lediglich der stationäre Bereich, während die ambulante Pflege keine Erhöhung der Beschäftigung ausweist. Seit Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) ist die ambulante Pflege deutlich ausgebaut worden und gilt als ›Jobmotor‹. In der ambulanten Pflege werden heute überwiegend nur Teilzeitbeschäftigungen angeboten. Die Pflegestatistik 2011 weist für das Land Bremen 78 Prozent aus, im Jahre 2001 waren es noch 65 Prozent.11 Inwieweit damit das Argument des Jobmotors überhaupt belegbar ist, bleibt offen, denn eine Bilanz umgerechnet auf Vollzeitstellen ist nicht möglich. Zwar bietet die ambulante Pflege für Beschäftigte in der Familienphase oder beim 10 Alle Daten aus: Statistisches Landesamt Bremen, Pflegestatistik 2001 und 2011. 11 Dabei beträgt der Anteil für Teilzeitarbeitende in Bremen-Stadt sogar 80 Prozent, in Bremerhaven lediglich 68 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass die niedrigere Teilzeitrate auch dadurch zu erklären ist, dass Beschäftigte in Bremerhaven eher auf Vollzeitverträgen bestehen, um existenzsichernde Löhne zu erhalten. 84 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ¢ Pflege und Pflegearbeit ist weiblich Professionelle, berufliche Pflege wird überwiegend von Frauen geleistet, dies zeigt sich zum Beispiel in den Zahlen der Pflegever-sicherung. Sowohl in der ambulanten wie der stationären Pflege arbeiten mehr als 80 Prozent Frauen. Die meisten Frauen arbeiten in Teilzeit-Arbeitsverhältnissen. Auch die zu Pflegenden sind überwiegend weiblich. Rund 67 Prozent der Pflegebedürftigen sind Frauen. 12 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsmarkt in Deutschland 2011 – Gesundheits- und Pflegeberufe, Dezember 2011, S. 11. 13 Die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der HansBöckler-Stiftung basiert auf einer Online-Befragung des LohnSpiegels von rund 3.550 Beschäftigten aus verschiedenen Berufen und Tätigkeitsbereichen in der Kranken- und Altenpflege. 14 Vgl. alle Angaben www.lohnspiegel.de, Stand 17.1.2013. 15 Im Pflegebereich verdienen die Frauen im Durchschnitt 11,7 Prozent weniger als die Männer. Frauen verdienen im Durchschnitt monatlich 2.268 Euro, Männer verdienen mit 2.567 Euro rund 300 Euro mehr. Wunsch nach selbstbestimmter und ganzheitlicher Pflege teilweise interessante Beschäftigungsmöglichkeiten, doch überwiegend ist die hohe Teilzeitquote betriebswirtschaftlich begründet. Einfach gesagt: Teilzeitbeschäftigung ist ein Instrument zur Flexibilisierung des Personaleinsatzes und um Personalkosten zu reduzieren. Viele Fachkräfte brauchen und wollen jedoch existenzsichernde Löhne, Teilzeit kommt für sie damit nicht infrage. Auch in den Pflegeheimen werden zunehmend überwiegend Teilzeitstellen angeboten. Auch hier zählt die Zahl der Köpfe und der Hände(!). Dabei ist auch hier seit 2001 eine Ausweitung der Teilzeit von 58 auf heute 75 Prozent der Beschäftigten in stationären Einrichtungen im Land Bremen festzustellen. Vor allem in der stationären Pflege wird diese Kostensenkung durch den Einsatz niedrig qualifizierter Beschäftigter in der Pflege ›optimiert‹, solange die vorgegebene Fachkraftquote erreicht ist. Bundesweit wurden Teilzeitbeschäftigungen in der Krankenhaus-Pflege stark ausgeweitet – innerhalb von zehn Jahren von 35,1 Prozent (1999) auf 47,3 Prozent (2009). Die Gründe auf Arbeitgeberseite waren, dadurch Personalkosten zu reduzieren und dennoch einen Pool von Beschäftigten mit flexiblen Einsatzmöglichkeiten zu erhalten. Zugleich reagierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die steigende Arbeitsbelastung mit einer ›Flucht in die Teilzeit‹. Auch in den Gesundheits- und Pflegeberufen ist die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsformen deutlich angestiegen. Rund 60 Prozent arbeiten als ausschließlich geringfügig Beschäftigte, 40 Prozent im Nebenerwerb. Auch wenn geringfügige Beschäftigung in den Gesundheits- und Pflegeberufen noch eine untergeordnete Bedeutung hat, so sind einzelne Zuwächse erheblich und verwunderlich: Bei den Ärzten stiegen Minijobs um 92 Prozent (auf bundesweit 2.700), bei Masseurinnen/Masseuren und Krankengymnastinnen/-gymnasten um 81 Prozent (auf 21.000), bei Sozialarbeitern und Beschäftigten in der Altenpflege um 73 Prozent (auf 56.800).12 d) Lohnniveaus und Lohnfindung in der Pf lege Der Lohnspiegel des WSI-Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung hat sich in einer Untersuchung mit den Gehältern von Beschäftigten in Pflegeberufen beschäftigt.13 Die folgenden Bruttomonatseinkommen wurden auf Basis einer 38-Stunden-Woche ohne Sonderzahlungen ermittelt. Mit der Bezahlung sind die Beschäftigten nach dem Ergebnis der Studie mehrheitlich nicht zufrieden.14 ❚ Denn mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in (unfreiwilliger) Teilzeit, insbesondere die niedrig bezahlten Helferinnen und Helfer. ❚ Unterschiede bei den Einkommen um deutliche 11,7 Prozent zwischen Frauen und Männern bestehen auch in diesen typischen Frauenberufen.15 Zwischen befristeten und unbefristeten Beschäftigten beträgt der Einkommensrückstand durchschnittlich 18 Prozent. Dabei war auch bei den befristet Beschäftigten der Anteil in den gering bezahlten Tätigkeiten der Helferinnen und Helfer und in der Altenpflege besonders hoch. ❚ Einkommensrelevant ist neben der Berufserfahrung vor allem die Tarifbindung der Betriebe. So verdienten Beschäftigte in Betrieben, für die ein Tarifvertrag gilt, durchschnittlich knapp 19 Prozent mehr als ihre Kolleginnen und Kollegen in nicht tarifgebundenen Betrieben (2.597 Euro statt 2.118 Euro.) 85 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Mindestlohn und ortsübliche Vergütung in der Pflege Bereits seit Juli 2008 gilt, dass die Kassen nur Versorgungsverträge mit Pflegeunternehmen abschließen dürfen, die eine ›ortsübliche Vergütung‹ bezahlen. Diese werden von den Landesverbänden der Pflegekassen festgestellt und liegen in der Regel über dem Mindestlohn. Dass die Bundesregierung im August 2010 für die ambulante und stationäre (Alten-)Pflege einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat, hat dennoch Gründe. Die Branche kommt immer mehr unter Druck und insbesondere angelernte Helferinnen und Helfer tragen das Risiko, besonders niedrige Löhne zu erhalten. Dies gilt längst nicht nur für die ostdeutschen Länder. Gerade die an Tarifverträge gebundenen Wohlfahrtsverbände versuchen, sich im Helferbereich von Personalkosten zu entlasten. Zum Teil lagen aber auch Tariflöhne für Helfer unter dem jetzigen Pflege-Mindestlohn. Dieser beträgt für Pflegehelfer in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen, die überwiegend Tätigkeiten in der Grundpflege verrichten (Hilfe bei Körperpflege, Ernährung, Mobilität), seit dem 1. Januar 2012 8,75 Euro/Stunde (West). Dieser Mindestlohn erhöht sich ab dem 1. Juli 2013 auf neun Euro je Stunde. e) Die Situation von abhängig Beschäftigten in der Pf lege und gewerkschaftlicher Organisationsgrad Die Flächentarifverträge in Deutschland haben in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Bedeutung verloren. Zwar wenden die kommunalen Krankenhäuser in der Regel Tarifverträge an, doch in weiten Teilen der Pflege ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering und die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten und Tarifverträgen wird damit erschwert. Dies hängt zum einen mit den hohen Anteilen der kirchlichen Einrichtungen, wie der Diakonie und der Caritas zusammen, die die Vergütungshöhe und die Arbeitsbedingungen nach dem sogenannten ›Dritten Weg‹ regeln. Aber auch in der ambulanten Pflege sind vergleichsweise wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert. Dieser noch relativ junge Dienstleistungsbereich besteht häufig aus kleinen Unternehmen mit nur wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Selbst Interessenvertretungen sind hier nicht häufig zu finden. Dabei belasten die unterschiedlichen Gehälter und Arbeitsbedingungen die Konkurrenz unter den Arbeitgeber. Handlungserfordernisse ❚ Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, angemessene Entlohnung, verlässliche berufsbiografische Perspektiven durch Fortbildung und Aufstiegsmöglichkeiten, besondere Arbeitsplatzgestaltung auch für ältere und gesundheitlich eingeschränkte Pflegekräfte sind Voraussetzung für das Ansehen der Pflege bei jungen Menschen. ❚ Das hohe Niveau der Teilzeitarbeit in allen Qualifikationsstufen verschärft den Fachkräftemangel. So sind Modelle gefragt, die das Potenzial an Vollzeitstellen für alle daran interessierten Pflegekräfte so weit wie möglich ausschöpfen. ❚ Da die ›Flucht in Teilzeit‹ mit der Belastung insbesondere älterer Beschäftigter zu tun hat, sollten in den Einrichtungen Altersstrukturanalysen durchgeführt werden, um mehr altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen und entsprechende Arbeits- und Gesundheitsschutzkonzepte zu entwickeln. 86 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ❚ Fachkräfte fehlen – Hilfskräfte wurden über Bedarf ausgebildet. Hier müssen systematisch diejenigen gesucht, gefunden und gefördert werden, die für eine Anschlussqualifizierung zum dreijährigen Berufsabschluss geeignet sind. Dabei ist sowohl an im Beruf stehende Pflegekräfte wie an Arbeitsuchende zu denken. Bremen sollte sich auf Bundesebene für Nachbesserungen beim SGB III und II einsetzen, die zum Beispiel die Gewährung von Unterhaltsgeld für Umschülerinnen und Umschüler ermöglichen, um Anreize für Nachqualifizierung zu geben. ¢ Exkurs: Die Not der Beschäftigten ist groß. Nach der jährlichen Auswertung der Arbeits- und Sozialversicherungsberatung der Arbeitnehmerkammer Bremen haben knapp 600 Beschäftigte aus der Pflege- und Gesundheitsbranche die Beratung persönlich aufgesucht. Dabei waren 83 Prozent der Ratsuchenden Frauen und mehr als die Hälfte arbeitete in Teilzeit. Im Vordergrund standen Arbeitsrechtsthemen wie Kündigung, Lage und Gestaltung der Arbeitszeit sowie die daraus folgenden Fragen der Vergütung. Häufige Probleme waren Fragen zur Abdeckung von Schicht- und Einsatzzeiten, insbesondere am Wochenende, in der Nacht oder an Feiertagen. Nach den Auswertungen der Beratungen hatten Beschäftigte häufig Fragen zu verlangter Mehrarbeit vom Arbeitgeber, trotz oder gerade wegen der nur vereinbarten Teilzeit. Viele Ratsuchende berichteten von Überlastung, fehlenden familienfreundlichen Arbeitszeiten. Im Unterschied zu anderen Branchen ergab sich bei Pflegekräften ein hoher Anteil von Kündigungen seitens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Einen neuen Arbeitsplatz zu finden ist angesichts des Bedarfs auf dem Arbeitsmarkt relativ leicht und wird offensichtlich zunehmend genutzt, um sich individuell bessere Bedingungen zu verschaffen. ❚ Für die Nutzung von Aufstiegschancen durch Qualifizierung sind die Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Qualifizierung weiterzuentwickeln, um insbesondere auch den Frauen Aufstiege zu ermöglichen. ❚ Der Ausbau der dreijährigen Altenpflegeausbildung sollte prioritär angegangen werden. In der ›Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege 2012–2015‹ wird hier eine jährliche Steigerung von zehn Prozent angepeilt, die mindestens ausgeschöpft werden sollte. ❚ In den Einrichtungen muss gezielt der Frage nachgegangen wird, ob die Anerkennung eines vorliegenden, im Ausland erworbenen einschlägigen Berufsabschlusses aus dem Bereich der Krankenpflege möglich ist oder eine zu diesem Ziel führende Qualifikationsplanung angestoßen und umgesetzt werden kann. 87 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION EXKURS ¢ Fachkräftebedarf in der Bremer Pflege Engpassanalyse mittels Arbeitslosen- und Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit DR. ESTHER SCHRÖDER Abb. 1: Gesundheits- und Krankenpflegehelfer 60 50 45 41 40 41 41 40 40 44 43 41 38 40 36 30 20 Sep 11 Okt 11 4 4 5 7 Mai 12 Aug 11 5 8 Apr 12 5 Mrz 12 5 Feb 12 5 6 Jan 12 6 Jul 11 12 10 Arbeitslose Jun 12 Dez 11 Nov 11 0 Arbeitsstellen Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik; eigene Darstellung Abb. 2: Altenpflegehelfer 300 250 222 222 198 230 221 57 59 218 219 213 208 230 221 216 200 150 Okt 11 55 46 45 50 46 33 Jun 12 28 Mai 12 32 Mrz 12 34 Feb 12 30 Sep 11 50 Aug 11 100 Jul 11 Arbeitslose Apr 12 Jan 12 Dez 11 0 Nov 11 Wie hoch der Personal- und Fachkräftebedarf in der Bremer Pflege ist, lässt sich anhand der Arbeitsmarktstatistik verdeutlichen. Die Arbeitslosen- und Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit gibt Einblicke, welche einfachen und gehobenen Qualifikationen die Pflegeeinrichtungen suchen und welche Potenziale und beruflichen Orientierungen die Arbeitsuchenden haben. Auch wenn die Analyse der öffentlichen Arbeitsvermittlung nur einen Ausschnitt des Geschehens am Pflegearbeitsmarkt darstellt, liefert sie wertvolle Erkenntnisse darüber, welche Personalengpässe und Fachkräftebedarfe für diese Berufe bestehen. Um die Arbeitsmarktdaten analysieren zu können, hat die Arbeitnehmerkammer bei der Bundesagentur für Arbeit eine Sonderauswertung in Auftrag gegeben. Diese Auswertung umfasst für das Land Bremen Angaben zum Bestand der Arbeitslosen nach Zielberufen und zum Bestand an gemeldeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen nach Zielberufen. Ausgewertet wurden die Daten bezogen auf den Zeitraum Juli 2011 bis Juni 2012.1 Zunächst ist festzustellen, dass die Arbeitgeber ihre Stellensuche bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern auf wenige Pflegeberufe konzentrieren. In der Krankenpflege schalteten die Einrichtungen bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung insbesondere Gesuche für Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer sowie für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen/ Gesundheits- und Krankenpfleger. Für die Altenpflege waren es die Zielberufe Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer 2 sowie Altenpflegerin/Altenpfleger. Dabei stellt sich im Vergleich von Helfertätigkeiten und Fachkräftebedarfen die Situation nahezu spiegelbildlich dar. So waren Arbeitsuchende in starkem Maße auf Helferjobs in der Pflege orientiert, Arbeitsstellen Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik; eigene Darstellung 88 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 3: Gesundheits- und Krankenpfleger 100 83 80 65 60 60 55 46 45 54 47 58 58 12 13 50 40 16 11 8 11 Feb 12 14 Jan 12 10 Dez 11 10 Nov 11 15 9 Okt 11 20 Sep 11 40 18 Arbeitslose Jun 12 Mai 12 Apr 12 Mrz 12 Aug 11 Jul 11 0 Arbeitsstellen Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik; eigene Darstellung Abb. 4: Altenpfleger 120 93 100 98 90 79 80 76 78 70 74 75 71 67 70 60 31 29 29 33 34 31 30 31 Feb 12 Mrz 12 Apr 12 Mai 12 Jun 12 42 Jan 12 44 Dez 11 42 Nov 11 44 40 20 Arbeitslose Okt 11 Sep 11 Aug 11 Jul 11 0 Arbeitsstellen Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik; eigene Darstellung die jedoch nur in geringer Zahl von Pflegeeinrichtungen gemeldet wurden. Häufiger dagegen schalteten Arbeitgeber die öffentliche Arbeitsvermittlung in die Suche nach Fachkräften ein, die sich aus dem Pool arbeitsloser Bewerberinnen und Bewerber jedoch nicht ausreichend rekrutieren ließen. Der Stellenüberhang bei Fachkräften als Indiz für einen Personalengpass in der Pflege und der Bewerberüberhang bei den Helferinnen und Helfern lässt sich sowohl für die Krankenpflege als auch für die Altenpflege konstatieren. Insgesamt waren im Juni 2012 deutschlandweit 469.105 offene Stellen bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet, davon 8.166 Stellen im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege und 13.332 in der Altenpflege. Somit entfallen 4,6 Prozent der in Deutschland gemeldeten Stellen auf den Pflegebereich, im Land Bremen 5,3 Prozent. Hier kamen im Juni 2012 von den insgesamt 4.635 gemeldeten Stellen 118 aus der Gesundheits- und Krankenpflege und 126 aus der Altenpflege. Von den 2,8 Millionen im Juni 2012 registrierten Arbeitslosen waren deutschlandweit 1,6 Prozent auf Pflegeberufe orientiert. Im Land Bremen suchten im Juni 2012 von den insgesamt 36.500 registrierten Arbeitslosen 626 (1,7 Prozent) eine Stelle in der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege. Berufe in der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege sind eine Frauendomäne. Arbeitslose, die eine Beschäftigung im Pflegebereich suchen, sind zu über 80 Prozent weiblich. Insgesamt liegt der Anteil der arbeitslosen Frauen an allen Arbeitslosen unter 50 Prozent. Und es fällt auf, dass in Bremen eine besonders große Diskrepanz zwischen den Frauenanteilen bei Hilfs- und Fachkräften vorliegt. Mit steigender Qualifikation sinkt der Anteil weiblicher Arbeitskräfte auch in einer von Frauen dominierten Branche. In den monatlich von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichten Analysen der gemeldeten Arbeitsstellen nach Berufen werden Vakanzzeiten als Hauptindikator für 89 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Engpässe bei Stellenbesetzungen gemessen und ausgewiesen. Die abgeschlossene Vakanzzeit wird nach Berufsgruppen erfasst und misst dabei die Zeitspanne vom gewünschten Besetzungstermin bis zur Abmeldung der Arbeitsstelle und damit den Zeitraum, in dem Arbeitsstellen in der jeweiligen Berufsgruppe nicht besetzt werden konnten. Je länger die Vakanzzeiten, desto schwieriger gestaltet sich die Suche nach geeignetem Personal. Identifizieren lassen sich Engpässe in den beiden Berufsgruppen ›Gesundheit, Krankenpflege, Rettungsdienst, Geburtshilfe‹ und ›Altenpflege‹.3 Die ausgewiesenen langen Vakanzzeiten für die interessierenden Berufsgruppen signalisieren besondere Besetzungsschwierigkeiten. Dabei ist Personal in der Kranken- und Altenpflege im Land Bremen noch schwerer zu rekrutieren als bundesweit. Hier rangieren, gemessen an den längsten Vakanzzeiten, die Pflegeberufe weit oben. Im Herbst 2011 wurden in Bremen im Bereich der Gesundheitsund Krankenpflege die längsten Vakanzzeiten aller Berufsgruppen mit mehr als 130 Tagen gemessen. Gemeldete Arbeitsstellen blieben hier länger als vier Monate nach dem geplanten Besetzungstermin vakant. In der Tendenz jedoch verkürzte sich in Bremen die Vakanzzeit sowohl in der Kranken- wie in der Altenpflege, während sie sich bundesweit verlängerte. Im Jahr 2012 betrug die durchschnittliche Vakanzzeit im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege bundesweit 106 Tage, in Bremen 123 Tage. Im Bereich der Altenpflege konnten im ersten Halbjahr 2012 Stellen bundesweit etwa 97 Tage nach dem eigentlich gewünschten Besetzungstermin besetzt werden, in Bremen erst nach 107 Tagen. Auch der Stellenandrang, also das Verhältnis von Arbeitslosen zu Arbeitsstellen signalisiert in beiden Berufsgruppen eine angespannte Bedarfssituation vor allem in der Gesundheitsund Krankenpflege. Hier kommen aktuell in Bremen wie auch bundesweit nur noch 75 Arbeitslose auf 100 gemeldete Arbeitsstellen. Nicht zuletzt aufgrund demografischer Entwicklungen ist den Gesundheits- und Pflegeberufen bildungs- und arbeitsmarktpolitisch weiterhin eine hohe Beachtung zu schenken und Priorität bei Bundes- wie Landesinitiativen einzuräumen. Der Arbeitnehmerkammer Bremen geht es hierbei nicht nur um bloße Arbeitsvermittlung, um Matching und Passgenauigkeit zwischen angebotenen und nachgefragten Qualifizierungen am Arbeitsmarkt. Denn nicht jeder angezeigte Fachkräftemangel ist auch einer. Viel zu oft verbirgt sich stattdessen dahinter ein Mangel an guter Arbeit. Und darum richtet sich unser Augenmerk gerade in diesem Bereich typischer Frauenarbeitsplätze auf die Beseitigung dieses Mangels. Es geht um Arbeitsbedingungen, die die schweren physischen und psychischen Belastungen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen des Pflegepersonals aushalten lassen, um flexible Arbeitszeiten, die Familie und Berufsleben in Einklang bringen sowie um faire Entgelte, die Wertschätzung ausdrücken und Existenzen sichern. Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat sich am Equal Pay Day 2013 aktiv beteiligt, der diese Forderungen zum Schwerpunktthema erhoben hat und am 21.03.2013 unter dem Motto ›Lohnfindung in den Gesundheitsberufen – viel Dienst, wenig Verdienst‹ stand. Damit der Pflegebereich nicht selbst zum Pflegefall wird! 1 Definition Zielberuf: Auswertungen zu Arbeitslosen und Arbeitsuchenden geben Auskunft über den angestrebten Zielberuf des Kunden (unabhängig von der absolvierten Ausbildung und dem tatsächlichen Beruf bei Abgang aus Arbeitslosigkeit). Bei gemeldeten Arbeitsstellen erfolgt die Kategorisierung nach dem vom Arbeitgeber gewünschten Hauptberuf. 2 Die Berufsbezeichnung ›Altenpflegehelferin/ Altenpflegehelfer‹ meint Helfertätigkeiten mit Voraussetzung einer einjährigen Ausbildung. Davon unterscheiden sich in der Statistik ›Helferin/Helfer in der Altenpflege‹, die als Ungelernte über keine Qualifikation verfügen. 3 Daten für Bremen liegen für die Berufsgruppe ›813 Gesundheit, Krankenpflege, Rettungsdienst, Geburtshilfe‹ von Oktober 2011 bis Dezember 2012 vor. Für die Berufsgruppe ›821 Altenpflege‹ werden in den Engpassanalysen der Bundesagentur für Arbeit Vakanzzeiten für den Zeitraum Oktober 2011 bis Juni 2012 ausgewiesen. Ab Juli 2012 konnte aufgrund zu geringer Besetzungszahlen im Bereich der Altenpflege diese Berufsgruppe nicht mehr berücksichtigt werden. Weniger als 100 Bestandsfälle führen zu Verzerrungen in der Berechnung von Vakanzzeiten. 90 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Lebensstandardsicherung oder Armutsbekämpfung? INGO SCHÄFER ¢ Zukünftig vermutlich ansteigende Altersarmut ist ein heiß diskutiertes Thema. Die Debatte um sinkende Renten und drohende Altersarmut heizte zuletzt die Bundesministerin für Soziales, Ursula von der Leyen, mit ihrer sogenannten ›Schock-Tabelle‹ in der BILD deutlich an. Aufgrund des sinkenden Rentenniveaus müssten Menschen, die weniger als 2.500 Euro brutto im Monat verdienen, nach 35 Jahren ›mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt antreten‹, drohte sie über die BILD .1 Ursula von der Leyen verwies damit zu Recht auf eine der zentralen Ursachen für zukünftig wahrscheinlich zunehmende Altersarmut: Die Senkung des Rentenniveaus und die Abkehr von der Lebensstandardsicherung. Politisch gewollt und absehbar führt ein sinkendendes Rentenniveau dazu, dass alle Renten an Wert verlieren und eine steigende Zahl unterhalb der Grundsicherung liegen wird. Statt die benannten Ursachen bekämpft die Bundesarbeitsministerin mit ihrem Vorschlag einer ›Zuschussrente‹2 das daraus resultierende Symptom der ›Armut‹. Denn die Zuschussrente ist eine bessere Fürsorgeleistung. Die in den vergangenen Jahren beschlossenen Leistungskürzungen in der Rente will sie aber gerade nicht zurücknehmen. Auch die anderen Parteien bieten Konzepte im Kampf gegen die Altersarmut an: ›Solidarrente‹ (SPD ), ›Mindestrente‹ (Die Linke) oder ›Garantierente‹ (Bündnis 90/ Die Grünen). Sie alle werfen ihre eigenen Probleme auf. Exkurs: Was ist Lebensstandardsicherung? Lebensstandardsichernd meint, dass im Falle von Erwerbsminderung oder ab einem bestimmten Alter eine Rente in einer Höhe gezahlt wird, die bei langjährig Versicherten so hoch ausfällt, dass der gewohnte ›Lebensstil‹ fortgeführt werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich auch, dass Menschen, die nur selten oder geringe Beiträge gezahlt haben, im Grunde auch nur eine geringe Rente bekommen würden. Um typische Risiken wie Erwerbslosigkeit, Kindererziehung, Pflege oder niedrigen Stundenlohn abzusichern, gibt es solidarische Ausgleichselemente. Diese sollen Zeiten aufwerten und Lücken schließen, um einen Verlust des Lebensstandards alleine aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung zu vermeiden. Bis zu den Rentenreformen der Bundesregierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts folgte die Rentenversicherung dem Ziel der Lebensstandardsicherung. Seit den Reformen steht das Ziel im Vordergrund, die Beitragssätze nicht steigen zu lassen. Anders formuliert: Die Renten dürfen nur noch steigen, wenn und soweit das politisch gesetzte Beitragsziel eingehalten wird. Dies wird als Paradigmenwechsel bezeichnet. Der Wechsel von einem leistungsorientierten hin zu einem beitrags(satz)orientierten Rentensystem. 1 Vgl. Hellemann, Angelika: Die neue RentenSchock-Tabelle. BILD vom 2.9.2012. 2 Die ›Zuschussrente‹ wurde seit ihrer ersten Verkündung im Frühsommer 2011 beständig kritisiert. Zuletzt hat die Abb. 1: Altersrenten Regierung die ›Zuschus- Deutschland Hamburg Bremen Saarland Berlin srente‹ umbenannt in ›Lebensleistungsrente‹. Allerdings besteht Jahr Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer 2000 485 921 557 990 463 960 347 1.044 664 958 keit in der Koalition 2011 520 868 602 905 520 881 452 983 686 838 über eine genaue Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund, Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang nach Wohnort, Zahlbeträge, Oktober 2012 weiterhin keine Einig- Ausgestaltung der ›Lebensleistungsrente‹. 91 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 2: Zahlbetrag Altersrenten 1.050 960 970 968 919 908 677 690 692 665 474 487 504 460 2009 2010 876 2008 927 2007 947 950 874 903 904 881 850 750 650 623 631 639 647 643 650 658 451 450 450 445 431 438 2006 463 461 2005 550 707 520 Männer Frauen 2011 2004 2003 2002 2001 2000 350 Grundsicherungsbedarf, brutto Bremen Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort. Grundsicherung in Bremen: Bruttobedarfe, Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 und 2006 fehlend: Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt. Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100. Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund; Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen Aber wie ist die Lage der Rentnerinnen und Rentner heute? Welche Gründe gibt es für die aktuelle Entwicklung? Welche Entwicklung ist zukünftig zu erwarten und was wären sinnvolle Antworten auf die zentralen Probleme in der Rentenpolitik? Lage der Rentnerinnen und Rentner in Bremen Zurzeit ist Altersarmut noch kein sehr verbreitetes Phänomen. In Bremen sind aktuell (Jahr 2011) 12.909 Menschen auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Aber die Zahlen steigen stetig. Aufgrund des sinkenden Rentenniveaus bleibt die Rente hinter der mäßigen Lohnentwicklung zurück. Die weiteren Leistungskürzungen und die prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt verschärfen den Trend. Die Renten stagnieren seit Jahren. Für Bremen beispielsweise ist die durchschnittliche Altersrente für Männer von 960 Euro (im Rentenzugang3 2000) auf 881 Euro (Rentenzugang 2011) gesunken, also um acht Prozent. Wird zusätzlich noch der Kaufkraftverlust über diesen Zeitraum berücksichtigt, dann haben die durchschnittlichen Altersrenten bei Männern um 23 Prozent an Wert verloren. Bei den Erwerbsminderungsrenten für Männer wie Frauen sieht es noch schlechter aus. Zur Entwicklung und Situation der Erwerbsminderungsrente vergleiche den Artikel ›Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit‹, Seite 95 ff. Einzig die Altersrenten der Frauen entwickeln sich weniger dramatisch. Einerseits sind diese ohnehin sehr niedrig. Andererseits wirkt die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen sich leicht positiv auf die durchschnittlichen Renten aus. 3 Zum Rentenzugang zählen alle Renten, die in diesem Jahr erstmals gezahlt wurden. Im Unterschied zu Bestandsrenten, in die alle noch laufenden Renten eingehen. 92 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Ursachen der Entwicklung Ursächlich für die skizzierte Rentenentwicklung sind die Rentenpolitik und Arbeitsmarktentwicklung/-politik. Niedriglohn, unfreiwillige Teilzeit, Langzeiterwerbslosigkeit und versicherungsfreie Erwerbsformen (Minijobs/Solo-Selbstständige) führen zu geringeren Rentenansprüchen und wachsenden Versicherungslücken. Die wegen der Arbeitsmarktentwicklung geringeren Rentenansprüche werden durch den Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik in den 2000er-Jahren zusätzlich entwertet. Denn bis zu den 2030er-Jahren soll das Rentenniveau um rund 20 Prozent sinken. Der Abschied vom Ziel der Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung führt im Zusammenspiel mit der Arbeitsmark- und Lohnentwicklung zu sinkenden Renten. Bremer Arbeitsmarkt 4 Eigentlich der ›Standardrente‹. Die Standardrente ist definiert als eine abschlagsfreie Altersrente auf Grundlage von 45 Entgeltpunkten. Für die Zeit vom 1.7.2012 bis 30.6.2013 beträgt diese im Westen 1.263,15 Euro (brutto). Der Arbeitsmarkt in Bremen ist stark gespalten (vgl. Artikel Arbeitsmarktpolitik S. 40 ff.). Die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch. Die Teilzeitquote steigt kontinuierlich. Und die Löhne gehen weit auseinander. So lag der durchschnittliche Bruttostundenlohn von Vollzeitbeschäftigten Ende 2011 zwischen 12,82 Euro (Gastgewerbe) und 29,89 Euro (verarbeitendes Gewerbe). Entsprechend ergeben sich auch unterschiedliche Rentenansprüche. Wer erwerbslos ist, nur geringfügig beschäftigt Abb. 3: Modellrechnungen: Altersrente nach Beitragsjahren und Stundenlohn* Beitragsjahre Gastgewerbe (12,83 Euro) Handel (20,45 Euro) Gesundheit und verarbeitendes Sozialwesen Gewerbe (24,23 Euro) (29,89 Euro) 35 704 1.121 1.329 1.639 40 804 1.282 1.519 1.873 45 905 1.442 1.708 2.107 * Rente nach Sozialabgaben, aber vor Steuern; 38,5 Wochenstunden; Rechengrößen RV 2012. Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Arbeitnehmerverdienste 4/2011; eigene Berechnungen oder (unfreiwillig) in Teilzeit arbeitet, erwirbt nochmals geringere Anwartschaften. Frauen beispeilsweise arbeiten häufiger in Teilzeit oder nur geringfügig, verdienen oft weniger als Männer und unterbrechen häufiger sowie länger ihre Erwerbstätigkeit aufgrund von Kindererziehung oder Pflege. Daher weisen sie durchschnittlich geringere Rentenzahlbeträge auf als Männer. Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt sind zu großen Teilen politisch gemacht. Die HartzReformen haben den Druck auf Erwerbslose und Beschäftigte erhöht. Wer Arbeitslosengeld II bekommt, muss jeden auch noch so schlecht bezahlten Job annehmen. Mit Leiharbeit unterlaufen Unternehmen Tarifverträge und üben Druck auf die Stammbelegschaft aus, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und eine fehlende Absicherung in der Rente bei Langzeiterwerbslosigkeit tragen ihren Teil zur Problematik bei. Die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf hindert weiterhin vor allem Frauen daran, durchgängiger in Vollzeit zu arbeiten. Wird hier politisch nicht gegengesteuert, können die Betroffenen auch nur mit geringen Renten rechnen. Wenn der Lohn nicht reicht, reicht auch die Rente nicht. Rentenniveau Entscheidend für ein auf Lebensstandardsicherung zielendes Rentensystem ist die Höhe des Rentenniveaus. Dieses gibt das Verhältnis zwischen Durchschnittslohn und Rente4 wieder. Denn die Versicherten zahlen ihre Beiträge, damit sie im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit eine Rente erhalten, mit der sie ihren bisherigen versicherten Lebensstandard fortführen können. Mit den Rentenreformen der vergangenen zehn Jahre wurde dafür gesorgt, dass das Rentenniveau langfristig deutlich sinkt. Mit der beschlossenen Senkung des Rentenniveaus sind die Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt worden und verlieren 93 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION zunehmend an Wert. Dies gilt für Rentenzugänge wie Bestandsrenten gleichermaßen. Um weitere rund 14 Prozent sinkt das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 nach den aktuellen Hochrechnungen. Angenommen, dieses Rentenniveau gälte bereits heute, dann ergäbe eine 40-jährige Vollzeitbeschäftigung im Gastgewerbe nicht mehr 804 Euro, sondern nur noch knapp 700 Euro Rente. Ein Mensch im verarbeitenden Gewerbe hätte dann mit 1.610 Euro rund 260 Euro weniger Rente (bei 40 Jahren Vollzeiterwerbstätigkeit). Lösungen oder Losungen? Wer nun denkt, ›Zuschussrente‹ (Bundesregierung) oder ›Garantierente‹ (Bündnis 90/Die Grünen) würden vor dieser Entwicklung schützen, der irrt. Jene mit einem höheren Verdienst schützt die Zuschussrente sowieso nicht vor dem sinkenden Rentenniveau und der Entwertung ihrer Ansprüche. Jenen, denen aufgrund des sinkenden Rentenniveaus der ›Gang zum Sozialamt‹ droht, hilft die Zuschussrente auch nicht, da diese selbst an die Rentenentwicklung gekoppelt ist. Sie verliert im gleichen Maß an Wert wie die Rente und liegt damit am Ende genauso unterhalb der Grundsicherung im Alter. Die Modelle ›Zuschuss-‹ und ›Garantierente‹ versprechen für langjährig Versicherte eine Bruttorente von 850 Euro im Monat. Netto, also nach Abzug der Sozialabgaben, blieben schon heute nur 760 Euro übrig. Wird an der Senkung des Rentenniveaus festgehalten, sinkt der Wert bis zum Jahr 2030 auf etwa 650 Euro ab. Dieser Wert läge jedoch deutlich unterhalb der Grundsicherung von derzeit rund 700 Euro. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP wie auch Bündnis 90/ Die Grünen halten uneingeschränkt an der Niveausenkung fest. Zuschuss- und Garantierente verfehlen somit ihr Ziel der Armutsbekämpfung. Sie lösen weder die Ursachen (Senkung des Rentenniveaus) noch die Symptome (zunehmende Altersarmut) der aktuellen Rentenpolitik. Auch bei den Vorschlägen von ›Solidar‹- (SPD) und ›Mindestrente‹ (Die Linke) entsteht ein Konflikt zwischen Armutsbekämpfung und beitragsbezogener Rente. Denn je höher eine solche Solidar- oder Mindestrente ist, desto mehr Menschen werden trotz umfangreicher eigener Beitragsleistung nur eine Solidar-/ Mindestrente bekommen. Gleiches gilt, wenn an der Senkung des Rentenniveaus festgehalten wird (wie es die SPD im Grunde fordert). Dann liegt bei gleicher Beitragsleistung die Rente niedriger und es werden mehr Menschen in die Solidar- /Mindestrente fallen. Andererseits: Auch ein hohes Rentenniveau gerät in Konflikt mit einer Mindestrente, wenn diese hoch angesetzt wird. Eine Mindestrente, die nur erreicht, wer 45 Jahre lang nie weniger als 2.500 Euro brutto im Monat verdient, macht eine beitragsbezogene Pflichtversicherung faktisch überflüssig. Die Mindestrente wird ohne eigene Beitragsleistung gewährt. Um eine gleich hohe Rente durch Arbeit zu erwerben, muss die/der Beschäftigte über 120.000 Euro Beitrag zahlen. Ausblick Der Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik ist an einem neuen Scheidepunkt. Hinter der Diskussion um die Bekämpfung der Altersarmut steht eine Grundsatzfrage: Welche Aufgabe hat die gesetzliche Rentenversicherung? Auf der einen Seite eine solidarische und lebensstandardsichernde Rente, welche auch Zeiten wie Erwerbslosigkeit, Kindererziehung oder Erwerbsminderung solidarisch absichert. Auf der anderen Seite eine geringe weitgehend einheitliche Grundversorgung, die durch zusätzliche private Vorsorge ergänzt werden muss. 94 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die aktuell diskutierten Entwürfe von Zuschussrente über Solidar- und Garantierente bis zur Mindestrente laufen darauf hinaus, dass ein immer größerer Teil der Menschen weitgehend unabhängig von der eigenen Beitragsleistung eine gleich hohe Rente bekommt. Damit wird das bestehende Pflichtversicherungssystem infrage gestellt, da sich eine Beitragsleistung individuell kaum noch auszahlt. Gleichzeitig werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die zusätzliche Vorsorge erheblich finanziell belastet. Ohne einen vergleichbaren Schutz zu erhalten, wie bisher alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Alternativen zur aktuellen Politik ❚ Um heutige wie auch zukünftige (Alters-) Armut konsequent zu vermeiden, muss zuallererst am Arbeitsmarkt angesetzt werden. Denn im Grundsatz gilt: Niedrige Löhne führen zu niedrigen Renten. ❚ Ein gesetzlicher Mindestlohn ist hierbei ein notwendiges Haltenetz. Soll der Mindestlohn so ausgestaltet sein, dass nach 45 Jahren Vollzeit eine armutsfeste Rente entsteht, müsste dieser heute 10,38 Euro brutto pro Stunde betragen. Um Zeiten niedriger Entlohnung in der Vergangenheit, wo ein Mindestlohn nicht mehr helfen kann, auszugleichen, könnte die sogenannte ›Rente nach Mindestentgeltpunkten‹5 fortgeführt werden. 5 Die Rente nach Mindestentgeltpunkten wertet niedrige Rentenansprüche um bis zu 50 Prozent auf. Damit wäre bei 45 Beitragsjahren aktuell eine Nettorente (Zahlbetrag) von bis zu 850 Euro möglich. ❚ Eine vernünftige Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik setzt auf mehr und gute Beschäftigung sowie Tarifverträge, statt auf Minijobs, Leiharbeit und Langzeitarbeitslosigkeit. Und nicht minder wichtig: Erst gute Arbeitsbedingungen schaffen die Grundlage, um gesund bis zur Rente zu arbeiten. (Langzeit-) Erwerbslosigkeit darf nicht zu Lücken in der Erwerbsbiografie führen. Zeiten von Arbeitslosigkeit müssen in der Rente an der Lebensstandardsicherung orientiert abgesichert werden. ❚ Dreh- und Angelpunkt einer systematischen Rentenpolitik ist das Rentenniveau, also das Verhältnis zwischen Lohn und Rente. Wird die Senkung des Rentenniveaus nicht rückgängig gemacht, laufen auf die Lebensstandardsicherung ausgerichtete Maßnahmen ins Leere. So müsste bei dem für das Jahr 2030 erwarteten Rentenniveau der Mindestlohn heute schon bei über zwölf Euro brutto pro Stunde liegen. Die Versicherten wollen im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit eine Rente bekommen, mit der sie ihren bisherigen Lebensstandard fortführen können. Das Ziel der gesetzlichen Rentenversicherung muss daher wieder die Lebensstandardsicherung sein. In Verbindung mit entsprechenden Verbesserungen im Bereich des Arbeitsmarktes sowie des gezielten Ausbaus von solidarischen Elementen würde so eine strukturell armutsfeste Rente gewährleistet. 95 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Gesundheitliche und soziale Risiken für Beschäftigte Bremen im Ländervergleich CAROL A BURY / BARBAR A REUHL Durch eine Erkrankung oder einen Unfall teilweise oder vollständig erwerbsunfähig zu werden, kann jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer treffen. Eine Erwerbsminderung (EM) kann Folge eines privaten Unfalls oder Arbeitsunfalls sein, durch gesundheitlichen Verschleiß oder durch eine Erkrankung mit schwerem Verlauf hervorgerufen worden sein. Sie macht es dem betroffenen Menschen unmöglich, wie bisher der gewohnten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dieses Risiko stellt keine Randerscheinung dar, wie die Zahlen der Rentenneuzugänge zeigen: Obwohl mehr als die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderung in der Regel abgelehnt wird, sind noch immer rund 16 Prozent, also fast jede sechste der neu bewilligten Renten in Bremen, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Für die Betroffenen wird Erwerbsminderung zunehmend zum Armutsrisiko, dies gilt auch für Bremen. Erwerbsminderungsrenten – die Situation in Bremen Im Jahr 2011 gingen in Bremen 6.909 Menschen in Rente, davon 1.546 (22,4 Prozent) in Frührente aufgrund von Erwerbsminderung. Von diesen 1.546 anerkannten Erwerbsgeminderten waren 783 Männer und 763 Frauen. Meist geht der Frühverrentung eine langwierige Krankheitsgeschichte voraus, die zu langfristigen Einschränkungen der Gesundheit und Leistungsfähigkeit führt und das Ende der beruflichen Laufbahn markiert. Das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben durch Frühverrentung ist für die Betroffenen in mehrfacher Hinsicht ein gravierendes krankheitsbezogenes und soziales Ereignis. Besonders dramatisch für Bremen zeigt sich auch die Höhe des durchschnittlichen Zahlbetrages für Erwerbsgeminderte. Waren es vor der Reform durch die Bundesregierung (2001) noch durchschnittlich 698 Euro pro Monat, so fiel dieser Betrag im Land Bremen kontinuierlich auf durchschnittliche 521 Euro/Monat. Die Rente wegen Erwerbsminderung liegt um 92 Euro unter dem durchschnittlichen Wert für Niedersachsen1 und unterhalb des Grundsicherungsniveaus in Höhe von 707 Euro (2011). Risiken für eine Erwerbsminderung Auch wenn die Gefahr einer Erwerbsminderung für alle Erwerbstätigen besteht, sind unter ihnen Gruppen auszumachen, für die ein weitaus höheres Risiko besteht. Wissenschaftliche Untersuchungen verweisen darauf, dass diese Risiken abhängig sind vom sozialen Status, den beruflichen Qualifikationen und schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen. Generell sind Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts, der Region und des Bildungsstands zu erkennen. Die größte Gefahr besteht beispielsweise für männliche gering qualifizierte Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Am anderen Ende der Risikoskala befinden sich weibliche hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen in den alten Bundesländern. Sie weisen ein zehnmal geringeres Risiko für die Erwerbsminderung auf. Ursache ist meist die schwerere körperliche Arbeit, die in der Regel von gering Qualifizierten verrichtet wird. Im Auftrag der Arbeitnehmerkammer Bremen hat deshalb das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen erstmals mögliche Einflussfaktoren für das Land Bremen auf Basis von Zahlen der Deutschen Rentenversicherung ausgewertet. Die Bremer Daten wurden mit der bundesweiten Erwerbsminderungs-Statistik, differenziert nach West- und Ostdeutschland, in Bezug gesetzt, um einen Vergleich der Risiken und mögliche Unterschiede zu erkennen. 1 Dagegen lagen die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2000 noch weitaus näher zusammen, bei 730 Euro in Niedersachsen und 698 in Bremen. 96 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 2 Vgl. Müller/Hagen/Himmelreicher: Risiken für eine Erwerbsminderungs- Zentrale Ergebnisse der Studie ›Risiken für eine Erwerbsminderungsrente‹ 2 rente. Bremen im Ländervergleich. Eine Analyse des Rentenzugangs in Erwerbsminderungsrente auf Basis von Daten der Deutschen Rentenversicherung. Hrsg.: Arbeitnehmerkammer Bremen, Veröffentlichung in 2013 in Vorbereitung. Soziale Unterschiede beim Zugang in die Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) werden in der Studie auf Basis von Daten der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) untersucht. Diese Daten werden vom Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung (FDZ-RV) zur Verfügung gestellt. Bei den Analysen wird davon ausgegangen, dass soziodemografische und sozioökonomische Unterschiede eine hohe Bedeutung für das Risiko einer krankheitsbedingten Frühberentung zukommen. Ziel der Untersuchung ist es, die spezifischen EM-Risiken in Bremen herauszuarbeiten. Diese werden im Vergleich zu den EMRisiken in den alten und neuen Bundesländern dargestellt. Neben soziodemografischen und -ökonomischen Dimensionen werden auch die zugrunde liegenden und für die Rentenbewilligung maßgeblichen Krankheitsdiagnosen berücksichtigt. Der Fokus liegt dabei auf Herz-Kreislauf-, Muskel-Skelett- und psychischen Erkrankungen, die prozentual zu den häufigsten Diagnosegruppen der Frühberentung gehören. Verdeutlicht wird die unterschiedliche Verteilung der Risiken, wenn die Krankheitsbilder mit beruflichen Belastungsfaktoren abgeglichen werden. Demnach sind Muskelund Skelett-Erkrankungen die häufigste Ursache für Erwerbsminderung bei gering qualifizierten Männern, während bei höher qualifizierten Menschen psychische Erkrankungen als Hauptursache dominieren. Auffällig im regionalen Vergleich ist, dass das Verrentungsrisiko wegen Erwerbsminderung in Bremen für Frauen nahezu gleich hoch ist wie das der Männer. Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern haben Frauen hingegen ein geringeres EM-Risiko. Unterschiede hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse zeigen sich jedoch in allen Regionen, wenn man nach Diagnosegruppen unterscheidet: Hervorzuheben ist zum einen die starke Betroffenheit von Frauen durch psychische Erkrankungen – sie liegt in Bremen etwa 30 Prozent höher als bei Männern. Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen hingegen bei Männern eine größere Rolle als bei Frauen. In Bremen ist die ErwerbsminderungsQuote wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Männern mehr als dreimal so hoch wie bei Frauen. In den neuen und alten Bundesländern ist diese Relation etwas geringer ausgeprägt. Das Risiko, Erwerbsminderungsrente zu beziehen, ist in Bremen bei Deutschen wie bei Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit annähernd gleich hoch. In den alten Bundesländern zeigen die Nicht-Deutschen eine leicht höhere Quote, in den neuen Bundesländern eine niedrigere. Die Gesamtquote liegt in Ostdeutschland in jeder Altersgruppe höher als in Westdeutschland. In Bremen liegen die jüngeren Jahrgänge auf dem erhöhten Niveau von Ostdeutschland, ab dem 50. Lebensjahr ungefähr auf dem niedrigeren westdeutschen Niveau. Deutliche Unterschiede gibt es in jeder Region je nach Bildungsniveau. Die höchsten Quoten ergeben sich für Menschen mit geringer Bildung und die geringsten Quoten für Menschen mit hoher Bildung. Auch bei der Betrachtung des Alters und anderer Variablen bleibt dieser Effekt bestehen. Dies gilt für Bremen ebenso wie für die neuen und alten Bundesländer. Eine geringe berufliche Qualifikation oder/und eine ausgeübte manuelle Tätigkeit haben einen vergleichbaren Effekt auf die Verrentung wegen Erwerbsminderung. Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation oder/und manuellen Tätigkeiten haben die höheren Verrentungsquoten. Auch diese Unterschiede sind in allen Regionen in vergleichbarem Ausmaß zu finden. Armutsrisiko Erwerbsminderung Die Erwerbsminderungsrente sollte die Lücken im Einkommen füllen, wenn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in vollem Umfang oder gar nicht mehr gearbeitet werden kann und noch keine Regelaltersrente bezogen wird. Im Gegensatz zur Altersrente wird die Erwerbsminderungsrente höchstens bis zum 65. Lebensjahr gezahlt (beziehungsweise nach der neuen Regelung ab 2029 bis zum 67. Lebensjahr). Erst ab Erreichen der regulären Regelaltersgrenze schließt sich die gesetzliche Altersrente an. Dafür werden mittels der Zurechnungszeit die infolge von Erwerbsminderung nicht erbrachten Rentenbeiträge rechnerisch ersetzt. Die Aussage, ›wer krank ist, darf nicht arm werden‹, war vor über 100 Jahren noch gesellschaftlicher Konsens. Die Absicherung von Beschäftigten bei geminderter Erwerbstätigkeit war neben der Alterssicherung und der sozialen Absicherung der Familien von Anfang an eines der zentralen Ziele der gesetzlichen Rentenversicherung. Doch Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, unterliegen heute einem zunehmend höheren Armuts- 97 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 1: Erwerbsminderungsrenten in Bremen risiko. Die Ursachen für die diskutierten künftig steigenden Altersarmutsrisiken sind bekannt: Änderungen in der Rentenpolitik und die Entwicklungen am Arbeitsmarkt verstärken sich dabei (siehe Beitrag Lebensstandardsicherung oder Armutsbekämpfung?, S. 90 ff.). 800 771 694 690 700 664 650 623 631 600 ¢ 727 750 650 639 590 569 579 658 665 692 707 677 643 647 645 625 579 568 567 603 639 589 582 562 547 552 550 528 529 527 521 494 500 Zurechnungszeit: Die durchschnittlichen Zahlbeträge der neu bewilligten Erwerbsminderungsrenten in den alten Bundesländern sind bei Männern von 780 Euro im Jahre 2000 auf 635 Euro im Jahre 2011, bei Frauen von 666 Euro (2000) auf 606 Euro (2011) gesunken. Sie liegen teilweise knapp über dem Grundsicherungsniveau in Höhe von 660 Euro, teilweise darunter. 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 450 Zweck der Zurechnungszeit ist es, einen von Erwerbsminderung betroffenen Menschen so zu stellen, als hätte er bis zum 60. Lebensjahr weiterverdient wie bisher. Die Zurechnungszeit ist der Zeitraum zwischen dem Tag, ab welchem Erwerbsminderung festgestellt wurde und dem 60. Lebensjahr. Im Rahmen einer Günstigerprüfung (Gesamtleistungsbewertung) wird ermittelt, wie hoch die Zurechnungszeit bewertet wird. In der aktuellen Debatte gibt es zwei Verbesserungsvorschläge: 1. Die Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre soll auf die Zurechnungszeit übertragen werden, so dass diese bis zum Jahr 2029 stufenweise auf 62 Jahre heraufgesetzt würde. 2. Im Rahmen einer zusätzlichen Günstigerprüfung werden die letzten Jahre vor der Erwerbsminderung nur berücksichtigt, wenn sie nicht zu einer niedrigeren Zurechnungszeit führen. Ob diese Vorschläge noch vor der Bundestagswahl umgesetzt werden, ist unsicher. Erwerbsminderungsrente – Männer Erwerbsminderungsrente – Frauen Grundsicherungsbedarf, brutto Bremen Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort. Grundsicherung in Bremen: Bruttobedarfe, Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 und 2006 fehlend: Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt. Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100. Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund; Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen Bei den Erwerbsminderungsrenten machen sich die allgemeinen Rentenkürzungen der vergangenen Jahre bemerkbar. Zudem müssen seit 2001 Abschläge von bis zu 10,8 Prozent hingenommen werden, wenn die Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr (ab 2029: vor dem 65. Lebensjahr) in Anspruch genommen wird. Inzwischen sind bereits mehr als 95 Prozent aller neu bewilligten Erwerbsminderungsrenten mit entsprechenden Abschlägen belegt. In der Zeitreihe wird deutlich, dass die Zugänge bei Erwerbsminderungsrenten seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgehen. Dies hängt sowohl mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt, wie mit den Auswirkungen einzelner gesetzlicher Regelungen, wie zum Beispiel dem Altersteilzeitgesetz zusammen.3 Die neue Rechtslage ab 2001 durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wirkt sich weiter negativ sowohl in Bezug auf die Anerkennung wie auf die Höhe von Erwerbsminderungsrenten aus. 3 Das Gesetz zur Altersteilzeit (AltTZG) ist am 23.7.1996 in Kraft getreten. Danach bestand ein gesetzlich geregeltes Modell, bei dem ältere Arbeitnehmer (55+) für die verbleibende Zeit bis zur Rente (mindestens 3 Jahre) ihre Arbeitszeit halbieren konnten. 98 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ¢ Exkurs: Die geltenden gesetzlichen Regelungen Bei den Erwerbsminderungsrenten geht es um die Beeinträchtigung im Erwerbsleben und den möglichen Ausgleich: Wenn jemand wegen einer Krankheit oder Behinderung keine sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann, dann liegt damit die gesetzliche Voraussetzung für den Erhalt einer Rente wegen Erwerbsminderung vor. Die Erwerbsminderung wird durch medizinische Gutachten festgestellt. Dabei wird auch geprüft, ob die Erwerbsminderung möglicherweise durch eine Rehabilitationsmaßnahme behoben werden kann. Hier gilt der Grundsatz ›Reha vor Rente‹. Je nachdem, wie viele Stunden man täglich arbeiten kann, liegt eine volle oder eine teilweise Erwerbsminderung vor. Wer weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann, bekommt die volle Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die teilweise Erwerbsminderungsrente kann beantragt werden, wenn die gesundheitlichen Einschränkungen nur noch drei bis sechs Stunden Erwerbsarbeit am Tag zulassen. Die Höhe einer teilweisen Erwerbsminderungsrente entspricht der Hälfte einer vollen Erwerbsminderungsrente. Im Januar 2001 trat das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Kraft. Aus der früheren Berufsunfähigkeitsrente wurde die Rente wegen ›teilweiser Erwerbsminderung‹. Die ›Rente wegen voller Erwerbsminderung‹ schloss an die frühere Erwerbsunfähigkeitsrente an. Neben den neuen Begrifflichkeiten gab es allerdings auch weitere Änderungen, die sich nachteilig auswirken sollten. Eine von ihnen ist, dass die Bemessungsgrundlage für die Einteilung in ›teilweise‹ oder ›voll‹ erwerbsgemindert nun nicht mehr das erzielbare Einkommen, sondern die mögliche tägliche Arbeitszeit ist. Auch der früher bestehende ›Berufsschutz‹ besteht nur noch für Ältere, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind, was einer schrittweisen Abschaffung dieser Regelung entspricht. Danach müssen Beschäftigte jede zumutbare zur Verfügung stehende Teilzeit-Erwerbstätigkeit annehmen. Durch die Neuregelung haben außerdem Menschen, die zwar sechs oder mehr Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, aber nicht in der Lage sind Vollzeit zu arbeiten, keinen Anspruch mehr auf eine unterstützende Leistung in Form einer teilweisen Erwerbsminderungsrente. Rentenbescheide wegen Erwerbsminderung werden grundsätzlich zeitlich befristet bewilligt. Das bedeutet, dass sie nicht automatisch bis zum Eintritt der Regelaltersgrenze ausgezahlt werden. Alle drei Jahre wird neu geprüft, ob weiterhin eine Erwerbsminderung vorliegt. Nur in seltenen Fällen, wenn davon ausgegangen wird, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht behoben werden und der betroffene Mensch durch Rehabilitationsmaßnahmen die Erwerbsfähigkeit nicht erneut erlangen kann, wird die Rente unbefristet geleistet. Nach einer dreimaligen Befristung von je drei Jahren, insgesamt also nach neun Jahren, wird die Rente unbefristet gewährt. Wenn die Erwerbsminderungsrente nicht für das Existenzminimum reicht, besteht Anspruch auf ❚ Grundsicherung nach SGB XII (Kapitel 4), bei der in der Regel kein Unterhaltsrückgriff auf Kinder und Eltern erfolgt, wenn die Erwerbsfähigkeit voll und dauerhaft gemindert ist und ab der Regelaltersgrenze. ❚ Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bei einer vollen befristeten Erwerbsminderungsrente, mit Unterhaltsrückgriff bei Kindern und Eltern. ❚ Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II (Arbeitslosengeld II), mit allen Konsequenzen wie Bedarfsprüfung, Anrechnung des Vermögens, Hinzuverdienstgrenzen, Sanktionsmöglichkeiten. 99 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 2: Entwicklung des Rentenzugangs der Versicherten bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Männer und Frauen) und durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro Das Problem der vorweggenommenen Altersarmut wird besonders deutlich, wenn die bremischen Zahlen nach Geschlechtern getrennt und im Vergleich zum Bundesdurchschnitt und zu Niedersachsen betrachtet werden. Hier zeigt sich, dass eine Spreizung der Erwerbsminderungsrenten zwischen Niedersachsen und Bremen stattgefunden hat, die vermutlich durch eine zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes in Bremen mit einer relativ hohen Anzahl von prekären Arbeitsverhältnissen, aber auch mit Teilzeit-Arbeitsverhältnissen zu erklären ist. Hier wird auch deutlich, dass gerade die Gruppe von Beschäftigten mit hohen Erwerbsminderungsrisiken schon vor einer Feststellung der bestehenden Erwerbsminderung infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen niedrige Einkommen und häufig Versicherungslücken in den Erwerbsbiografien aufweist. Dies sind die Ursachen dafür, dass die Erwerbsminderungsrente für immer mehr Betroffene zu einem Armutsrisiko geworden ist. Zudem schlagen sich niedrige Verdienste und Versicherungslücken über die Zurechnungszeiten überproportional bei der Rentenhöhe nieder. Abb. 3: Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag in Euro nach Bundesland und Rentenart (2011) Renten wegen Erwerbsminderung Renten wegen Alters Männer Männer Frauen Frauen Bund 628 573 940 546 Bremen 547 494 881 520 Niedersachsen 655 569 950 483 Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Rentenzugang 2011, 2012 Deutschland insgesamt Zugänge Jahr Niedersachsen Höhe in Euro Zugänge Höhe in Euro Bremen Zugänge Höhe in Euro 1993 271.541 654 25.250 715 2.414 693 1995 293.994 680 28.195 726 2.900 702 1997 264.203 691 24.300 725 2.362 675 1999 218.187 703 21.212 728 1.827 695 2001 200.579 676 20.259 708 1.610 656 2003 174.361 652 16.466 676 1.346 626 2005 163.960 627 16.116 648 1.287 598 2007 161.515 611 15.579 637 1.360 568 2009 173.028 600 16.564 617 1.440 545 2011 180.238 596 18.122 613 1.546 521 Quelle: Deutsche Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang und durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro/Monat, 2012 Handlungsbedarf ❚ Erwerbsminderung gilt es generell zu vermeiden. Daher muss dem Grundsatz Rehabilitation vor Rente wieder voll Rechnung getragen werden. Dazu ist es erforderlich, die gesetzliche Begrenzung der Ausgaben für Reha-Maßnahmen (›Reha-Deckel‹) aufzuheben. ❚ Durch zusätzliche Maßnahmen muss das Armutsrisiko bei Erwerbsminderung reduziert werden. Die Abschläge müssen abgeschafft und die Zurechnungszeit verlängert werden. Die letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung sind nur dann bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen, wenn sie sich auf die Höhe des Rentenzahlbetrages positiv auswirken. ❚ Die Verlängerung der Zurechnungszeit, eine bessere Bewertung der letzten Kalenderjahre vor Renteneintritt sowie eine Anhebung des Reha-Deckels sind der parteiübergreifende Konsens. Bremen sollte sich auf Bundesebene, beispielsweise im Rahmen einer Bundesratsinitiative, für entsprechende Verbesserungen bei der Rentengesetzgebung einsetzen. 100 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Betriebsräte und berufliche Weiterbildung von Beschäftigten SUSANNE HERMELING 1 Das weisen die letzten Zahlen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beauftragten Bevölkerungsbefragung von 18–64- jährigen Menschen aus. Vgl. BMBF (Hrsg.): Weiterbildungsverhalten in Deutschland. AES 2010 Trendbericht, 2011. 2 Vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2012, S. 287 ff. Berufliche Fort- und Weiterbildung ist für alle Beschäftigten ein Thema. Oft geht es darum, im eigenen Arbeitsfeld bei Umstrukturierungen oder nach Erwerbsunterbrechungen beschäftigungsfähig zu bleiben. Erwerbstätige profitieren dabei je nach Branche und Unternehmen von betrieblich finanzierter Weiterbildung oder sie müssen selbst Zeit und Geld in individuelle Weiterbildung investieren. Betrieblich unterstützte Umqualifizierungen können Arbeitsplatzverluste für die Beschäftigten verhindern, die aus gesundheitlichen Gründen in weniger belastende Bereiche wechseln müssen. In einer tendenziell alternden Gesellschaft mit längeren Lebensarbeitszeiten ist dieses Thema besonders akut. Der demografische Wandel ist gleichzeitig Anlass für Unternehmen, Strategien zur Deckung ihres zukünftigen Fachkräftebedarfs zu entwickeln. Weiterbildung ist daher immer mehr ein gemeinsames Interessenfeld von Unternehmen, Arbeitnehmervertretern und Beschäftigten. Auch Unternehmen sollten ein wachsendes Interesse daran haben, nicht nur reaktiv für kurzfristige Bedarfe, sondern prophylaktisch zu qualifizieren. Demnach müssten neben kurzen Schulungen vermehrt auch Anpassungs-, Wiedereinstiegs- und Umqualifizierungen gefördert werden. Aufstiegsfortbildungen, etwa zum Meister oder zur Betriebswirtin, gelten in der Regel als persönliche Weiterbildung. Hier müssen Unternehmen umdenken, die nach eigenen Aussagen entsprechende Fachkräfte suchen, und auch längerfristige Fortbildungen vermehrt fördern. Welche Beschäftigtengruppen profitieren? Die größte Zahl aller statistisch erfassten Weiterbildungsveranstaltungen findet im betrieblichen Kontext statt. Zu bedenken ist dabei, dass fast die Hälfte der Aktivitäten nur wenige Stunden bis maximal einen Tag umfassen.1 Am meisten profitieren nach einer Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Hochschul- und Fachschulabsolventen von betrieblicher Weiterbildung. Im Vergleich dazu werden Beschäftigte ohne Berufsabschluss in Betrieben kaum gefördert.2 Die Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung ist außerdem abhängig vom Erwerbsstatus, darum sind die oft teilzeitbeschäftigten Frauen gegenüber den überwiegend vollzeitbeschäftigten Männern benachteiligt. Die Teilnahmequoten an betrieblicher Weiterbildung sind zudem bei den 35–49Jährigen am höchsten und bei den Älteren am niedrigsten. Auch Beschäftigte mit Migrationshintergrund profitieren erheblich weniger von betrieblicher Weiterbildung als Deutsche ohne Migrationshintergrund. Die großen Unterschiede nach Qualifikation, Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund weisen auf gruppenbezogene Benachteiligungen in den Betrieben hin, denn in individueller berufsbezogener Weiterbildung sind die Unterschiede in den Teilnahmequoten nicht vorhanden oder wesentlich geringer. Für die benachteiligten Gruppen, insbesondere für Un- und Angelernte, müssen daher in verstärktem Maße Qualifizierungsprojekte und Förderprogramme entwickelt werden. 101 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Welche Betriebe investieren in Weiterbildung? Das IAB- Betriebspanel, eine Befragung von Arbeitgebern, ergibt ein anderes Bild zu Weiterbildungschancen im Betrieb. Danach profitieren Frauen in gleichem Maße wie Männer. Allerdings zeigt auch die Betriebsbefragung, dass weniger in die Weiterbildung von Älteren und sehr wenig in die Weiterbildung von An- und Ungelernten investiert wird. Auch spezielle Angebote für Ältere gibt es kaum, obwohl der Anteil der über 50-jährigen Beschäftigten im Land Bremen auf ein Viertel gestiegen ist und viele Stellen in den nächsten Jahren altersbedingt neu besetzt werden müssen. Im verarbeitenden Gewerbe ist sogar ein Drittel der Belegschaften über 50 Jahre alt und in der öffentlichen Verwaltung (inklusive Non-Profit-Organisationen) sogar mehr als ein Drittel. Trotzdem haben die bremischen Betriebe kaum vermehrt spezielle Maßnahmen für ältere Beschäftigte angeboten.3 Ob ein Betrieb in Weiterbildung investiert, ist nicht nur vom Bedarf, sondern auch von betrieblichen Ressourcen und von der Durchsetzungskraft der Beschäftigten abhängig. Wie in den Vorjahren war 2011 laut Betriebspanel jeder zweite Betrieb im Land Bremen weiterbildungsaktiv. Die von den Betrieben geschätzten Teilnahmequoten von Beschäftigten stiegen jedoch auf über ein Drittel an. Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt, dass auch die bremischen Betriebe Kurzarbeitsphasen in den Krisenjahren kaum für Weiterbildung genutzt haben, ab 2011 dagegen verbessert sich die Lage.4 Unter den Betrieben mit künftigem Fachkräftebedarf im Land Bremen erwarten nach IAB- Betriebspanel zwei Drittel Probleme bei Stellenbesetzungen. Hauptgründe dafür seien ein voraussehbarer Bewerbermangel für bestimmte Berufe und ein Mangel an Zusatzqualifikationen. Fast alle dieser Betriebe nannten personalpolitische Maßnahmen – vor allem Weiterbildung – als wichtigste Strategie zur Sicherung ihres Fachkräftebedarfs. Doch mangelnde Ressourcen und fehlende Infrastrukturen behindern oft eine entsprechende Umsetzung. Im Baugewerbe etwa wird der zukünftige Fachkräftebedarf am deutlichsten geäußert, gleichzeitig wird in der Branche am wenigsten Weiterbildung gefördert. Das liegt unter anderem daran, dass viele kleine Betriebe das Bild dieser Branche bestimmen. Große Unternehmen haben dagegen mehr finanzielle Ressourcen für Weiterbildung und Spielräume für bildungsfreundliche Arbeitszeitmodelle. In einigen mittelständisch geprägten Branchen gibt es daher umlagenfinanzierte Fonds für Aus- und Weiterbildung. Ein Beispiel ist die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes mit Mitteln, die vor allem in abschlussbezogene Nachqualifizierungen und in Fortbildungen investiert werden. Mittelständische Unternehmen sind dann weiterbildungsaktiv, wenn Ressourcen vorhanden sind und neue Produkte oder organisatorische Veränderungen häufig vorkommen. Dies ist zum Beispiel im Kredit- und Versicherungsgewerbe der Fall.5 Ausbildungsbetriebe, das gilt insbesondere für kleine Betriebe bis 19 Beschäftigte, investieren wesentlich häufiger in Weiterbildung als Betriebe, die nicht ausbilden.6 Wahrscheinlich werden für die Ausbildung geschaffene Kompetenzen und Strukturen im Betrieb auch für die Weiterbildung genutzt. 3 Auch in der Betriebsrätebefragung 2012 (n=127) der Arbeitnehmerkammer Bremen gab nur ein einziger Betrieb an, Programme für über 50-jährige Mitarbeiter zu fördern. 4 Vgl. SÖSTRA : Beschäftigungstrends. Ergebnisse der jährlichen Arbeitgeberbefragung, IABBetriebspanel Bremen, Befragungswelle 2011. 5 Vgl. Käpplinger: Welche Betriebe in Deutschland sind weiterbildungsaktiv? BMBF 2007, S. 17. 6 Vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2012, S. 302. 102 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Mitbestimmte berufliche Weiterbildung 7 Vgl. Stegmaier: Effects of Works Councils on Firm-Provided Further Training in Germany. In British Journal of Industrial Relations, Dec. 2012. Berger: Betriebsräte und betriebliche Weiterbildung. In: WSI Mitteilungen 5/2012. 8 Beispiele zeigen Gröne/Kozlowski (2007): Personalentwicklung im Betrieb mitgestalten. Gröne/Kozlowski (2010): Mitarbeitergespräche. Online www. arbeitnehmerkammer.de /mitbestimmung/ personalentwicklung/ Eine neue Auswertung der Daten des IABBetriebspanels gibt Hinweise darauf, dass insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU ), aber auch Großunternehmen mit Betriebsrat, häufiger Weiterbildung fördern als Unternehmen ohne Betriebsrat.7 Tatsächlich ist Weiterbildung auch für Betriebsräte ein zunehmend wichtiges Thema. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz können Betriebsräte Maßnahmen vorschlagen und bei der Durchführung mitbestimmen und sie können die Teilnahme von einzelnen oder Gruppen von Arbeitnehmern vorschlagen.8 Betriebsräte können daran mitwirken, dass die Arbeitsplatzsicherheit durch Anpassungsqualifizierungen verbessert wird und Qualifizierungen in höherwertige oder alternsgerechte Tätigkeiten unterstützt werden. Und sie können ungleichen Weiterbildungschancen gegensteuern. Beschäftigte, die sich über individuelle Weiterbildung beruflich entwickeln wollen, brauchen außerdem oft den Beistand des Betriebsrats, etwa für besondere Arbeitszeitregelungen. Instrumente, die Betriebsräte nutzen können, sind tarifliche, betriebliche und individuelle Vereinbarungen. 103 Qualifizierungstarifverträge wurden zuletzt unter anderem in der chemischen Industrie (2003), der Metall- und Elektroindustrie (2001/2006), im öffentlichen Dienst (2005/ 2006) und im Versicherungsgewerbe (2007) abgeschlossen. Der individuelle Qualifizierungsbedarf soll in der Regel durch ein jährliches Mitarbeitergespräch festgestellt werden. Die Kosten für betrieblich notwendige Maßnahmen sollen vom Arbeitgeber getragen werden. Allerdings werden keine rechtlichen Ansprüche auf Weiterbildung festgelegt. Solche Regelungen sind bisher die Ausnahme, wie zum Beispiel die garantierten zweieinhalb Tage Weiterbildung für Beschäftigte im kommunalen Erziehungsdienst. Der Einfluss von Tarifverträgen auf die Praxis von betrieblicher und beruflicher Weiterbildung scheint bisher schwach zu sein. Handlungsverpflichtungen für die Betriebsparteien sind beispielsweise aus dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes nicht abzuleiten. Auch der Qualifizierungsta- rifvertrag Metall/Elektro legt keine Qualitätsnormen oder Ansprüche fest, so dass er von Betriebsräten oft als ›zahnlos‹ empfunden wird.9 Die Tarifverträge bieten jedoch Handlungsansätze für den gesetzlich schwach geregelten Bereich der beruflichen Weiterbildung, die durch Betriebsvereinbarungen konkretisiert werden können. Die Umsetzung von Qualifizierungen hängt von finanziellen Ressourcen und Infrastrukturen in den Betrieben ab. Daher müssten mehr Tariffonds aufgelegt und öffentliche Förderprogramme genutzt werden. Für die Umsetzung müssten angemessene Unterstützungsstrukturen geschaffen werden, damit tarifliche Regelungen tatsächlich greifen können. Ein Beispiel dafür ist die Agentur Q zur Förderung der beruflichen Weiterbildung in der Metall- und Elektroindustrie, die in Baden-Württemberg gemeinsam von IG Metall und Arbeitgeberverband geführt wird.10 9 Vgl. Bahnmüller: Tarifverträge als Instrument der beruflichen (Weiter-)Bildung in Deutschland. Workshop-Paper, S. 14. 10 Vgl. Bahnmüller/ Hoppe: Tarifliche Qualifizierungsregelungen im öffentlichen Dienst: betriebliche Umsetzung und Effekte. In: WSI Mitteilungen 7/2011. 104 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 In der Regel waren Betriebsvereinbarungen das entscheidende Mitbestimmungsinstrument in Fragen der beruflichen Weiterbildung. Betriebsräteinterviews im Land Bremen Im Anschluss an die Betriebsrätebefragung 2012 der Arbeitnehmerkammer Bremen11 wurden im Zeitraum November 2012 bis Februar 2013 zum Thema Aus- und Weiterbildung Experteninterviews mit Betriebsräten geführt. Die Betriebe, die sich im Rahmen der Betriebsrätebefragung zu einem Interview bereit erklärt hatten, kommen aus den Branchen verarbeitendes Gewerbe, öffentliche Dienstleistungen, Handel/Verkehr/Logistik sowie Finanzen und Versicherungen. Sie sind ansässig in Bremen und Bremerhaven. Bis auf eine Ausnahme sind alle Ausbildungsbetriebe. Da die Interviews nur in mitbestimmten Betrieben und vor allem in mittleren und großen Betrieben geführt wurden, ist die Stichprobe nicht repräsentativ für die Gesamtheit aller bremischen Betriebe. Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus den Branchen verarbeitendes Gewerbe und öffentliche Dienstleistungen zusammengefasst. Verarbeitendes Gewerbe 11 Vgl. Muscheid, Jörg: Betriebsrätebefragung 2012. In: Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen, S. 136–143. 12 Vgl. Busse: Qualifizierung in Kurzarbeit bei ArcelorMittal Bremen. Hans-Böckler-Stiftung, 2009. Online unter www.boeckler.de/pdf/ mbf_netzwerke_ fallstudie_arcelor.pdf Die Größe der drei Mittel- und zwei Großbetriebe variiert stark. Zwei hier nicht anonymisierte Betriebe sind neben dem öffentlichen Dienst die beiden größten Arbeitgeber in Bremen: das Mercedes-Benz-Werk/Daimler mit rund 12.500 und ArcelorMittal mit rund 3.600 Beschäftigten. Vier Betriebe haben IG-MetallTarifverträge und gute Organisationsgrade zwischen 60 und 80 Prozent, ein Betrieb im Organisationsbereich der NGG hat keinen Tarifvertrag. In der Regel waren Betriebsvereinbarungen das entscheidende Mitbestimmungsinstrument in Fragen der beruflichen Weiterbildung. In einigen Betrieben waren jährliche Mitarbeitergespräche verbindlich gemacht worden, um individuelle Qualifizierungsprofile zu erstellen. Weiterhin wurde vereinbart, die Gespräche als Dialog zu gestalten, in dem auch die Beschäftigten eine Rückmeldung an die Führungsebene geben können. Diese Regelung scheint im Betrieb ein Klima zu fördern, in dem die Beschäftigten eigene Weiterbildungsbedarfe äußern. Im Stahlunternehmen ArcelorMittal sind solche Mitarbeiter-VorgesetztenGespräche per Betriebsvereinbarung seit Jahren fest verankert. Aus den individuellen Qualifizierungsprofilen entwickelt die zentrale Personalentwicklungsabteilung des Unternehmens größtenteils innerbetriebliche und teils externe Weiterbildungen. Das Beispiel zeigt, dass die regelmäßige Erfassung von Qualifizierungsbedarfen Grundlagen für eine betriebliche Weiterbildungsinfrastruktur bietet. ArcelorMittal Bremen nutzte seine entwickelten Schulungskonzepte in der Kurzarbeitsphase 2008/2009 zur Qualifizierung von Beschäftigten in allen Bereichen und war damit eins der wenigen Unternehmen in Deutschland, die während der Kurzarbeit systematisch qualifizierten. In einer Betriebsvereinbarung wurden die Ziele der Arbeitsplatzsicherheit sowie der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für die Beschäftigten verankert. Beschäftigte und Unternehmen profitieren nachhaltig von der aufgebauten Weiterbildungsinfrastruktur, die auch in Zukunft genutzt werden kann, wenn eine Reihe von Beschäftigten in Altersteilzeit gehen und jüngere Beschäftigte im Gegenzug einen Arbeitsplatz erhalten.12 Die Kurzarbeiterqualifizierungen während der Krise waren ein sinnvolles Instrument der Beschäftigungssicherung einerseits und dem Erhalt von wettbewerbsfähigen Unternehmen andererseits. Allerdings kann die Verwendung öffentlicher Mittel in so großem Umfang nicht zur Regel werden, wo die Unternehmen selbst Investitionen in ihre Zukunft tätigen müssten. 105 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Betrieblich erforderliche Schulungen sind grundlegend und werden in allen Betrieben vom Arbeitgeber finanziert. In den großen Betrieben wird das Jahresprogramm in einem Ausschuss vorgestellt, in dem auch Betriebsräte vertreten sind. Themen, die Betriebsräte oft in die Planung einbringen, sind Gesundheit, Arbeitssicherheit oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In den großen Betrieben, wie Daimler, kommen fachliche Vorschläge auch von den Bereichsbetriebsräten. Produktschulungen oder andere betrieblich notwendige Maßnahmen, wie Schweißen, werden innerbetrieblich und mitunter über unternehmenseigene Weiterbildungsabteilungen oder - einrichtungen durchgeführt. Ungleiche Weiterbildungschancen wurden vor allem in Bezug auf Betriebshierarchien thematisiert. Bei zwei mittelgroßen Betrieben bestehen konstant Schieflagen. Es würden zwar ausreichend Mittel in Führungskräfteentwicklung investiert, doch betriebliche Schulungen für andere Beschäftigtengruppen seien oft wenig nachhaltig, weil Stellen in der Produktion unterbesetzt seien. Notwendige Maßnahmen, wie die Einarbeitung in neue Anlagen, würden in produktionsintensiven Phasen auf einen zu kleinen Kreis von Beschäftigten beschränkt. Auch bei ArcelorMittal seien Basisschulungen in der Produktion aufgrund von personellen Engpässen aktuell in den Hintergrund getreten. Leiharbeitnehmer nehmen an allgemeinen Kurzschulungen nur dann teil, wenn sie länger in einem Bereich arbeiten. Von Weiterbildungen sind sie in der Regel ausgeschlossen. Das Arbeitsagentur-Programm WeGebAU zur Förderung abschlussbezogener Qualifizierungen für An- und Ungelernte und Ältere, ist noch von keinem der Betriebe genutzt worden, obwohl Bedarf besteht. Daimler und ArcelorMittal haben schätzungsweise fünf bis acht Prozent, meist ältere, un- und angelernte Beschäftigte in der Produktion. Viele müssten für alternsgerechte Arbeitsplätze außerhalb der taktgebundenen Schichtarbeit am Band qualifiziert werden. Die Themen demografischer Wandel, Gesundheit und Beschäftigungssicherung hängen oft zusammen. In dem mittelgroßen Betrieb im NGG- Organisationsbereich beispielsweise sind alternsgerechte Arbeitsbereiche für Un- und Angelernte ausgelagert. Der Betriebsrat arbeitet daher an Konzepten zur Qualifizierung von Produktionsmitarbeitern für den kaufmännischen Bereich, damit auch gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte im Betrieb gehalten werden können. Bei Daimler existiert die Arbeitsgruppe ›Demografischen Wandel gestalten‹ bereits seit 2004, da Bremen das ›älteste‹ Mercedes-Werk in Deutschland ist. Aus Analysen zum zukünftigen Fachkräftebedarf entstanden Projekte wie die Erwachsenenqualifizierung für die Ausbildung zum Werkzeugmacher. Die Personalabteilung und der Betriebsrat suchen für dieses Pilotprojekt vier Bewerber zwischen 40 und 50 Jahren. Diese hatten ursprünglich Werkzeugmacher oder Industriemechaniker erlernt, haben jedoch jahrelang am Band gearbeitet. Diese Gruppe bekam nun die Chance, von der körperlich belastenden Arbeit am Band in den Bereich Werkzeugmechanik zu wechseln. Auch bei ArcelorMittal wurden in den vergangenen Jahren etwa 70 Beschäftigte berufsbegleitend zum Verfahrensmechaniker ausgebildet. Solche Pilotprojekte müssen in großen Betrieben ausgeweitet und wo möglich, im Verbund mit kleineren Betrieben durchgeführt werden. 106 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Angebote für (zukünftige) Führungskräfte gab es in allen Betrieben, von Führungskräfteschulungen bis hin zu systematischen Entwicklungsprogrammen. In den Großbetrieben werden Anreize für ein (berufsbegleitendes) oder Vollzeitstudium gesetzt. Finanzielle Unterstützung ist allerdings selten und muss individuell ausgehandelt werden. Meister- und Technikerfortbildungen finanzieren die Beschäftigten selbst. Nach der Aufstiegsfortbildung zum Meister gehen allerdings viele zurück ans Band, wenn Plätze im Meisterentwicklungsprogramm von Daimler und entsprechende Stellen belegt sind. Frauen werden bei Daimler besonders ermutigt, sich als Meisterinnen zu qualifizieren. Das Ziel ist eine Meisterinnenquote von fünf Prozent. Bei ArcelorMittal gibt es ähnliche Unterstützungsstrukturen für Studium und Fortbildung, doch auch hier ist der Wechsel in eine adäquate Stelle nicht garantiert. Öffentliche Dienstleistungen Unter den befragten fünf Betrieben waren vier Non-Profit-Organisationen: Ein Kleinbetrieb, drei Mittelbetriebe und ein Großbetrieb (ein Krankenhaus). Alle Betriebe gehören nicht (mehr) zur öffentlichen Verwaltung, sind jedoch im Organisationsbereich von ver.di. Die tarifvertraglichen Regelungen entsprechen denen des öffentlichen Dienstes. In dem Krankenhaus und einem weiteren großen Betrieb werden regelmäßig betrieblich finanzierte fachliche Schulungen im technischen Pflege- oder Verwaltungsbereich angeboten, die auch vom Betriebsrat und den Beschäftigten mitinitiiert werden. In anderen Betrieben werden nach Einschätzung der Betriebsräte nur noch die gesetzlich verordneten Schulungen durchgeführt, etwa im Bereich Erste Hilfe oder grundlegende Arbeitssicherheit. Im Zusammenhang mit Mittelkürzungen und Stellenabbau verhindern, so die befragten Betriebsräte, Arbeitsverdichtung und Zeitmangel Möglichkeiten von Weiterbildung und Organisationsentwicklung. Selbst unbezahlte Freistellungen für individuelle Fort- und Weiterbildungen werden auch in den größeren Betrieben zunehmend schwieriger. Im Krankenhaus werden nach individueller Vereinbarung teilweise fachliche Aufstiegsfortbildungen kofinanziert. 107 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Aufstiegsmöglichkeiten sind allerdings auch hier unsicher, zum Teil aufgrund mangelnder Personalplanung. In Betrieben, wo Aufstiegsmöglichkeiten gänzlich fehlten, beschrieben die Betriebsräte die Situation als frustrierend und demotivierend für die Beschäftigten. Auch im Rahmen der Betriebsrätebefragung der Arbeitnehmerkammer 2012 gaben die Betriebsräte an, dass die eigene berufliche Weiterentwicklung (84 Prozent) sowie bessere Aufstiegsund Verdienstmöglichkeiten (56 Prozent) die stärksten Anreize für berufliche Weiterbildung sind. Vermehrt müssen also ›Sackgassenbereiche‹ in Betrieben identifiziert und Perspektiven geschaffen werden, damit Beschäftigte Zeit, Geld und Energie in Bildung investieren. Für Un- und Angelernte gibt es in den befragten Betrieben wenig oder keine Qualifizierungen und der Ressourcenmangel der öffentlichen Dienstleistungen wird hier besonders deutlich. In allen Interviews wurde die alternde Belegschaft im Betrieb problematisiert. In den größeren Betrieben sind zu dem Thema Arbeitsgruppen entstanden, die allerdings noch am Anfang stehen und auf wenig personelle Ressourcen zurückgreifen können. Im Krankenhaus gab es einzelne Umschulungen gesundheitlich beeinträchtigter Pflegekräfte, die anschließend im Verwaltungsbereich weiterbeschäftigt wurden. Einige Betriebsräte sahen allerdings kaum Möglichkeiten zur Gestaltung des demografischen Wandels durch Um- oder Weiterqualifizierungen, weil keine alternsgerechten Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Die Belastungen würden von den Beschäftigten einfach hingenommen, weil sonst der Verlust des Arbeitplatzes drohe. Hier sind auch Land und Kommunen aufgerufen, ihre ausgelagerten Betriebe zu unterstützen und beispielhafte Konzepte für die Bewältigung des demografischen Wandels zu entwickeln. 108 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Perspektivwechsel in Bremen Von Integration zu Vielfalt und Partizipation T H O M A S S C H WA R Z E R 1 In der Stadtgemeinde Bremen nennen in den öffentlichen Schulen 37 Prozent der Schüler/innen mit ›Migrationshintergrund‹ Türkisch als ihre Muttersprache, 15 Prozent Russisch und 7 Prozent Arabisch, aber auch Deutsch (6 Prozent), Polnisch (5 Prozent) und Kurdisch (4 Prozent). In Bremerhaven geben die Schüler und Schülerinnen mit ›Migrationshintergrund‹ hingegen zu 26 Prozent Russisch als Muttersprache an, 25 Prozent Türkisch und 18 Prozent Deutsch, aber auch Polnisch (6 Prozent) und Portugiesisch (4 Prozent). Das Schwerpunktthema des Berichts zur sozialen Lage hat sich 2012 den Migrantinnen und Migranten im Land Bremen gewidmet. Ihre Arbeits- und Lebenssituationen sind mittlerweile so vielfältig, dass es nicht mehr sinnvoll ist, von den Deutschen hier und den Migranten dort zu sprechen. In Bremen und Bremerhaven hat heute mehr als ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner einen sogenannten Migrationshintergrund, bei den Grundschülern trifft dies sogar auf fast die Hälfte zu. Alle gemeinsam leben wir in einer vielfältigen Stadtgesellschaft, die sich aus Menschen verschiedener Herkunft zusammensetzt. Die soziale Lage der Migrantinnen und Migranten wurde für den Bericht 2012 auch deshalb als Thema ausgewählt, weil kaum ein gesellschaftliches Thema immer wieder so hitzig und kontrovers in der Politik und der Öffentlichkeit debattiert wird. Diese Debatten werden häufig mit pauschalen Zuschreibungen, Vorurteilen und Populismus geführt. Schon um die Verwendung der ›richtigen‹ Begriffe wird intensiv gestritten. Zum Beispiel um das korrekte Wort für jene Menschen, deren Eltern oder die selbst aus einem anderen Land nach Deutschland und Bremen gekommen sind. ¢ Begriffswirrwarr ❚ Gastarbeiter/innen ❚ Ausländer/innen ❚ Aussiedler/innen ❚ Einwanderer ❚ Zugewanderte ❚ Migranten/innen ❚ Fremde ❚ Nichtdeutsche ❚ Eingebürgerte ❚ Zweiheimische ❚ Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte ❚ Schüler/innen mit Migrationshinweis ❚ Bewohner/innen mit Migrationshintergrund In Bremen und Bremerhaven hatten 2010 von den 660.000 Bewohnerinnen und Bewohnern 184.000 einen Migrationshintergrund (27,8 Prozent). Weit über die Hälfte von ihnen sind deutsche Staatsbürger (100.000). Und von allen im Land Bremen lebenden Menschen, die als Menschen mit Migrationshintergrund gezählt werden, ist fast ein Drittel in Deutschland geboren (53.000) und hat selbst keine Migrationserfahrung. Im Vergleich mit den deutschen Großstädten liegt die Stadt Bremen mit rund 28 Prozent bei den Menschen mit Migrationshintergrund im ›Mittelfeld‹. Die höchsten Anteile an Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationshintergrund haben Stuttgart (40 Prozent), Frankfurt am Main (39 Prozent), Nürnberg (39 Prozent) und München (36 Prozent). Sprachenvielfalt und Sprachförderung – Herausforderung für Kitas und Schulen Die besondere Vielfalt durch die verschiedenen Herkunftsländer und Erfahrungen wird im Land Bremen besonders bei den Kindern und Jugendlichen deutlich. Im Kindergartenalter wird bei 47 Prozent ein familiärer ›Migrationshintergrund‹ gezählt, im Schulalter bei 42 Prozent. Mit entsprechend vielen unterschiedlichen Muttersprachen1 kommen die Kinder und Jugendlichen in die Bremer Betreuungsund Bildungseinrichtungen. Je nachdem, in welchem Ortsteil eine Schule liegt, wie hoch dort der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit ›Migrationshintergrund‹ ist und aus welchen Herkunftsländern die Familien kommen, sind unterschiedlich viele Muttersprachen verbreitet. Lediglich in einer Bremer Schule ist Deutsch die einzige Muttersprache, an drei weiteren Schulen sind neben Deutsch lediglich zwei weitere Muttersprachen vorhanden. Dagegen gibt es an 56 Schulen 11 bis 15 ver- 109 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 1: Zahl der öffentlichen allgemeinbildenden Schulen nach Anzahl der in der Schule erfassten Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler, Schuljahr 2009/10 Stadt Bremen Bremerhaven Zahl der Schulen Zahl der Schulen 1 8 5 36 11 43 bis zu 5 Muttersprachen 6 bis 10 Muttersprachen 11 bis 15 Muttersprachen 17 56 mehr als 15 Muttersprachen Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen und Bremerhaven 2012, S. 180 schiedene Muttersprachen und an weiteren 36 Schulen mehr als 15 Muttersprachen. Es gibt sogar eine Schule, an der die Schülerschaft 26 Muttersprachen spricht. Angesichts dieser Sprachvielfalt wird in den Bremer Kindertagesstätten und Schulen derzeit wieder intensiv über Sprachförderung diskutiert. Neben den aktuellen bildungspolitischen ›Baustellen‹ der Inklusion und des ganztägigen Lernens, muss auch die Sprachförderung neu ausgerichtet und erheblich intensiviert werden. Nicht allein aus sozial-, bildungs- und integrationspolitischen Erfordernissen, sondern auch aus ausbildungs- und arbeitsmarktpolitischen Erwägungen. Diese Herausforderungen müssen benannt werden, sie sollten aber nicht den Blick verstellen auf die positiven Entwicklungen, gerade im Bildungsbereich. Denn mittlerweile schließen zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshinweis im Land Bremen ihre Schulzeit mit der mittleren Reife oder der Hochschulreife ab. Selbstverständlich zeigen die nachfolgend abgebildeten Zahlen, dass im Schuljahr 2009/2010 immer noch viel zu wenige Kinder mit einem Migrationshinweis Abitur machen (nicht ganz ein Viertel). Die Zahlen zeigen auch die starke soziale Spaltung der Bildungswege. Denn eine viel zu große Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit einem Migrationshinweis beendet ohne Abschluss ihre Schulzeit (10 Prozent) und weitere acht Prozent lediglich mit einer einfachen Berufsbildungsreife. Das bedeutet, dass sich fast jede/r fünfte Schüler/in mit einem Migrationshinweis mit ausgesprochen schlechten Chancen auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz machen muss oder nach einer häufig prekären Beschäftigung. Denn viele Unternehmen übergehen Bewerber selbst mit Haupt- oder Realschulabschlüssen oder aufgrund eines ausländisch klingenden Namens. Gleichzeitig stellt die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshinweis, die einen Realschulabschluss oder das Abitur erwerben, diejenigen Fachkräfte, nach denen die Unternehmen so intensiv suchen. Doch ein zu großer Anteil scheitert an Vorurteilen und nicht an seinen fehlenden Qualifikationen. 110 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 2: Schulabsolventinnen und -absolventen mit Migrationshintergrund nach Schulabschlüssen 2009, Land Bremen, in Prozent 42,5 allgemeine Hochschulreife (Abitur) 21,2 33,1 mittlerer Schulabschluss erweiterte Berufsbildungsreife einfache Berufsbildungsreife ohne Abschluss 41,1 11,8 19,5 6,4 8,0 6,1 10,2 20 ohne Migrationshintergrund 40 60 mit Migrationshintergrund Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen und Bremerhaven 2012, S. 277 Teilhabe durch Erwerbsarbeit in Bremen Ob Integration und Teilhabe tatsächlich gelingen, dafür werden vor allem im Bildungssystem entscheidende ›Weichen‹ gestellt. Entschieden wird über gelingende Integration und Teilhabe aber vor allem auf den regionalen Arbeitsmärkten. Über ein Viertel der erwerbsfähigen Menschen, die in Bremen und Bremerhaven leben, haben mittlerweile einen Migrationshintergrund. Das sind rund 115.000 Bremerinnen und Bremer. Ihre beruflichen Biografien sind ebenfalls vielfältig: Erfolgreich und hoch identifiziert mit ihrem Beruf oder auch am Hadern mit schlechten Jobs und mangelnden Möglichkeiten. Genaue Zahlen zu den Erwerbstätigen mit ›Migrationshintergrund‹ liegen für das Land Bremen nicht vor. Die Bundesagentur für Arbeit will erst im nächsten Jahr dieses statistische Merkmal erstmals ausweisen. Deshalb kann lediglich für die Ausländerinnen und Ausländer Näheres zu ihrer Arbeitsmarktintegration gesagt werden. Sie müssen sich auch in Bremen auf einem gespaltenen Arbeitsmarkt zurechtfinden. Dabei muss außerdem berücksichtigt werden, dass ein Teil der Ausländerinnen und Ausländer aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keine oder lediglich eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis erlangen kann und über begrenzte Zugänge zu den sozialen Sicherungssystemen verfügt. Die Erwerbsintegration der Ausländerinnen und Ausländer, anhand der vorliegenden statistischen Daten, zeigt dadurch das folgende Muster, beruhend auf vier Standbeinen: ❚ Fast 20.000 Ausländerinnen und Ausländer im Land Bremen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, rund 12.000 Männer und nicht ganz 8.000 Frauen. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und sie verfügen über eine solidere soziale Absicherung als die anderen Gruppen. Dennoch sind sie vor allem in Wirtschaftssektoren beschäftigt, in denen Niedriglöhne und flexible Arbeitszeiten (auch Wochenendarbeit) weit verbreitet sind: im Groß- und Einzelhandel, in der Arbeitnehmerüberlassung, in der Logistik/Lagerei, Verkehr und Kurierdiensten, in der Gastronomie und im Gebäudeservice. ❚ Rund weitere 8.500 Ausländerinnen und Ausländer sind geringfügig beschäftigt, fast 4.000 Männer und 4.500 Frauen. Ihre Anzahl ist in den vergangenen Jahren ebenfalls kontinuierlich angestiegen, während die Zahl der geringfügig beschäftigten Deutschen stagniert. Diese Ausländerinnen und Ausländer sind ausgesprochen schlecht sozial abgesichert, zumal sie ebenfalls vor allem in Wirtschaftssektoren beschäftigt sind, in denen Niedriglöhne weit verbreitet sind: im Gebäudeservice, in der Gastronomie, im Einzelhandel und im Bereich persönlicher Dienstleistungen beziehungsweise als Hauspersonal. ❚ Ein drittes Standbein sind Ausländerinnen und Ausländer, die sich selbstständig gemacht haben. Dieser Weg hat in den vergangenen Jahren durch die schwierige Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten, wie in Bremen, an Bedeutung gewonnen. Eine Fallstudie zum Bremer Stadtteil Gröpelingen zeigt, dass zwei Drittel der dortigen Selbstständigen materiell relativ stabil wirtschaften, ein Drittel sich jedoch in prekären Einkommenssituationen befindet. Es wird geschätzt, dass im Land Bremen etwa 9.000 Ausländerinnen und Ausländer als Selbstständige tätig sind. ❚ Weitere 8.000 Ausländerinnen und Ausländer sind im Land Bremen als arbeitslos gemeldet, rund 7.200 beziehen Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (Hartz IV) und rund 800 nach dem dritten Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld). 111 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Die Zahlen zur Armut und zur Arbeitslosigkeit verweisen auf massive Folgeprobleme für die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen im Land Bremen. Diese insgesamt prekäre Arbeitsmarktintegration der Ausländerinnen und Ausländer im Land Bremen zeigt sich zugespitzt in ihrer besonderen Armutsproblematik: 48 Prozent aller Ausländerinnen und Ausländer galten im Jahr 2011 als armutsgefährdet, aber auch 40 Prozent aller Menschen mit einem Migrationshintergrund. Die für einen erheblichen Teil der Ausländerinnen und Ausländer schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt wird meistens mit ihrem niedrigen Qualifikationsniveau erklärt. Tatsächlich gibt es aber weitere Ursachen: ❚ Die formale Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen ist in Deutschland mit besonderen Schwierigkeiten verbunden und soll erst jetzt verbessert werden. ❚ Viele Unternehmen übergehen Bewerberinnen und Bewerber mit Haupt- oder Realschulabschluss oder diskriminieren sie aufgrund eines ausländisch klingenden Namens. Leistungen werden entwertet, nur weil sie von Migranten erbracht wurden. Die Zahlen zur Armut und zur Arbeitslosigkeit verweisen auf massive Folgeprobleme für die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen im Land Bremen. Ein vergleichsweise hoher Anteil von deutschen und migrantischen Eltern ist erwerbslos, hat einen niedrigen Bildungsstand und lebt in Armut. 42 Prozent aller Kinder wachsen in Bremen mit mindes- tens einer dieser Risiken auf, 12,1 Prozent sogar mit allen drei Risiken. Das führt zu schlechten Startchancen, die bisher in den Bremer Betreuungseinrichtungen und Schulen nicht hinreichend ausgeglichen werden. Insbesondere in jenen Stadtquartieren, in denen ein hoher Anteil der Familien in materieller Armut lebt, können ihre Kinder nicht die Bildungs- und Lebenswege einschlagen, die für sie möglich wären: weil es die Einkommen der Eltern nicht zulassen, aber auch, weil die extreme Bremer Haushaltsnotlage einer optimalen Kinderbetreuung und exzellenten Schulen im Wege steht. Eine neue Phase der Bremer Integrations- und Partizipationspolitik? Bereits kurz nach der Wiedervereinigung begann in Bremen mit dem 1991 neu gegründeten Ressort für Kultur und Ausländerintegration eine neue Phase der Integrationspolitik. Die neuen Regelungen zum Staatsbürgerschaftsrecht im Jahr 2000 führten zu dem Beschluss, in einer Landeskonzeption Grundsätze, Leitlinien und Handlungsempfehlungen für die bremische Integrationspolitik zu entwickeln. Diese Konzeption bildete die Grundlage für das erste Bremer Integrationskonzept (2003 bis 2007), dem ein zweites Integrationskonzept (2007 bis 2011) folgte. Abb. 3: Beschäftigungssituation der Ausländerinnen und Ausländer im Land Bremen ausländische Bevölkerung Land Bremen 2011: 84.000 19.589 sozialversicherungspflichtige beschäftigte Ausländer/ innen 12.198 ca. 9.000 4.437 selbstständige Ausländer/innen 3.887 8.324 8.073 arbeitslose Arbeitslose Ausländer/innen 7.391 geringfügig entlohnte Ausländer/innen insgesamt rund 45.000 ausländische Erwerbstätige Frauen Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Statistik-Service Nordost, eigene Darstellung Männer 112 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Die besondere Vielfalt durch die verschiedenen Herkunftsländer und Erfahrungen wird im Land Bremen besonders bei den Kindern und Jugendlichen deutlich. 2 Es ist weiterhin für die Aufnahme und Versorgung von Asylbewerbern, Flüchtlingen, Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen zuständig sowie für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, für die Förderung von Migrationsberatungsstellen, für die Selbsthilfeförderung und für die Härtefallkommission. In diesen Integrationskonzepten wurden die vielfältigen Projekte und Initiativen zusammenfassend dargestellt und in einen konzeptionellen Rahmen mit Handlungsempfehlungen gestellt. Das zweite Integrationskonzept entstand parallel zum Nationalen Integrationsplan 2007, in dem die 16 Bundesländer in Form von Selbstverpflichtungen mit dem Bund gemeinsame integrationspolitische Leitlinien und ein koordiniertes Vorgehen verabredeten. Seit dem zweiten Integrationskonzept zielt die Bremer Integrationspolitik nicht allein auf die strukturelle und soziale Integration von Migrantinnen und Migranten. Orientiert an dem Grundsatz der interkulturellen Öffnung sollen sich auch die städtischen Institutionen und sozialen Dienste öffnen. Integration wird damit als Prozess wechselseitiger Öffnung betrachtet. Als ein wichtiger ›Baustein‹ für die Stärkung der Bremer Integrationspolitik hat sich der im Dezember 2004 gebildete Rat für Integration erwiesen. Trotz der üblichen Konkurrenz zwischen einzelnen Gruppen und Nationalitäten im Bremer Rat konnte er seine Arbeit über die Jahre verstetigen und professionalisieren. Zum Beispiel startete er zur Bürgerschaftswahl 2011 eine erfolgreiche Kampagne, um möglichst viele Bremerinnen und Bremer mit einer Migrationsgeschichte zur Teilnahme an der Wahl zu motivieren. Aktuell hat der Bremer Rat für Integration einen eigenen Büroraum im Gebäude der Bürgerschaft bezogen (im ›Europa-Punkt‹). Erstmals konnte, zur Unterstützung und Koordination der immer umfangreicher werdenden ehrenamtlichen Arbeit, eine eigene Verwaltungskraft eingestellt werden. Insgesamt ist es in den vergangenen Jahren durch die geschilderten Entwicklungen in Bremen, in der Bundespolitik und auch durch öffentliche Debatten zu einer deutlichen Aufwertung der Integrationspolitik gekommen. Einen weiteren, starken Rückenwind hat die Bremer Integrationspolitik aber vor allem durch das neue Wahlrecht bei der Bürgerschaftswahl 2011 erhalten. Dadurch bestand die Möglichkeit, mit seinen Stimmen nicht allein Parteilisten, sondern gezielt auch Kandidatinnen und Kandidaten – selbst von hinteren Plätzen – durch eine Konzentration der Stimmen zu wählen. Das führte dazu, dass erheblich mehr Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund als jemals zuvor und auch mehr als in anderen Stadt- und Landesparlamenten in die Bremische Bürgerschaft eingezogen sind. Aktuell ist die Bremische Bürgerschaft das Parlament in Deutschland mit den meisten Abgeordneten mit einer familiären Migrationsgeschichte. Diese durch die Wählerinnen und Wähler forcierte Öffnung der politischen Parteien und des parlamentarischen Betriebs hat zu einem erheblichen Schub an politischen und parlamentarischen Initiativen und Debatten um Integration, Partizipation und Migration geführt. Diese folgenreichen Entwicklungen in Bremen, die sich auch in anderen deutschen Großstädten in ähnlicher Art und Weise beobachten lassen, haben zu einer weiteren, überfälligen Aufwertung des Politikfeldes der Integration und Partizipation geführt. Das hat sich im Politikbetrieb in Bremen auch in der institutionellen Verankerung der Integrationspolitik niedergeschlagen. Zum einen wurde in der Bürgerschaft ein neuer Ausschuss speziell zur Integrationspolitik eingerichtet. Zum anderen wurde das Politikfeld Partizipation und Integration endlich auch in Bremen als Querschnittsthema konzipiert. Der Bereich Integrationspolitik und die Integrationsbeauftragte werden zentral in der Bremer Senatskanzlei angesiedelt, nicht mehr separat im Sozialressort. Dort verblieb lediglich das Referat Zuwanderungsangelegenheiten2. Ob mit dieser institutionellen ›Zweiteilung‹ eine Integrationspolitik ›erster Klasse‹ (in der Senatskanzlei) und ›zweiter Klasse‹ (im Sozialressort) verbunden sein könnte, muss aufmerksam beobachtet werden. 113 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Ein erstes Integrationskonzept auch für Bremerhaven Die beschriebenen Entwicklungen im Bundesland Bremen und in der Bundespolitik haben auch in Bremerhaven zu einer Neuorientierung in der Integrationspolitik geführt. Seit 2010 stellt sich auch die Seestadt den Herausforderungen einer möglichst systematischen, kommunalen Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe. In einem Beteiligungsprozess über zwei Jahre, mit unterschiedlichen Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus verschiedenen Politikfeldern Bremerhavens, wurden gemeinsame Zielvorstellungen, Handlungsfelder3 und Leitprojekte entwickelt. Bei diesem Prozess konnte aufgebaut werden auf das integrationspolitische Engagement im Projekt ›Lernen vor Ort‹, an lokale Projekte und die langjährige Arbeit des Rats ausländischer Mitbürger (R AM ) und des Bremerhavener Netzwerkes4 für Zuwanderinnen und Zuwanderer. Im Frühjahr 2013, wenn das neue Integrationskonzept offiziell vom Magistrat verabschiedet ist, soll ein ›Fachbeirat Integration‹ gegründet werden. Er wird sich aus Leitungskräften der Verwaltung und anderen Partnerinnen und Partnern in der Stadt zusammensetzen und soll die Umsetzung der neuen Leitprojekte konstruktiv begleiten. Handlungsfelder und Handlungsbedarfe ❚ Bremen und Bremerhaven haben ambitionierte Integrationskonzepte ›auf dem neusten Stand‹ entwickelt und die Integrationspolitik ressortübergreifend organisiert. Nun gilt es, die formulierten Aufgaben und Leitprojekte tatkräftig umzusetzen. Dafür existieren in der politischen Öffentlichkeit durchaus gute Rahmenbedingungen: vor allem, wenn das große Potenzial der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem sogenannten Migrationshintergrund in den Mittelpunkt gestellt wird. Sie sind die motivierten Fachkräfte, die überall gefordert werden. ❚ Die Potenziale der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund nutzen bereits etliche Unternehmen, insgesamt aber immer noch zu wenige. Die Arbeitgeber tragen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung dafür, Menschen mit einer anderen Herkunft eine Chance zu geben und sie auch innerbetrieblich zu fördern. Das schreibt das Betriebsverfassungsgesetz vor. Dieses Ziel müssen auch Gewerkschaften sowie Betriebsund Personalräte offensiver verfolgen. Die Bremer Stadtpolitik kann und muss dieses Ziel bei der Vergabe von öffentlichen Fördermitteln offensiv einfordern. ❚ Die Stadtpolitik in Bremen und Bremerhaven kann eine verbesserte Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt durch begleitende und beratende kleinteilige (lokale) Netzwerke intensiver unterstützen – durch den Aufbau von ›sozialem Kapital‹. ❚ Der derzeitige Aufbau der frühkindlichen Tagesbetreuung bietet die einmalige Chance, frühkindliche Sprachförderung – auf dem neusten Stand – fest zu etablieren. Die bisherige Förderung von einem Jahr vor der Einschulung ist bei Weitem nicht hinreichend. Integrierte Sprachförderung und die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit muss durch entsprechend qualifiziertes Personal von Anfang an gegeben sein – für deutsche und ausländische Kinder! ❚ Diese integrierte, wertschätzende Sprachförderung muss, wenn erforderlich, bis in die Mittelstufe konsequent weitergeführt werden – sonst sind neben den erforderlichen Sprachkompetenzen keine hinreichenden schriftsprachlichen Fähigkeiten zu erwarten. ❚ Strukturelle Diskriminierung muss offensiv angesprochen, offengelegt, dokumentiert und dann reduziert werden. ❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen unterstützt nachdrücklich die aktuellen Initiativen der Bremer Stadtpolitik zur Ausweitung des Ausländerwahlrechts im Bundesland Bremen. Politische Partizipation und das Recht an Wahlen teilzunehmen, fördert nachweislich die Integration, die Teilhabe und die Identifikation von Migranteninnen und Migranten. Deshalb darf das Wahlrecht nicht erst als ›Lohn‹ einer gelungenen Integration am Ende dieses Prozesses stehen. 3 Frühe Förderung und Elternarbeit, Schulabschlüsse, Berufsabschlüsse, Wirtschaft und Beschäftigung, interkulturelle Öffnung des öffentlichen Dienstes sowie Teilhabe/Partizipation und Bewusstseinsbildung. 4 Es handelt sich um einen freien Zusammenschluss von ca. 40 Organisationen, die über geplante Maßnahmen zur Integrationsförderung beraten, Stellungnahmen für Kostenträger abgeben sowie zur Förderwürdigkeit geplanter Projekte. Das Netzwerk wirkt planend, koordinierend, begleitend, empfehlend und bewertend bei Projekten und anderen Integrationsmaßnahmen. 114 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 EXKURS ¢ Anerkennung von Abschlüssen Als Weg zu qualifizierter Beschäftigung SUSANNE HERMELING 1 Vgl. Fohrbeck, Dorothea: Anerkennung ausländischer Berufsqualifikation. In: Bundesinstitut für Berufsforschung (BIBB), BWP 5/2012, S. 7. 2 Vgl. Rüb, Herbert: Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen. In: Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande Bremen 2011, S. 116–124. 3 Der Name ist geändert. Die im Folgenden aufgeführten Fälle sind auf Menschen zurückzuführen, die an Interviews im zweiten Halbjahr 2011 im Rahmen einer Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen zur Qualifizierung im SGB II teilgenommen haben. Von mehr als drei Millionen Inhaberinnen und Inhabern ausländischer Schul- oder Berufsabschlüsse hatten bis 2008 nur 20 Prozent einen Antrag auf Anerkennung ihrer Qualifikation gestellt. Nach einer Sonderauswertung des Mikrozensus 2008, die ein Prozent aller deutschen Haushalte erfasst, könnten allein aus dieser Gruppe schätzungsweise weitere 285.000 in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten eine Anerkennung ihrer Auslandsqualifikation beantragen. Die meisten – etwa 246.000 – haben einen berufsqualifizierenden Abschluss, etwa 23.000 bringen einen Meister- oder Technikerabschluss und etwa 16.000 einen (Fach-)Hochschulabschluss mit.1 Durch das Anerkennungsgesetz des Bundes2, das am 01.04.2012 in Kraft getreten ist, sollen nun die Wege zur Anerkennung, unabhängig von Herkunftsland und Aufenthaltsstatus, einfacher und transparenter werden. An Beispielen lassen sich die unterschiedlichen Wege und Möglichkeiten der Anerkennung am besten nachvollziehen: Frau Kusmin3 hat in der ehemaligen Sowjetunion sechs Jahre lang Pharmazie studiert und in Russland eine Apotheke geleitet. Nach sechs Jahren in Deutschland hat sie 2011 erstmalig wieder Kontakt mit ihrem Berufsfeld. In einem durch das Jobcenter finanzierten Lehrgang mit Deutschkurs, vermittelte man ihr ein unbezahltes Praktikum in einer bremischen Apotheke. Ihre Kenntnisse seien dort aber nicht abgefragt worden. In Deutschland werden Apothekerinnen gesucht, aber für die Berufsausübung in einem reglementierten Heilberuf braucht Frau Kusmin eine formale Anerkennung. Frau Kusmin kann nach dem Anerkennungsgesetz des Bundes ihre Zeugnisse beim bremischen Gesundheitsressort einreichen. In der Prüfung wird auch ihre zehnjährige einschlägige Berufstätigkeit berücksichtigt. Auch wenn keine volle, son- dern nur eine teilweise Gleichwertigkeit festgestellt wird, müssen die vorhandenen Kompetenzen in einem Bescheid ausführlich dargestellt werden. Im Bescheid werden auch die zu einer Vollanerkennung fehlenden Qualifikationen beziehungsweise Inhalte aufgeführt. Bei einer Teilanerkennung von reglementierten Berufen, haben die Antragstellerinnen und Antragsteller außerdem das Recht auf eine Anpassungsmaßnahme. Das bedeutet nicht, dass eine Weiterbildung gefördert wird, sondern, dass sie im Regelfall eine zeitlich beschränkte Berufserlaubnis bei einem Arbeitgeber in Deutschland erhalten. In dieser Zeit sollen sich die Antragstellerin und der Antragsteller auf eine abschließende Eignungsprüfung vorbereiten. Durch das zum Anerkennungsgesetz gehörige Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) sollen sämtliche Verfahren vereinheitlicht werden. Darin besteht aber schon die Herausforderung für die zuständigen Stellen in den einzelnen Bundesländern, denn wie genau zum Beispiel eine Eignungsprüfung konzipiert ist und wer sie durchführt, ist im Gesetz nicht beschrieben. Reglementiert sind in Deutschland etwa 60 Berufe in der Medizin, im zulassungspflichtigen Handwerk, im Ingenieurswesen, im Unterrichtswesen sowie im Sozial- und Erziehungsbereich. Ärztinnen, Architekten, Lehrer, Altenpflegehelferinnen oder Bäckermeister müssen also bestimmte Qualifikationen nachweisen, um ihren Beruf ausüben zu können. Eingeschränkte Berufserlaubnisse sind zeitlich befristet und auf bestimmte Bereiche beschränkt. Für EU-Bürger ist die Anerkennung für reglementierte Berufe über die EU-Berufsanerkennungsrichtlinie (2005/36/EG) unkompliziert geregelt. Die Ausbildung muss allerdings nach dem EU-Beitritt des Mitgliedslandes absolviert worden sein und damit den EU-Mindestanforderungen unterliegen – 115 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION das ist zum Beispiel für polnische Ausbildungen nach 2005 der Fall. Für Spätaussiedler besteht eine gesetzliche Regelung schon länger mit dem Bundesvertriebenengesetz. Mit dem Anerkennungsgesetz des Bundes haben nun auch Inhaberinnen und Inhaber mit Qualifikationen aus Ländern außerhalb der EU (sogenannte Drittstaaten) einen Rechtsanspruch darauf, die Gleichwertigkeit ihrer Ausbildung mit dem deutschen Berufsabschluss in einem dreimonatigen und individuellen Verfahren prüfen zu lassen. Auch aus dem Ausland können Anträge gestellt werden. Welche Stelle für die Anerkennung zuständig ist, hängt vom jeweiligen Abschluss ab. Bei Frau Nowak, die in Polen Friseurin gelernt hat, ist der Fall relativ einfach. Das BQFG des Bundes regelt alle dualen Ausbildungsberufe, deren Prüfung den Kammern obliegt. Die Handwerkskammer Bremen würde in diesem Fall einen individuellen Bescheid über die volle oder teilweise Gleichwertigkeit ausstellen. Wenn Nachweise fehlen, werden Fachgespräche oder Arbeitsproben anberaumt. Das ist insbesondere für ›papierlose‹ Flüchtlinge existenziell. Auf Bundesebene läuft dazu das Modellprojekt ›Prototyping‹ zur Standardisierung von Qualifikationsanalysen in Kooperation von Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern. Um in dem reglementierten Beruf Friseurmeisterin arbeiten zu können, ist eine volle Gleichwertigkeitsbescheinigung nötig. Als Friseurin kann Frau Nowak jedoch auch mit einer Teilanerkennung arbeiten. Arbeitgeber können sich zur Einschätzung ihrer Qualifikation an dem differenzierten Bescheid orientieren. Offen ist allerdings, wie die Teilanerkennungen auf dem Arbeitsmarkt ankommen werden. Durch die Teilnahme an Weiterbildungen kann eine volle Anerkennung später erteilt werden. Doch entsprechende Konzepte für Anpassungsqualifizierungen stecken noch in den Kinderschuhen. Außerdem steht die Finanzierung solcher Maßnahmen zur Disposition. Schon für die Anerkennung müssen die Antragstellerinnen und Antragsteller mit mehreren Hundert Euro Kosten rechnen. Eine Weiterbildung wird dann in der Regel noch erheblich teurer. Nach Auskunft der Handwerkskammer Bremen gibt es gerade für Metall- und Elektroberufe Bedarf an Anpassungsqualifizierungen. In diesem Bereich hatte auch Herr Said seine Ausbildung im Irak absolviert. Inzwischen hätte er die Möglichkeit bei der IHK FOSA in Nürnberg, der zentralen Anerkennungsstelle für alle Industrie- und Handelskammern, eine Gleichwertigkeitsprüfung für den Beruf Industriemechaniker oder Mechatroniker zu beantragen. Seine Qualifikation ist allerdings veraltet, denn während seines zehnjährigen Aufenthalts in Deutschland hat er nur in der Gastronomie gearbeitet. Die Förderung einer Umschulung wurde aufgrund eines negativen Testergebnisses bei der Agentur für Arbeit nicht bewilligt. Statt einer Umschulung könnte im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens auch eine vom Jobcenter geförderte Weiterbildung mit begleitender Deutschförderung ihm den Wiedereinstieg in seinen Beruf ermöglichen – diese Möglichkeiten müssen deutlich verbessert und ausgebaut werden. Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) des Bundes regelt alle bundesgesetzlich geregelten Berufe. Für die Berufe in Länderzuständigkeit gibt es in Bremen derzeit noch kein entsprechendes Gesetz. An einem LandesGesetz wird derzeit gearbeitet. Es soll für soziale und Erziehungsberufe, Lehrer oder Inhaber von landesgesetzlich geregelten Fortbildungsabschlüssen, wie Technikern, transparente Verfahren ermöglichen. Auch die Berufe Ingenieur und Architekt fallen in Länderzuständigkeit, im Bremischen Ingenieur- und im 116 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 4 Die GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) ist ein loser Zusammenschluss verschiedener Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. 5 Vgl. Bremische Bürgerschaft, Landtag, Drucksache 18/243 vom 15.02.2012: Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen – Konzept zur Umsetzung des Bundesgesetzes im Land Bremen. 6 Das IQ Netzwerk Bremen wird von der RKW Bremen GmbH (www.rkw-bremen.de) koordiniert. Architektengesetz wird aber voraussichtlich kein Bezug zum Landes-BQFG verankert. Viele der bisher gestellten Anträge fallen in Länderzuständigkeit. Einen ersten Überblick über die bisherige Resonanz auf das Anerkennungsgesetz gibt die Auswertung der bundesweiten Anerkennungsberatung bei den IQ-Beratungsstellen (›Integration durch Qualifizierung‹). Rund 2.300 Menschen wurden dort in der Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 2012 beraten. Zwei Drittel der Ratsuchenden waren Frauen. Etwa ein Drittel aller Abschlüsse wurde in den GUSStaaten4, Polen oder der Türkei erworben. Über die Hälfte hatte mindestens einen Hochschulabschluss. Bei den Beratungsgesprächen stand der Beruf Lehrerin mit 17 Prozent an erster Stelle, gefolgt von den Berufen Ingenieurin, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Ökonomin, Ärztin und Erzieherin. Über ein Drittel der nachgefragten Berufe ist landesrechtlich reglementiert. Auch die wichtigen zuständigen Stellen in Bremen bearbeiten viele Anträge aus den osteuropäischen Ländern und den GUSStaaten. Beim Bildungsressort sind in den vergangenen Jahren 50 bis 60 Anträge pro Jahr gestellt worden, zu zwei Dritteln von Lehrerinnen aus den genannten Staaten, die oft von sich aus den Referenzberuf Erzieherin wählen. Die Hälfte dieser Antragstellerinnen kann Berufserfahrungen in Deutschland mit Kindern im Vorschulalter nachweisen. Die IHK FOSA hat vom 1. April 2012 bis 1. Februar 2013 über 2.000 Anträge bearbeitet. Von 700 ausgestellten Bescheiden bescheinigten 70 Prozent die volle Gleichwertigkeit. Aus dem Handelskammerbezirk Bremen kamen 22 Anträge. Schwerpunktberufe waren unter anderem Mechatroniker und Groß- und Einzelhandelskaufleute. Die Handwerkskammer Bremen hat im Zeitraum April bis Ende September 2012 36 Antragsverfahren eröffnet, die Hälfte davon im Gewerk Friseure. Sowohl in der Handelskammer als auch in der Handwerkskammer wurden wesentlich mehr Anträge von Männern gestellt. Viele Anträge kamen von Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten und Leiharbeitnehmern. Gerade in diesen Gruppen wird es im Land Bremen noch viele potenzielle Antragsteller geben, die es mit dem Angebot zu erreichen gilt. Die Regierungskoalition hat im Februar 2012 einen Bericht zur Umsetzung des Anerkennungsgesetzes im Land Bremen gefordert.5 Wichtige Fragen werden dort aufgeworfen, die baldmöglichst landesweit evaluiert und angegangen werden müssen. Dabei ist die enge Zusammenarbeit mit dem Netzwerk IQ (Integration durch Qualifizierung) zu suchen. Das IQ Netzwerk Bremen setzt seine Schwerpunkte darauf, den Informationstransfer zwischen den verschiedenen beratenden und anerkennenden Stellen zu gewährleisten, die Qualität der bestehenden Strukturen zu erhöhen und eine Plattform für Bedarfsermittlung und Konzeptentwicklung anzubieten.6 117 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Handlungsempfehlungen ❚ Eine vom Bundministerium für Bildung und Forschung beauftragte Studie7 lieferte jüngst Befunde über Diskriminierungserfahrungen von Ingenieurinnen und Naturwissenschaftlerinnen in der Arbeitsverwaltung. Qualifikationen wurden dort entwertet, indem Arbeitsberater in unterwertige und oft frauentypische Qualifizierungen oder Beschäftigung vermittelten. Die Beratung durch interkulturell sensibilisiertes Personal ist daher ein wesentlicher Punkt nicht nur für Anerkennungsstellen, sondern auch für ›vorgelagerte‹ Institutionen wie die Agentur für Arbeit und das Jobcenter, um qualifikationsadäquate Vermittlungen zu ermöglichen. ❚ Potenzielle Antragsteller sollten aktiv informiert werden. Neben Betrieben wäre auch hier die Arbeitsverwaltung die erste Adresse. Bisher als ›ohne Berufsabschluss‹ geführte Arbeitsuchende mit Auslandsqualifikationen müssten ausfindig gemacht und beraten werden. ❚ (Bundesländerübergreifende) Entwicklungen von Anpassungsqualifizierungen bieten sich insbesondere für die Berufe Erzieherin sowie Metall- und Elektroberufe an. Im Land Bremen gibt es bisher nur eine Anpassungsqualifizierung für Pflegekräfte aus dem Ausland beim Paritätischen Bildungswerk. ❚ Die Finanzierung von Anerkennungsverfahren und die Teilnahme an Anpassungslehrgängen muss geregelt werden. Das Land Hamburg beispielsweise hat für diesen Zweck ein eigenes Stipendienprogramm aufgelegt. Anerkennungsverfahren werden voll bezuschusst und Förderungen für Anpassungsqualifizierungen, in Anlehnung an BAföGRichtlinien vergeben. ❚ Zuständigkeiten, Verfahren und Bescheide sollen verständlich und transparent sein. Dazu gehört auch eine ausreichende Ausstattung der zuständigen Stellen mit entsprechend geschultem Personal, damit die Bearbeitung von Anträgen in der Dreimonatsfrist realistisch zu leisten ist. ❚ Ein weiteres wichtiges Feld wäre eine an Arbeitgeber gerichtete Aufklärungskampagne, die für die Gleichwertigkeitsbescheide als gültige Qualifizierungsnachweise wirbt. ¢ Gut zu wissen: Informationen für Anerkennungssuchende Wegweiser zur Anerkennungsberatung vom IQ Netzwerk Bremen ❚ www.arbeit.bremen.de/sixcms/media.php/13/deutsch_internet_2011.pdf Bundesweit ❚ www.anerkennung-in-deutschland.de ❚ www.anabin.kmk.org Informationsportal für zuständige Stellen und Unternehmen ❚ www.bq-portal.de Die Netzwerke IQ www.netzwerk-iq.de entwickeln Instrumente, Handlungsempfehlungen sowie Beratungs- und Qualifizierungskonzepte, die von den regionalen Stellen in den Bundesländern umgesetzt werden. 7 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Arbeitsmarktintegration hochqualifizierter Migrantinnen – Berufsverläufe in Naturwissenschaft und Technik, 2012 www.bmbf.de/pub/ arbeitsmarktintegration_hochqualifizierter_ migrantinnen.pdf 118 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen Was Mariechen lernt, wird Marie noch lange nicht! SUSANNE ACHENBACH / DR. ESTHER SCHRÖDER Es gibt etwas zu feiern! Jedenfalls suggerierte dies ein Flyer mit einem beschwingt geschriebenen ›Happy Birthday‹, der die Politikberatung der Arbeitnehmerkammer Bremen Mitte vergangenen Jahres erreichte. Eingeladen wurde zum Jubiläum ›Ein Jahr 1. Gleichstellungsbericht für Deutschland‹. Insgesamt wurde dieser Bericht aus unserer Sicht viel zu wenig diskutiert und vor allem beherzigt. Weil wir ihn politisch in besonderer Weise würdigen wollten, stellten wir im Oktober 2012 die Analysen und Empfehlungen einer breiten Öffentlichkeit vor und konfrontierten diese mit der Situation vor Ort. Expertinnen der Arbeitnehmerkammer warfen politisch wie rechtlich Schlaglichter auf gleichstellungsrelevante Fragen und Problemlagen. In Kooperation mit der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF ) holten wir damit den ersten Gleichstellungsbericht aus den Schubladen, um ihn Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zur Erledigung seiner Inhalte auf die Schreibtische zu legen. Hundert Jahre nach dem ersten Frauentag veröffentlichte die Bundesregierung im Juni 2011 diesen Bericht mit dem Titel ›Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf‹, erarbeitet von einer interdisziplinär zusammengesetzten Sachverständigenkommission. Im Fokus stehen Rollenbilder und Recht, Bildung und Ausbildung, Frauenerwerbstätigkeit, Teilzeit und Minijobs, Erwerbsunterbrechungen, Frauen in Führungspositionen, die geschlechtsspezifische Lohnlücke und Niedriglöhne, Erwerbsarbeits- und Familienzeiten, Alterssicherung sowie Pflege und Pflegebedürftigkeit. Anerkennung verdient nicht allein die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen, vor allem die Vorlage einer für Deutschland ersten umfassenden Bestandsaufnahme in Sachen Geschlechter (un) gerechtigkeiten und neue Ideen zur langfristigen Entwicklung einer konsistenten Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer. Trotz erheblicher Fortschritte in der Gleichstellungspolitik fehlte es in Deutschland bisher an einem gemeinsamen Leitbild. So stehen politische und rechtliche Maßnahmen für unterschiedliche Lebensphasen viel zu oft unverbunden nebeneinander; infolgedessen werden gleichzeitig Anreize für sehr verschiedene Lebensmodelle gesetzt, bis hin zur Widersprüchlichkeit. Unterstützung in der einen Lebensphase bricht in der nächsten weg oder weist in eine völlig andere Richtung (zum Beispiel Ehegattensplitting/Scheidungsrecht). Die Errungenschaft des Bundesgleichstellungsberichts liegt somit in der eingenommenen Lebensverlaufsperspektive, nach der langfristige Auswirkungen bestimmter Entscheidungen und Arrangements betrachtet werden. Welche Rolle spielen die zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffenen Entscheidungen im weiteren Leben? Diese Sicht kennzeichnet moderne Gleichstellungspolitik nicht mehr nur als Querschnitts-, sondern auch als Längsschnittaufgabe – mit dem Ziel der Sicherstellung gleicher und tatsächlicher Wahlmöglichkeiten und Verwirklichungschancen für Frauen und Männer. Es geht also nicht um ›Gleichmacherei‹ der Geschlechter, sondern immer um eine Gleichverteilung von Ressourcen ungeachtet der Geschlechterzugehörigkeit. Sobald nicht nur Momentaufnahmen von Lebensereignissen und getroffenen Entscheidungen für Gleichstellungspolitik relevant sind, sondern vielmehr deren Ursachen und langfristigen Folgewirkungen in den Blick genommen werden, zeigen sich die Knotenpunkte Bildung und Ausbildung am Beginn weiblicher und männlicher Erwerbsbiografien in ihrer Wichtigkeit besonders deutlich: 119 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Hier werden gleichstellungspolitische Weichen gestellt, die später nur schwer oder gar nicht mehr korrigierbar sind. Nicht zuletzt geht es auch um die Nutzung aller Potenziale in unserer Gesellschaft – angesichts des demografischen Wandels und eines wachsenden Fachkräftebedarfs unverzichtbar. Geschlechtergerechtigkeit und Bildung stehen gerade bei Einnahme der Lebensverlaufsperspektive in einer engen Beziehung. So behindern zum Beispiel Geschlechterinszenierungen und (überzeichnende) Rollenklischees sowohl junge Frauen als auch Männer auf ihrem Bildungsweg – jedoch auf höchst unterschiedliche Weise. Wir sehen zunächst: Junge Frauen verwirklichen im allgemeinbildenden Schulsystem Bildungsaspirationen und -chancen besser, sie eignen sich Bildungsinhalte leichter an – und sie erzielen formal die höheren Bewertungen und Abschlüsse. Oft wird dieser in der Wissenschaft sehr gut belegte und auch öffentlich bekannte Sachverhalt der Vermutung zugeschrieben, dies liege vor allem an der Angepasstheit und Bravheit von Mädchen. Diese Deutung jedoch verkennt und diskreditiert bereits am Anfang des Bildungs- und Lebensweges die Leistung und die Potenziale junger Frauen – und hat somit selbstverständlich negative Wirkungen. Daher ist es für uns eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit, bereits hier zu intervenieren: Die Ursachen für unterschiedlich gute Schulleistungen von Mädchen und Jungen sind angemessen zu erklären – und in der Folge im Schulalltag für beide Geschlechter optimale Bedingungen herzustellen, wobei es sich um eine noch weitgehend ungelöste Aufgabe der Bildungspolitik und der Pädagogik handelt. Der Berliner Wissenschaftler Marcel Helbig1 liefert hierfür sachdienliche sozialpsychologische Ansätze, die sich erfrischend von mediengängigen Klischees abheben. ›Boy crisis‹? – die Bildungskrise der Jungen durch ein sie benachteiligendes Schulwesen gibt es nicht, sagt er, auch wenn sie in den Medien immer wieder beschworen wird. Denn Marcel Helbig weist nach, dass Jungen schon seit mehr als 100 Jahren schlechtere Noten bekommen als Mädchen. Die sinnfällige Frage: ›Warum bekommen Jungen schlechtere Schulnoten?‹ – und wie kommt es zu den Leistungsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen – erklärt er unter anderem mit einer nicht angemessenen schulischen Leistungsbereitschaft von Jungen. Sie resultiert zunächst aus der Zuschreibung einer gleichsam natürlichen Begabung, Kompetenz und Überlegenheit auch in Lernangelegenheiten durch das erwachsene Umfeld. Mit dieser Haltung können Lern-Kompetenzen weniger gut erworben werden beziehungsweise es prägen sich Verhaltensweisen aus, die zu schlechteren Noten führen. Männlichkeitsinszenierungen und schulischer Erfolg passen, vor allem in der Pubertät, nicht zusammen. ›Peergroups‹, die persönlich wichtigen Gleichaltrigen, werten Schulerfolg und Lernanstrengungen als unmännlich, als weibisch ab. Dies verändert sich allenfalls mit der Aufnahme eines karriereträchtigen Studiums; Zielstrebigkeit und Leistungswillen werden erst hier zu anerkannten männlichen Attributen. Die Verweigerung von Schulerfolg hat Konsequenzen: Wer ohne oder mit nur geringer schulischer Qualifikation auf dem Ausbildungsmarkt konkurrieren will, hat keine Chance. Während Mädchen sich insgesamt also angemessenere Strategien aneignen, mehr Kompetenzen erwerben und höhere Leistungen erzielen, sind sie dennoch bereits in der Schule mit Schwierigkeiten konfrontiert, erzielte Resultate und Wirksamkeit auch sich selbst und ihrem Erfolgshandeln zuzuschreiben. Wenn solche Selbstzweifel nur mäßig ausgeprägt sind, können sie durchaus einen weiter anspornenden Effekt auf die Einsatzund Leistungsbereitschaft haben. Gängige Weiblichkeitsinszenierungen haben indessen negative Effekte und wirken dem Ausschöpfen von Potenzialen entgegen – 1 Vgl. Helbig, Marcel (2012) Warum bekommen Jungen schlechtere Schulnoten als Mädchen? Ein sozialpsychologischer Erklärungsansatz. In: Zeitschrift für Bildungsforschung, 2, 1, S. 41–54. 120 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Insgesamt sind mehr Männer in der dualen Berufsausbildung. Das Verhältnis war in 2011 sowohl im Bundesdurchschnitt als auch in Bremen etwa 3 : 2. 2 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2013): Unsere Leistungen im Überblick 2012, S. 26 f. 3 Vgl. www.bibb.de/ dokumente/pdf/naa 309_2011_tab67_ 0bund.pdf zumal noch immer Intellekt und Frausein nicht gleichzeitig ins Rollenbild beziehungsweise -klischee passt. Die feministische Provokation ›Pink macht dumm‹ ist daher durchaus nicht abwegig. Vor allem durch die Medien verbreitete übersexualisierende und geradezu verblödende weibliche Rollenzuschreibungen wirken auf Selbstwertgefühl und Eigenständigkeit junger Frauen destruktiv und beeinflussen so auch die Berufswahl und damit verbundene Lebensperspektiven. Bei einem Teil der jungen Frauen, die keine oder nur eine geringe schulische Qualifikation erworben haben, beobachten wir im direkten Kontakt2 mit ihnen häufig sehr bedenkliche – passive und abhängigkeitsbejahende Haltungen. Sie sehen kaum Anlass, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, die über kosmetische Aktivitäten hinausgehen. Dabei scheint die Investition von Ressourcen in ein attraktives Äußeres unter ökonomischen Gesichtspunkten sogar sinnvoll – solange, wie es die Soziologin Jutta Allmendinger prägnant formuliert, der Heiratsmarkt immer noch attraktiver ist als der Arbeitsmarkt, um die weibliche Existenz zu sichern. Ihre diesbezügliche Feststellung gilt allerdings nicht nur für junge Frauen aus (bildungs-)benachteiligten Milieus, die sich mangels realer Alternativen allenfalls in Traumwelten bewegen und in vagen Hoffnungen verlieren. Auch für einen weitaus größeren Teil der jungen Frauen wird es problematisch, wenn offenbar von ihren prinzipiell geringeren Erwartungen an ihre persönliche Bildungsrendite Entscheidungen auf dem Lebens- und Berufsweg abhängen. Sie schrauben im Zweifelsfall – vor dem Erfahrungshintergrund, dass weiblicher Berufserfolg schwerer zu erzielen ist, prophylaktisch ihre Ansprüche an eine berufliche Karriere herunter, selbst wenn sie über einen Abschluss mit hohem Tauschwert verfügen. Ein wesentlicher Einflussfaktor ist dabei: Weibliche Berufswahl bezieht die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Karriere von vornherein mit ein. Besonders heikel ist es, dass zu viele junge Frauen allem Anschein nach weder dazu erzogen noch darüber informiert werden, dass sie von ihrem Beruf auch ihre Existenz eigenständig bestreiten können sollten. Daher ist die Wahl junger Frauen von Berufen mit nicht existenzsichernder Entlohnung und schlechten beziehungsweise belastenden Arbeitsbedingungen immer noch ein gravierendes Problem mit langfristigen Folgewirkungen. Folgewirkungen, die im späteren Erwerbsverlauf oft nicht mehr zu korrigieren sind. Während die Bildungsbiografien junger Männer häufiger auf das Fehlen der notwendigen formalen Qualifikationen hinauslaufen – das ›Ticket‹ zur Verwirklichung ihrer Bildungsaspirationen seltener erworben wird, nutzen junge Frauen ihre erreichten Zugangsberechtigungen und ihre vorhandenen Potenziale nicht im möglichen Maße. Geschlechtstypische Berufswahl Die Berufswahl junger Menschen, die in die Ausbildung starten, wird seit vielen Jahren als relativ statisch wahrgenommen. Das Gros verteilt sich auf immer wieder die gleichen Berufe, wobei die Hitliste3 von Einzelhandelskaufleuten, Verkaufspersonal, Bürokaufleuten, Kraftfahrzeugmechatronikern, Industriekaufleuten und Kaufleuten im Groß- und Einzelhandel angeführt wird. Die Tendenz zu geschlechterrollenkonformer Berufswahl ist ungebrochen. Dazu einige Kennziffern: Insgesamt sind mehr Männer in der dualen Berufsausbildung. Das Verhältnis war in 2011 sowohl im Bundesdurchschnitt als auch in Bremen etwa 3:2. Anders sieht es bei den traditionell weiblich ›dominierten‹ vollzeitschulischen Bildungsgängen aus. Hier liegt der Anteil der Männer im Bund und in Bremen bei etwa 20 Prozent; das gleiche Bild zeigt sich etwa für den Beruf Erzieherin/Erzieher sowie den Anteil der jungen Männer in den Schulen des Gesundheitswesens. 121 GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION Abb. 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Berufsbereichen im Land Bremen am 31.12.2011 Abb. 2: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge nach Berufsbereichen im Land Bremen am 31.12.2011 männliche Azubis weibliche Azubis 36% weitere Berufsbereiche 18% Elektroberufe 11% weitere Berufsbereiche Groß- und Einzelhandelskaufleute 8% Büroberufe, kaufm. Angestellte 21% Büroberufe, kaufm. Angestellte 7% übrige Gesundheitsdienstberufe 11% andere Dienstleistungskaufleute, Ein- und Verkauf 7% andere Dienstleistungskaufleute und zugehörige Berufe 10% Fahr-, Flugzeugbau und -wartungsberufe 6% Groß- und Einzelhandelskaufleute 10% Rechnungskaufleute, Informatiker 6% Verkaufspersonal 9% Lagerverwalter, Lager- und Transportarbeiter 5% Hotel- und Gaststättenberufe 7% Maschinenbau- und -wartungsberufe 4% Bank-, Bausparkassen- und Versicherungsfachleute 5% Köche 4% Berufe in der Körperpflege 5% Metall- und Anlagenbauberufe 3% Berufe in der Unternehmensleitung, -beratung und -prüfung 2% Maler und Lackierer 3% Haus- und ernährungswirtschaftliche Berufe 2% Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte: Beruf liche Bildung im Land Bremen am 31.12.2011, Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen und Darstellung Die Abbildungen 1 und 2 zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen nach Berufsbereichen im Land Bremen machen die geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich. Für die jungen Frauen zeigt sich ein bedenklich enges Berufswahlspektrum: Gut 80 Prozent der neuen weiblichen Auszubildenden verteilen sich auf die zehn häufigsten Berufsbereiche. Mehr als die Hälfte von ihnen findet sich in nur vier Bereichen wieder. Nicht einmal jede fünfte junge Frau hat die Wahl eines ›sonstigen Berufs‹ außerhalb dieses Schemas getroffen. Zwei von drei neuen männlichen Azubis finden sich in den elf beliebtesten Berufsbereichen wieder. Immerhin hat ein gutes Drittel mit einem sonstigen Beruf eine Wahl außerhalb der ›Top Ten‹ getroffen und damit doppelt so viele wie im Vergleich zu den jungen Frauen (36 Prozent gegenüber 18 Prozent). Dass die Berufswahl eine determinierende Bedeutung für die Berufs- und Lebenschancen hat, liegt auf der Hand und erklärt bei einer Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte: Beruf liche Bildung im Land Bremen am 31.12.2011, Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen und Darstellung tiefergehenden Analyse zum Teil auch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich ihrer finanziellen Situation. Abb. 3: Anzahl der Schulentlassenen ohne Abschluss, Land Bremen 2005–2011 800 männlich 700 weiblich gesamt 690 580 600 593 530 500 463 432 400 415 360 426 375 311 300 258 271 220 218 253 256 162 170 2010 2011 219 192 200 100 0 2005 2006 2007 2008 2009 Quelle: Senatorin für Bildung und Wissenschaft, Abteilung Statistik 2013 122 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Für beide Geschlechter fatal sind Bildungswege, die zu keinem verwertbaren Abschluss und somit in Sackgassen führen. Dieses Problem ist leider nicht überwunden; 2011 konnten in Bremen nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht 426 Jugendliche keinen verwertbaren Schulabschluss erwerben. Der Prozentsatz von Jugendlichen ohne Schulabschluss an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung liegt bei 7,1 Prozent. Wie in den vergangenen Jahren zeigt sich, dass es weitaus weniger junge Frauen als Männer sind, die an der Schule scheitern, wobei ihr Anteil seit 2005 in der Tendenz von 37 auf 40 Prozent gestiegen ist. Das gute und auch realistische Ziel der Landesregierung, eine Quote von fünf Prozent junger Menschen ohne Schulabschluss zu erreichen, wurde damit verfehlt. Aber: Selbst eine verringerte oder erreichte Quote entbindet nicht von der Pflicht, eine Lebens- und Berufsperspektive für alle Jugendlichen bereitzuhalten. Wenn die Optionen und Perspektiven für den Berufs- und Lebensweg mangelhaft sind, darf nicht reflexhaft auf die bildungsfernen und sozial schwachen Herkunftsfamilien verwiesen werden; die die Verantwortung für die Misere tragen sollen. Vielmehr müssen defizitäre Bedingungen und Angebote des Bildungswesens, das bekanntermaßen Benachteiligung nicht auszugleichen vermag, sondern mitunter selbst hervorruft, selbst einer kritischen Bilanz unterzogen und Verbesserungen eingeleitet werden. Dazu gehört es, Genderkompetenz in Bildungspolitik und Pädagogik zu verankern: 123 Vor dem Hintergrund, dass geschlechterbewusster und -fördernder Unterricht noch eher die Ausnahme als die Regel ist, erscheint vor allem die Lehreraus- und -fortbildung stark ausbaufähig. Ähnliches gilt auch für die kompetente und kontinuierliche Anleitung und Begleitung des Berufswahlprozesses. Denn in beiden – wie wir aufgezeigt haben, eng verknüpften – Bereichen, können neue Wege der Gerechtigkeit, sowohl in der Bildung als auch zwischen den Geschlechtern geschaffen werden. Sich auf neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit zu begeben, heißt eben, die Kraft und den Mut aufzubringen, die alten ausgetretenen Pfade zu verlassen und gut gerüstet mit festem Schuhwerk und mit dem Leitbild des Gleichstellungsbe- richts als Kompass voranzugehen. Insbesondere gilt es, in allen Politikbereichen die Alltagsbefunde von Geschlechterungerechtigkeiten bewusst und transparent zu machen. Vor allem in der Bildungspolitik Bremens reichen isolierte Betrachtungen nicht, Klagen allein schon lange nicht mehr. Politikberatend gilt es, die Hinweise der Wissenschaft aufzunehmen, das Für und Wider auch der bildungspolitischen Handlungsempfehlungen des ersten Bundesgleichstellungsberichts abzuwägen. Denn Bildung und Ausbildung sind die ersten Meilensteine im Erwerbsverlauf und Knotenpunkte tragender Lebensentscheidungen. Es gibt erst dann etwas zu feiern, wenn aus Lebensverläufen tatsächlich Lebensfairläufe werden. 124 3 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Soziales und Stadtentwicklung 125 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Familien müssen planen Bremen und die Bundespolitik taktieren und improvisieren beim U3-Ausbau T H O M A S S C H WA R Z E R Analysen des Statistischen Bundesamtes vom November 2012 zeigen: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland verläuft viel zu schleppend. Bundesweit fehlten im März 2012 noch 220.000 Plätze, wenn im August 2013 tatsächlich 39 Prozent aller Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsplatz geboten werden soll. Das zumindest hat ›die Politik‹ den Eltern mit kleinen Kindern zugesichert. Doch nicht allein das Familienministerium zeigte sich ernüchtert. Schließlich war die Lücke um 60.000 Plätze größer als erwartet. Ernüchternd waren auch die Zahlen für das Bundesland Bremen. Lediglich Nordrhein-Westfalen war 2012 noch weiter als Bremen von der Zielzahl 39 Prozent entfernt. Selbst das Saarland und Schleswig-Holstein, wie Bremen ebenfalls in einer Haushaltsnotlage, sind mit dem sogenannten ›Krippenausbau‹ bisher besser vorangekommen. Tatsächlich ist der sogenannte Krippenausbau von der Bundespolitik unterfinanziert. Es fängt schon mit der damaligen Zielzahl von 35 Prozent an, die vom Bund und den Ländern beim Krippengipfel 2007 festgelegt wurde. Sie beruht auf dem damaligen Erfahrungsstand und relativ unsicheren Schätzungen und Einschätzungen des zukünftigen Bedarfs. Außerdem handelt es sich um einen Durchschnittswert: hochgerechnet für den möglichen Bedarf in ländlichen, kleinstädtischen und großstädtischen Regionen. Doch seit 2007 haben das Interesse und der Bedarf an frühkindlicher Betreuung erheblich zugenommen. ›Der Bedarf läuft uns buchstäblich davon‹, erklärte jüngst Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, gleichzeitig Präsident des Deutschen Städtetages. Um angesichts dieser Unsicherheiten zu solideren Planzahlen zu gelangen, empfahlen das Familienministerium und der Deutsche Städtetag schon relativ früh Elternbefragungen. In Großstädten, die gezielt solche Elternbefragungen zu den unter dreijährigen Kindern durchführten, kreuzten 50 bis 60 Prozent der befragten Eltern an, einen Betreuungsplatz zu benötigen. Trotz dieser Ergebnisse war das Familienministerium aber lediglich bereit, die allgemeine Zielzahl von 35 Prozent mit der Methode ›Pi mal Daumen‹ auf 39 Prozent zu erhöhen. Ein Wert, an dem sich auch die Politik in Bremen und Bremerhaven orientiert. Noch wichtiger für beide Städte wird jedoch der ebenfalls für 2013 geplante Rechtsanspruch. Ab August 2013 haben alle Eltern mit Kindern zwischen einem und drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Faktisch ist es derzeit eine offene Frage, ob dann in Bremen und Bremerhaven Familien für 39, 50 oder 60 Prozent ihrer Jüngsten einen Betreuungsplatz ›nachfragen‹. Denn ab August muss dem tatsächlichen Bedarf entsprochen werden. Doch wie hoch wird der in Bremen und Bremerhaven sein? Einen ersten Anhaltspunkt dazu bieten ebenfalls die vom Statistischen Bundesamt 2012 vorgelegten Zahlen für alle Bundesländer. Danach ist Rheinland-Pfalz, neben dem Stadtstaat Hamburg, das am weitesten fortgeschrittene westdeutsche Bundesland beim Krippenausbau (Abb. 1). Gibt es dort weniger Umsetzungsprobleme? In Rheinland-Pfalz gibt es bereits einen umgesetzten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder im Alter zwischen zwei und drei Jahren. Dadurch musste bereits 2012 dem tatsächlichen Betreuungsbedarf der Familien entsprochen werden. Das Ergebnis lautet: Im Flächenland Rheinland-Pfalz bevorzugen die Familien für zwei 126 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 1 Eine ebenfalls vergleichsweise geringere Erwerbstätigkeit der Mütter vor der Geburt eines Kindes im Jahr 2011 gibt es in Nordrhein-Westfalen (60 Prozent), im Saarland (61 Prozent), in Berlin, Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz (jeweils 63 Prozent). von drei Kindern in diesem Alter eine öffentliche Tagesbetreuung (68 Prozent). Einen weiteren Anhaltspunkt für den erwartbaren Bedarf liefern die bundesweiten Zahlen des Statistischen Bundesamts zum sogenannten Elterngeld. Sie zeigen für Kinder, die in der zweiten Hälfte 2011 geboren wurden, dass knapp zwei Drittel der Mütter (66 Prozent) vor der Geburt erwerbstätig waren sowie 89 Prozent der Väter. Die Väter im Bundesland Bremen erreichen einen annähernd gleich hohen Anteil mit 86 Prozent. Bei den Frauen sind jedoch lediglich 55 Prozent vor der Geburt erwerbstätig, dem bundesweit mit Abstand geringsten Wert.1 Das verweist auf eine vergleichsweise traditionelle Arbeitstei- lung zwischen Männern und Frauen. In die gleiche Richtung deutet auch der Anteil jener Väter, die nach der Geburt eines Kindes ebenfalls Elterngeld beantragen (meistens für zwei Monate), es sind insgesamt 21 Prozent. Lediglich im Saarland (19 Prozent) und in Nordrhein-Westfalen (20,5 Prozent) nutzen noch weniger Väter das Elterngeld. Dennoch zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre, dass aktuell der weit überwiegende Teil der Mütter, und der Väter sowieso, lediglich kurzzeitig ihre Erwerbstätigkeit unterbricht. Im Anschluss ist deshalb für die meisten Familien eine verlässliche Kinderbetreuung zwingend erforderlich. Am höchsten war die Erwerbstätigkeit der Frauen im Osten Deutschlands in Brandenburg und in Sachsen (75 Prozent), im Westen in Bayern (70 Prozent) und Abb. 1: Betreuungsquoten1 von Kindern unter drei Jahren 2007 und 2012 nach Ländern Hamburg (68 Prozent). in Prozent Sachsen-Anhalt 51,8 Mecklenburg-Vorpommern 44,1 Brandenburg 43,4 Thüringen 53,4 49,8 37,5 Sachsen 34,6 Berlin 46,4 39,8 Hamburg 12,0 Schleswig-Holstein 27,0 8,2 Hessen 24,2 12,4 Baden-Württemberg 23,7 11,5 Bayern 23,1 10,7 Niedersachsen 23,0 6,9 22,1 Saarland 22,1 12,1 10,5 Bremen Nordrhein-Westfalen 42,6 35,8 22,0 Rheinland-Pfalz 57,5 53,6 0 10 2007 21,2 18,1 6,9 20 30 40 50 60 Zuwachs 2007 bis 2012 1 Anteil der Kinder in Kindertagesbetreuung an allen Kindern dieser Altersgruppe Quelle: Statistisches Bundesamt, Kindertagesbetreuung in Deutschland 2012, S. 8 127 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Die Situation im Bundesland Bremen – im Ländervergleich Das zentrale ›Umsetzungsproblem‹ beim vom Bund unterfinanzierten Ausbau frühkindlicher Betreuungsangebote ist die angespannte Haushaltslage der Länder, Städte und Gemeinden. Besonders für Haushaltsnotlageländer wie Bremen ist der kosten- und personalintensive Krippenausbau eine enorme Herausforderung. Deshalb befinden sich die hoch verschuldeten Länder Nordrhein-Westfalen, Bremen und das Saarland auch ganz am Ende beim Ländervergleich (vgl. Abb. 1). Dennoch ist allein die Finanzsituation zwar eine weitreichende, aber keine hinreichende Erklärung. Das wird deutlich an den ›wohlhabenden‹ Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Sie müssten aufgrund dieser Erklärung zumindest vor Rheinland-Pfalz und vor allem vor Schleswig-Hostein liegen. Doch Schleswig-Holstein, ebenfalls in einer extremen Haushaltsnotlage, aber auch Rheinland-Pfalz, verweisen auf einen weiteren Einflussfaktor: die politische Prioritätensetzung. Dadurch konnte SchleswigHolstein, trotz einer geringen Betreuungsquote von lediglich acht Prozent im Jahr 2007 schneller als andere Bundesländer bis auf 24 Prozent vorankommen. Die ebenfalls relativ gute Situation in Hamburg beruht vor allem auf einer bereits 2007 relativ hohen Quote von 22 Prozent. Die Berücksichtigung des Aspektes der ›politischen Priorität‹ ist gerade für das Bundesland Bremen wenig schmeichelhaft. Denn auch in Bundesländern, die lange Jahre von der CDU regiert wurden, wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein, wird 2012 ein höherer Anteil von Kindern unter drei Jahren betreut. Und das, obwohl diese beiden Bundesländer von einem niedrigeren Niveau als Bremen gestartet sind. Bremen und Bremerhaven im Krippenausbau-Dilemma Was kann getan werden, wenn in Bremen und Bremerhaven 17 Monate vor dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz lediglich Plätze für 21 Prozent der berechtigten Kinder vorhanden sind? Genauer gesagt, 3.432 Plätze insgesamt, 2.737 in Tageseinrichtungen und 695 in der Tagespflege. Es hilft faktisch relativ wenig, auf die zurückliegenden vier Jahre (! ) zu verweisen. Denn seit dem Kinderförderungsgesetz (KiföG 2008) war in Bremen bekannt, dass der Bund lediglich ein Drittel der Kosten für den Krippenausbau übernimmt und der Zwei-Städte-Staat Bremen die restlichen zwei Drittel. Doch viel zu lange fehlte für diesen Anteil im Land Bremen eine solide durchgerechnete Ausbau- und Finanzierungsplanung. Diese unzureichende politische Prioritätensetzung muss erwähnt werden, auch wenn sie keinen konkreten Beitrag zur Lösung des aktuellen Ausbau-Dilemmas liefert. Bundesweit werden mehrere Alternativen diskutiert. Einige Großstädte, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, kapitulierten vor der Zielzahl 39 Prozent bis August 2013. Sie fordern, den Rechtsanspruch weiter in die Zukunft zu verschieben. Der Deutsche Städteund Gemeindebund schlug vor, durch größere Gruppen mehr Kinder betreuen zu können. Das kritisierte wiederum das Familienministerium. Und die Städte in Baden-Württemberg setzen sich dafür ein, dass der Rechtsanspruch zunächst nur für Kinder ab zwei Jahren gelten soll. In Bremen und Bremerhaven wurde mit diesem Dilemma komplett unterschiedlich verfahren – obwohl sich beide Städte in der ›gleichen‹ Haushaltsnotlage befinden. 128 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Abb. 2: Betreuungsplätze 2012 und Planung 2013 für Kinder unter drei Jahren – Stadt Bremen Plätze insgesamt Tagesbetreuung Tagespflege März 2012 insgesamt Versorgungsquote in Prozent 2.330 658 2.988 22,4 geplanter U3-Ausbau 2013 für 2½ bis 3-Jährige Tagespflege zusätzlich bis August 2013 1.671 109 353 neue Plätze insgesamt 2.133 2013 insgesamt 5.121 36,9 Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kindertagesbetreuung regional 2012, S. 24; Die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, Vorlage für die Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 19.10.2012, Lfd. Nr.: 88/12 einschließlich Anhang vom 02.10.2012 ❚ In Bremen wird das knappe Geld nicht in erster Linie in Gebäude, sondern in Plätze investiert. Dazu wurden die in der Stadt schon vorhandenen Kindergartengruppen der Drei- bis Sechsjährigen für jüngere Kinder quasi nach ›unten‹ geöffnet. Ab August 2012 können bereits zweijährige Kinder, die zwischen August und Dezember drei Jahre alt werden, schon vor ihrem dritten Geburtstag eine Einrichtung besuchen. ❚ In Bremerhaven wird, zugespitzt gesagt, in den Bau von Kinderkrippen ›im Akkord‹ investiert. Bremen Erfreulich an der Entwicklung in Bremen ist die politische Kraftanstrengung, an der Zielzahl 39 Prozent festzuhalten. Versucht wird, durch eine ›Schlussoffensive‹ doch noch bis zum August 2013 für rund 40 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine Betreuung anbieten zu können. Dazu hat die Sozialsenatorin im November 2012 eine entsprechende Ausbauplanung vorgelegt. Die ambitionierten Planzahlen verdeutlichen die folgende Vorgehensweise. Laut Statistischem Bundesamt wurden im März 2012 in der Stadt Bremen insgesamt 2.988 Kinder betreut (22,4 Prozent): 2.330 in der Tagesbetreuung und 658 Kinder in der Tagespflege (vgl. Abb. 2). Bei diesen Zahlen werden nach einem bundesweit einheitlichen Standard, Krabbelgruppen sowie Spielkreise, die keine durchgehende Betreuung anbieten, nicht mitgezählt. Bis zum August 2013 sollen in Bremen für weitere 1.671 Kinder zwischen zwei und drei Jahren Plätze in den nach ›unten geöffneten‹ Kindergartengruppen entstehen – faktisch also keine Krippenplätze. Neue Plätze in Krippen und Kleinkindgruppen sollen bis August 2013 im Umfang von 353 entstehen und weitere 50 Plätze bis zum Frühjahr 2014. Außerdem soll die Zahl in der Kindertagespflege von 658 um 109 auf 767 Plätze steigen. Auf der Grundlage dieser verbindlichen Planungen könnten im August 2013 in der Stadt Bremen rund 5.200 Kinder betreut werden. Bei insgesamt 13.900 Kindern unter drei Jahren wären das Plätze für 37 Prozent. Die Planungen der Sozialsenatorin und der Sozialverwaltung beruhen insgesamt sogar auf 5.856 Plätzen (42 Prozent). Im Gegensatz zur Bundesstatistik zählen sie sehr wohl auch die Kleingruppen und Spielkreise ohne durchgehende Betreuung mit. Bei diesen unterschiedlichen Zählweisen handelt es sich aber keineswegs um geringfügige Unterschiede. Im Hinblick auf den bevorstehenden Rechtsanspruch ab August 2013 ist diese Frage von erheblicher Bedeutung. Denn im Bremischen Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege (BremKTG) ist in § 2 festgelegt, dass die Förderung bereits bei einer Betreuungsdauer von mindestens zehn Stunden erfüllt ist. Und zehn Stunden, verteilt auf zwei oder drei Tage die Woche, bieten durchaus auch Krabbelgruppen und Spielkreise. Genau diese Problematik führt wieder zurück zur Ausgangsfrage, welchen Betreuungsbedarf die Familien in Bremen tatsächlich haben. Genauer gesagt, benötigen sie wöchentliche Betreuungszeiten von zehn Stunden, verteilt auf zwei oder drei Tage, von 20 oder 30 Stunden bis in den frühen Nachmittag oder vor allem Ganztagsplätze? Diese Fragen sind in Bremen aufgrund des praktizierten Angebots- 129 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Abb. 3: Betreuungsplätze 2012 und Planung 2013 für Kinder unter drei Jahren – Stadt Bremerhaven Plätze insgesamt Tagesbetreuung Tagespflege März 2012 insgesamt Versorgungsquote in Prozent 407 37 444 15,9 geplanter U3-Ausbau 2012 Tagesbetreuung Tagespflege 192 71 geplanter U3-Ausbau 2013 Tagesbetreuung Tagespflege 192 71 neue Plätze insgesamt 526 2013 insgesamt 970 34,6 Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kindertagesbetreuung regional 2012, S. 24; Seestadt Bremerhaven, der Magistrat,Dezernat III, Amt für Jugend, Familie und Frauen, Vorlage Nr. AfJFF 3/2012 verfahrens jedoch nicht annähernd zu klären. Denn die Zahl der Betreuungsplätze und ihr zeitlicher Umfang ist an die politisch durchsetzbaren finanziellen Mittel im Haushaltsnotlageland Bremen gebunden – und nicht an dem tatsächlichen Betreuungsbedarf, den die Eltern in den Einrichtungen ›nachfragen‹. Dort werden die Eltern vielmehr immer wieder auf die Realitäten hingewiesen: dass kein Platz verfügbar ist und Wartelisten existieren, auf denen alleinerziehende und erwerbstätige Eltern Vorrang haben; dass Plätze verfügbar sind, aber in weiter entfernten Einrichtungen; dass es zwar einen Platz gibt, aber nicht den passenden Zeitumfang zur erforderlichen Erwerbstätigkeit und so weiter und so weiter. Kurz gesagt, in vielen Einrichtungen versuchen zwar die Erzieherinnen alles Menschenmögliche und praktizieren flexible Lösungen. Die Möglichkeiten der Einrichtungen und ihrer Mitarbeiterinnen ›vor Ort‹, stoßen jedoch rasch an die unterfinanzierten Rahmenbedingungen. Dadurch wird der tatsächliche Bedarf der Eltern ›runtergehandelt‹. Bremerhaven Erfreulich an der Entwicklung in Bremerhaven ist ebenfalls der politische Wille, zumindest die ursprüngliche Zielzahl von 35 Prozent erreichen zu wollen. Das ist eine nicht unerhebliche Korrektur der bisher verfolgten Politik. Denn in der Vergangenheit begründeten Stadtpolitik und Sozialverwaltung das geringe Angebot für die Jüngsten in der Stadt mit einem vergleichsweise geringeren Bedarf der Familien als in anderen Großstädten. So gab es in Bremerhaven im Jahr des Kinderförderungsgesetzes (KiföG 2008) für 2.865 Kinder unter drei Jahren lediglich 200 Krippenplätze (7 Prozent). Nach vier Jahren verweisen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für März 2012 auf insgesamt 444 Plätze (16 Prozent), davon 407 Plätze in Kindertageseinrichtungen und 37 Plätze in der Kindertagespflege. Um auf den auch in Bremerhaven steigenden Betreuungsbedarf für die Jüngsten zu reagieren, brachte der Magistrat im Juni 2011 ein Neubauprogramm für sechs Kinderkrippen auf den Weg. Sie werden derzeit gebaut, für eine fehlt noch das passende Grundstück, aber zwei sind nahezu fertig. Im Herbst 2011 hat der Magistrat Bremerhaven außerdem beschlossen, sich an den ›Elternbefragungen zum Betreuungsbedarf U3‹2 zu beteiligen. Durch diese solide und repräsentative Befragung der Eltern ergab sich unter anderem ein differenzierter Blick auf den Betreuungsbedarf der Familien in Bremerhaven. In der Studie wurden die Eltern nach ihrem Betreuungswunsch gefragt, er lag 2012 bei 50 Prozent. Da aber nicht alle Eltern ihre ›Wünsche‹ auch tatsächlich in einen Betreuungsbedarf umsetzen, beträgt dieser in Bremerhaven insgesamt 40 Prozent. Aus diesem Betreuungsbedarf ergibt sich auf der Grundlage der gesetzlichen Anspruchskriterien3, für den ab August geltenden Rechtsanspruch, ein tatsächlicher Bedarf von 36 Prozent. Seitdem die Ergebnisse der Elternbefragung vorliegen, orientiert sich die Stadtpolitik in Bremerhaven nun auch öffentlich an der Ziel- 2 Dabei handelt es sich um ein wissenschaftlich solides, repräsentatives, differenziertes und relativ preiswertes Instrument für die Befragung des Betreuungsbedarfs von Eltern, durchgeführt vom Forschungsverbund des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Technischen Universität Dortmund. Diese Art der Elternbefragung hat eindeutige Vorteile gegenüber (teureren) Angeboten von kommerziellen Meinungsforschungsinstituten, wie zum Beispiel ›Forsa‹. Ihre im August 2012 für die Stadt Bremen vorgelegten Ergebnisse hatten keine repräsentative Basis und waren faktisch wertlos. 3 Ab August 2013 gilt für die Altersgruppe der Kinder unter einem Jahr ein Rechtsanspruch lediglich unter spezifischen Bedingungen (vgl. § 24 SGB VIII). Ab der Vollendung des ersten Jahres gilt ein absoluter Rechtsanspruch auf eine Betreuung in einer Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege. 130 B ER IC H T ZU R L AGE 2012 zahl 36 Prozent für das Jahr 2013. Es ist jedoch unwahrscheinlich, das die vielen noch neu zu schaffenden Plätze bis August tatsächlich vorhanden sein werden. Intern wird damit gerechnet, dass im Sommer 2013 mindestens noch 200 Plätze fehlen werden. Gerade erst werden die ersten Neubauten fertig und die Einstellung von Personal sowie der Aufbau neuer Gruppen benötigt zusätzliche Zeit. Für das Jahr 2013 sind insgesamt 970 Plätze geplant (rund 35 Prozent), 791 Plätze in Tageseinrichtungen und 179 Plätze in der Tagespflege. Schwer zu kalkulieren sind in Bremen und Bremerhaven die Wirkungen des aktuell von der Bundesregierung gesetzlich eingeführten Betreuungsgeldes. Familien, die ihre Kinder nicht in eine Betreuungseinrichtung geben, erhalten monatlich 100 Euro. Ein völlig kontraproduktives politisches Signal, wenn das Familienministerium gleichzeitig die Städte und Gemeinden öffentlich und finanziell unterstützt, um auf jeden Fall für 39 Prozent der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze anzubieten. Für Bremen und Bremerhaven ist zu befürchten, dass aufgrund der vergleichsweise traditionellen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und der überdurchschnittlichen Armut das Betreuungsgeld tatsächlich zahlreiche Eltern von einer öffentlichen Betreuung abhalten wird. Deshalb legt dieses Gesetz einen bildungs- und betreuungspolitischen Rückwärtsgang ein, den am Ende angeblich niemand wirklich wollte – für den aber dennoch eine Mehrheit in der Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP im Bundestag gestimmt hat.4 Auch Angela Merkel und Ursula von der Leyen, die in der CDU überhaupt erst eine modernisierte Frauen- und Familienpolitik mühsam durchgesetzt haben. 4 Vgl. Müller, Peter/ Pfister, René: Die Zeitmaschine. In: Der Spiegel 46/2012, S. 28–34. Forderungen der Arbeitnehmerkammer ❚ Schnellstmögliche Abschaffung des sogenannten ›Betreuungsgeldes‹. ❚ Die Stadt Bremen muss endlich dem Beispiel Bremerhavens folgen und sich an den repräsentativen und preisgünstigen Elternbefragungen des Forschungsverbundes der TU Dortmund und dem Deutschen Jugendinstitut beteiligen. ❚ Beim Ausbau von Angeboten für Kinder unter drei Jahren in den Stadt- und Ortsteilen, muss der Betreuungs- und Förderbedarf der Kinder das wichtigste Kriterium sein und nicht wie derzeit, die nachfrage- und durchsetzungsstärkste Elternschaft. ❚ In vielen Einrichtungen der Kindertagesbetreuung fehlen speziell für die Altersgruppe der Kinder unter drei Jahren ausgebildete Fachkräfte. Das gilt in besonderem Maße für die frühkindliche Sprachförderung. Deshalb sind in den Einrichtungen in viel größerem Umfang als bisher, berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen erforderlich. Sie sollten in Bremen durch den Aufbau eines trägerübergreifenden Fortbildungsinstituts für frühkindliche Lernförderung forciert werden. Ohne eine solche frühe Sprach-, Lern- und Bewegungsförderung kann die in Bremen ausgeprägte Bildungsarmut nicht wirksam reduziert werden. 131 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Wohnungsbaupolitik: Neubau alleine reicht nicht KAI-OLE HAUSEN Gegenwärtig beherrscht das Thema Wohnraumversorgung – nach Jahren des allgemeinen Desinteresses – in besonderer Weise die politische Agenda. Kontroverse Debatten im Zusammenhang mit steigenden Miet- und Nebenkosten oder dem Verkauf kommunaler Wohnungsbestände sind die Folge. Dabei ist tatsächlich festzustellen, dass sich gerade in Großstädten wie Bremen die Mietpreise in den vergangenen Jahren von der allgemeinen Preisund Lohnentwicklung abgekoppelt haben. So stiegen nach einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Mieten in der Stadt Bremen von Januar 2007 bis September 2012 um insgesamt 13,5 Prozent (Jahresdurchschnitt 2,2 Prozent).1 Gleichzeitig verschlechterten sich aber in den vergangenen Jahren die finanziellen Spielräume zur Befriedigung von Wohnwünschen für viele Arbeitnehmerhaushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen erheblich. Die durchschnittlichen Bruttoeinkommen pro Beschäftigten haben sich in Deutschland zwischen 2000 und 2010 unter Berücksichtigung der allgemeinen Preissteigerungen negativ entwickelt2 und bei einem Fünftel der Vollzeitbeschäftigten im Land Bremen liegt das Bruttomonatsentgelt bei unter 2.000 Euro. Steigende Wohn- und Energiekosten machen sich aber gerade bei Haushalten mit niedrigeren Einkommen deutlicher als bei Haushalten mit höherem Einkommen bemerkbar, da ein immer größer werdender Anteil des durchschnittlich zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens für das Wohnen aufgewendet werden muss. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Deregulierung der Wohnungsmärkte und des Bedeutungsverlustes der klassischen Instrumente des sozialen Wohnungsbaus in den vergangenen 20 Jahren, hat die gegenwärtige Situation eine besondere Brisanz erreicht. Gab es 1990 im Land Bremen noch 78.900 Wohnungen für Menschen, die wegen ihres Einkommens Schwierigkeiten hatten, sich am freien Wohnungsmarkt mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, so verringerte sich deren Anzahl im Jahr 2011 auf nur noch 9.700 – mit weiter abnehmender Tendenz in den kommenden Jahren. So werden im Jahr 2015 noch rund 7.900 Sozialwohnungen zur Verfügung stehen und im Jahr 2020 sogar nur noch 5.500.3 Aber gerade für die Versorgung von Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen ist die Entwicklung des Sozialwohnungsbestandes von besonderer Relevanz. Denn es gilt zu berücksichtigen, dass weniger regulierte Wohnungsmärkte dazu führen, dass wirtschaftlich schwache Haushalte von einkommensstärkeren Haushalten aus Wohnlagen mit höherem Nutzungswert vermehrt verdrängt werden, in denen das Mietniveau höher liegt. Aber gerade eine solche Entwicklung steht den Zielsetzungen der Wohnungsbaupolitik des Senats diametral entgegen, die zum Ziel hat, ›Bremen und Bremerhaven als lebenswerte und attraktive Städte zu erhalten und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dazu ist es unter anderem erforderlich, ausreichenden und bedarfsgerechten Wohnraum zu schaffen und der drohenden Spaltung in arme und reiche Stadtteile entgegenzuwirken‹4. Aus diesem Grund hat der Bremer Senat ein Wohnraumförderungsprogramm 2012/2013 beschlossen, das auf den bestehenden Mangel an preisgünstigem Wohnraum und belegbaren Sozialwohnungen im Land Bremen reagieren soll. Dies ist umso dringender, da sich aufgrund der Erkenntnisse aus der aktuellen Wohnungsbaukonzeption der Stadt Bremen, die auf Daten des Beratungsinstituts GEWOS basiert, ohne eine Ausweitung des Wohnungsbestandes eine Versorgungslücke bis zum Jahr 2020 von 14.000 Wohnungen prognostiziert.5 1 Vgl. DIW Wochenbericht Nr. 45.2012, S. 9. 2 Vgl. Böckler Impuls (2011). 3 Vgl. Senator für Umwelt, Bau und Verkehr: Senatsvorlage ›Stadtentwicklung durch soziales Wohnen stärken‹ vom 28.08.2012. 4 Vgl. SUBV ›Stadtentwicklung durch soziales Wohnen stärken‹, S. 1. 5 Vgl. GEWOS (2009); S. 15. 132 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Ohne eine Zunahme der jährlich fertiggestellten Wohnungen würde sich der bereits bestehende Nachfrageüberhang am Wohnungsmarkt jedoch noch einmal deutlich vergrößern. Die Zahl der neu erbauten Wohnungen hat allerdings in den vergangenen Jahren nicht einmal die Hälfte des prognostizierten Bedarfs erreicht. So wurden 2010 lediglich 677 neue Wohnungen errichtet und 2011 waren es sogar nur noch 580.6 Daneben lag der Schwerpunkt des Wohnungsbaus in Bremen in der Vergangenheit hauptsächlich im mittleren bis höherpreisigen Marktsegment. Eine wichtige Ursache des Rückgangs der Investitionen in den Geschosswohnungsbau ist die begrenzte Zahl der Haushalte, die kostendeckende Kaltmieten von häufig mehr als 8,50 Euro pro 6 Vgl. Statistisches Landesamt. Quadratmeter überhaupt zahlen können, die zur Amortisation der Investitionen realisiert werden müssen. In den vergangenen Jahren floss privates Kapital vor allem in höherpreisige Segmente, da die zu erwartenden Renditen höher sind. Entstanden sind dadurch vorwiegend Wohnungen (2010 = 525) mit vier und mehr Zimmern. Neubaubedarf besteht aber vor allem bei kleineren und mittelgroßen Miet- und Eigentumswohnungen in zentrumsnahen Lagen, da sich seit Jahren der Anteil der Haushalte mit drei oder mehr Personen verringerte, während die Ein- und Zweipersonenhaushalte an Bedeutung gewannen. Dieser Trend dürfte sich in den nächsten Jahren sogar noch verstärken, da zwar die Bevölkerung in der Stadt Bremen voraussichtlich bis zum Jahr 2025 um 11.750 Menschen abnehmen wird, die Anzahl der 133 Privathaushalte aber dennoch weiter um rund 3.500 Menschen zunehmen könnte.7 Gleichzeitig gibt es einen steigenden Anteil von Haushalten mit älteren Menschen, die für eine wachsende Nachfrage nach kleinen, seniorengerechten Wohnungen sorgt. Diese müssen barrierefrei und den besonderen Bedürf-nissen älterer Bewohner gerecht werden. Auch das Wohnumfeld muss dabei durch eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur gekennzeichnet sein (Einzelhandel, ÖPNV , ärztliche Versorgung, häusliche Pflege). Bremer Wohnungsbauoffensive Wohnungsbauprojekte 30 + (2012–2015) Folgende Ziele hat die Wohnungsbauoffensive der Bremer Landesregierung formuliert: ❚ Bau von 14.000 neuen Wohnungen bis zum Jahr 2020, ❚ ein differenziertes bedarfsgerechtes Wohnungsangebot, ❚ Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für Haushalte mit kleinerem und mittlerem Einkommen, ❚ den Anteil des geförderten Wohnungsbaus erhöhen, ❚ der sozialen Entmischung der Stadt entgegenwirken, ❚ eine regionale Ausgewogenheit des Wohnungsangebotes sicherstellen, ❚ Vorrang der Innenentwicklung und Stärkung urbaner Milieus, ❚ Einwohnergewinne ermöglichen. 7 Vgl. vdw/GEWOS (2011); S. 23/25. 134 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Hierzu wurde unter anderem Ende September 2012 der Öffentlichkeit eine Liste von Bauflächen zur Umsetzung des Wohnungsbauprogramms vorgestellt. Es handelt sich größtenteils um attraktive Bauflächen und es wurde versucht, den sozialen Wohnungsbau auch in nicht-segregierten Stadtteilen zu platzieren und attraktive Neubaugebiete auszuweisen. Insgesamt sollen somit bis 2015 Flächen für insgesamt 5.700 Wohnungen zur Verfügung gestellt werden – davon sollen 50 Prozent von privaten Bauherren im Innenbereich errichtet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Anzahl lediglich auf Annahmen basiert und die Umsetzung keinesfalls als verbindlich angenommen werden kann. Unabhängig davon befinden sich die prioritären Projektgebiete (30 + - Liste), mit immerhin 1.850 Wohnungen, in sehr unterschiedlichen Planungsstadien hinsichtlich Baurecht und Erschließung. Die Erfahrung zeigt, dass von der Aufstellung eines Bebauungsplans bis zur Fertigstellung der Baumaßnahme bis zu vier Jahre benötigt werden. Damit sind keinesfalls kurzfristige Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt zu erzielen. Darüber hinaus hat der Senat beschlossen, dass immer dann, wenn kommunale Wohnbauflächen verkauft werden oder wenn neues Baurecht geschaffen wird, auch sozialer Wohnungsbau entstehen soll. Demnach werden auf Wohnbauflächen, auf denen mehr als zwölf Wohneinheiten neu geschaffen werden, mindestens 25 Prozent der Wohnungen mit entsprechenden Belegungsbindungen versehen werden. Mit diesem neuen Wohnraumförderungsprogramm soll eine gezielte Erweiterung des Wohnraumangebots in den entsprechenden Marktsegmenten verstärkt werden. Als Ziel wurde dabei formuliert, in diesem und im nächsten Jahr 700 Wohnungen und Bestandsmaßnahmen für Haushalte in Bremen und Bremerhaven zu fördern, die Zugangsschwierigkeiten am allgemeinen Wohnungsmarkt haben (zum Beispiel SGB-II- Bedarfsgemeinschaften, Haushalte älterer und behinderter Menschen, Familien mit Kindern, junge Haushalte). Nach den Plänen des Senats entfallen dabei 140 Wohnungen auf Bremerhaven und 140 weitere Wohnungen werden in Bremen-Nord gefördert, obgleich dort in den kommenden Jahren durch GEWOS nur eine sehr schwache Nachfrage prognostiziert wurde. Dort, wo der eigentliche Bedarf besteht, nämlich im Stadtgebiet Bremens, werden demnach nur 420 zu fördernde Wohnungen errichtet. Zudem soll ein Fünftel dieser Wohnungen (84 Wohnungen) für von Wohnungslosigkeit bedrohte (zum Beispiel Obdachlose, Asylbewerber und zugewanderte Großfamilien) vorgesehen werden. Ob die dann noch verbleibenden 336 Wohnungen zu messbaren Entlastungseffekten führen, ist fraglich. Daneben wird aber nicht nur der Wohnungsneubau gefördert werden, sondern auch energetische Modernisierungen von Bestandsimmobilien. Damit werden zwar keine neuen Wohnungen geschaffen, aber eine zielgerichtete Förderung kann dafür sorgen, dass Mieter mit geringem Einkommen nicht durch außergewöhnlich hohe Mietsteigerungen zusätzlich belastet werden. Die maximale Miete im Neubaubereich darf dabei eine Höhe von 6,10 Euro je Quadratmeter nicht überschreiten, bei modernisierten Objekten 5,60 Euro je Quadratmeter. Eine Mieterhöhung darf erstmalig nach drei Jahren nach den gesetzlichen Regelungen des BGB erfolgen, wobei die gesetzliche Kappungsgrenze auf zehn Prozent reduziert ist. Das bedeutet also eine Erhöhung von 6,10 Euro auf maximal 6,71 Euro (Neubau) beziehungsweise von 5,60 Euro auf 6,16 Euro (Modernisierung). Als berechtigte Haushalte gelten dabei Haushalte, deren Einkommen maximal 60 Prozent über dem Einkommen liegt, das für eine Wohnberechtigung nach dem Wohnraumförderungsgesetz maßgeblich ist. Das bedeutet, dass bei einem alleinstehenden Rentner ein Bruttoeinkommen von maximal 21.400 Euro (monatlich rund 1.800 Euro), bei einem Arbeitnehmer von 28.000 Euro (monatlich 2.300 Euro) nicht überschrit- 135 SOZIALES STADTENTWICKLUNG ten werden darf. Bei einem Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Personen beträgt der Höchstbetrag 42.000 Euro, mit drei Personen 52.700 Euro. Durch diese erhöhten Einkommensgrenzen wird der Kreis der Berechtigten erheblich erweitert; dies ist durchaus zu begrüßen, da damit auch Arbeitnehmer mit niedrigen und mittleren Einkommen in den Genuss einer entsprechenden Förderung kommen könnten. Das Programm ist aus Sicht der Arbeitnehmerkammer insgesamt als eine erste Initiative zu bewerten, um preisgünstigen Wohnungsneubau für die oben genannten Zielgruppen zu initiieren. Inwiefern es aber ausreichende Anreize für Investoren bietet, bleibt vorerst abzuwarten, denn der hohe Anstieg der Neubaukosten von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter in Verbindung mit hohen Grundstückskosten und Modernisierungskosten von bis zu 1.200 Euro pro Quadratmeter lassen nicht erkennen, ob die gegebenen Fördermöglichkeiten eine ausreichende Refinanzierung der Immobilien sicherstellen. Die Bauherren erhalten beim Neubau von Wohnungen Darlehen von bis zu 60.000 Euro pro Wohnung, bei Modernisierungen von bis zu 40.000 Euro. Dabei wird der marktübliche Zins zehn Jahre lang um vier Prozent und weitere zehn Jahre um zwei Prozent herabgesetzt. Die Dauer der Belegungsbindung beträgt zwanzig Jahre. Hinsichtlich der befristeten Laufzeit des Programms und den zu vermutenden langen Vorlaufzeiten zur Entwicklung der neuen Wohnbaugebiete, muss geprüft werden, inwieweit das Konzept über 2013 hinaus weiterentwickelt werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Wohnungsbauförderung nach der Föderalismusreform I den Ländern obliegt. Vor dem Hintergrund der Verpflichtung des Landes Bremen zur Verringerung der Neuverschuldung (›Schuldenbremse‹), sollte das Land eine deutlich verstärkte finanzielle Beteiligung des Bundes auch für die Zukunft einfordern. Weitergehende Maßnahmen Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer kann eine Strategie, die sich vorwiegend auf den Neubau konzentriert, nicht die gewünschten Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt erzielen. Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt ist nicht der Mangel an Wohnungen insgesamt, sondern eher die andauernde Verteuerung von bisher preiswerten Wohnungen. Dies spiegelt sich im Besonderen bei den stark steigenden Mieten im Bereich der Neuvermietungen wider. Für eine durchschnittliche Mietwohnung in Bremen in mittlerer Lage und normaler Ausstattung mit drei Zimmern und rund 70 Quadratmetern, zahlt man heute rund 6,50 Nettokaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche – dies entspricht einem Plus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr (Quelle: Immobilienverband Deutschland / IVD ). Die Neubauförderung wird dabei von der Hoffnung getrieben, dass, nachdem erst einmal viele neue Wohnungen gebaut sind, durch sogenannte ›Sickereffekte‹ der Nachfragedruck auf dem Wohnungsmarkt sinkt und die Bestandsmieten wieder sinken. Ein entspannter Wohnungsmarkt ist aber nach dieser Methode erst nach einem gewissen Umfang an Neubautätigkeit zu erwarten und ob die jetzt genannten 1.400 Wohnungen im Jahr erreicht werden, ist bislang mehr als fraglich – gegenwärtig wird lediglich knapp die Hälfte dieser Anzahl erstellt und es ist nicht erkennbar, ob die Neubautätigkeit im Geschosswohnungsbau durch die oben genannte Initiative kurzfristig signifikant erhöht werden kann. 136 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 8 GEWOS (2009); S. 25. Hinzu kommt, dass Wohnungsneubau teuer ist. Mit den jetzt zur Verfügung gestellten 40 Millionen Euro versucht Bremen, die Mieten für 700 Wohnungen auf ein sozial verträgliches Maß zu reduzieren. Dabei wird damit noch nicht einmal der Anteil an Sozialwohnungen kompensiert, deren Förderung aus früheren Förderperioden bis 2015 ausläuft. Das heißt, es wird viel Geld ausgegeben, um das Niveau der Versorgung mit belegbaren Sozialwohnungen annähernd auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten. Zudem ist erkennbar, dass gerade in den Wohnungsbeständen, die keine Anschlussförderung früherer Förderperioden erhielten, weil ein künftiger Mangel an preiswerten Wohnungen als unwahrscheinlich erachtet wurde, die Mieten teilweise stark steigen. Das zeigt sich vor allem bei Fehlentwicklungen im Wohnungsbestand ehemaliger kommunaler Wohnungsbauunternehmen, bei denen es der Kommune nicht gelang, wirksame Strategien gegen die umfangreichen profitorientierten Privatisierungen von Teilbeständen zu entwickeln. Insofern sollten Strategien entwickelt werden, die das Vermieten von Sozialwohnungen nach Ablauf der Förderphase zu Marktpreisen sozialverträglich gestaltet. Aber gerade im unteren Preissegment des Wohnungsmarktes in Bremen scheint sich ein besonderer Bedarf entwickelt zu haben. Bislang ist es für Bremen versäumt worden, einen objektiven und qualitativen Bedarf anhand verlässlicher Daten für Bestandswohnungen zu ermitteln. Es liegen bei allen in Auftrag gegebenen Studien keine Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang Wohnungen für kleinere Haushalte, für Senioren oder Haushalte mit geringem Einkommen benötigt werden. Das GEWOS- Gutachten definierte lediglich sechs verschiedene ›Wohnstiltypen‹. Auf Basis von Haushaltsbefragungen wurden dabei Nachfragegruppen definiert, die nach Auffassung des Instituts für den Erwerb oder die Anmietung einer Neubauwohnung infrage kämen, und zwar in Abhängigkeit von ihren Wohnwünschen, ihrer finanziellen Leistungs- fähigkeit zur Befriedigung ihrer Wohnwünsche und ihrer Bereitschaft zum Umzug. Dabei wurden die beiden ›Wohnstiltypen‹ der ›Alternativen‹ und der ›preissensiblen Mieter‹ – deren finanziellen Möglichkeiten als gering, beziehungsweise unterdurchschnittlich kategorisiert wurden – nur unzureichend berücksichtigt. Denn diese Gruppen ›äußern zwar Umzugsabsichten, sind allerdings keine Zielgruppe für das Neubau-Segment. Die Alternativen interessieren sich vorwiegend für Wohnformen im Bestand, auch die preissensiblen Mieter können aufgrund ihres geringen finanziellen Spielraums keinen Neubau finanzieren und decken ihre Bedarfe überwiegend im Bestand‹8. Die dahinter stehende Philosophie folgt dem Gedanken, dass die Bezieher niedriger Einkommen weder als Käufer für Eigentumswohnungen noch als Mieter von freifinanzierten Neubauwohnungen infrage kommen. Die Wohnungsnachfrage dieser Gruppen wurde daher in der weiteren Wohnungsbaukonzeption nicht mehr berücksichtigt. Dem Prinzip nach werden die Haushalte bei dieser Zuordnung vor allem nach der Einkommensposition und den finanziellen Möglichkeiten zur Befriedigung der Wohnwünsche sortiert. Es zeigt sich das Problem, dass sich in diesem Verständnis der Wohnungsbau zwangsläufig auf die Bedürfnisse finanziell besonders leistungsfähiger Zielgruppen konzentriert. Bis 2025 wird sich voraussichtlich der Nachfrageüberhang im Immobilienmarkt in Bremen weiter verstärken und sich die Situation für viele Haushalte weiter verschärfen. So sollte eine sozial verantwortliche und zukunftsorientierte Wohnpolitik für gleichwertige Lebensverhältnisse in den Stadtteilen und Wohnquartieren sorgen, um einer weiteren sozialen Polarisierung der Stadt entgegenzu- 137 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt ist nicht der Mangel an Wohnungen insgesamt, sondern eher die andauernde Verteuerung von bisher preiswerten Wohnungen. wirken. Im aktuellen Koalitionsvertrag erklären die bremischen Regierungsfraktionen daher auch, dass zur Verringerung einer sozialen Entmischung zukünftig auch in teureren Stadtteilen Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen zugänglich sein sollen – und umgekehrt. Dabei muss der Trend zu mehr Einpersonenhaushalten, die steigende Anzahl der Senioren, wie auch der wachsende Anteil von Geringverdienern berücksichtigt werden. Dazu stellt die Arbeitnehmerkammer Folgendes fest: ❚ Das wesentliche wohnungsbaupolitische Steuerungselement bei der Veräußerung ist die Preisgestaltung der Bodenpreise. Gegenwärtig sorgt die desolate Haushaltslage aber für einen Zielkonflikt mit einem negativen Steuerungseffekt: Alle für Wohnbebauung geeigneten Flächen im Eigentum der Stadt werden zu den am Markt maximal erzielbaren Preisen per Bieterverfahren veräußert. Dieses Verfahren sollte zugunsten von Konzeptausschreibungen aufgegeben werden, in denen die Preisfindung der Grundstücke hinsichtlich der sozialen Anteile einer Investition passgenau unter Berücksichtigung ihrer individuellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel unterschiedlicher Lagen, erfolgt. Nur so kann in attraktiven Lagen die angestrebte soziale Durchmischung und die Zielsetzung, den sozialen Wohnungsbau in nicht-segregierten Stadtteilen zu realisieren, erreicht werden. ❚ Hilfreich wäre die Etablierung eines kommunalen Bodenmanagements, mit dem die bodenpolitischen Einzelinstrumente (kommunaler Zwischenerwerb, städtebauliche Verträge, etc.) in einem umfassenden strategischen Vorgehen in der Baulandbereitstellung zusammengeführt werden. Daneben könnte die Kommune eine aktive Flächenpolitik betreiben und möglichst frühzeitig Flächen aus privater Hand aufkaufen, die wegen ihrer aktuellen Nutzung preisgünstig sind (z. B. Grünland), die aber für den Wohnungsbau geeignet sind. Der abzuschöpfende Gewinn, also die Differenz zwischen dem bisherigen und dem Wiederverkaufspreis als Wohnland, kann zur Finanzierung sozialer Infrastruktur und zur Deckung von Kosten des sozialen Wohnungsbaus eingesetzt werden. ❚ Eine starre Quotierung von 25 Prozent öffentlich gefördertem Wohnungsbau bei neu zu erschließenden Wohnbaugebieten ist fraglich. Gegebenenfalls sollte die Möglichkeit der Übertragung und entsprechender Quoten von Gebieten mit Angebotsüberhängen auf stark nachgefragte Baugebiete geprüft werden, ohne die Gesamtzahl der geförderten Wohnungen zu reduzieren. Gerade in bevorzugten Stadteilen mit hohen Grundstückspreisen müssen die entsprechenden Quoten zwingend erfüllt werden. ❚ In dem vorliegenden Programm wird nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die hohen Baulandpreise durch die Zurverfügungstellung von Erbbaurechten zu reduzieren. Durch gezielte Vergabe von Erbpachtgrundstücken mit ermäßigtem Erbpachtzins kann eine Reduzierung der Grundstückskosten erreicht werden. ❚ Es ist zu überprüfen, inwiefern der hohe Anstieg der Neubaukosten von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter und Modernisierungskosten von bis zu 1.200 Euro pro Quadratmeter durch entsprechende Anforderungsreduktion gesenkt werden kann. Eine stärkere Standardisierung des Baus und der Verzicht nicht notwendiger Anforderungen beim Neubau, können diese Entwicklung eindämmen. Landesrechtliche Vorgaben, die weitergehende energetische Anforderungen an die Errichtung neuer Gebäude stellt als die EnEV 2009, sind abzulehnen. Vielmehr sollten Modellprojekte, deren Zielsetzung kostensenkende Bauweisen sind, in besonderer Weise gefördert werden. 138 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 ❚ Eine maßvolle Verdichtung und volle Ausnutzung der vorhandenen Grundstücksflächen und eine konsequente Zielgruppenorientierung sind notwendig. Hierzu gehören insbesondere auch die Berücksichtigung der Haushalts- und Wohnungsstrukturen des Umfeldes, eine gute soziale Durchmischung, familiengerechte Wohnungen – auch in höherer Verdichtung – sowie altersgerechter, barrierearmer Wohnungsneubau. ❚ Überprüfung der Standards hinsichtlich der Anforderungen an die Grundstückserschließung (Straßenquerschnitt etc.) und anderer durch die Kommune zu bestimmenden Einflußfaktoren. Ein Beispiel kann hier die Novellierung der Stellplatzverordnung sein, um die gewünschten Abminderungseffekte zu erzielen. So kann es gegebenenfalls durch integrierte Mobilitätskonzepte gelingen, die Anzahl der herzustellenden oder nachzuweisenden Stellplätze zu reduzieren, um auf die Errichtung von (teuren) Tiefgaragen zu verzichten. ❚ Konsequente weitere Umsetzung des Baulückenprogramms und des Flächenrecyclings (Konversion). Um kurzfristige Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt zu erzielen, sollten vor allem auch Maßnahmen ergriffen werden, die im Bestand wirken, hierzu zählen: ❚ Verlängerung von bestehenden Belegungsbindungen im Bestand, denn eine soziale Stadtentwicklung basiert auf preiswerten Altbaumieten, den Häusern im kommunalen Besitz und den in der Vergangenheit geförderten Wohnungen. ❚ Nutzung von mittelbaren Belegungsbindungen nach dem Wohnraumförderungsgesetz. Demnach erfolgt die Förderung eines Wohnungsneubaus in einem sozial benachteiligten Stadtteil ohne unmittelbare Belegungsbindung, stattdessen garantiert die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt ein Besetzungsrecht, das in einem nicht sozial benachteiligten Gebiet liegt und Mindestanforderungen erfüllt, wobei eine höchstzulässige Miete nicht überschritten werden darf. ❚ Verzicht von Anreizen für Modernisierungsmaßnahmen, die nicht zur entsprechenden Reduzierung von Energiekosten führen. ❚ Beeinflussung der Mietpreispolitik öffentlicher Wohnungsunternehmen im Hinblick auf Sozialverträglichkeit und des öffentlichen Interesses. 139 SOZIALES STADTENTWICKLUNG ¢ Was ist zu tun? Energetische Sanierung – in Bremen (zu?) hohe Standards? Das jetzt aufgelegte Wohnraumförderungsprogramm verfolgt zugleich energiepolitische Zielsetzungen, denn die neu zu bauenden Wohngebäude sollen über dem gesetzlichen Standard der Energieeinspar-Verordnung (EnEV) von 2009 liegen und dem sogenannten KfW Standard 70 entsprechen. Demnach muss der durchschnittliche Primärenergiebedarf des Gebäudes 30 Prozent unter den aktuellen gesetzlichen Anforderungen liegen. Hierbei besteht die Gefahr, dass die Investitionsbereitschaft erheblich gehemmt wird, denn die dadurch entstehenden Mehrkosten müssen für den Investor re- und durch die Förderung entsprechend mitfinanziert werden. Es gilt dabei zu berücksichtigen, dass die Baupreise für Mehrfamilien-Wohngebäude zwischen 2005 bis 2011 schon um rund 20,4 Prozent gestiegen sind, was offensichtlich auch auf die immer höheren Anforderungen der EnEV zurückzuführen ist und sich unter anderem in den niedrigen Baufertigstellungszahlen dieser Jahre widerspiegelt. Hinzu kommt, das bereits heute über die Novellierung der Energieeinspar-Verordnung (EnEV 2013) diskutiert wird und in einem zweistufigen Verfahren eingeführt werden soll, so dass weitere Energieeinsparungen von 25 Prozent erbracht werden müssten. Aus Gründen des vorbeugenden Klimaschutzes und hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Energiekosten in der Zukunft, mögen diese erhöhten Anforderungen durchaus sinnvoll erscheinen, doch rechtfertigt der tatsächliche Minderverbrauch an Energie nicht den dadurch entstehenden bautechnischen Mehraufwand und die dafür notwendigen finanziellen Aufwendungen. Im Gegenteil: Um den Bau möglichst preisgünstiger Wohnungen zu fördern, müsste besonderer Wert auf eine kostensenkende und serielle Bauweise gelegt werden. Aber auch energetische Modernisierungsmaßnahmen bei Bestandsimmobilien sind hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wohnkosten kritisch zu hinterfragen. Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass durch energetische Modernisierungen steigende Mieten durch entsprechend niedrigere Energiekosten kompensiert werden können. Wie Modellrechnungen zeigen, fällt die Energieeinsparung in energetisch sanierten Wohngebäuden deutlich geringer aus, als die Mietsteigerungen durch die umgelegten Sanierungsaufwendungen. So ergeben sich in einem Fallbeispiel für eine 60 Quadratmeter große Wohnung Modernisierungskosten von 30.000 Euro. Das Mietrecht erlaubt, bezogen auf die Modernisierungsinvestition zur Refinanzierung, eine Umlage von elf Prozent jährlich – macht 3.300 Euro pro Jahr beziehungsweise 4,58 Euro pro Monat und Quadratmeter. Dem steht aber nur eine Energiekostenreduzierung von 50 bis 60 Cent pro Quadratmeter gegenüber.9 Eine Erhöhung der Miete im vollen Umfang würde die Mieter schnell an die Grenze ihrer finanziellen Möglichkeiten bringen und der Vermieter kann oder will vielfach den gesetzlichen Spielraum für Mieterhöhungen nicht voll ausnutzen. Im Allgemeinen rechnen sich Sanierungen im Wohnungsbestand häufig nicht und tendenziell können die Mieter die entsprechenden Kostensteigerungen nicht ohne weitere Verschärfung der eigenen Lage tragen. Ohne deutliche staatliche Investitionsanreize der energetischen Modernisierung dürften die finanziellen Nachteile weitere Investitionen eher bremsen. Gleichzeitig sollten gesetzliche Regelungen gefunden werden, die Mieter vor einer finanziellen Überforderung aus Klimaschutzgründen bewahren. 9 Dankowski, Raimund (2011): S. 3 www.deutscherverband.org/cms/ fileadmin/medias/ Veroeffentlichungen/ Veranstaltungen/ wohnraumfoerderung 140 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Bremen-Nord: Zwischenfazit für einen Stadtbezirk im politischen Fokus BERND STRÜSSMANN UND ELKE HEYDUCK Grundlegende wirtschaftsstrukturelle Probleme, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch Arbeitsplatzverluste in der Industrie als Folge von Betriebsschließungen und Rationalisierungsprozessen entstanden waren, bilden den Ausgangspunkt für die besondere Aufmerksamkeit, mit der die Entwicklung im nördlichsten Bremer Stadtbezirk politisch begleitet wird. Bereits im Jahr 2006 formulierte der Senat mit dem ›Zukunftsprogramm Bremen-Nord‹ strukturpolitische Zielsetzungen und Handlungsempfehlungen zur Entwicklung der Stadtregion. Das Programm wurde 2011 überarbeitet. Seit November 2011 setzt sich ein direkt beim Bürgermeister Jens Böhrnsen eingerichteter Arbeitskreis mit den Entwicklungsperspektiven Bremen-Nords auseinander, an dem sich Vertreter nordbremischer Institutionen, Verbände, Kammern und verschiedene Senatsressorts beteiligen. In verschiedenen Arbeitsgruppen – Wirtschaft, Wohnen, Soziales – werden neben der Ist-Analyse Instrumente und Maßnahmen diskutiert, die eine positive Entwicklung anschieben sollen. Zur Ankurbelung eines regionalen Entwicklungsprozesses stehen keine kurzfristig wirkenden Patentrezepte zur Verfügung. Es müssen ›dicke Bretter gebohrt‹ werden. Denn die Probleme, mit denen sich eine Politik zur Entwicklung Bremen-Nords auseinandersetzen muss, sind vielschichtig: Die Stadtregion hat ein Arbeitsplatzdefizit, was umfassende Anstrengungen zur Ansiedlung von Unternehmen und Schaffung von Arbeitsplätzen erforderlich macht. Zugleich verliert Bremen-Nord Einwohner. Das lange Zeit bestehende gute Image eines attraktiven Wohnund Arbeitsorts in reizvoller landschaftlicher Umgebung wird seit einigen Jahren durch ›schlechte Nachrichten‹ infrage gestellt. Anders als im übrigen Stadtgebiet – so zeigte es eine Untersuchung für die Wohnungsbaukonzep- tion der Stadtgemeinde Bremen – hat sich die Nachfrage nach Mietwohnungen oder Immobilieneigentum bei einer abnehmenden Zahl der Privathaushalte deutlich abgeschwächt. Hinzu kommt und ist zum Teil ursächlich für die Entwicklung, dass sich die ökonomischen und sozialen Probleme für viele Haushalte in den vergangenen Jahren verstärkt haben. So ist auch innerhalb des Stadtbezirks eine zunehmende soziale Spaltung festzustellen, indem sich diese Probleme in einzelnen Wohnquartieren deutlich konzentrieren. Die Arbeitnehmerkammer begrüßt daher ausdrücklich, dass der Ortsteil Blumenthal als neues WiNGebiet (Wohnen in Nachbarschaften) in die Förderung aufgenommen werden soll. Zentrales Thema ist jedoch die Stärkung der Wirtschaftskraft sowie der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Seit dem Konkurs des Vulkan-Verbundes hat der Senat erhebliche Anstrengungen unternommen, den negativen Trend auf dem Arbeitsmarkt in Bremen-Nord umzukehren. Zwar hat sich die Beschäftigung mittlerweile stabilisiert und auch vom Aufschwung am Arbeitsmarkt hat Bremen-Nord anteilig profitiert. Zwischen dem 30.06.2010 und dem 30.06.2011 sind rund 900 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Dennoch arbeiten bei rund 90.000 Einwohnern nur gut 18.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Bremen-Nord. Die Pendlerdaten verdeutlichen zudem, dass Bremen-Nord in Bezug auf die Gesamtstadt nur noch eine relativ geringe Arbeitsmarktzentralität besitzt. Knapp drei Viertel der fast 30.000 in Bremen-Nord wohnenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten pendeln in andere Stadtbezirke oder in die umliegenden Gemeinden. Doch die Analysen ergeben auch, dass der Wirtschaftsstandort Bremen-Nord über ein hohes Potenzial verfügt, den negativen Trend umzukehren. Das ›Zukunftsprogramm Bremen-Nord‹ um- 141 SOZIALES STADTENTWICKLUNG fasste und umfasst hierzu ein Bündel von Maßnahmen und Schlüsselprojekten in den Bereichen Verkehr, Einzelhandel, Tourismus und Gewerbeflächenentwicklung, die zum Teil auch bereits umgesetzt wurden – mit unterschiedlichem Erfolg und den entsprechenden Schlüssen, die daraus zu ziehen sind. Ein deutlicher Schwerpunkt des Zukunftsprogramms bestand in der Vergangenheit in den Bereichen Einzelhandel, Tourismus und der Gastronomie. Nach dem Wegfall einer erheblichen Zahl von Industriearbeitsplätzen versuchte man den Strukturwandel zu befördern und setzte auf Dienstleistungen. So wurde in Verbindung mit der Errichtung des Einkaufszentrums ›Haven Höövt‹ der gesamte Bereich am Vegesacker Hafen und der Uferpromenade bis zum Gewerbegebiet Bremer Vulkan durch städtebauliche Maßnahmen für den Tourismus und die Gastronomie aufgewertet (›Maritime Meile‹). Einzelhandel Mittlerweile zeigt sich allerdings, dass in dieser Hinsicht die Entwicklungsmöglichkeiten des Standorts gut, aber begrenzt sind und Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden dürfen. So hatte die Inbetriebnahme des Einkaufszentrums Haven Höövt (18.000 qm Verkaufsfläche) im Jahr 2003 schon frühzeitig auch negative und im Grunde absehbare Auswirkungen auf die traditionellen Einzelhandelsgeschäfte in der Einkaufspassage. Mit der Schwerpunktverlagerung des Einzelhandels zum Haven Höövt gerieten der früher zentrale Sedanplatz und ein Teil der Gerhard-RohlfsStraße in eine Randlage. Um Geschäftsleerstände und eine verringerte Attraktivität traditioneller Einkaufslagen zu kompensieren, wurden aufwendige investive Maßnahmen durchgeführt – nicht immer mit dem erhofften Erfolg (Beispiele: ›Blaue Welle‹, Markthalle). Im Frühjahr 2012 meldete der Betreiber des Einkaufszentrums Haven Höövt Insolvenz an. Laut Berichterstattung der Medien liefen die Geschäfte seit sechs Jahren immer schlechter. Zehn Prozent der Verkaufsfläche seien unvermietet. Wegen der schwierigen Lage im Nordbremer Einzelhandel müssten Zugeständnisse bei den Mieten gemacht werden (Radio Bremen, 29.5.2012). Hinzu kommt, dass Einkaufszentren aufgrund ihrer baulichen Qualität und Substanz eine relativ geringe ›Halbwertszeit‹ haben: Nach zehn bis 15 Jahren stehen sie zur kostspieligen Runderneuerung an. Auch wenn neue Einkaufszentren zunächst einen Imagegewinn bedeuten können: Wenn Kaufkraft und Besucherzahlen überinterpretiert werden, verkehrt sich dieser Effekt schnell ins Gegenteil. Tourismus Zweifellos bietet Bremen-Nord ein touristisches Potenzial für Bremen-Besucher. In den vergangenen Jahren stieg auch die Zahl der Übernachtungsgäste. Doch sollte man auch hier die Bedeutung nicht überschätzen. Rund 67.000 Gästeübernachtungen jährlich stellen nur rund vier Prozent aller Gästeübernachtungen in der Stadt Bremen dar. Seit 2007 nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Gastronomie und im Hotelgewerbe immerhin von rund 400 auf 450 zu. Dennoch scheinen die Erwartungen an den Tages- und Städtetourismus bisher eher zu hoch gewesen zu sein. Bereits Anfang Dezember 2011 musste die Bremer Bootsbau Vegesack gGmbH Insolvenz anmelden, die als Beschäftigungsträger das ›Schaufenster Bootsbau‹ an der sogenannten Maritimen Meile betrieb. Damit endete ein Experiment, das unter anderem aus einem Bootsbauplatz, -hallen und -lehrpfad sowie einer ›Kinderwerft‹ bestand. Im März 2011 eröffnete in einem alten Speicher das Schiffbaumuseum Spicarium. Im Juni 2012 stellte sich auch seine Lage als kritisch heraus. Das Museum war mit einer Zahl von jährlich 30.000 Besuchern geplant, die im ersten Betriebsjahr aber nicht erreicht wurde. 142 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 Realistisch müsse nun von einem Drittel dieser Zielgröße ausgegangen werden. Wirtschaftssenator Martin Günthner verwies zu Recht in einem Pressegespräch darauf hin, dass Bremen-Nord trotz aller Vorzüge und Sehenswürdigkeiten für den Städtetourismus ein ›Nischenprodukt‹ ist. Es wäre gerade deswegen allerdings sinnvoll, in der Bremen-Werbung – stadtintern und nach außen – kulturelle Events und andere Angebote stärker als in der Vergangenheit in den Mittelpunkt zu rücken. Zumal die Tourismus- und Kulturförderung zum Beispiel in Bezug auf die Überseestadt konkurrierende Strukturen aufgebaut hat und maritime Erlebniswelten eher Bremerhaven zugeordnet werden. Einen wichtigen Baustein für das Tourismus-Konzept stellt die Öffnung des Bunkers Valentin für die Öffentlichkeit und Schaffung einer Dauerausstellung dar. Richtig erscheinen auch Überlegungen, den Fahrradtourismus zu fördern – der Weserradweg verläuft bisher auf der niedersächsischen Seite der Weser, könnte aber auch über das Blockland, an der Wümme und Lesum bis nach Vegesack geführt werden. Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹ Das Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹ wurde im vergangenen Jahrzehnt erfolgreich umstrukturiert, wobei sich auch neue Betriebe ansiedelten. Problematisch erscheint, dass mit der Ansiedlung eines Unternehmens der Automobillogistik große Bereiche als Stellflächen dienen, die für hochwertige Nutzungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Hier sollte nach Möglichkeiten gesucht werden, den Flächenverbrauch zu reduzieren (zum Beispiel durch den Bau von Parkhäusern). BWK-Gelände Seit die benachbarte Bremer Woll-Kämmerei (BWK) nach über hundertjährigem Bestand im Jahr 2009 den Betrieb einstellen musste, müssen konkrete Vorstellungen zur zukünftigen Nutzung des 25 Hektar großen Geländes entwickelt werden. Ein zunächst von der Umwelt- und Baubehörde vorgelegter städtebaulicher Entwurf orientierte sich vornehmlich an gestalterischen Überlegungen. Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat in ihren früheren Stellungnahmen angemahnt, ein konkretes Nutzungskonzept voranzustellen, was auf der Ebene der Bauleitplanung geschehen muss. Mittlerweile ist die Erschließung des Geländes zu einem Drittel erfolgt, der Rest ist in Planung. Die öffentliche Hand finanziert diese Erschließung sowie die Ertüchtigung vorhandener Infrastruktur und Gebäude mit insgesamt 15 Millionen Euro. Beim Nutzungskonzept geht es allerdings um eine grundsätzliche Entscheidung: Das Gelände bietet für die Ansiedlung von Gewerbe- und Industriebetrieben große Potenziale. Durch die Nähe zum Gewerbegebiet Bremer Vulkan, das über keine Erweiterungskapazitäten mehr verfügt, und mit seiner Lage am Seeschifffahrtsweg Weser ergeben sich hier hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für gewerbliche Nutzungen als auch Dienstleistungen. Das Gebiet sollte daher nach den verschiedenen Nutzungsarten (Industrie, Gewerbebetriebe aller Art, Geschäfts- und Bürogebäude) gegliedert entwickelt werden. Um den Vorteil der Lage am Schifffahrtsweg Weser zu nutzen, sollten die Infrastruktur modernisiert und Umschlaganlagen geschaffen werden. 143 SOZIALES STADTENTWICKLUNG Das Gewerbeentwicklungsprogramm 2020 stuft das BWK-Gelände als prioritäres Projekt mit dem Standortprofil ›produzierendes, insbesondere verarbeitendes Gewerbe sowie Dienstleistungen‹ ein, das besondere Perspektiven für Ansiedlungen im Bereich der Windenergiebranche, des Maschinen- und Anlagenbaus, Logistik sowie für Dienstleistungen bietet. Im Rahmen der ›Integrierten Landesstrategie zur Entwicklung der Innovationscluster Luft- und Raumfahrt, Windenergie und Maritime Wirtschaft/Logistik‹ soll geprüft werden, ob das Gebiet – auch wegen seiner unmittelbaren Lage an der Weser – für die Ansiedlung von Unternehmen und Zulieferern der Onshoreund Offshore-Windenergiebranche geeignet ist. Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer ist eine bauliche und ansiedlungspolitische Profilierung des Gebietes zentral. Eine hauptsächlich auf emissionsintensive industrielle Nutzungen zielende Entwicklung erscheint wegen einzuhaltender Grenzwerte – es schließen Wohngebiete unmittelbar an das Gelände an – schwierig. Zudem stehen hierfür im Bremer Industriepark nicht weit vom BWK-Gelände entfernt ebenfalls Flächen zur Verfügung. Bremer Industriepark Die Flächen des an Bremen-Nord angrenzenden Bremer Industrieparks ließen sich in den Anfangsjahren nur sehr langsam vermarkten. Grund dafür war auch das Überangebot an vermarktbaren Gewerbeflächen in zum Teil logistisch attraktiverer Lage, das durch eine extensive Gewerbeflächenpolitik bis 2007 entstanden war. Erst in den vergangenen Jahren konnten verstärkt Ansiedlungserfolge verbucht werden. Untersuchungen gehen davon aus, dass sich die Vermarktung der Gewerbeflächen mit der Herstellung des Wesertunnels der A 281, der für den Lückenschluss der Autobahnquerverbindung zwischen der A1 und A 27 sorgen wird, entscheidend verbessern wird. Farge West und Steindamm Problematisch bleibt die Situation im Gewerbegebiet Farge-West, das erheblich durch Mängel der Baustruktur und Leerstände geprägt ist. Zu Recht erwartet die örtliche Politik eine Konzeption zur städtebaulichen Aufwertung und Maßnahmen zur besseren Vermarktung der Flächen. Richtig war die Entscheidung, auf die bislang geplante Erweiterung des Gewerbegebiets Steindamm zu verzichten, das in den vergangenen Jahren nur wenig adäquate Nutzungen an sich zog. Das Gewerbegebiet liegt im Übrigen nur wenige Kilometer vom Bremer Industriepark entfernt, auf dem noch beträchtliche Flächen für Ansiedlungen zur Verfügung stehen. Zudem lag die Erweiterungsfläche im Hochwasserschutzgebiet. Lesum Park Mit dem ›Lesum Park‹ (früher ›Gesundheitspark Friedehorst‹) sollen auf einem an das Gelände der Stiftung Friedehorst angrenzenden, rund sieben Hektar großen Gebiet Nutzungen aus den Bereichen Gesundheitswirtschaft und Bildung im Vordergrund stehen. Rund ein Drittel der Fläche wird für Wohnen allgemein und betreutes Wohnen vorgehalten. Nach seiner Fertigstellung sollen rund 400 Beschäftigte im ›Gesundheitspark‹ arbeiten. Mit dem Bau soll 2013 begonnen werden. Obwohl gerade die Gesundheitsbranche langfristig betrachtet Wachstumsmöglichkeiten bietet, muss auch auf kritische Entwicklungen hingewiesen werden. So geriet die Stiftung Friedehorst im Herbst 2012 durch die problematische Situation des Berufsförderungswerks in eine kritische wirtschaftliche Lage. Und die Pflegebranche klagt über eine schlechte Ertragssituation und Unterauslastung der stationären Einrichtungen. Dennoch erscheint ein Dienstleistungsschwerpunkt ›Gesundheits- 144 B ER IC H T ZU R L AGE 2013 wirtschaft‹ in Bremen-Nord – womöglich unter Einbeziehung des Klinikums Bremen-Nord und den entsprechenden Studiengängen an der Universität Bremen – sinnvoll. Innovations- und Technologieförderung Mit dem ›Science Park‹ soll ein Technologieund Gründerzentrum in Nachbarschaft der Jacobs University geschaffen werden, das mit den Forschungseinrichtungen der Universität kooperiert. Gefördert werden soll die Gründung von ›Spin-off-Unternehmen‹ durch Wissenschaftler der Universität, die Ergebnisse ihrer Forschungen kommerziell verwerten wollen. Im ausgebauten Zustand soll der Science Park 600 Beschäftigte haben. Doch die Umsetzung der bereits vor einem Jahrzehnt aufgenommenen Planung lässt auf sich warten. Die Zernike Group, ein niederländisches Unternehmen, hatte die Fertigstellung ursprünglich schon für das Jahr 2009 angekündigt. Befürchtungen, dass sich die Umsetzung des Projekts Science Park noch weiter verzögert, werden gegenwärtig dadurch verstärkt, dass die Jacobs University in eine finanzielle Schieflage geraten ist, die von der Bremer Landesregierung vorläufig abgefedert wurde. Undeutlich blieb bis zum Jahreswechsel auch immer noch, welches aussagefähige inhaltliche Konzept dem Science Park zugrunde liegen soll. So ist unklar, welche technologischen und Branchenschwerpunkte den Technologiepark im Bremer Norden prägen sollen beziehungsweise aus welchen Forschungsbereichen der Universität Unternehmensgründungen (›Spin-offs‹) beabsichtigt sind. Forderungen, die nach dem Abspringen des privaten Investors die öffentliche Hand in die Pflicht nehmen wollen, sind aus Sicht der Kammer mit Zurückhaltung zu behandeln. Ein Abstellen des Science Parks auf den Erfolg und die aktuellen Forschungsschwerpunkte der Jacobs University ist zum jetzigen Zeitpunkt gewagt. Zur Förderung von Innovationen und von Forschungs-Transfer in Bremen-Nord sollten auch die Universität Bremen und die Hochschule in die Aktivitäten einbezogen werden. Dabei muss es vorrangig darum gehen, örtlich schon vorhandene Netzwerke von Hochschule und Betrieb stärker zu fördern und auszubauen, die für die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts relevant sind. So besteht in der Fachrichtung Schiffbau und Meerestechnik der Hochschule Bremen seit Langem ein Praxisverbund, in den auch die Unternehmen aus Bremen-Nord eingebunden sind und eine wichtige Rolle spielen. Darauf aufbauend könnte die Hochschule bei geeigneter Förderung den Transfer von Forschungsergebnissen und Praxisentwicklungen übernehmen. In den Bereichen Schiffbau und Nautik gehört die Hochschule Bremen zu den wichtigsten Bildungseinrichtungen an der Nordsee. Auch im Bereich der maritimen Fertigungstechnologien besteht eine Vielzahl von Arbeitszusammenhängen mit Unternehmen. Diese erstrecken sich auf die Koordination und Begleitung studentischer Praktika, die Durchführung anwendungsorientierter Forschungsprojekte, den Transfer von Forschungsergebnissen in Betriebe sowie umgekehrt auf die Vermittlung aktueller Entwicklungen der Technologieanwendung im Studium. Eine Kammer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen B E R I C H T Z U R L AG E 2 013 ❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen vertritt als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Interessen der Beschäftigten. ❚ Mitglieder der Arbeitnehmerkammer sind – so bestimmt es das ›Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen‹ – alle im Bundesland Bremen abhängig Beschäftigten (mit Ausnahme der Beamten). Zurzeit sind dies rund 291.000 im Land Bremen hatten, sind Mitglieder der Arbeitnehmerkammer. ❚ Neben einer umfassenden Rechtsberatung bietet die Arbeit- nehmerkammer ihren Mitgliedern zahlreiche Informationen zu den Themen Wirtschaft, Arbeit, Bildung und Kultur. ❚ Darüber hinaus berät sie Betriebs- und Personalräte sowie die Politik und öffentliche Verwaltung im Land Bremen. ❚ Die berufliche Weiterbildung übernimmt die Wirtschafts- und Sozialakademie (wisoak). ❚ Zusätzlichen Service und Vergünstigungen gibt es mit der KammerCard, die jedes Mitglied auf Wunsch kostenlos erhält. w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e BERICHT 2013 // Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und knapp 70.500 Minijobber. Auch Arbeitslose, die zuletzt ihren Arbeitsplatz Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e Arbeitnehmerkammer Bremen Arbeitnehmerkammer Bremen