Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land

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Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land
Eine Kammer für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Land Bremen
B E R I C H T Z U R L AG E 2 013
❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen vertritt als Körperschaft
des öffentlichen Rechts die Interessen der Beschäftigten.
❚ Mitglieder der Arbeitnehmerkammer sind – so bestimmt es
das ›Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen‹
– alle im Bundesland Bremen abhängig Beschäftigten (mit
Ausnahme der Beamten). Zurzeit sind dies rund 291.000
im Land Bremen hatten, sind Mitglieder der Arbeitnehmerkammer.
❚ Neben einer umfassenden Rechtsberatung bietet die Arbeit-
nehmerkammer ihren Mitgliedern zahlreiche Informationen
zu den Themen Wirtschaft, Arbeit, Bildung und Kultur.
❚ Darüber hinaus berät sie Betriebs- und Personalräte sowie
die Politik und öffentliche Verwaltung im Land Bremen.
❚ Die berufliche Weiterbildung übernimmt die Wirtschafts-
und Sozialakademie (wisoak).
❚ Zusätzlichen Service und Vergünstigungen gibt es mit der
KammerCard, die jedes Mitglied auf Wunsch kostenlos erhält.
w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e
BERICHT 2013 // Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und knapp 70.500
Minijobber. Auch Arbeitslose, die zuletzt ihren Arbeitsplatz
Bericht zur Lage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
im Land Bremen
w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e
Arbeitnehmerkammer
Bremen
Arbeitnehmerkammer
Bremen
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Bericht zur Lage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
im Land Bremen
Arbeitnehmerkammer
Bremen
2
IMPRESSUM
HER AUSGEBER
Arbeitnehmerkammer Bremen
Bürgerstraße 1
28195 Bremen
Telefon 0421· 36301- 0
Telefax 0421·36301- 89
[email protected]
www.arbeitnehmerkammer.de
R E DA K T I O N
V E R FA S S E R I N N E N / V E R FA S S E R
Nathalie Sander
Susanne Achenbach,
Elke Heyduck
Referentin für Bildung und Ausbildung
LEK TOR AT
Referentin für Gesundheitspolitik
Carola Bury,
Martina Kedenburg
Regine Geraedts,
Referentin für Arbeitsmarkt- und
GR AFISCHE GESTALTUNG
Beschäftigungspolitik
Designbüro Möhlenkamp, Bremen
Kai-Ole Hausen,
Marlis Schuldt
Referent für Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik
Jörg Möhlenkamp
Susanne Hermeling,
FOTOS
Elke Heyduck,
Referentin für Bildungspolitik
Kay Michalak
Geschäftsführerin und Leitung Politikberatung
Cindi Jacobs
Jörg Muscheid,
DRUCK
Dr. Guido Nischwitz,
Referent für Wirtschaftspolitik
Girzig & Gottschalk, Bremen
Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW)
Barbara Reuhl,
Abgeschlossen im März 2013
Referentin für Arbeits- und Gesundheitsschutz
Peer Rosenthal,
Referent der Geschäftsführung und für
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
Dr. Marion Salot,
Referentin für regionale Wirtschaftspolitik
Ingo Schäfer,
Referent für Sozialversicherungs- und
Steuerpolitik
Dr. Esther Schröder,
Referentin Gleichstellungs- und
Geschlechterpolitik
Thomas Schwarzer,
Referent für kommunale Sozialpolitik
Bernd Strüßmann,
Referent für regionale Strukturpolitik
3
Inhalt
1
4
Vorwort
6
Teil 1: Wirtschaft, Arbeit /Arbeitsmarktpolitik
7
13
18
24
29
34
36
52
59
64
68
75
Arbeit / Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsschutz
Arbeitsmarktpolitik: Kürzungen und neue Instrumente als doppelte Herausforderung
Qualifizieren statt Aktivieren:
Bildungschancen für Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfänger
Ausbildung in Bremen und Bremerhaven: Noch immer gehen zu viele verloren
Minijobs: Umfassende Reform notwendig
Vom Job direkt in ›Hartz IV‹: Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung
Menschen mit Behinderungen auf dem (Bremer) Arbeitsmarkt
Exkurs: Jetzt auf Dauer: Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene
78
Teil 2: Gesundheit, Rente, Bildung und Integration
79
87
Gesundheit
Zur Situation in der Pflege – Zwischen Fachkräftebedarf und Pflegenotstand
Exkurs: Fachkräftebedarf in der Bremer Pflege: Engpassanalyse mittels Arbeitslosenund Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit
90
95
Rente
Lebensstandardsicherung oder Armutsbekämpfung?
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit: Gesundheitliche und soziale Risiken
für Beschäftigte – Bremen im Ländervergleich
40
46
2
Wirtschaft
Wirtschaftsentwicklung: Europa in der Rezession, Bremer Lage noch stabil
Verdienste in Bremen
Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven
Exkurs: Schiffahrt in der Krise, Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde
Strukturwandel und gute Arbeit im Land Bremen – welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik?
Für eine transparente und effiziente Wirtschaftsförderung
Exkurs: EU-Strukturpolitik in Bremen
100
108
114
118
Bildung und Integration
Betriebsräte und berufliche Weiterbildung von Beschäftigten
Perspektivwechsel in Bremen – von Integration zu Vielfalt und Partizipation
Exkurs: Anerkennung von Abschlüssen – als Weg zu qualifizierter Beschäftigung
Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen
124
Teil 3: Soziales und Stadtentwicklung
125
Familien müssen planen:
Bremen und die Bundespolitik taktieren und improvisieren beim U3-Ausbau
Wohnungsbaupolitik: Neubau alleine reicht nicht
Bremen-Nord: Zwischenfazit für einen Stadtbezirk im politischen Fokus
3
131
140
4
VO R WO RT
Zu der Zeit, als dieser Lagebericht bei der Arbeitnehmerkammer geschrieben wurde,
zerbrachen sich im Rathaus Haushälter und Politiker die Köpfe über das Budget für die
einzelnen Bremer Politikbereiche. Die Schuldenbremse – sie wirft ihre Schatten voraus –
gilt ab 2020, dann muss das Land ohne neue Schulden seine Ausgaben bewältigen können.
Um die bereits aufgelaufenen sogenannten Altschulden in Höhe von aktuell 19 Milliarden
Euro zu bedienen, also nur um die Zinsen zu bezahlen, gibt das Land Bremen jährlich
650 Millionen Euro aus. Die Zinsen verschlingen rund ein Sechstel des Gesamthaushalts.
Zum Vergleich ein anderer Posten: Die Sozialausgaben betrugen im Jahr 2012 knapp
800 Millionen Euro.
Es ist aus unserer Sicht schwer vermittelbar, dass man den Arbeitnehmern und Bürgern
die hier leben und arbeiten, den Gürtel immer enger schnallt, wenn am Ende dieses
Weges nicht eine deutlich verlässlichere finanzielle Grundlage für das Gemeinwesen
geschaffen ist. Eine Anstrengung, wie sie im bremischen Haushalt und damit von
den Menschen zu leisten ist, muss sich lohnen. Es wird sonst früher oder später keine
ausreichende Zustimmung mehr für diesen Weg geben.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Schuldenbremse dann funktionieren
kann, wenn es eine politische und solidarische Lösung für die Altschulden gibt (nicht nur
Bremen hat damit ein Problem!). Wir haben gleichzeitig dafür plädiert, die Einnahmesituation der öffentlichen Hand zu verbessern: unter anderem durch die Einführung einer
Vermögensteuer, die Neuregelung der Erbschaftsteuer und die Abschaffung des flachen
Steuersatzes für Kapitaleinkünfte. Länder und Kommunen benötigen einen ausreichenden finanziellen Handlungsspielraum, etwa um in die Integration unserer bunter werdenden Gesellschaft, in die Betreuung und Bildung unserer Kinder und damit in mehr
Chancengerechtigkeit und in die Förderung von Arbeitsuchenden investieren zu können.
5
Unser diesjähriger Lagebericht zeigt die Herausforderungen: In unseren Schulen werden
Menschen gebildet, die einen immer unterschiedlicheren kulturellen und auch Bildungshintergrund haben. Die Arbeitslosigkeit in unseren Städten geht wesentlich zurück
auf eine viel zu große Gruppe von Menschen, die keinen Berufsabschluss hat und auch
der regionale Arbeitsmarkt selbst birgt für Arbeitnehmer nicht unerhebliche Prekaritätsrisiken. Die erfolgreiche Ansiedlung neuer Industrien – etwa die Windenergiebranche –
hat zudem mit schwierigen politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen. Was der
Bericht aber auch zeigt: Bremen und Bremerhaven sind ›dran‹ an den Themen, die die
Zukunftsfähigkeit unserer Städte ausmachen. In den Städten entscheiden sich die heute
wichtigen Fragen der Integration, des sozialen Zusammenhalts, neuer Arbeitsmärkte und
wirtschaftlicher Entwicklungen. Diese Rolle des ›Treibers‹ müssen wir im Land Bremen
selbstbewusst wahrnehmen. Dafür müssen die fiskalischen Schwierigkeiten gemeistert
werden, dafür muss aber auch die Politik ihren Gestaltungswillen auf den Arbeitsmärkten
und bei der angemessenen Ausstattung unseres Gemeinwesens behaupten.
Mit unserem Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land
Bremen wollen wir dazu einen Beitrag leisten.
Peter Kruse
Ingo Schierenbeck
Präsident
Hauptgeschäftsführer
6
1
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Wirtschaft Arbeit
Arbeitsmarktpolitik
7
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Wirtschaftsentwicklung
Europa in der Rezession, Bremer Lage noch stabil
JÖRG MUSCHEID
Was sich bereits im Jahresverlauf 2011 in einer
Reihe europäischer Staaten abzeichnete, ist
Mitte 2012 bittere Realität in Europa geworden: Die Wirtschaft im Euroraum schrumpfte
zwei Quartale in Folge und befindet sich damit
in der Rezession. Vor dem Hintergrund der
nach wie vor ungelösten Schuldenkrise in
Europa und angesichts der massiven Sparprogramme war es allerdings keine Frage, ob die
Rezession eintritt, sondern nur wann sie eintritt. Denn dass angesichts der einseitig auf
Konsolidierung ausgerichteten Krisenpolitik
die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in Europa nachhaltig gedrosselt werden
würde, war zu erwarten. Bei der konjunkturellen Situation ist Europa gespalten: Griechenland und Portugal mussten 2012 eine weitere
Verschärfung ihres wirtschaftlichen Rückgangs, der bereits im Vorjahr einsetzte, erleiden. Im Jahresverlauf kamen dann mit Italien
und Spanien auch die dritt- und viertgrößten
Volkswirtschaften des Euroraums in die Rezession. Auf der anderen Seite hat sich die Wirtschaftsentwicklung in den übrigen Ländern
2012 als vergleichsweise robust erwiesen, vor
allem in Deutschland.
Deutliche Bremsspuren in der Wirtschaft
Gleichwohl zeigen die ersten Wirtschaftszahlen vom Jahresende 2012, dass der Euroraum
noch tiefer in die Rezession gerutscht ist.
Obwohl der Einkaufsmanagerindex, einer der
wichtigsten Frühindikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum, im
Dezember leicht um 0,7 Prozentpunkte auf
47,2 Prozent und auch im Januar 2013 auf 48,6
Prozent stieg, verbleibt er noch immer unter
der sogenannten ›Wachstumsschwelle‹ von
50 Punkten. Auch der Exportsektor schwächelt
mittlerweile: Die Exportwirtschaft in Deutschland, die trotz der Krise bislang auf robust
hohem Niveau war, musste im November ein
Minus von insgesamt 3,4 Prozent gegenüber
dem Vormonat verzeichnen, wobei der Rückgang der Nachfrage aus dem Euroraum mit
5,7 Prozent deutlich stärker ausfiel und nur
durch die gestiegene Nachfrage aus den übrigen Ländern teilweise kompensiert werden
konnte. Im Ergebnis stieg das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland nach einem Plus von
4,2 Prozent 2010 und 3,0 Prozent 2011 im
abgelaufenen Jahr lediglich um 0,7 Prozent.
Risiken außerordentlich hoch
Vor dem Hintergrund der Rezession in den
südeuropäischen Euroländern war für 2012
kein höheres Wachstum in Deutschland zu
erwarten, die Zahlen zeigen aber auch: Die
Krise hat Europas Kern erreicht. Von der rigiden Sparpolitik der südeuropäischen Euroländer mit Lohn- und Rentenkürzungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst, Kürzungen von
Sozialleistungen – bei der die wohlhabenden
Schichten allerdings weitgehend verschont
blieben, ist in Deutschland (und den anderen
mittel- und nordeuropäischen Euroländern)
allerdings keine Rede und auch für dieses
Jahr herrscht bei allen Prognosen der Forschungsinstitute und der Bundesregierung ein
grundsätzlicher Optimismus vor. Ausgehend
von der Annahme, dass es keine Eskalation der
europäischen Schuldenkrise gibt und dass die
Weltwirtschaft weiterhin moderat expandiert,
wird allgemein von einer Fortsetzung der
Krisenbewältigung und des konjunkturellen
Aufschwungs – wenn auch auf niedrigerem
Niveau – ausgegangen. Ob diese grundsätzliche Annahme, dass es keine Eskalation der
europäischen Schuldenkrise gibt, auch zum
Tragen kommt, lässt sich allerdings kaum
seriös beantworten. Denn es setzt voraus, dass
die Krisenländer weiterhin an ihrem Konsoli-
8
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 1:
Wirtschaftswachstum im Land Bremen und dem Bundesgebiet
1,4
1,1
2012
3,9
2011
3,0
5,7
2010
3,7
-7,9
2009
-5,1
-10
Bremen
-8
-6
-4
-2
0
2
4
6
Bund
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder
dierungskurs festhalten und dass auch die
übrigen Länder konsequent ihre Defizite
abbauen. Gleichzeitig brauchen die krisengeschüttelten Länder auch Wachstumsimpulse,
um ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln. Angesichts der schon jetzt deutlich werdenden
sozialen Verwerfungen und der massiven Proteste gegen die Konsolidierungspolitik in den
südeuropäischen Eurostaaten ist auch ein
Scheitern der Sparpolitik, wie sie zurzeit praktiziert wird, durchaus realistisch – mit unabsehbaren Konsequenzen für die konjunkturelle
Entwicklung und die gemeinsame Währung.
Land Bremen:
Lage stabil, Skepsis nimmt zu
Diese Zweischneidigkeit der Analyse – einerseits eine zunehmende Gefährdung durch die
Entwicklung der Rahmenbedingungen, andererseits aktuell noch keine konkreten Auswirkungen – trifft auch zu beim Blick auf die Bundesländer.
Von einzelnen besonders betroffenen Standorten in Deutschland (wie beispielsweise das
Opel-Werk in Bochum) abgesehen, lassen sich
weder auf der regionalen noch der sektoralen
Ebene größere Auswirkungen der Rezession im
Euroraum benennen. Gleichwohl mehren sich
die skeptischen Stimmen hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Diese zunehmende Unsicherheit spiegelte sich schon im Ergebnis der
Betriebsräte-Befragung der Arbeitnehmerkammer Bremen, die Anfang 2012 zum dritten Mal
durchgeführt wurde. Wie im Vorjahr wurde
auch diesmal die wirtschaftliche Lage des
jeweils eigenen Betriebs von rund 76 Prozent
aller Befragten als grundsätzlich positiv eingeschätzt, zugleich nahm aber der Anteil der
skeptischen Stimmen hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage insgesamt doch zu.
Beim Blick auf das Wirtschaftswachstum im
Land Bremen erweist sich diese Skepsis als
durchaus berechtigt, denn die ersten Ergebnisse für 2012 zeigen hier wie auch im Bundesgebiet eine deutliche Abschwächung. Mit einem
Wachstum von 1,4 Prozent (Bundesgebiet: 1,1
Prozent) war gegenüber den beiden Vorjahren
ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen,
wenngleich nach wie vor das Wachstum im
Land Bremen leicht über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Beschäftigung konnte 2012
weiter zulegen
Auch 2012 verlief die Beschäftigungsentwicklung wie bereits im Vorjahr positiv. Beim Blick
auf die Beschäftigungsentwicklung zeigt das
Land Bremen – anders als beim Wirtschaftswachstum – allerdings keine überdurchschnittlichen Ergebnisse: Das Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung belief
sich auf 1,9 Prozent – ebenso wie im Bundesgebiet. Im Ländervergleich liegt Bremen damit
im Mittelfeld.
Einen wesentlichen Anteil an der stabilen
Entwicklung im Land Bremen hatte 2012, wie
auch in den Vorjahren, das verarbeitende
Gewerbe. Hier konzentrieren sich in der Stadt
Bremen mit dem Mercedes-Benz-Werk, Airbus,
Atlas Elektronik und den Unternehmen der
Luft- und Raumfahrtindustrie große Unternehmen mit starker Bedeutung für die jeweiligen
Zulieferbetriebe und die nachgelagerten
Dienstleistungsbereiche; in Bremerhaven
haben Firmen der Offshore-Windenergienutzung in den vergangenen Jahren stark an
Bedeutung gewonnen und zu einer positiven
Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung
in der Seestadt geführt.
9
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
deutschen Werke für die nächsten sieben Jahre
gesichert sein wird.
❚ Nachdem OHB bereits 2010 beim Galileo-Satellitenprogramm, das als europäische Alternative zum
amerikanischen GPS konzipiert ist, den Zuschlag für
die ersten 14 Satelliten bekam, erfolgte im Frühjahr
2012 der Anschlussauftrag für weitere acht Satelliten. Damit ist in absehbarer Zeit der Raumfahrtstandort Bremen ausgelastet.
❚ Die Krise der Automobilindustrie, die sich vor allem
in der beabsichtigten Schließung des Opel-Werks
in Bochum zeigt, betrifft ausschließlich Massenhersteller wie Peugeot, Opel oder Ford, die besonders
von den Absatzeinbrüchen in Europa betroffen
sind. Mercedes – wie auch die übrigen Premiumhersteller – verzeichnet dagegen weiterhin wachsende
Absatzzahlen in den anderen Absatzmärkten, vor
allem in den USA und China.
Im verarbeitenden Gewerbe gab es 2012 eine
Reihe positiver Meldungen, hier sind allerdings auch Abschwächungstendenzen im vierten Quartal 2012 festzustellen. Zudem stockt
der Ausbau der Offshore-Windenergienutzung,
eine Entwicklung, die sich ab 2013 insbesondere in Bremerhaven niederschlagen wird (dazu
ausführlicher im Beitrag Wirtschafts- und
Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven,
S. 21 ff.):
❚ Trotz eingetrübter Auftragseingänge zeigen die
jüngsten Zahlen des Statistischen Landesamtes für
das verarbeitende Gewerbe vor allem positive Ergebnisse: So stieg der Umsatz der bremischen Industriebetriebe 2012 auf ein neues Rekordhoch von 24,3
Milliarden Euro (6 Prozent). Die Auslandsumsätze
konnten mit 7,3 Prozent sogar stärker zulegen.
❚ Im Herbst vermeldete Airbus, mit eines der größten
Unternehmen in Bremen, dass angesichts einer Auftragsflut bei Flugzeugen die Auslastung der nord-
Abb. 2: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten nach Bundesländern (Juni 2011/ Juni 2012)
3,4
Berlin
Niedersachsen
2,7
Bayern
2,6
Hamburg
2,3
Baden-Württemberg
2,2
Deutschland
1,9
Bremen
1,9
Schleswig-Holstein
1,8
Hessen
1,7
Nordrhein-Westfalen
1,5
1,4
Rheinland-Pfalz
1,3
Saarland
Sachsen
1,2
Brandenburg
1,0
Thüringen
0,9
Mecklenburg-Vorpommern
0,5
Sachsen-Anhalt
-0,2
-0,5
0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
3,5
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, Länderreport, Stichtag 30. Juni 2012
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B ER IC H T ZU R L AGE 2013
❚ Anders dagegen die Situation in der OffshoreIndustrie. Nachdem in den vergangenen Jahren hier
ein rasanter Anstieg zu verzeichnen war, der zu
einer deutlich stärkeren Beschäftigungsentwicklung
in Bremerhaven (im Vergleich zur Stadt Bremen)
geführt hat, zeigen die aktuellen Probleme der Netzanbindung erste Wirkungen. Aktuell wird der
Abbau von bis zu mehreren Tausend Arbeitsplätzen
in Norddeutschland befürchtet.
Tourismus ohne Zuwachs 2012 –
im langfristigen Vergleich
zudem unterdurchschnittlich
Weitgehend unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung hat sich in den vergangenen
Jahren der Tourismussektor gezeigt. Der Städtetourismus gilt seit Jahren als ›Basistrend‹,
von dem alle Städte mehr oder weniger profitiert haben. Bremen und Bremerhaven hatten
zudem durch die Entwicklung der ›Erlebniswelten‹ voll auf diesen Trend gesetzt, um
attraktive Zielorte für Tages- und Übernachtungstouristen zu werden. Durch die Ansiedlung von Ryanair konnten zudem zusätzliche
Impulse für die Stadt Bremen in den vergangenen Jahren gegeben werden.
Die seit Jahren andauernden Probleme bei
der Botanika sowie die aktuell rückläufigen
Besucherzahlen beim Universum in Bremen
und dem Klimahaus in Bremerhaven machen
aber deutlich, dass auch in der Tourismuswirtschaft Probleme bestehen. Das betrifft nicht
nur die Tagesbesucher. Auch die Zahl der Übernachtungsgäste wird aller Voraussicht nach
nicht an die Vorjahresergebnisse anknüpfen
können. Nach deutlichen Zuwächsen 2010 und
2011 – sowohl in Bremen wie auch in Bremerhaven – stagniert 2012 (Stand: Oktober) bislang
die Zahl der Übernachtungen (Stadt Bremen)
beziehungsweise war leicht negativ (Bremerhaven) gegenüber dem jeweiligen Vorjahresergebnis. Vergleicht man die langfristige Entwicklung der großen Städte, relativieren sich
zudem die alljährlichen Erfolgsmeldungen
in Bremen: So hat die Stadt Bremen im Zehn-
Jahres-Vergleich zwischen 2001 und 2011 mit
einem Wachstum der Übernachtungen von
rund 44,7 Prozent einen erheblichen Zuwachs
verzeichnen können, doch deutlich weniger
als zum Beispiel Hamburg (99,8 Prozent),
Hannover (68,7 Prozent) oder Düsseldorf
(60,9 Prozent). Im Vergleich der Großstädte
war die langfristige Entwicklung in Bremen
unterdurchschnittlich.
Wirtschaftspolitische Weichenstellung
für die Zukunft
Zwei Schlüsselprojekte für die weitere Entwicklung des Landes wurden Ende des Jahres 2012
in die Wege geleitet. Mit dem Projekt ›EcoMaT‹
wird ein Technologiezentrum in der Nähe von
Airbus, Astrium und Flughafen etabliert, in
dem rund 500 Wissenschaftler und Techniker
interdisziplinär zum Bereich ›Leichtbau‹
zusammenarbeiten werden, um so Synergien
zu bündeln. Nicht nur für die Luft- und Raumfahrtbranche, sondern in vielen anderen Branchen gewinnt der Leichtbau zunehmend an
Bedeutung, so dass mit diesem Projekt auch
über die ›Kernbranchen‹ hinaus Ausstrahlungseffekte angestrebt und möglich sind.
Während das Projekt ›EcoMaT‹ keine weitere
öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zog,
schlug das Projekt ›Offshore-Terminal Bremerhaven‹ vergleichsweise hohe Wellen. Nach dem
vergeblichen Versuch, einen privaten Investor
zu finden, wurde beschlossen, den geplanten
Offshore-Terminal mit öffentlichen Mitteln
zu finanzieren. Schon dieses Vorgehen zeigt
das hohe Risiko an, dass Bremen bei dieser
Entscheidung auf sich nimmt. Weder waren
private Investoren zu finden noch sah man
offensichtlich die Möglichkeit einer staatlichprivaten Kofinanzierung dieses Projektes. Auch
die Details der Finanzierung überraschten,
denn unter dem Regime der Schuldenbremse
war klar, dass die Aufnahme neuer Kredite
nicht infrage kommt.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme in der Offshore-Windenergiebranche sind
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WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
die Irritationen ein Stück weit zu verstehen,
zumal kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung mit PowerBlades nun auch eine Bremerhavener Firma erste Entlassungen ankündigt.
In der Tat geht Bremen mit der Entscheidung für die öffentliche Finanzierung dieses
Projekts ein erhebliches finanzielles Risiko ein
und bindet vor allem die Mittel des Wirtschaftsressorts in den nächsten Jahren in deutlichem Umfang. Bei aller Kritik aus finanzpolitischen und umweltpolitischen Gründen: Die
grundsätzliche Entscheidung für den OffshoreTerminal war angesichts der wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Bedeutung der
Offshore-Branche nötig. Denn mit der Entscheidung für die Energiewende und den Ausbau der Offshore-Windenergienutzung sind
seitens der Bundesregierung langfristige Strukturentscheidungen getroffen worden, die –
unabhängig von den aktuellen Problemen der
Netzanbindung – in den nächsten Jahren
erhebliche Beschäftigungspotenziale für Norddeutschland haben werden. Auch wenn die
von Prognos in diesem Zusammenhang vorausgesagten Beschäftigungseffekte sich als zu
hoch erweisen sollten, muss doch gesehen werden, dass industrielle Neuansiedlungen außerhalb dieser Branche kaum zu erwarten sind.
Die Alternative des weiteren Abwartens wäre
angesichts der Standortkonkurrenz an der
Nordseeküste ein verheerendes Signal für die
vor allem in Bremerhaven ansässigen Unternehmen dieser Branche gewesen. Bei aller
Kritik an den derzeitigen Arbeitsbedingungen
und hier insbesondere der hohen Leiharbeitsquote in der Windenergiebranche ist dieser
Bereich nach wie vor der Hoffnungsträger für
die aktuelle und zukünftige Beschäftigungsentwicklung in Bremerhaven.
Gleichwohl ergibt sich aus dieser Entscheidung ein Dilemma für die bremische Wirtschaftspolitik: Die Bindung von rund 200 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren für
ein einziges Projekt fällt zum einen zu einem
Zeitpunkt der konjunkturellen Eintrübung mit
nach wie vor unabsehbarem Risiko aufgrund
der europäischen Staatsschuldenkrise. Zudem
zeigen sich schon jetzt weiter wirtschaftspolitische ›Baustellen‹, vor allem im Tourismussektor; ganz abgesehen vom Finanzbedarf in anderen Bereichen wie etwa den Krankenhäusern,
die natürlich auch eine wirtschaftspolitische
Bedeutung haben. Im Verlauf der weiteren
konjunkturellen Entwicklung 2013/2014 und
bei der Vorlage des nächsten Strukturkonzepts
wird von daher die Frage zu diskutieren sein,
ob das Land in den nächsten Jahren noch
genügend wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit hat.
Während mit der Zusage für den OffshoreTerminal beim ›Fördern‹ eine zügige Entscheidung seitens des Landes getroffen wurde, steht
beim ›Fordern‹ bislang die Umsetzung eines
wichtigen Projekts aus: Das Tariftreue- und
Vergabegesetz des Landes sollte 2012 weiterentwickelt werden unter Einbeziehung der Kriterien ›guter Arbeit‹. Kerngedanke dabei ist,
dass das Land Bremen angesichts öffentlicher
Millionenbeträge für die direkte und indirekte
Förderung von Unternehmensansiedlungen
und Infrastrukturmaßnahmen auch Einfluss
nehmen will auf die Qualität der Arbeitsplätze. Andere Bundesländer sind hier schon
vorangegangen; der für 2012 in Bremen
geplante Gesetzentwurf steht allerdings bislang aus.
Beschäftigungsentwicklung nach
Branchen in Bremen (Stadt) positiv
Vor dem Hintergrund der nach wie vor stabilen wirtschaftlichen Lage gab es in der Stadt
Bremen wie schon im Vorjahr eine positive
Beschäftigungsentwicklung mit einem Plus
von rund 3.800 sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätzen (1,5 Prozent); die Zahl der
geringfügig entlohnten Beschäftigten nahm
dagegen leicht ab (0,2 Prozent). Während es
zwischen Männern und Frauen nur geringfügige Unterschiede in der Entwicklung gab,
fällt hinsichtlich der Altersgruppen auf, dass
2012 der Zuwachs praktisch ausschließlich
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B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 3: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Wirtschaftsabschnitten (Juni 2011/Juni 2012) – Stadt Bremen
verarbeitendes Gewerbe
Energie- und Wasserversorgung
Baugewerbe
-193
-112
448
516
Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kfz
Plus von rund 1.500
Arbeitsplätzen, gefolgt
vom
Gesundheits- und
-47
Information und Kommunikation
Sozialwesen,
dem Ver-12
Finanz- und Versicherungsdienstleistungen
kehrsbereich, Handel
-59
Grundstücks- und Wohnungswesen
und Baugewerbe. Auch
1.468
freiberuf., wissenschaftl., techn. Dienstleistungen
das Gastgewerbe und
414
sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen
die ›sonstigen wirt122
öffentliche Verwaltung
schaftlichen Dienstleis34
Erziehung und Unterricht
tungen‹ verzeichneten
854
Gesundheits- und Sozialwesen
ein Plus an Arbeitsplät-320
Kunst, Unterhaltung und Erholung
zen. Der Anstieg dieser
-496
sonstige Dienstleistungen
›sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen‹
-1000
-500
0500
1000
1500
2000
war in der VergangenQuelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik,
heit
allerdings stets von
Beschäftigung am Arbeitsort, Bremen, Stadt, Ende Juni 2012
der Leiharbeit getragen,
die zu dieser Wirtschaftsabteilung zählt.
Aktuell war hier ein Minus von rund 80
in der Altersgruppe ›50 bis 64 Jahre‹ stattfand
Arbeitsplätzen zu verzeichnen; eine Entwick(5,1 Prozent), eine Entwicklung ähnlich der im
lung, die durchaus als ein frühes Zeichen für
Bundesgebiet. Dies hat nicht mit Neueinsteleine konjunkturelle Eintrübung zu werten ist.
lungen von Menschen dieser Altersgruppe zu
Die geringfügige Beschäftigung nahm dagetun, sondern mit dem ›Auffüllen‹ dieser Kogen in der Stadt Bremen mit einem Minus von
horte durch den demografischen Wandel: Die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden 100 Arbeitsplätzen leicht ab. Hinsichtlich der
verschiedenen Strukturmerkmale verlief die
älter. Bei der Unterscheidung zwischen DeutEntwicklung ähnlich wie im Bund; auch beim
schen und Ausländern nahm die BeschäftiAnstieg der Beschäftigung von Ausländerinnen
gung von Ausländerinnen und Ausländern
und Ausländern sind Besonderheiten wie in
ebenfalls deutlich überproportional zu (5,3
Bremerhaven (vgl. Beitrag Wirtschafts- und
Prozent). Hier war die Entwicklung im BundesBeschäftigungsentwicklung in Bremerhaven,
gebiet aber mit einem Plus von 8,4 Prozent
S. 18 ff.) nicht zu erkennen. Die stärksten Rücknoch ausgeprägter. In diesen letztgenannten
gänge bei der Beschäftigungsentwicklung
Entwicklungen können erste Anzeichen dafür
der Minijobs musste dabei der Bereich ›Inforgesehen werden, dass die Umsetzung der
mation und Kommunikation‹ (um 12,5 ProArbeitnehmerfreizügigkeit in Europa zu einer
zent auf jetzt 2.260 Beschäftigte) verzeichnen,
Verstärkung der Arbeitsmigration und eventuwährend im Einzelhandel, wo die meisten
ell auch zu einer Entlastung bei fehlenden
Fachkräften führt. Beim Blick auf die Branchen geringfügigen Arbeitsverhältnisse bestehen,
zeigen sich vor allem unternehmensnahe
der Rückgang um 1,5 Prozent (auf 7.149
Dienstleistungen als Boombranche mit einem
Beschäftigte) moderat ausfiel.
765
Verkehr und Lagerei
Gastgewerbe
388
13
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Verdienste in Bremen
JÖRG MUSCHEID
Nachdem 2011 die Entwicklung der Spitzeneinkommen und ihre Verteilung im Land
Bremen analysiert wurde, stand 2012 die
Betrachtung der ›mittleren‹ Arbeitnehmereinkommen und der Niedriglohnbezieher im
Fokus unserer Verdienstanalyse. Zwei Quellen
mit unterschiedlicher Qualität standen dafür
zur Verfügung: Zum einen die Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die
umfassend monatlich alle Arbeitnehmereinkommen aller Betriebe erfasst. Die Möglichkeiten der Auswertung dieser Daten sind aber
relativ beschränkt, vor allem können Arbeitnehmereinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze (2012: 5.600 Euro) nicht analysiert
werden. Zum anderen steht als Quelle die im
Vier-Jahres-Rhythmus (zuletzt 2010) stattfindende Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes zur Verfügung. Sie erfasst
auf repräsentativer Basis die Arbeitnehmerverdienste in Betrieben mit zehn und mehr
Beschäftigten und ermöglicht eine Auswertung nach vielfältigen strukturellen Merkmalen. Die Auswertungsmöglichkeiten, gerade
auf der kleinräumigen regionalen Ebene, sind
hier durch den Umfang der Fallzahlen zum
Teil eingeschränkt, die Verdienststrukturerhebung erlaubt aber einen detaillierten Blick
sowohl auf den Hochlohnbereich wie auch auf
den Niedriglohnbereich – wobei anzumerken
ist, dass durch diese Erhebung rund 12.000
Kleinstbetriebe (mit weniger als zehn Beschäftigten) im Land Bremen mit insgesamt rund
36.000 Beschäftigten nicht erfasst sind. Von
daher ist der Niedriglohnbereich vermutlich
größer als in Abbildung 4 angegeben.
nach wie vor stabilen Wirtschaftsentwicklung
stieg 2012 der Anteil der Arbeitnehmerentgelte
am Volkseinkommen, die Lohnquote, weiter
an; mit einem Plus von gut einem Prozentpunkt liegt die Lohnquote jetzt bei 68,0 Prozent. Damit setzte sich der Aufwärtstrend
des Jahres 2011 fort; gleichwohl ist der Anteil
der Arbeitnehmereinkommen noch weit vom
Niveau früherer Jahre entfernt (siehe Abbildung 1).
Auch die Arbeitnehmereinkommen im Land
Bremen sind 2012 gestiegen. Im Durchschnitt
verdiente ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer im Land Bremen 3.481 Euro brutto im
Monat (Stand: Juli 2012, ohne Sonderzahlungen). Damit sieht die aktuelle Situation im
Land Bremen auf den ersten Blick gut aus: Im
Land Bremen verdienen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer überdurchschnittlich. Der
wesentliche Grund für diesen überdurchschnittlichen Verdienst ist allerdings das deutliche Gefälle der Verdienste zwischen ›alten‹
und ›neuen‹ Bundesländern. Letztere liegen im
Abb. 1:
Lohnquote 1991 bis 2012
74
72,5
71,8
72
69,9
70
70,8
71,1
71,1
68,1
71,0
68
68,0
66,4
66
66,9
64
62
63,2
60
Deutschland, Anteil des Arbeitnehmerentgelts am Volkseinkommen
Quelle: Statistisches Bundesamt 2012
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht war 2012 wie
bereits das Vorjahr positiv für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Im Gefolge der
58
1991
Lohnquote gestiegen
14
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 2:
Arbeitnehmerverdienste 2012 in Euro
Hamburg
3.828
Hessen
3.722
Baden-Württemberg
3.662
Nordrhein-Westfalen
3.544
Bayern
3.517
Bremen
3.481
Deutschland
3.385
Rheinland-Pfalz
3.356
Saarland
3.289
Berlin
3.282
Niedersachsen
3.222
Schleswig-Holstein
3.153
Brandenburg
2.738
Sachsen-Anhalt
2.637
Sachsen
2.626
Mecklenburg-Vorpommern
2.594
Thüringen
2.576
2.000
2.500
3.000
3.500
4.000
Quelle: Statistisches Bundesamt 2012;
Vollzeitbeschäftigte, Stand: 2. Quartal
Ländervergleich auf den hinteren Plätzen. Bei
einem Vergleich der ›alten‹ Bundesländer
liegt Bremen dagegen im Mittelfeld; deutlich
unterdurchschnittlich verdienen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den neuen
Bundesländern. Die Bremer Verdienste verzeichneten insgesamt ein Plus von 0,4 Prozent
gegenüber dem Vorjahresquartal, während
die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste im Bundesgebiet um 2,1 Prozent zulegten.
Durchschnittliche Monatsverdienste
in den Branchen
Betrachtet man die einzelnen Branchen im
Land Bremen, zeigen sich allerdings deutliche
Unterschiede bei den Verdiensten der Beschäftigten: Auf der einen Seite finden sich das Gastgewerbe und der Einzelhandel. Hier verdient
ein Vollzeitbeschäftigter rund 1.900 Euro (Gast-
gewerbe) beziehungsweise rund 2.400 Euro
(Einzelhandel) brutto. Am anderen Ende der
Skala liegen Wirtschaftszweige wie die Finanzdienstleistungen mit rund 4.400 Euro. Auch
das Durchschnittseinkommen in der Industrie
ist mit rund 4.000 Euro vergleichsweise hoch.
Das Land Bremen ist vor allem in der Industrie und in Teilen des Dienstleistungsbereichs
(Versicherungswesen und Finanzen) stark
aufgestellt, wie ein Vergleich der Branchenverdienste mit dem Durchschnitt der ›alten‹
Bundesländer zeigt: So sind die Löhne und
Gehälter in der Industrie insgesamt mit seinen
dominierenden Großbetrieben rund zehn
Prozent höher als im früheren Bundesgebiet.
Ebenso hoch ist die Lohndifferenz im Verkehrsbereich, auch im Baugewerbe werden rund
sieben Prozent mehr verdient als im früheren
Bundesgebiet.
Bei den Dienstleistungen insgesamt ist dagegen ein Minus von 3,8 Prozent zu verzeichnen.
Beim Blick auf einzelne Branchen des Dienstleistungssektors treten die Unterschiede noch
deutlicher hervor: So beträgt etwa der Verdienstrückstand im Einzelhandel rund zehn
Prozent gegenüber dem früheren Bundesgebiet, im Verlagswesen werden im Durchschnitt
16 Prozent weniger verdient und im Bereich
›Information und Kommunikation‹ sogar
20 Prozent – jeweils bezogen auf Vollzeitbeschäftigte. Der Blick auf die einzelnen Branchen zeigt: In den meisten Wirtschaftszweigen
gibt es Lohnrückstände gegenüber dem
früheren Bundesgebiet.
15
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 3:
Bruttomonatsverdienste im Land Bremen
in Euro, Vollzeitbeschäftigte, Dezember 2011
Erbringung von Finanzdienstleistungen
4.386
Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen
4.150
Versicherungen
4.134
verarbeitendes Gewerbe
4.013
Maschinenbau
3.939
Grundstücks- und Wohnungswesen
3.832
freiberufliche, wissenschaftl. und techn. Dienstleistungen
3.773
Verlagswesen
3.637
Herstellung von Druckerzeugnissen
3.633
Information und Kommunikation
3.619
Herstellung von chemischen Erzeugnissen
3.527
nicht marktbestimmte Dienstleistungen
3.453
Telekommunikation
3.332
Großhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen)
3.308
Dienstleistungsbereich
3.266
Herstellung von elektrischen Ausrüstungen
3.247
Verkehr und Lagerei
3.221
Baugewerbe
3.189
marktbestimmte Dienstleistungen
3.159
Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln
3.129
Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen
2.977
Sammlung etc. von Abfällen; Rückgewinnung
2.862
Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren
2.840
Herstellung von Glas, Keramik etc.
2.752
Fleisch- und Fischverarbeitung
2.605
Einzelhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen)
Gastgewerbe
2.353
1.887
2.000
2.500
3.000
3.500
4.000
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte,
Arbeitnehmerverdienste 4/2011
4.500
16
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
¢
Was versteht man
unter Niedriglohn?
Unter Niedriglohn wird nach der allgemein üblichen
Definition der OECD ein Bruttolohn verstanden, der
unterhalb von zwei Dritteln des Medianlohns liegt. Der
Medianlohn teilt alle Verdienste in genau zwei Hälften:
Genau eine Hälfte verdient weniger; die andere Hälfte
verdient mehr. Als Grundlage wird üblicherweise der
Monatsverdienst von Vollzeitbeschäftigten herangezogen.
Um auch Teilzeitbeschäftigte und Minijobberinnen und
Minijobber in die Analyse einzubeziehen, legt die Statistik
den Stundenlohn zugrunde. Der Grenzwert für Niedriglöhne beträgt danach aktuell 10,36 Euro/Stunde; bei
Vollzeitbeschäftigten sind es 1.907 Euro im Monat.
Der Niedriglohnsektor boomt
Ein Problem mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Auswirkungen ist die Entwicklung
des Niedriglohnbereichs. Niedrige Verdienste
hat es seit jeher gegeben. Doch dieser Sektor
gewinnt in Deutschland in den vergangenen
Jahren immer mehr an Bedeutung. Die Verdienststrukturerhebung zeigt zunächst einmal
Fakten auf, die aus verschiedenen Studien
bereits bekannt sind: Es sind vor allem
›atypisch‹ Beschäftigte (Teilzeitbeschäftigte,
befristet oder geringfügig Beschäftigte), die zu
den Geringverdienern zählen. Frauen sind
stärker betroffen als Männer, Jüngere eher als
Ältere. Und auch die Qualifikation und die
Betriebsgröße spielen eine wichtige Rolle. Aber
auch die Frage, ob der Betrieb tarifgebunden
ist, hat einen wichtigen Einfluss: So sind
bei ›atypisch‹ Beschäftigten in 27 Prozent aller
Fälle Niedriglöhne bei tarifgebundenen
Betrieben der Fall; bei nicht tarifgebundenen
dagegen sind es mehr als doppelt so viele mit
61 Prozent. Und bei ›normalen‹ Arbeitsverhältnissen ist das Ergebnis noch gravierender:
Lediglich zwei Prozent aller Beschäftigten
haben in tarifgebundenen Unternehmen einen
Niedriglohn; bei nicht tarifgebundenen ist
der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten mit
13 Prozent sechsmal höher.
Schon diese Statistik zeigt, dass nicht nur in
›atypischen‹ Beschäftigungsformen Niedriglöhne gezahlt werden. Nimmt man die Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit, die zwar nicht
so detailliert sind, aber auch Kleinstbetriebe
umfassen, zeigt sich, dass der Trend hin zu
Niedriglöhnen auch bei ›normalen‹ Vollzeitarbeitsplätzen immer weitergeht. Im Land Bremen fiel die Zunahme des Anteils der Niedriglohnbezieher sogar noch stärker aus als im
Bundesgebiet: Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte
arbeitet hier mittlerweile für einen Niedriglohn. Ein Ergebnis dieser Entwicklung:
Für immer mehr Menschen reicht die Erwerbsarbeit nicht mehr zur Existenzsicherung
aus. Indiz dafür ist die Zahl der ›Aufstocker‹,
also derjenigen Erwerbstätigen, die staatliche
Leistungen in Anspruch nehmen, um ein
Mindestmaß an sozialer Sicherung zu haben.
Die Zahl dieser Menschen nimmt seit Jahren
stetig zu: Schon 2007 zählten rund 15.700
Erwerbstätige dazu; 2011 mussten rund 18.900
Erwerbstätige ihr Einkommen durch Leistungen nach dem SGB II aufstocken; eine Zunahme von rund 20 Prozent. Im Jahresverlauf
2012 (aktuelle Zahlen liegen bis August 2012
vor) wurde die Schwelle von 19.000 schließlich
überschritten. Beim Vergleich der beiden
Städte fällt auf, dass die Zahl der Aufstocker in
Bremerhaven seit 2007 weitgehend stagniert;
der Anstieg findet fast ausschließlich in der
Stadt Bremen statt.
17
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Fazit
zende staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Zugleich ist das ›Auseinanderdriften‹ der
Arbeitnehmerverdienste ein weiterer Beleg für
die Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft. Ein Mindestlohn, wie wir als Arbeitnehmerkammer ihn seit Langem fordern, löst
hier zwar längst nicht jedes Problem und
kann insbesondere die Spaltung des Arbeitsmarktes nicht überwinden – jedoch würde
ein Mindestlohn insgesamt für eine Stabilisierung des Lohngefüges sorgen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade in
prekären Beschäftigungsverhältnissen vor
Dumpinglöhnen schützen.
Die Studie zur Entwicklung der Spitzeneinkommen im vergangenen Jahr hat die außerordentlich starke Zunahme hoher und höchster Einkommen im Land Bremen deutlich
gemacht. Die aktuelle Analyse der Verdienste
zeigt zudem die teils gravierenden Unterschiede bei den ›normalen‹ Arbeitnehmereinkommen auf. Dabei gibt vor allem die Entwicklung
des Niedriglohnsektors im Land Bremen Anlass
zur Sorge, gerade auch angesichts des hohen
Anteils der ›normalen‹ Vollzeitarbeitsverhältnisse: Immer mehr Beschäftigte müssen ergän-
Abb. 4: Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn
nach Beschäftigungsform 2010 in Prozent
Anteil an allen
Arbeitnehmer/ innen
Normalarbeitnehmer/ innen
atypisch
Beschäftigte
insgesamt
16
7
45
Frauen
23
13
43
Männer
11
4
50
Alter von … bis unter … Jahren
15 bis 25
49
/
67
25 bis 35
21
10
46
35 bis 45
12
6
35
45 bis 55
12
6
43
55 bis 65
15
8
50
ohne anerkannte Berufsausbildung
50
16
79
mit Berufsausbildung
13
9
35
Hochschulabschluss
2
0
8
10 bis 49
28
17
63
50 bis 249
24
11
56
250 bis 499
13
6
37
500 bis 999
10
3
/
4
1
17
7
2
27
24
13
61
Arbeitgeber mit … bis … Beschäftigten
1.000 und mehr
Arbeitgeber ist ...
tarifgebunden
nicht tarifgebunden
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, 2012
18
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung
in Bremerhaven
DR. MARION SALOT
1 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit,
Arbeitsmarkt in Zahlen,
Beschäftigung nach
Ländern in wirtschaftsfachlicher Gliederung
(WZ 2008).
Der Strukturwandel in Bremerhaven schreitet
voran und hat sich auch 2012 weiter positiv
auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht:
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten hat zwischen Juni 2011 und Juni
2012 um 1.756 Stellen oder 3,7 Prozent zugenommen. In diesem Zeitraum wurde damit
der größte Arbeitsplatzzuwachs seit 2005 verzeichnet. Wie in den vergangenen Jahren
haben von diesem Zuwachs aber überwiegend
die Männer profitiert (1.354 Arbeitsplätze),
während die Zahl der weiblichen Beschäftigten
nur um 402 Stellen anstieg. Im Juni 2012 lag
damit der Frauenanteil unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit 42,8 Prozent nur knapp über den bisherigen Negativrekord von 2008 mit 42,7 Prozent (siehe Abbildung 1).
Neue Arbeitsplätze sind vor allem in männerdominierten Branchen entstanden, dass ist
der Grund, warum der Frauenanteil trotz stei-
Abb. 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigten in Bremerhaven (Juni 2001 bis Juni 2011)
46
44.442
42.700
41.726
42.062
43
43.090
44,3
44.047
44.968
44,9
46.932
45.924
45,4
45,3
46.034
45,3
46.193
45,6
45
44
48.688
47
44,0
43,6
42,8
43,5
43,1
42,7
SvB insgesamt (in absoluten Zahlen)
Frauenanteil (in Prozent)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven,
Stadt, Ende Juni 2012; eigene Berechnungen
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
42
gender Beschäftigung rückläufig ist. Ebenso
wie in den vergangenen Jahren entfiel der
größte Beschäftigungszuwachs auf den Bereich
›Verkehr und Lagerei‹, in dem auch die Beschäftigten in den Häfen erfasst werden. Hier
sind während dieser zwölf Monate 434 Arbeitsplätze entstanden. Der im Jahr 2012 realisierte
Umschlagrekord (siehe Exkurs: Schiffahrt in
der Krise, S. 24 ff.) hat sich offensichtlich dementsprechend positiv auf die Arbeitsplatzentwicklung ausgewirkt. Auch die Leiharbeit – in
der zu 75 Prozent Männer beschäftigt sind –
entwickelte sich wieder zum Jobmotor. Zwischen Juni 2011 und Juni 2012 sind hier 336
neue Arbeitsplätze entstanden. Damit hat die
Zahl der Stellen gegenüber dem Vorjahr um
20 Prozent zugenommen. Insgesamt sind in
Bremerhaven im Juni 2012 2.020 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Leiharbeit
beschäftigt gewesen. Hiermit wurde fast der
Rekordwert von 2008 wieder erreicht. In diesem Jahr waren in dieser Branche 2.097 Menschen beschäftigt.
Der Anteil der Leiharbeiterinnen
und Leiharbeiter an allen sozial49.000
versicherungspflichtig Beschäf48.000
tigten lag im Juni 2012 bei 4,1
Prozent und war damit weiter47.000
hin überdurchschnittlich hoch.
46.000
Im Bundesdurchschnitt lag die45.000
ser Wert bei 2,7 Prozent.1
44.000
Ähnlich stark wie in der Leih43.000
arbeit stieg auch die Beschäftigung im Bereich Metallerzeu42.000
gung und -bearbeitung (21,3
41.000
Prozent). Den höchsten prozen40.000
tualen Zuwachs von fast 60 Pro39.000
zent gab es hingegen im Bereich
›Herstellung von chemischen
und pharmazeutischen Erzeugnissen‹ (vgl. Abbildung 2).
19
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung nach Wirtschaftsabschnitten
in Bremerhaven (Juni 2011 bis Juni 2012) in absoluten Zahlen
434
Verkehr und Lagerei
336
Überlassung von Arbeitskräften
Herstellung chem., pharmaz. Erzeugnisse,
Gummi, Kunststoff, Glas
256
231
Metallerzeugung und -bearbeitung
174
Gastgewerbe
160
Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kfz
143
Gesundheits- und Sozialwesen
freiberufliche, wissenschaftliche,
technische Dienstleistungen
-98
-121
Maschinenbau, Fahrzeugbau
-200
-100
0
100
200
300
400
500
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort, Bremerhaven,
Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung
im selben Zeitraum ›nur‹ 3,7 Prozent, im BunAuch im Gastgewerbe (15,4 Prozent), im Handesdurchschnitt 3,6 Prozent. Unter den deutdel (2,6 Prozent) und im Bereich ›Gesundheit
schen Beschäftigten stieg die Zahl der Minijobs
und Soziales‹ (2,2 Prozent) ist die Beschäftizwischen 2011 und 2012 nur um 19 Stellen.
gung angestiegen. Die umfangreichsten
Die Zahl der männlichen geringfügig BeschäfArbeitsplatzverluste gab es in dem Wirtschaftstigten war hingegen leicht rückläufig.
abschnitt Maschinenbau und Fahrzeugbau
Die Minijob-Zuwächse konzentrierten sich
(121 Stellen oder 14,9 Prozent), dicht gefolgt
aber nicht nur auf eine bestimmte Menschenvon den freiberuflichen, wissenschaftlichen
und technischen Dienstleistungen (98 Stellen
Abb. 3: Minijobber nach Wirtschaftsabschnitten
oder 3,1 Prozent).
am 30. Juni 2012, in absoluten Zahlen
Während die Leiharbeit in
Bremerhaven weiter boomte,
Baugewerbe
329
hat die Zahl der geringfügig
Information und Kommunikation
331
entlohnten Beschäftigten zwischen Juni 2011 und Juni 2012
Kunst, Unterhaltung, Erholung
403
kaum zugenommen. Sie ist
Grundstücks- und Wohnungswesen
425
von 11.483 auf 11.638 Stellen geVerkehr und Lagerei
632
stiegen. 139 dieser 155 zusätzsonstige Dienstleistungen
693
lichen Minijobs wurden mit
ausländischen Beschäftigten
freiberufliche, wissenschaftliche,
1.066
technische Dienstleistungen
besetzt – und zwar vor allem
mit männlichen (106). Die Zahl
sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen
1.069
der männlichen, ausländischen
Gesundheit und Soziales
1.239
Minijobber ist damit in BremerGastgewerbe
1.728
haven innerhalb eines Jahres
Einzelhandel
um über 26 Prozent angestie1.795
gen. Zum Vergleich: In Bremen0
500
1.000
1.500
2.000
Stadt betrug der Zuwachs in
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort,
Bremerhaven, Stadt, Ende Juni 2012; eigene Darstellung
dieser Beschäftigungsgruppe
20
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die umfangreichen Veränderungen in der
Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen abermals
die schwierige Auftragslage im Schiffbau.
gruppe, sondern auch auf eine Branche, denn
zwei Drittel der zusätzlichen geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse entstanden im
Gastgewerbe. Mittlerweile gibt es in dieser
Branche 1.728 geringfügig Beschäftigte, aber
nur 1.306 sozialversicherungspflichtige
Arbeitskräfte. Die Zahl der Minijobber übersteigt die Zahl der regulär Beschäftigten damit
deutlich. Setzt sich diese Entwicklung fort,
ist das Gastgewerbe auf dem besten Wege,
den Einzelhandel als die Branche mit der
größten Anzahl an Minijobs abzulösen (vgl.
Abbildung 3).
Investitionen in den Tourismusstandort
Bremerhaven
2 Vgl. Statistisches Landesamt Bremen: Statistisches Jahrbuch 2012.
2012 wurden weitere Investitionen beschlossen, die Bremerhaven als Tourismusstandort
stärken und die Museumslandschaft attraktivieren sollen. Hierzu gehören zum einen die
Entscheidung für den Bau des neuen 1,5 Millionen Euro teuren Aquariums im Zoo am Meer
und zum anderen das mit einem Volumen von
42 Millionen Euro deutlich umfangreichere
Projekt zur Modernisierung des Deutschen
Schiffahrtsmuseums (DSM ). Das DSM ist als
nationales deutsches Forschungsmuseum Mitglied der Leibniz-Forschungsgemeinschaft und
wird deshalb vom Bund mitfinanziert. Dieser
Status kann aber nur dann aufrechterhalten
werden, wenn das Museum modernisiert wird
und verbesserte Forschungsmöglichkeiten
bekommt. Die 42 Millionen Euro, von denen
die Hälfte aus Bundesmitteln stammt, fließen
bis 2014 zunächst in die Sanierung des denkmalgeschützten Scharoun-Baus. Außerdem soll
die Dauerausstellung neu konzipiert und der
Erweiterungsbau modernisiert werden. Auch
der Bau eines neuen Magazins steht auf dem
Programm. Der gesamte Masterplan umfasst
ein Gesamtvolumen von 100 Millionen Euro.
Ausgebaut wird in Bremerhaven auch das
Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten:
Nachdem erst im November 2012 mit der Eröffnung des Im-Jaich-Hotels am Neuen Hafen die
Zahl der Betten in der Seestadt um 87 zugenommen hat, werden 2013 zwei weitere Hotels
mit 195 beziehungsweise 300 Betten folgen.
Während 2011 in 20 Hotels knapp 2.000 Betten
bereitstanden, wird die Übernachtungskapazität damit 2013 um 25 Prozent zunehmen.
Angesichts der leicht rückläufigen Übernachtungszahlen (siehe Beitrag Wirtschaftsentwicklung: Europa in der Rezession, Bremer Lage
noch stabil, S. 7 ff.) bleibt zu hoffen, dass diese
Kapazitätsausweitung auch eine entsprechende Auslastung nach sich zieht. Der Inhaber
des Im-Jaich-Hotels geht von einer durchschnittlichen Belegung von 60 Prozent aus.
2011 lag dieser Wert über alle Hotels hinweg
bei 43 Prozent.2
Umstrukturierung der Bremerhavener
Schiffbauindustrie
Die schwierige Wirtschaftslage der Reedereien
(siehe Exkurs: Schiffahrt in der Krise, S. 24 ff.)
ging auch an der Bremerhavener Schiffbauindustrie nicht spurlos vorbei. Weil diese ihre
Wartungs- und Reparaturaufträge auf ein Minimum reduzierten, ist der Umsatz der Lloyd
Werft gesunken. Das Jahr 2012 stand daher
unter dem Zeichen massiver Umstrukturierungen. Bereits im Dezember 2011 gab die Geschäftsführung der Lloyd Werft bekannt, dass
der Betrieb in eine Besitz- und eine Produktionsgesellschaft aufgeteilt wird. Zukünftig
sollen neben dem Schiffbau weitere Geschäftsfelder erschlossen werden, wie die OffshoreBranche und der Yachtbau. Während die
Beschäftigten in die Produktionsgesellschaft,
die Lloyd Werft AG, übergehen, fließt das Vermögen der Werft (also das Gelände, die Docks
und die Hallen) in die Besitzgesellschaft ein.
Weil der Weg aus der Krise nur dann möglich
sein soll, wenn die Lohnkosten deutlich
gesenkt werden, sollten ursprünglich 42 Mitarbeiter ihren Job verlieren. Mittlerweile konnte
diese Zahl auf 25 gesenkt werden.
Mit der Gründung der Lloyd Werft AG ist
die Umstrukturierung der Bremerhavener
21
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
¢
Schiffbaubetriebe allerdings nicht abgeschlossen. Unter dem Dach der ›German Dry Docks‹
sind die Schiffbauabteilungen der MWB Motorenwerke und der Rickmers Lloyd Dockbetrieb
zusammengefasst worden. Hier werden insgesamt etwa 100 Beschäftigte im Schiffsreparaturgeschäft arbeiten. Im Zuge der Gründung
der ›German Dry Docks‹ wurde der Schiffstechnik-Bereich von den MWB Motorenwerken
abgespalten. Bei MWB sind noch 145 Mitarbeiter tätig, die sich unter anderem mit den Bereichen ›Energietechnik‹ und ›Schiffsantriebe‹
befassen. Nach der Umstrukturierung agieren
die drei Firmen MWB Motorenwerke (ohne den
Bereich Schiffstechnik), die Lloyd Werft und
das Unternehmen ›German Dry Docks‹ in
direkter Nachbarschaft am Kaiserhafen. Diese
Struktur soll helfen, Synergien zu erzielen und
Doppelstrukturen abzubauen. Um die Beschäftigung in diesen Unternehmen zu sichern,
wurde ein Zukunftstarifvertrag abgeschlossen.
Solange dieser gültig ist, dürfen keine Entlassungen vorgenommen werden.
Die umfangreichen Veränderungen in der
Bremerhavener Werftindustrie verdeutlichen
abermals die schwierige Auftragslage im
Schiffbau. Einer aktuellen Schiffbauumfrage
zufolge, ist im Jahr 2012 das erste Mal seit 20
Jahren in Deutschland kein einziger Auftrag
für Containerschiffe, konventionelle Frachter,
Bulker oder Tanker eingegangen. Gleichzeitig
wurde eine überdurchschnittlich hohe Anzahl
an Schiffen ausgeliefert, was sich negativ
auf die zukünftige Auftragslage auswirken
wird. Für 2013 wird gegenüber 2011 mit einem
Produktionseinbruch von über 30 Prozent
gerechnet.3
Perspektiven der OffshoreWindenergiebranche trüben sich ein
Problematisch stellt sich aktuell auch die Entwicklung der Offshore-Windenergiebranche
dar. Ende des Jahres 2012 wurden in der Boombranche der vergangenen Jahre Entlassungen
aufgrund von Auftragslücken angekündigt.
Der Offshore-Terminal Bremerhaven (OTB)
Am 4. Dezember 2012 hat der Bremer Senat beschlossen, den geplanten Offshore-Terminal, für den kein privater Investor gefunden wurde, mit öffentlichen Mitteln
zu finanzieren. Insgesamt belaufen sich die Kosten hierfür auf 180 Millionen Euro. Die Finanzierung soll über
fünf Jahre und ohne Kreditaufnahme erfolgen. Den
Löwenanteil der Kosten übernimmt das Wirtschaftsressort mit 108 Millionen Euro. Diese Summe soll bei anderen Projekten, beispielsweise bei der Weservertiefung,
gekürzt werden. 50 Millionen Euro sollen landeseigene
Firmen beisteuern. So sollen unter anderem Gewinne
der BLG und der Gewoba abgeschöpft werden. Die Höhe
richtet sich nach den finanziellen Ausgangslagen der
Unternehmen. Die restlichen 22 Millionen werden aus
dem Gesamthaushalt finanziert. Das Planfeststellungsverfahren für den Terminal wird Ende 2012 /Anfang
2013 eingeleitet, der Projektbeginn ist für 2014 geplant,
die Fertigstellung für 2016. An dem neuen Terminal
können bis zu 160 Offshore-Anlagen pro Jahr umgeschlagen werden. Die Entscheidung für die öffentliche
Finanzierung des OTB sieht Bremen zum einen als deutliches Bekenntnis zur Offshore-Windenergiebranche
und zur Energiewende. Zum anderen versteht die Politik
den OTB als zentrale Investition in die Seestadt Bremerhaven und die Zukunft des Landes Bremen. Ein Ausbleiben der Investitionen würde der bestehenden Entwicklung laut Senat großen Schaden zufügen und neu entstandene Arbeitsplätze gefährden.4 Bereits 2011 wurde
vom Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen die Studie
›Regionalwirtschaftliche Potenzialanalyse für ein Offshore-Terminal Bremerhaven‹ bei der Prognos AG in Auftrag gegeben. Hier haben die Gutachter berechnet, dass
durch den Bau des Offshore-Terminals in Bremerhaven
bis zum Jahr 2040 zwischen 7.000 und 14.000 Arbeitsplätze in Bremerhaven gesichert und geschaffen werden
können. Ob diese Prognosen angesichts der derzeit
schwierigen Rahmenbedingungen auch nur annähernd
eintreten werden, ist gegenwärtig allerdings mehr als
unsicher.
3 Vgl. Kühn, Manuel u.a.:
Eine Studie des Instituts
4 Vgl. Pressekonferenz
Beschäftigung, Auftrags-
Arbeit und Wirtschaft
des Bremer Senats zur
lage und Perspektiven
(IAW) und der Agentur für
Entscheidung über
im deutschen Schiffbau,
Struktur- und Personal-
den Bau des Offshore-
Ergebnisse der 21.
entwicklung GmbH,
Terminals Bremerhaven,
Betriebsrätebefragung
IG Metall Küste, IAW-
4.12.2012.
im September 2012.
Schriftenreihe 14, S. 29.
22
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
5 Vgl. Döll, Sebastian:
Die Windenergiebranche
im Lande Bremen,
Arbeitnehmerkammer,
Juni 2012.
Und das, obwohl der Senat nur wenige Tage
vorher beschlossen hat, nach dem Scheitern
der Suche nach einen privaten Investor,
den Bau des Offshore-Terminals Bremerhaven
selbst in die Hand zu nehmen.
Bis zur Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals hat Bremen bereits in den vergangenen Jahren etwa 130 Millionen Euro an
öffentlichem Geld investiert, um Bremerhaven
als Standort für die Offshore-Windenergiebranche zu profilieren – und das mit beachtlichem
Erfolg. Nach und nach siedelten sich namhafte
Hersteller der Branche an, unter anderem die
Areva Wind GmbH, REpower Systems und
WeserWind. Allein in den großen Kernunternehmen arbeiteten etwa 2.500 Beschäftigte.
Rund um diese Betriebe hat sich außerdem ein
Netzwerk aus Dienstleistungs-, Ausbildungsund Zulieferunternehmen niedergelassen.
Insgesamt umfasst die Branche demnach etwa
3.000 Beschäftigte. Trotz dieser positiven
Entwicklung standen die Offshore-Windener-
giebetriebe häufig in der Kritik, weil einige
einen unzumutbar hohen Anteil an Leiharbeitern beschäftigen. Den Angaben der im Jahr
2012 von uns durchgeführten Befragung von
Unternehmen aus der Windenergiebranche
zufolge, liegt dieser Anteil in der Produktion
bei bis zu 70 Prozent.5 Ein Teil dieser Leiharbeiter ist nun von den angekündigten Entlassungen betroffen.
Spätestens nach dem Brandbrief, den der
niederländische Netzbetreiber Tennet an
die Bundesregierung geschickt hat, wurde
deutlich, welche großen Hürden beim Netzausbau hier noch zu nehmen sind. Vor allem mangelt es dem Unternehmen an dem entsprechenden Kapital, um die Windparks an das
Stromnetz auf dem Festland anzuschließen.
Durch die Verzögerungen beim Netzausbau
werden immer mehr Windparks auf Eis gelegt.
Damit bleiben die Aufträge für die Anlagenhersteller ebenso aus. Dies betrifft unter anderem
den Bremerhavener Rotorblatthersteller
23
PowerBlades. Da RWE die Entscheidung zum
Bau des Windparks ›Innogy Nordsee 1‹, für den
das Unternehmen die Windräder liefern sollte,
verschoben hat, entsteht ab Mitte 2013 im Offshore-Bereich ein Auftragsloch. PowerBlades
wird sich zunächst von 120 Leiharbeiterinnen
und Leiharbeitern trennen. Im Sommer 2013
folgen dann weitere 180. Die Stammarbeitskräfte sollen dem Unternehmen erhalten bleiben und an der Produktion für Komponenten
an Land (Onshore) arbeiten. Aber nicht nur
bei PowerBlades gibt es Auslastungsprobleme.
Auch bei WeserWind stehen Verhandlungen
darüber an, wie die Auftragslücke in diesem
Jahr geschlossen werden kann. Da das Unternehmen Fundamente (sogenannte Gründungsstrukturen) für Offshore-Windenergieanlagen
herstellt, kann WeserWind die stockende Auftragslage nicht – wie andere Unternehmen –
mit Arbeiten für das Onshore-Geschäft überbrücken. Bereits Mitte 2012 haben Unternehmensführung, Betriebsrat und Gewerkschafter
Verhandlungen darüber aufgenommen, wie
die sich abzeichnende Auftragslücke überbrückt werden kann. WeserWind beschäftigt
knapp 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
mehr als die Hälfte davon sind Leiharbeiter.
Insgesamt droht in der Bremerhavener Offshore-Windenergiebranche der Verlust von bis
zu 1.000 Arbeitsplätzen.
Experten gehen davon aus, dass die Auftragslage 2014 / 2015 wieder anziehen wird. Das
Jahr 2013 muss aber möglichst ohne den Verlust von qualifizierten Beschäftigten überbrückt werden. Die IG Metall fordert hier die
Einführung einer erweiterten Kurzarbeiterregelung für Leiharbeit. Außerdem kann die
Auftragsdelle für Qualifizierungsmaßnahmen
genutzt werden. Wichtig ist es, die vor allem
mit öffentlichem Geld qualifizierten Beschäftigten in der Region zu halten, damit sie bei
einer verbesserten Auftragslage wieder eingesetzt werden können.
24
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
EXKURS
¢
Schifffahrt in der Krise
Exportstärke sorgt aber für Umschlagrekorde
DR. MARION SALOT
te zu bedienen. Viele Schiffsfonds kämpfen
ums Überleben. Diese Entwicklung bedroht
besonders die maritime Wirtschaft in Deutschland, denn etwa ein Drittel der weltweiten
Containerschiffsflotte wurde von deutschen
Fonds und Banken finanziert. 30 Prozent dieser Schiffe sind aber fast insolvent, weil sie
angesichts der Überkapazitäten einen rapiden
Wertverlust zu verzeichnen haben. Nicht selten liegt der Marktwert eines neuen Frachters
schon während des Baus um 20 bis 30 Prozent
unter den Baukosten. Angesichts dieser angespannten Lage hat die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin ) nun
beschlossen, die Schiffskredite der deutschen
Banken prüfen zu lassen, um ihren tatsächlichen Wert zu ermitteln. Zu den fünf größten
Schiffsfinanzierern weltweit gehört auch die
Bremer Landesbank, die mit einem Volumen
von 20 Milliarden Euro an der Finanzierung
von Schiffen beteiligt ist. Weil es immer
schwieriger wird, Banken oder Fonds für die
Finanzierung von neuen Schiffen zu gewinnen, sehen ausländische Investoren hier eine
Chance, auf den deutschen Markt zu drängen.
Chinesische Banken versuchen diese Schwäche
auszunutzen, indem sie deutschen Reedern
den Bau von Containerschiffen finanzieren.
Allerdings nur dann,
wenn diese Aufträge
Abb. 1: Die weltweit größten Containerreedereien
auch an chinesische
(Dezember 2012)
Werften gehen. Auf die162
sem Wege soll der Welt182
marktanteil der eigenen
320
Schiffbauindustrie suk412
zessive ausgebaut werden – zum Nachteil der
458
deutschen Werften (siehe
604
hierzu auch Abschnitt
100
200
300
400
500
600
700
›Wirtschafts- und BeschäfAnzahl der Schiffe
tigungsentwicklung in
Quelle: Schneider, Mark C.: Großreeder prüfen Fusion.
In: Handelsblatt vom 19.12.2012, S. 16
Bremerhaven, S. 18 ff.).
Nach dem Einbruch der Wirtschafts- und
Finanzmärkte im Jahr 2008 befindet sich die
Containerschifffahrt nach wie vor in einer
schweren – zum Teil aber hausgemachten –
Krise. Die enormen Wachstumsraten und
Gewinne, die im Containerverkehr bis dahin
verbucht werden konnten, haben die Reeder
dazu veranlasst, immer größere Schiffe zu
ordern. Selbst als bereits massive Einbrüche
im Frachtaufkommen zu verzeichnen waren,
wurden ganz gezielt weitere Neubauaufträge
vergeben, denn die Schiffspreise waren niedrig
wie selten und die Reeder gingen von einer
schnellen Erholung der wirtschaftlichen Lage
aus. Diese Kapazitätsausweitung hat allerdings
im Zusammenspiel mit der sinkenden Nachfrage nach Frachtraum den Preisdruck in der
Branche erheblich erhöht. Vor allem die
großen Containerreedereien versuchten bis vor
Kurzem sich mit Billigangeboten ihre Marktanteile zu sichern, allen voran Maersk und MSC .
Die Frachtraten, also die Transportpreise für
Container, fielen dadurch dramatisch in den
Keller. Die Charterraten für Containerschiffe
sanken teilweise sogar um 80 Prozent.
Weil diese Preise allenfalls ausreichen, um
die Betriebskosten der Schiffe zu decken, sind
viele Reeder nicht mehr in der Lage, ihre Kredi-
Cosco
Evergreen
Hapag-Lloyd und Hamburg Süd
CMA CGM
MSC
Maersk Linie
25
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 2:
Güterverkehr über See (Land Bremen)
Rekordumschläge an den
Bremerhavener Kajen
Trotz der schwierigen Gesamtsituation in
der Schifffahrt, geht es den bremischen Häfen
weiter gut. Im Februar dieses Jahres konnte
Wirtschaftssenator Martin Günthner den
bislang höchsten Seegüterumschlag mitteilen.
Insgesamt wurden 84 Millionen Tonnen an
Gütern umgeschlagen (siehe Abbildung 2).
Gegenüber 2011 stieg der Umschlag damit um
4,2 Prozent, obwohl er in vielen anderen
europäischen Häfen aufgrund des schwierigen
konjunkturellen Umfeldes stagnierte oder
sogar zurückging. Der Containerumschlag ist
von 5,9 auf 6,1 Millionen Standardcontainer
(TEU) und damit um 3,4 Prozent gestiegen. Im
Jahr 2012 wurden in Bremerhaven 2,2 Millio-
46,0
46,5
2002
48,9
44,8
2001
30
63,1
54,2
36,0
40
2000
50
52,3
60
69,1
64,6
70
68,9
74,5
80,6
80
84,0
90
20
10
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
0
1999
Da ein schnelles Ende der Krise nicht in Sicht
ist, sind die Reedereien zunehmend dazu übergegangen, ihre Position über das Eingehen von
Allianzen zu sichern. Bereits seit März 2012
kooperieren mit MSC und CMA CGM die zweitund drittgrößte Reederei der Welt. Außerdem
hat sich die G6-Alliance1 gebildet, an der auch
Hapag-Lloyd beteiligt ist. Sie bildet eine Art
›Abwehrallianz‹ gegen Maersk und MSC und
wird mit mehr als 90 Schiffen über 40 Häfen
in Asien, Europa und im Mittelmeer anlaufen.
Mitte Dezember wurde schließlich bekannt,
dass auch die beiden Hamburger Reedereien
Hapag-Lloyd und Hamburg Süd über einen Zusammenschluss nachdenken. Hierdurch würde
die viertgrößte Reederei entstehen (siehe Abbildung 1).
Die Konzentrationsstrategien der Reedereien werden nicht ohne Folgen für die
Konkurrenzsituation zwischen den Häfen
der Nordrange2 bleiben, denn die wachsende
Marktmacht stärkt ihre Verhandlungsposition
gegenüber den Umschlagplätzen. Damit
erhöht sich der Druck auf die Preise und die
Löhne in den Häfen. Vor allem dann, wenn
das Frachtaufkommen fällt und es auch hier
Überkapazitäten gibt.
in Mio. Tonnen
Quelle: Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen: Hafenspiegel 2011;
Pressemitteilung vom 13.02.2013: Hafenbilanz 2012 fällt erstklassig aus
nen Fahrzeuge umschlagen, 6,3 Prozent mehr
als 2011. Auch in diesem Bereich wurde damit
ein Rekordergebnis erzielt.
Getragen wurden diese Zuwächse von der
Exportstärke der bremischen Wirtschaft. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass die
Ausfuhren gegenüber 2011 um etwa 20 Prozent gestiegen sind. Im Vergleich mit anderen
Bundesländern erzielt Bremen damit einen
Spitzenwert. Vor allem der Export von Kraftfahrzeugen hat zugenommen. Er ist gegenüber
dem Vorjahr um 22 Prozent gestiegen.
Die insgesamt positive Umschlagentwicklung in den vergangenen beiden Jahren hat
sich entsprechend auf die letzten Tarifverhandlungen ausgewirkt. Hier wurde für die 15.000
Beschäftigten in den deutschen Seehäfen im
Mai 2012 eine 4,1-prozentige Lohnsteigerung
vereinbart. Aufgrund der besseren wirtschaftlichen Entwicklung konnten die Gewerkschaf-
1 Die G6 setzt sich aus
den Mitgliedern der
bisherigen Grand
Alliance und der New
World Alliance zusammen. Sie besteht aus
den Reedereien APL,
Hapag-Lloyd, Hyundai
Merchant Marine, Mitsui
O.S.K. Lines, Nippon
Yusen Kaisha (NYK)
und Orient Overseas
Container Line (OOCL).
2 Zur Nordrange gehören
die Nordseehäfen
Antwerpen, Rotterdam,
Bremen und Bremerhaven sowie Hamburg.
26
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
ten für die Beschäftigten in den Containerumschlagbetrieben außerdem einen jährlichen
Zuschuss von 400 Euro aushandeln.
Für 2013 wird erwartet, dass die Umschlagmenge und die Beschäftigung in den Häfen
stabil bleiben, der Verhandlungsspielraum hat
sich allerdings aufgrund des stagnierenden
Frachtaufkommens und der schwierigen
finanziellen Situation der Reeder verkleinert.
Der Konkurrenzkampf in der Schifffahrt geht –
trotz des gegenwärtig noch wachsenden
Umschlags – auch an den bremischen Häfen
nicht spurlos vorbei. So hat beispielweise die
Reederei Wallenius Wilhelmsen, über die
zwei Drittel des Bremerhavener Automobilumschlags abgewickelt werden, im Sommer des
vergangenen Jahres einen eigenen Terminal
und eine 50.000 Quadratmeter große Fläche
in Bremerhaven gefordert, damit sie ihre Schiffe unabhängig von der BLG löschen kann. Als
Druckmittel wurde angeführt, dass die Reederei ihre Fahrzeuge auch in Cuxhaven, Emden
oder Zeebrügge abfertigt. Ein Abzug der Reederei würde für die Arbeitsplätze in Bremerhaven eine massive Bedrohung darstellen.3
Der JadeWeserPort:
Konkurrenz oder Ergänzungshafen?
3 Vgl. Mündelein, Klaus:
Groß-Reederei legt sich
mit BLG an. In: NordseeZeitung vom 24.7.2012.
Ein für die Hafenwirtschaft herausragendes
Ereignis war 2012 sicherlich die Eröffnung des
JadeWeserPorts in Wilhelmshaven, an dem
auch das Land Bremen beteiligt ist. Seit September ist der einzige deutsche Tiefwasserhafen in Betrieb, in dem auch die größten Containerschiffe der Welt tideunabhängig anlegen
können. Bei vollständiger Fertigstellung stehen
hier gut 1.700 Meter Kaje und vier Liegeplätze
bereit. Insgesamt können bei maximaler Auslastung 2,7 Millionen Standardcontainer pro
Jahr umgeschlagen werden. Zum Vergleich:
2012 wurden an den Bremerhavener Kajen
6,1 Millionen Container verladen. Betrieben
wird der neue Hafen von Eurogate und der
Maersk-Tochter APM-Terminals, die zu 30 Prozent an der Betreibergesellschaft beteiligt ist.
Bereits vor seiner Eröffnung hat der JadeWeserPort auch jenseits der löchrigen Spundwand
und der Verzögerungen beim Bau in mehrfacher Hinsicht für Diskussionen gesorgt. Weil
sich mit Maersk eine der wichtigsten im
Bremerhavener Containerumschlag agierenden Reederei auch am JadeWeserPort niedergelassen hat, war es nicht auszuschließen, dass
es nach der Eröffnung des Tiefwasserhafens
zu einer Verlagerung von Liniendiensten nach
Wilhelmshaven kommen könnte. Zumal gerade Maersk überdurchschnittlich viele Schiffe
mit einer Kapazität von über 12.000 TEU im
Dienst hat und gegenwärtig sogar zehn Containerschiffe mit einer Transportkapazität von
18.000 TEU bei der koreanischen Werft Daewoo
Shipbuildung Marine Engineering bauen lässt.
Sie sollen in diesem Jahr ausgeliefert werden.
Bei diesen Frachtern handelt es sich um die
größten Containerschiffe, die je in Dienst
gestellt wurden. Diese XXL- Schiffe könnten
in Wilhelmshaven tideunabhängig anlegen.
Der JadeWeserPort hätte hier also gegenüber
Bremerhaven einen deutlichen Wettbewerbsvorteil. Dennoch ist die Auslastung des Hafens
bislang noch relativ gering. Zwei Liniendienste
laufen den JadeWeserPort wöchentlich an,
darunter befindet sich ein Großschiff.
Der JadeWeserPort soll sich in der Startphase über günstige Umschlagkosten auf den
internationalen Routen etablieren. Zwischen
den Betreibern und der JadeWeserPort-Realisierungsgesellschaft wird deshalb gegenwärtig
über die Höhe der zu leistenden Hafengebühren gestritten. Der Hafen sollte bis Ende
2012 mit einem Rabatt von 70 Prozent starten,
bis August 2018 wird ein Preisnachlass von
50 Prozent gewährt. Einschließlich der Rabatte
liegen die Hafengebühren für den JadeWeserPort in etwa auf dem Niveau von Hamburg
und Bremerhaven. Nach den Vorstellungen
von Eurogate und Maersk sind diese Gebühren
allerdings zu hoch. Sie sollen in den ersten
Jahren 50 Prozent unter den in Bremerhaven
und Hamburg zu entrichtenden Gebühren
liegen. Nach Ansicht von Eurogate wurden im
27
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
¢
Rahmen des Betreibervertrages andere Entgelte
für das Anlaufen des Tiefwasserhafens festgeschrieben. Um diese Frage gerichtlich
zu klären, hat Eurogate im Dezember 2012
Klage eingereicht.
Anhand der Diskussionen um die Hafengebühren wird deutlich, wie wichtig die
Umschlagkosten bei der Positionierung der
Häfen im Wettbewerb sind. Dass in diesem
Zusammenhang auch die Personalkosten zur
Disposition stehen, ist daher wenig überraschend. Da für die Hafenbeschäftigten der von
ver.di und dem Zentralverband der deutschen
Seehafenbetriebe (ZDS) ausgehandelte Tarifvertrag gilt, wird ein Ausspielen der Standorte
über die Lohnkosten hierdurch zunächst
eingeschränkt. Allerdings wird dennoch nach
Schlupflöchern gesucht, wie die Diskussionen
um die Einführung eines Gesamthafenbetriebsvereins (GHBV) in Wilhelmshaven verdeutlichen. Die Hafenbeschäftigten und
ver.di befürchten, dass hier stattdessen Leiharbeiter zum Einsatz kommen, die zu deutlich
niedrigeren Löhnen arbeiten.
Nach massiven Protesten der Hafenarbeiter
hat Eurogate im Dezember 2011 zugesagt,
Schritte zur Gründung eines GHBV einzuleiten. Bislang ist dies aber noch nicht erfolgt.
Unter anderem deshalb, weil hierfür politischerseits die gesetzlichen Grundlagen
geschaffen werden müssen (siehe Kasten). Der
Regierungswechsel in Niedersachsen könnte
allerdings die Einführung eines GHBV in
Wilhelmshaven in Zukunft begünstigen. Da
der JadeWeserPort gegenwärtig nur mit einer
geringen Auslastung betrieben wird und die
Abfertigung der Schiffe von den 250 EurogateBeschäftigten in Wilhelmshaven vorgenommen werden kann, wurde zwischen dem ver.di
Landesbezirk Niedersachsen-Bremen und dem
Unternehmensverband Bremische Häfen als
Übergangslösung vereinbart, dass bei eventuell
auftretenden Auftragsspitzen GHBV-Beschäftigte aus Bremerhaven zum Einsatz kommen.
Aufgrund der geringen Auslastung des
JadeWeserPorts stellt sich gegenwärtig aber
Was ist der GHBV?
Der Gesamthafenbetriebsverein im Lande Bremen e. V.
(GHBV) wurde 1950 von Hafenunternehmen und der
ÖTV als Arbeitnehmerpool gegründet, damit die hier
angestellten Beschäftigten einspringen können, wenn
die Umschlagfirmen selber überlastet sind und nicht
über ausreichende Kapazitäten verfügen. Gibt die
Auftragslage eine Beschäftigung der GHBV-Mitarbeiter
nicht her, werden sie aus der Garantielohnkasse
bezahlt, in die die über 50 Mitgliedsunternehmen einzahlen und die über ein Volumen von 12 bis 15 Millionen Euro verfügt. Als gemeinnütziger Verein darf der
GHBV keine Gewinne machen, aber Rücklagen bilden.
Die GHBV-Mitarbeiter werden nach Tarifen bezahlt, die
denen der aufnehmenden Betriebe entsprechen. Grundlage für die Monopolstellung des GHBV in den Häfen
ist das 1950 verabschiedete Gesetz über die Schaffung
eines besonderen Arbeitgebers für Hafenarbeiter
(Gesamthafenbetrieb).4 Hierdurch wird geregelt, dass
zusätzlich benötigte Arbeitskräfte ausschließlich beim
GHBV und nicht über andere Verleihfirmen ausgeliehen
werden dürfen.
In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise mussten
aufgrund des Umschlageinbruchs umfangreiche Einsparmaßnahmen vorgenommen werden. Mehr als 1.000
Beschäftigte mussten entlassen werden, die Löhne wurden deutlich gesenkt und die tariflichen Leistungen eingeschränkt. Inzwischen wurde die Beschäftigung beim
GHBV wieder aufgestockt. Im November 2012 waren
1.550 Beschäftigte in Bremen und 1.450 Beschäftigte in
Bremerhaven für die Bereiche Hafen und Logistik tätig.
Außer im Land Bremen wurde auch in Hamburg ein
GHBV ins Leben gerufen. Hier sind 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
4 Vgl. Gesetz über die
Schaffung eines besonderen Arbeitgebers für
Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb) vom 3.8.1950.
Bei diesem Bundesgesetz
ist die Genehmigung der
Regelungen durch die
oberste Arbeitsbehörde
des jeweiligen Bundeslandes erforderlich.
28
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
5 Nach Aussage der
Eurogate-Sprecherin
Corinna Romke. In:
Mündelein, Klaus: Angst
vor Kollegen von der
Jade, Nordsee-Zeitung
vom 13. Januar 2013.
weniger die Frage, wie mit Umschlagspitzen
am JadeWeserPort umgegangen wird, sondern
eher die, wie die Eurogate-Mitarbeiter aus
Wilhelmshaven beschäftigt werden können.
Zwischenzeitlich wurde bei Eurogate sogar
›eine Austauschvereinbarung zwischen den
Standorten Wilhelmshaven und Bremerhaven
bezüglich der Einsätze von Arbeitskräften‹
diskutiert.5 Sollten in Bremerhaven Arbeitskräfte aus Wilhelmshaven eingesetzt werden,
würde sich dies wiederum unmittelbar auf
die Auslastung des GHBV auswirken und dort
Arbeitsplätze gefährden.
Wie sich die Anzahl und die Qualität der
Arbeitsplätze im Hafen perspektivisch
entwickelt, hängt damit zusammen, wann
die Fracht- und Charterraten und damit die
Gewinnspannen wieder ansteigen und ob
die Kapazitäten der Umschlagplätze weiter
zunehmen. Dass in Wilhelmshaven bereits
jetzt – trotz der geringen Auslastung –
laut über eine zweite Ausbaustufe nachgedacht wird, dürfte nicht zu einer Entschärfung der angespannten Wettbewerbssituation
beitragen.
29
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Strukturwandel und gute Arbeit im Land Bremen
Welche Rolle hat die Wirtschaftspolitik?
DR. MARION SALOT
Seit Ende der 1980er-Jahre hatten sowohl
Bremen als auch Bremerhaven mit schwerwiegenden Strukturkrisen zu kämpfen. Während
Bremen von dem Konkurs der AG Weser,
dem Abbau von Arbeitsplätzen in der Kaffeeund Tabakverarbeitung sowie bei Nordmende
betroffen war, litt Bremerhaven nach der
Fischerei- und Schiffbaukrise auch unter den
Folgen des Abzugs der US-amerikanischen
Streitkräfte. Hierdurch kam es nicht nur zu
einem drastischen Anstieg der Arbeitslosenquote, die in Bremerhaven im Jahr 2005 sogar
bei 25 Prozent lag, sondern das Land verlor
auch den Anschluss an die westdeutsche
Wirtschaftsentwicklung.1
Erst nach 2005 ist es gelungen, eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt einzuleiten. Seitdem sind bis 2011 etwa 21.000 neue Arbeitsplätze entstanden; zwischen 2005 und 2007
alleine mehr als 9.000 Jobs. Diese Beschäfti-
gungszuwächse konzentrierten sich allerdings
weitgehend auf zwei Branchen: Die Hälfte
der neuen Stellen ging auf das Konto der Leiharbeit (4.600), ein Viertel entfiel auf den Wirtschaftsabschnitt ›Hilfs- und Nebentätigkeiten
für den Verkehr‹ und ist damit weitgehend
der boomenden Hafenwirtschaft zuzuordnen.
Nach 2008 verlangsamte sich der Arbeitsplatzzuwachs, denn die Wirtschafts- und
Finanzkrise hat gerade die beiden Jobmotoren
der Vorjahre empfindlich ausgebremst. Die
Arbeitsplatzzuwächse fielen dementsprechend
geringer aus, konzentrierten sich dafür aber
auf mehrere Branchen, beispielsweise auf den
Bereich ›Gesundheit und Soziales‹ (+1.026)
und den Bereich ›Erziehung und Unterricht‹
(+1.002). Auch das Gastgewerbe und der Einzelhandel konnten expandieren. In beiden
Branchen sind in diesem Zeitraum etwa 800
neue Arbeitsplätze entstanden.
Abb. 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten (SvB) in Bremen und Bremerhaven
48.000
250.000
46.932
245.000
47.000
46.193
45.924
240.000
46.000
46.034
44.948
235.000
44.787
45.000
44.442
44.659
SvB Bremen
SvB Bremerhaven
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit.
2011 244.130
2010 238.274
2009 236.878
2008 239.063
41.726
43.000
2007 234.340
42.062
42.700
2006 229.167
2003 237.436
2002 240.606
2001 241.712
2000 238.628
215.000
1999 235.497
220.000
1998 234.117
225.000
44.000
227.983
43.090
2005
44.110
2004
230.000
231.372
44.047
42.000
41.000
1 Vgl. Prognos:
Wirkungsanalyse des
Investitionssonderprogramms (ISP)
des Landes Bremen,
August 2002.
30
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die Erholung auf dem Bremer Arbeitsmarkt
war allerdings kein Selbstläufer, sondern ist
auch auf entsprechende strukturpolitische
Anstrengungen zurückzuführen. So wurden
beispielsweise seit 1997 etwa 900 Millionen
Euro in den Bau von acht zusätzlichen Liegeplätzen für den Containerumschlag investiert.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist aber
seit Jahren die Tourismusbranche. Allein in die
Bremerhavener Havenwelten mit dem Klimahaus, dem Mediterraneo, dem Hotel Sail City
und dem Auswandererhaus sind öffentliche
Investitionen in Höhe von 315 Millionen Euro
geflossen. Und auch in Bremen-Stadt wurden
zahlreiche touristische Großprojekte umgesetzt, beispielsweise die interaktive Wissenschafts-Ausstellung Universum, das Musical
Theater, die Modernisierung der Schlachte und
so weiter.
Wachstumsbranche Tourismus
2 Vgl. Statistisches
Landesamt Bremen,
Statistische Berichte,
Arbeitnehmerverdienste
4/2011.
Die Investitionen in die touristische Infrastruktur wirkten sich durchaus positiv auf die Zahl
der Tages- und Übernachtungsgäste aus. Im
Land Bremen stiegen die Ankünfte pro Jahr
zwischen 1999 und 2011 um gut 380.000 Besucher oder 60 Prozent auf über eine Million,
die Übernachtungen nahmen immerhin um
49 Prozent (oder 580.000) auf 1,8 Millionen zu.
Strukturpolitisch machen sich die Ausgaben
der Tages- und Übernachtungsgäste vor allem
im Einzelhandel und im Gastgewerbe bemerkbar. Dementsprechend ist es in den vergangenen Jahren in beiden Branchen zu einem kontinuierlichen Umsatzzuwachs gekommen: Im
Einzelhandel ist er zwischen 2005 und 2010
um 25 Prozent gestiegen, im Gastgewerbe
sogar um 60 Prozent. Diese durchaus positiven
Entwicklungen legen den Schluss nahe, dass
Bremen mit seiner Strategie, auf den Tourismus zu setzen, goldrichtig gefahren ist. Aber:
Wie hat sich die gesteigerte Attraktivität
auf die Arbeitsplatzentwicklung ausgewirkt?
Zwischen 2003 und 2011 sind hier im Land
Bremen zwar gut 1.100 sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitsplätze geschaffen worden,
gleichzeitig aber etwa 3.200 Minijobs. Nach
dieser Entwicklung ist das Gastgewerbe damit
die einzige Branche im Land Bremen, in
der die Zahl der Minijobs die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse übersteigt. Im Bundesvergleich gehört
Bremen inzwischen zu den drei Bundesländern mit dem höchsten Minijob-Anteil im
Gastgewerbe.
Aber nicht nur wegen seines überaus hohen
Anteils an prekären Beschäftigungsverhältnissen lassen die Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe zu wünschen übrig: Der Bruttostundenlohn eines Vollzeitbeschäftigten beträgt im
Durchschnitt nur 11,43 Euro, bei den Teilzeitbeschäftigten liegt er sogar nur bei 9,74 Euro.
Im Vergleich zu allen anderen Branchen
weist das Gastgewerbe damit das mit Abstand
niedrigste Lohnniveau in Bremen auf.2 Dies hat
zur Folge, dass jeder zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte auf ergänzendes
Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Dieser
Anteil wird im Land Bremen nur noch von den
Reinigungskräften übertroffen. Erschwerend
kommt hinzu, dass 37 Prozent der Beschäftigten aus dem Gastgewerbe bei Arbeitslosigkeit direkt in das SGB-II-System übergehen –
entweder, weil ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld I wegen der geringen Löhne zu niedrig
ist oder weil ihre Beschäftigungsdauer so
kurz war, dass sie noch keinen Anspruch auf
Arbeitslosengeld I vorweisen können. Viele
pendeln deshalb zwischen einer Beschäftigung
im Gastgewerbe und dem Hartz-IV-Bezug ständig hin und her.
Minijob- und Teilzeitboom
im Einzelhandel
Die zweite Branche, die vom Tourismus profitiert, ist der Einzelhandel. Auch hier schreitet
die Prekarisierung unaufhaltsam voran. Grund
ist der herrschende ruinöse Wettbewerb. Vor
allem der hierdurch entstehende Preisdruck
führt dazu, dass viele Einzelhändler versu-
31
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 2: Beschäftigungsentwicklung
im Land Bremen (2003 bis 2011)
chen, die Personalkosten so gering wie möglich zu halten. Somit wird der Konkurrenzkampf in dieser Branche vorwiegend auf dem
Rücken der Beschäftigten ausgetragen. Diese
Tendenz lässt sich auch in Bremen beobachten.
Insgesamt sind hier knapp 20.000 Beschäftigte in dieser Branche tätig; 75 Prozent sind
davon Frauen. Zwischen 2007 und 2011 sind
in Bremen-Stadt zwar mehr als 1.100 neue
Arbeitsplätze entstanden, dieser Beschäftigungszuwachs fällt allerdings nicht nur vor
dem Hintergrund des Tourismus-Booms verhältnismäßig klein aus: Zum einen erfolgte
2007 eine erhebliche Erweiterung der Ladenöffnungszeiten und zum anderen wurde im
darauffolgenden Jahr auf dem ehemaligen
Space-Park-Gelände die Waterfront eröffnet –
ein 44.000 Quadratmeter umfassendes Shoppingcenter ganz im Norden der Stadt Bremen.
Von beiden Ereignissen hätte ein deutlich
größerer Beschäftigungszuwachs ausgehen
sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich
bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen ausschließlich um Teilzeit- und Minijobs handelt,
während die Zahl der Vollzeitstellen rückläufig
ist. Viele Einzelhändler begründen diese Entwicklung mit dem Argument: ›Wir brauchen
Hände!‹ Sie führt vor Augen, mit welch dünner
Personaldecke mittlerweile geplant wird:
Weil sie bei Krankheit oder Urlaub den Ausfall
einer Vollzeitkraft nicht kompensieren können, werden lieber zwei Teilzeitkräfte oder
Minijobber eingestellt.
Das Verdrängen existenzsichernder Arbeitsplätze ist in dieser Branche deshalb besonders
problematisch, weil sie nach dem Bereich
›Gesundheit und Soziales‹ das mit Abstand
wichtigste Beschäftigungsfeld für Frauen ist.
In Bremen arbeitet jede zehnte Frau im Einzelhandel, in Bremerhaven sogar jede siebte.
Allerdings kann nur jede dritte auch von
ihrem Arbeitsplatz leben. Der Niedriglohnanteil ist hier doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft, das Einkommen eines Vollzeitbeschäftigten liegt bereits jetzt 20 Prozent unter
dem Durchschnittslohn. Da der Wettbewerb
Leiharbeit
7.370
Minijobs
14.206
Teilzeit
Vollzeit
11.121
-716
-5.000
0
5.000
10.000
15.000
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit
im Einzelhandel fast täglich zunimmt, unter
anderem durch die kürzlich erfolgte Entfristung der Freigabe der Ladenöffnungszeiten
und möglicherweise auch im Zuge der anvisierten Verkaufsflächenerweiterungen der
Waterfront und in der Bremer Innenstadt, ist
zu befürchten, dass sich der Prekarisierungsprozess weiter beschleunigt und der Druck
auf die Löhne noch zunimmt.
Die Tendenz zum Abbau existenzsichernder
Arbeitsplätze ist aber nicht nur im Einzelhandel und im Gastgewerbe zu beobachten. Ein
Blick auf die Beschäftigungsentwicklung
zwischen 2003 und 2011 zeigt, dass in den
vergangenen Jahren im Land Bremen deutlich
mehr prekäre als reguläre Arbeitsplätze entstanden sind. In diesem Zeitraum wurden gut
14.000 Minijobs geschaffen, außerdem mehr
als 11.000 Teilzeitstellen (Abbildung 2).
Aber nicht nur die Zahl der Minijobs und
Teilzeitstellen hat seit 2003 deutlich zugenommen, auch in der Leiharbeit ist die Beschäftigung massiv angestiegen. Bis zum Einsetzen
der Wirtschafts- und Finanzkrise war sie sogar
die Boombranche Nummer eins in Bremen.
Trotz der krisenbedingten Einbrüche sind hier
zwischen 2003 und 2011 etwa 7.400 Arbeitsplätze entstanden. Mittlerweile arbeiten vier
Prozent der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten in dieser Branche. Bremen weist
damit im Bundesländervergleich den höchsten
Anteil an Leiharbeitern auf.
Die Zahl der Vollzeitstellen war seit Inkrafttreten der Hartz-I- und II-Gesetze 2003 im
Land Bremen rückläufig. Der Anteil prekärer
Beschäftigungsverhältnisse ist damit in den
32
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Weil
aber der Anteil der Niedriglohnempfänger
gerade unter den Leiharbeitern (70 Prozent)
und den Minijobbern (80 Prozent) besonders
hoch ist, verschärft dies die Armutsgefährdung
im Land ganz erheblich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass auch die
Zahl der Erwerbstätigen, die auf ergänzenden
Arbeitslosengeld-II-Bezug angewiesen sind,
gewachsen ist: Zwischen 2007 und 2011 alleine
um 3.100 Personen oder knapp 20 Prozent.
Auch wenn die Verantwortung für die HartzReformen auf Bundesebene liegt, machen
sich die Folgen vor allem auf regionaler Ebene
bemerkbar. Zum einen, weil über die Aufstocker Niedriglöhne quasi subventioniert werden und zum anderen, weil sich hier auch die
sinkende Kaufkraft am schnellsten auswirkt,
vor allem natürlich auf den Einzelhandel.
Kriterien guter Arbeit mit der
Wirtschaftsförderung verknüpfen
Die Politik sollte deshalb gerade auf regionaler
Ebene jede Möglichkeit nutzen, um diesen
Prozess nicht noch weiter zu beschleunigen. In
Bremen wird diesbezüglich schon einiges
getan. Bereits 2009 ist das bremische Tariftreue- und Vergabegesetz in Kraft getreten, mit
dem Auftragnehmer von öffentlich geförderten Aufträgen verpflichtet werden, ihren
Beschäftigten mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen. Darüber hinaus wurde kürzlich
das Mindestlohngesetz verabschiedet, mit dem
Bremen bundesweit Vorreiter ist. Seit September 2012 müssen alle öffentlich geförderten
Arbeitgeber, also auch solche, die Zuschüsse
oder Bürgschaften erhalten, ihren Beschäftigten den Mindestlohn bezahlen. Mit dem neuen
Gesetz werden also auch städtische Unternehmen, Vereine, Kultureinrichtungen und so
weiter erfasst.
33
Dieser sicherlich richtige Schritt wird langfristig allerdings nicht ausreichen. Angesichts
des kontinuierlichen Rückgangs existenzsichernder Arbeitsplätze ist es wichtig, dass die
Wirtschaftsförderung insgesamt eine Sensibilität für die Qualität von Arbeitsplätzen entwickelt und auch bei anstehenden Investitionen oder anderen politischen Entscheidungen
(beispielsweise die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten) im Vorfeld darauf achtet, welche
Auswirkungen dies auf die Arbeitsbedingungen und die Beschäftigungsstruktur haben
wird. Diese Erkenntnisse müssen systematisch
in die Entscheidungen einfließen.
❚ Unternehmen sollten davon überzeugt werden,
ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden.
›Belohnungen‹ für gute Arbeit, Boni für überdurchschnittliche Ausbildungszahlen, ein Wirtschaftspreis
für gute Arbeit bieten sich an. Wo Gesetze und
Richtlinien dies zulassen, muss die Förderung von
Unternehmen auch an Höchstquoten für prekäre
Beschäftigung und Mindestquoten für Ausbildungsplätze geknüpft werden.3
❚ Politik muss offensiv kommunizieren, dass gute
Arbeit auch ein Faktor für nachhaltige Wirtschaftserfolge ist. Mitbestimmte und tarifgebundene
Betriebe sind häufig wirtschaftlich erfolgreicher,
Arbeitnehmer sind hier enger mit dem Unternehmen verbunden. Ein ausreichendes Angebot an
Weiterbildung hilft den Beschäftigten, ihre Qualifikation zu erhalten und zu verbessern – ein Plus
für die Unternehmen.
❚ Wirtschaftsförderung im engeren Sinne darf sich
nicht allein als Dienstleister für Unternehmen verstehen. Sie ist kommunaler Dienstleister und muss die
Folgen für benachbarte Politikbereiche miteinbeziehen. Eine einseitig an Unternehmenszielen orientierte Wirtschaftsförderung ist nicht mehr zeitgemäß.
❚ Qualifizierungspolitik – und zwar von der Förderung Arbeitsloser über Weiterbildung bis zur Durchlässigkeit zwischen Ausbildungsberuf und Studium
– ist ein entscheidender Bestandteil von Wirtschaftspolitik. Die kritischen Übergänge im Bildungswesen
– etwa von der Schule in Ausbildung – müssen so
gestaltet werden, dass auch im System Benachteiligte mehr Chancen finden. Sie laufen Gefahr, die
Aufstocker oder Langzeitarbeitslosen von morgen
zu werden.
3 Auch Niedersachsen hat
diesbezüglich in seinem
aktuellen Koalitionsvertrag schon wichtige Weichen gestellt. Hier soll
die Wirtschaftsförderung
konsequent an sozialen
Kriterien ausgerichtet
werden. Dies umfasst
sowohl die Einhaltung
von Tarifverträgen beziehungsweise gesetzlichen
Mindestlöhnen als auch
eine Höchstquote für
Leiharbeit, Minijobs und
Befristungen. Vgl.
Erneuerung und Zusammenhalt. Nachhaltige
Politik für Niedersachsen. Koalitionsvertrag
zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen
für die 17. Wahlperiode
des Niedersächsischen
Landtages 2013 bis
2018, S. 55.
34
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Für eine transparente und
effiziente Wirtschaftsförderung
DR. MARION SALOT
1 Vgl. Alecke, Björn,
Meyer, Stefan: ›Evaluierung der Darlehensvergabe im Rahmen der
Wirtschaftsförderung
des Landes Bremen,
insbesondere mit Blick
auf die Förderperiode
2014–2020 des
Europäischen Fonds für
regionale Entwicklung
(EFRE)‹, Vorgelegt von:
GEFRA – Gesellschaft
für Finanz- und Regionalanalysen, Münster und
MR Gesellschaft für
Regionalberatung mbH,
Bremen, November
2012, S. 126.
2007 wurde im Land Bremen beschlossen,
betriebliche Projekte statt über ›verlorene‹,
nicht rückzahlbare Investitionszuschüsse
zunehmend auch über die Vergabe von Darlehen zu fördern. Vor dem Hintergrund knapper
Haushaltsmittel sollen hierdurch die Transparenz und die Effizienz der Wirtschaftsförderung erhöht werden. Diese Neuausrichtung
wird seit 2008 im Rahmen des Landesinvestitionsförderprogramms (LIP) und seit 2009 im
Rahmen der Richtlinie zur betrieblichen
Förderung von Forschung, Entwicklung und
Innovation (FEI-Richtlinie) angewendet. Über
das LIP wurden seit 2008 38 Unternehmen
über Zuschüsse und 22 Unternehmen über
Darlehen gefördert. Außerdem erhielten 27
Betriebe eine kombinierte Förderung aus
Zuschüssen und Darlehen. Dabei wurden zwischen 2008 und 2011 Zuschüsse in Höhe von
14,8 Millionen Euro und Darlehen in Höhe
von 31,25 Millionen Euro vergeben. Die
Zuschussförderung konzentrierte sich im
Wesentlichen auf die Branchen ›Herstellung
von Metallerzeugnissen‹ und ›Maschinenbau‹.
Auf diese beiden Bereiche entfielen alleine
23,7 beziehungsweise 15 Prozent der insgesamt vergebenen Fördermittel. Über die
FEI-Richtlinie wurden 20 von insgesamt 56
Unternehmen zwischen 2009 und 2011 mit
Darlehen gefördert. In diesem Zeitraum
wurden 2,8 Millionen Euro an Zuschüssen und
3,6 Millionen Euro an Darlehen gewährt.
Darlehen haben dementsprechend bislang
die Zuschussförderung keineswegs ersetzt,
sondern allenfalls ergänzt. Im Rahmen eines
vom Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen
in Auftrag gegebenen Gutachtens wurde
die Umstellung von Zuschuss- auf die Darlehensförderung evaluiert. Die Gutachter kamen
dabei zu dem Ergebnis, dass die Zahl der
geschaffenen Arbeitsplätze pro investierten
Euro an Fördermitteln zugenommen hat. Die
Effizienz der Förderung durch die Vergabe
von Darlehen ist dementsprechend deutlich
gestiegen, Mitnahmeeffekte wurden vermieden
und Haushaltsmittel eingespart.1 Es wird
aber auch festgestellt, dass kleinere Unternehmen nach der Umstellung weniger von der
Förderung profitieren als vorher.
Die Gutachter schlagen vor, im Rahmen
des LIP -Programms im Regelfall über Darlehen
zu fördern. Nur noch in begründeten Fällen
und für strukturpolitisch bedeutsame Investitionsvorhaben soll eine kombinierte Förderung
von Darlehen und Zuschüssen als Maximalvariante möglich sein.
Vor dem Hintergrund der Schuldenbremse
und der Entscheidung für den Bau des Offshore-Terminals werden die finanziellen Handlungsspielräume in der Wirtschaftspolitik
deutlich kleiner. Hierdurch gewinnt eine
effiziente Förderpolitik zunehmend an Bedeutung. Die Arbeitnehmerkammer schließt
sich deshalb den Empfehlungen der Gutachter
an. Zudem sollte vonseiten des Wirtschaftsressorts transparent gemacht werden, welche
Projekte mit Darlehen gefördert werden, wann
eine zusätzliche Vergabe von Zuschüssen
erfolgt und auf welcher Grundlage diese Entscheidungen getroffen werden. Sollte aus
strukturpolitischen Erwägungen die Vergabe
35
von Zuschüssen sinnvoll sein, muss diese
Förderung mit dem Einhalten der Kriterien
guter Arbeit verknüpft werden. Dies beinhaltet
auch die Berücksichtigung einer entsprechenden Leiharbeitsquote, wie es vonseiten des
Wirtschaftssenators bereits zugesagt wurde.
Angesichts der guten Erfahrungen, die mit
der Darlehensförderung gemacht wurden,
sollte dieses Instrument im Rahmen der nächsten EFRE-Förderperiode zum Einsatz kommen,
wie es SPD und Bündnis 90/Die Grünen bereits
im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Aus
Sicht der Arbeitnehmerkammer sollte hierfür
im Vorfeld ein Kriterienkatalog aufgestellt
werden, wann eine Förderung ausschließlich
über Darlehen erfolgt und wann eine kombinierte Vergabe von Zuschüssen und Darlehen
ermöglicht wird.
36
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
EXKURS
¢
EU-Strukturpolitik in Bremen
DR. GUIDO NISC HWITZ, INS TITUT ARBEIT UND WIRT SC HAFT (IAW)
1 Siehe auch: Akademie
für Raumforschung und
Landesplanung, ARL
(Hrsg.) (2012): Ausgestaltung der EU-Strukturpolitik der Förderperiode
2007–2013 in den
norddeutschen Bundesländern. Arbeitsmaterial
358. Hannover.
Nischwitz, Guido (2012):
Das EFRE-Programm in
Bremen 2007–2013.
Struktur, Umsetzungsstand und Erfahrungen
in der laufenden Programmplanungsperiode.
IAW Arbeitspapier 2.
Bremen.
2 Vgl. Senatorin für Arbeit,
Frauen, Gesundheit,
Jugend und Soziales
(2011): Bundesprogramme mit arbeitsmarktpolitischem Bezug: Bericht
über die Einwerbung von
Fördermitteln im Land
Bremen. Vorlage für die
Sondersitzung der staatlichen Deputation für
Arbeit und Gesundheit
am 05.05.2011.
3 Vgl. Senator für
Wirtschaft und Häfen
(2004): Einheitliches
Programmplanungsdokument für die Ziel-2Förderung 2000–2006
im Land Bremen.
Senator für Wirtschaft
und Häfen (2007): Operationelles Programm.
EFRE Bremen 2007–
2013. Investition in
Bremens Zukunft. Senatorin für Arbeit, Frauen,
Gesundheit, Jugend und
Soziales (2007): Operationelles Programm für
den Europäischen Sozialfonds im Land Bremen.
Ziel: Regionale Wettbewerbsfähigkeit und
Beschäftigung. Förderperiode: 2007 –2013.
Die erheblichen strukturellen Umbrüche in
der Bremer Wirtschaft unter anderem in den
Bereichen Stahl-, Rüstungs- und Werftindustrie
sind bis heute in ihren krisenhaften Folgen
deutlich spürbar. Dies betrifft sowohl die
Finanzkraft des Landes, den Arbeitsmarkt und
die Sozialstruktur als auch die städtische
Entwicklung in Bremen und in Bremerhaven.
Um diese Umbrüche zu bewältigen, profitiert
das Land Bremen seit Ende der 1980-Jahre von
den strukturpolitischen Maßnahmen und
Zuwendungen der Europäischen Union (EU ).1
Wesentliche strukturpolitische Instrumente, die Bremen seit mehr als zwanzig Jahren
nutzt, sind der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE ) und der Europäische
Sozialfonds (ESF ). In der aktuellen EU-Programmplanungsperiode 2007–2013 stehen
dem Land aus beiden Fonds zusammen rund
231 Millionen Euro zur Verfügung (vgl. Abb. 1).
Weitere 37,3 Millionen Euro hat das Land
Bremen aus den ESF -Programmen des Bundes
erhalten.2 Hinzu kommen noch Finanzmittel
aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds
für die Entwicklung des Ländlichen Raums
(ELER) und dem Europäischen Fischereifonds
(EFF ).
Alleine aus dem EFRE- Topf der EU konnte
das zuständige Wirtschaftsressort zwischen
1989 und 2013 rund 427 Millionen Euro an
finanziellen Zuwendungen einwerben. Diese
seit fast 25 Jahren kontinuierlich fließenden
und vergleichsweise hohen Zuwendungen
führen allerdings zu einer wachsenden Abhängigkeit von der Europäischen Strukturpolitik.
Die regionale Wirtschafts- und Strukturpolitik
des Landes Bremen erscheint ohne die Förderung seitens der EU kaum handlungsfähig.
Der inhaltliche, finanzielle und personelle
Gestaltungsspielraum des Wirtschaftsressorts
wird dabei zunehmend begrenzt. Dies ist auch
eine Folge einer stetigen Reduzierung von
Investitionsmitteln, die der Bund und insbesondere das Land Bremen bereitstellen. Die
Verringerung der ›frei‹ verfügbaren Landesmittel kollidiert mit der erforderlichen
Kofinanzierung von EFRE- Mitteln.
Mit Blick auf die angespannte HausAbb. 1: Finanzielle Ausstattung der EUhaltslage, auf veränderte wirtschaftStrukturfonds für das Land Bremen (2000–2020)
liche und förderpolitische RahmenEU-Fonds
Förderperiode Zuwendung
bedingungen und Herausforderungen
seitens der EU in
Millionen Euro
hat das Land Bremen in den vergangeEuropäische Fonds für
2000 – 2006
117,96
nen Jahren eine Neujustierung seiner
regionale Entwicklung (EFRE)
142,01
2007 – 2013
regionalen Struktur- und Wirtschaftsca. 90,00 – 100,00*
2014 – 2020
politik vorgenommen. Im laufenden
Europäische Sozialfonds (ESF)
139,60
2000 – 2006
EFRE- Programm des Landes findet die89,05
2007 – 2013
se Neuorientierung Ausdruck in einer
starken Fokussierung auf die Unterca. 40,00 – 50,00*
2014 – 2020
stützung eines Wissens- und TechnoFonds Ländlicher Raum (ELER)
15,00
2000 – 2006
logietransfers in der Region, einer
10,50
2007 – 2013
Förderung innovativer Technologien
ca. 10,00*
2014 – 2020
sowie einer Stärkung der AnpassungsEuropäischer Fischereifonds (EFF) 2000 – 2006
22,90
fähigkeit von Wirtschaftsstruktur und
10,91
2007 – 2013
Unternehmen. Mehr als zwei Drittel
n. b.
2014 – 2020
(94,8 Millionen Euro) der verfügbaren
Quellen: Eigene Zusammenstellung nach Senator für Wirtschaft und Häfen
(2004, 2007); Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales
(2007) 3 * Schätzung
37
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 2:
EFRE-Bremen 2007–2013 Beispielprojekte nach Prioritätsachsen
Prioritäten / Förderbereiche/ Projekte
Gebiet
Projektvolumen
insgesamt
davon EFRE
in Euro
Prioritätsachse 1 ›Wissen und Innovation voranbringen‹
Initiierung und Aufbau eines
Bremen
6.356.000
3.178.000
Land
10.008.481
4.530.250
Bremerhaven
7.000.000
2.750.000
Bremen
19.000.000
9.500.000
Bremerhaven
10.000.000
4.520.000
Bremen
11.000.000
5.500.000
Land
n. b.
11.600.000
Bremer Technologie-Centrums BRE-TeC
Programm zur Förderung anwendungsnaher
Umwelttechniken (PFAU)
Förderung des Centers für Windenergie
und Meerestechnik (CWMT)
Institut für Raumfahrtsysteme
Förderung des Fraunhofer-Instituts für
Windenergie und Energiesystemtechnik IWES
Überführung der MeVis Research GmbH in ein
Institut der Fraunhofer-Gesellschaft
Landesinvestitionsförderprogramm (LIP)
Prioritätsachse 2 ›Städtische Wirtschafts- und Lebensräume aktivieren‹
Quartiersbildungszentrum Robinsbalje
Bremen
2.764.500
1.319.000
Aufwertung des Stadtteilzentrums Leherheide
Bremerhaven
1.935.000
967.500
Ansiedlungskonzept Offshore-Windenergie
Bremerhaven
4.701.884
2.350.942
Bremen
19.546.000
9.773.000
Bremerhaven
4.500.000
1.000.000
in Bremerhaven, 2. Bauabschnitt
Potenzialgebiet Überseestadt
Erweiterung des Deutschen
Auswandererhauses Bremerhaven
Quelle: eigene Zusammenstellung nach www.efre-bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen59.c.2683.de
(Zugriff am 29.10.12)
EFRE- Mittel fließen in Maßnahmen der ersten
Prioritätsachse ›Wissen und Innovation voranbringen‹. Das EFRE- Programm setzt insbesondere bei den Innovations- und Kompetenzfeldern Umwelt- und Energiewirtschaft sowie der
Maritimen Wirtschaft seine Schwerpunkte. In
den entsprechenden Förderbereichen konnte
das Land bis zum Oktober 2012 zwischen 85
und 99 Prozent der vorgesehenen Finanzmittel
für konkrete Projekte bewilligen. In einem
hohen Maße wurden dabei größere Vorhaben
der Forschungs- und Infrastruktur unterstützt
(vgl. Abb. 2).
Die zweite Prioritätsachse ›Städtische Wirtschafts- und Lebensräume aktivieren‹ konzentriert sich auf die Erschließung innerstädtischer Verdichtungs- und Attraktivierungs-
potenziale sowie auf die Verbesserung der
Lebensqualität in den beiden Städten Bremen
und Bremerhaven. Knapp 31 Prozent der EFREMittel (45,0 Millionen Euro) sind für entsprechende Projekte vorgesehen. Während das
Budget für Stadtentwicklungsprojekte,
insbesondere für die Stadt Bremen, fast ausgeschöpft ist, stand im Herbst 2012 für die Entwicklung von Wirtschaftsräumen noch rund
ein Drittel der Finanzmittel zur Verfügung.
Von den bewilligten EFRE -Mitteln, die sich
eindeutig den beiden Städten Bremen und
Bremerhaven zuordnen lassen, entfällt bislang
rund ein Drittel auf die Stadt Bremerhaven.
Dabei setzt Bremerhaven seine Schwerpunkte
auf die Förderung der Forschungs- und Wirtschaftsinfrastruktur (vgl. Abb. 2).
38
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Fazit EU-Förderperiode 2007–2013
4 Vgl. Senator für
Wirtschaft und
Häfen/Prognos AG
(2010): Analyse zu den
Wirkungen der EFREFörderung auf das regionale Innovationssystem
im Land Bremen.
5 Vgl. Nischwitz,
Guido/Douglas,
Martyn/Knutz, Thade
(2012): Die EU-Kohäsions- und Strukturpolitik
ab 2014. Hintergrund,
Rahmensetzungen
und aktuelle Diskussion.
IAW Arbeitspapier 1.
6 Mit der Einigung auf
eine Obergrenze an
Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
959,9 Milliarden Euro
liegen die Finanzmittel
73 Milliarden Euro unter
den Vorschlägen der
EU-Kommission sowie
35,2 Millionen Euro
unter dem letzten
EU-Haushalt.
Bis Ende 2012 konnten in Bremen knapp 82
Prozent der EFRE- Mittel für konkrete Projekte
zur Verfügung gestellt werden. Diese vergleichsweise hohe Mittelbindung ergibt sich
aus einer gewissen Kontinuität in der Innovationsförderung, aus zahlreichen Folgeprojekten
im Bereich der Forschungsinfrastruktur sowie
der anhaltenden Restrukturierung von Hafenund Industriegebieten. Demgegenüber fällt
der geringe Umsetzungsstand (50 Prozent) in
den Bereichen ab, die unter der Federführung
des Arbeitsressorts liegen. Projektideen konnten nicht umgesetzt und/oder Komplementärmittel seitens der Unternehmen nicht aufgebracht werden. Darüber hinaus erscheinen
einige im EFRE- Programm aufgeführten Zielwerte, was die Anzahl an Projekten, Investitionen und Arbeitsplätzen betrifft, kaum bis
zum Ende des Programms realisierbar.
In einer Gesamtschau hat sich das aktuelle
EFRE- Programm mit seiner schlanken, flexiblen und offenen Struktur bewährt. Die Fokussierung auf die zwei Prioritätsachsen hat
sowohl bei den regionalen Innovationsaktivitäten als auch in der Stadtentwicklung wichtige Impuls- und Finanzierungsfunktionen
übernommen.4
Ausblick EU-Förderperiode 2014–2020
Seit Oktober 2011 liegen seitens der EU-Kommission Vorschläge zur Ausgestaltung der neuen Programmplanungsperiode 2014–2020 vor.5
Die reformierte EU- Kohäsions- und Strukturpolitik soll stärker zur Bewältigung der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise beitragen
und die neue ›Europa 2020‹-Strategie unterstützen. Erst Anfang Februar 2013 konnten sich
die 27 europäischen Regierungs- und Staatschefs über die Höhe und Eckpunkte des kommenden EU- Haushalts verständigen.6 Allerdings bedarf es noch einer Zustimmung des
Europaparlaments. Von daher liegen zurzeit
keine rechtsverbindlichen Vorgaben der EU
zur finanziellen Ausstattung und zur inhaltlichen Ausgestaltung des neuen EFRE vor. Dennoch lassen sich folgende Entwicklungstrends
ablesen: Bremen wird in die Kategorie ›stärker
entwickelte Regionen‹ eingeordnet. Das Land
muss mit deutlich weniger Finanzmitteln aus
den Strukturfonds auskommen. Allein beim
EFRE werden die Zuwendungen von 142 Millionen Euro in der laufenden Förderperiode auf
maximal 90 bis 100 Millionen Euro sinken
(siehe Abb. 1). Bei einer Abfrage der beteiligten
Ressorts wurde aber ein Mittelbedarf von
267 Millionen Euro gemeldet. Die verfügbaren
Finanzmittel werden auf elf thematische Ziele
konzentriert. Zwischen 60 und 80 Prozent
der EFRE-Mittel sind für die drei Zielbereiche
Innovation, Wettbewerbsfähigkeit von kleinen
und mittleren Unternehmen (KMU ) und die
Verringerung von CO2-Emissionen bereitzustellen.
39
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Das Wirtschaftsressort hat Ende 2012 ein
überarbeitetes EFRE- Programmschema für
2014–2020 vorgelegt.7 Demnach würde das
Land in die Verhandlungen mit der EU ab dem
Frühsommer 2013 mit einer Verdopplung
auf vier Prioritätsachsen gehen:
❚ unternehmensorientierte Innovationssysteme
(EFRE- Mittelvolumen: 40 Prozent),
❚ Diversifizierung und Spezialisierung der
Wirtschaftsstruktur (20 Prozent),
❚ CO2 -effizienzte Wirtschafts- und Stadtstruktur
(20 Prozent) und
❚ städtische Wirtschafts- und Sozialräume
(16 Prozent).
Inwieweit diese vergleichsweise breite
Programmstruktur in der EU- Kommission auf
Zustimmung stößt, ist mehr als fraglich.
Dieses widerspricht den Vorgaben der EUKommission, sowohl Finanzmittel als auch
Themen auf weniger Förderachsen zu konzentrieren. Es besteht zudem die Gefahr, dass
die Fokussierung auf Innovation zusammen
mit der Kürzung der EFRE- Mittel eine Förderung benachteiligter Stadtteile im Land
Bremen deutlich erschwert. Mit einem EFREBudget von rund zwei Millionen Euro pro
Jahr sind die Impuls- und Finanzierungsfunktionen für eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik begrenzt.
Forderungen der Arbeitnehmerkammer
an das EFRE- Programm 2014–2020
Mit dem EFRE-Programm werden sowohl
in programmatischer, als auch in finanzieller
Hinsicht wichtige wirtschaftspolitische
Weichen bis zum Jahr 2020 gestellt. Da bereits
jetzt deutlich wird, dass die zur Verfügung
gestellten Mittel nicht ausreichen werden, um
die gemeldeten Mittelbedarfe der Ressorts
abzudecken, wird eine gezielte Prioritätensetzung hinsichtlich der zu fördernden Projekte
immer wichtiger.
❚ Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer werden deshalb
bei der Auswahl der Projekte nicht nur die Anzahl,
sondern auch die Qualität der im Zuge der Förderung entstehenden und gesicherten Arbeitsplätze
eine Rolle spielen. Dies bezieht sich nicht nur auf
Höhe der Leiharbeitsquote in den Unternehmen,
die von der EFRE-Förderung profitieren. Auch die
Anzahl der Minijobs muss hier Berücksichtigung
finden. Prioritär gefördert werden sollten Unternehmen, die nach Tarif bezahlen, über einen Betriebsrat
verfügen und eine noch festzulegende Ausbildungsquote erfüllen.
❚ Denkbar wäre es außerdem, positive Beispiele
im Bereich ›Vereinbarkeit von Familie und Beruf‹
entsprechend zu belohnen.
❚ Vor dem Hintergrund knapper Haushaltsmittel
und der Ergebnisse des Gutachtens zur Evaluierung
der Umstellung der Wirtschaftsförderung auf die
Vergabe von Darlehen, sollte dieses Instrument auch
im Rahmen der EFRE-Förderung zur Anwendung
kommen (vgl. Beitrag ›Für eine transparente und
effiziente Wirtschaftsförderung, S. 34 f.‹).
❚ Wichtig ist außerdem, eine stärkere Verzahnung
mit dem ESF anzustreben. Sowohl die Bekämpfung
der Langzeitarbeitslosigkeit als auch die Probleme
im Bereich des Fachkräftebedarfs erfordern ein
besseres und gezieltes Abstimmen von Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik; insbesondere vor dem
Hintergrund der starken Fokussierung des EFRE auf
Innovationsprojekte.
❚ In Bremen und Bremerhaven besteht weiterhin
erheblicher Nachholbedarf bei der Förderung
benachteiligter Stadtteile. Da die auf Bundesebene
hierzu bereitgestellten Mittel deutlich gekürzt
wurden, sollte dieser Förderbereich im Rahmen
des EFRE-Programms weiterhin ein wichtiger
Schwerpunkt bleiben.
7 Vgl. Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen
(2013): Vorlage für
die Sitzung des Senats
am 29.01.2013. Neue
EU-Förderperiode ab
2014. ›Programmierung
ESF und EFRE‹.
40
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Arbeitsmarktpolitik
Kürzungen und neue Instrumente als doppelte Herausforderung
REGINE GERAEDTS
Bundesweit wurde mit zwei Rekorden über die
Arbeitsmarktbilanz des Jahres 2012 berichtet.
›Neuer Höchststand bei Erwerbstätigen‹ und
›Tiefstand bei Arbeitslosigkeit‹ stimmten auch
die Bremer Lokalpresse in den ersten Tagen
nach dem Jahreswechsel ein. Bei genauerem
Hinsehen hat sich der Arbeitsmarkt in Bremen
allerdings kaum entspannt. Nur in Bremerhaven hat sich ein positiver Trend durchsetzen
können. Dort gingen die Arbeitslosenzahlen
zurück.
Die Kernprobleme aber sind geblieben.
Die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich weiter verfestigt und vor allem die große Gruppe der
Ungelernten droht dauerhaft auf der Verliererseite des Arbeitsmarkts zu stehen. Für Bremen
und Bremerhaven sind die Herausforderungen
enorm. Die regionale Arbeitsmarktpolitik
muss neue Antworten finden.
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung
bleiben auf hohem Niveau
1 Alle Daten in diesem
Abschnitt sind den
Materialen zur Pressemitteilung der Agentur
für Arbeit BremenBremerhaven vom
3. Januar 2013 entnommen, wenn nicht anders
vermerkt.
2 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit:
Analytikreport der
Statistik, Analyse des
Arbeitsmarkts Bremen,
Dezember 2012.
3 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit,
Analytikreport der
Statistik, Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen
in Bremen im Dezember
2012.
Von einem Rückgang der registrierten Arbeitslosen wie im Bund kann im Land Bremen
für das Jahr 2012 kaum die Rede sein. Jahresdurchschnittlich waren rund 36.800 Menschen
arbeitslos gemeldet und damit 1,7 Prozent
weniger als im Vorjahr.1 Dabei entwickelte sich
die Situation in Bremerhaven positiv. Dort
sank die Arbeitslosenzahl von jahresdurchschnittlich 8.950 auf 8.300 Menschen und die
Arbeitslosenquote von 16,3 auf 14,9 Prozent.
In Bremen-Stadt dagegen stagnierte die Arbeitslosenzahl und blieb mit 28.500 auf dem Vorjahresniveau.
Dabei zeichnet die registrierte Arbeitslosigkeit nur ein unvollständiges Bild. Der Status
der Arbeitslosigkeit ist nämlich gesetzlich so
definiert, dass einige Gruppen statistisch nicht
als arbeitslos zählen, obwohl sie es eigentlich
sind. Dazu gehören Teilnehmerinnen und
Teilnehmer von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Menschen, die kurzfristig arbeitsunfähig erkrankt sind und ein Teil der älteren
Arbeitslosen. Die Arbeitslosenstatistik berichtet deshalb ergänzend über die ›Unterbeschäftigung‹. Diese Daten sollen zeigen, wie viel
höher die Arbeitslosigkeit im Grunde ist. Im
Monat Dezember 2012 waren im Land Bremen
etwa 35.900 Menschen arbeitslos registriert,
aber 48.900 Menschen waren unterbeschäftigt.2 Arbeitslos waren ähnlich viele, unterbeschäftigt etwa 1.300 Menschen weniger als
im Vorjahresmonat.
Betrachtet man die Arbeitslosigkeit nach
Strukturmerkmalen, fällt der sehr hohe Anteil
der Langzeitarbeitslosen im Land Bremen auf.
Er erreichte im Dezember 2012 die 45-ProzentMarke. In der Grundsicherung/Hartz IV war
sogar mehr als jeder zweite Arbeitslose zwölf
Monate oder länger durchgehend ohne Arbeit.
Dabei erfasst auch hier die statistische Definition nicht die ganze Realität. Wird die Arbeitslosigkeit nämlich beispielsweise durch eine
Weiterbildungsmaßnahme, eine Arbeitsgelegenheit oder eine kurzfristige Arbeitsaufnahme unterbrochen, gilt sie nicht mehr
als durchgehend. Die Langzeitarbeitslosigkeit
endet dann scheinbar und die Zählung der
Dauer beginnt wieder bei null.
Ebenfalls sehr auffällig ist der mit 60
Prozent sehr hohe Anteil der Arbeitslosen
ohne Berufsabschluss. Auch dieses Merkmal
ist in der Grundsicherung/Hartz IV stärker
ausgeprägt. Mit rund 20.000 Menschen fehlt
mehr als zwei Dritteln eine abgeschlossene
Ausbildung als wichtige Voraussetzung für
den erfolgreichen und dauerhaften Einstieg in
Beschäftigung.3
41
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 1:
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im Land Bremen
80.000
70.000
65.680
66.772
66.703
66.535
66.396
65.543
65.366
50.229
51.272
50.847
49.960
50.120
48.947
48.913
35.477
37.305
37.921
36.502
37.697
36.248
35.881
60.000
50.000
40.000
30.000
20.000
10.000
Jan 13
Dez 12
Nov 12
Okt 12
Sep 12
Aug 12
Jul 12
Jun 12
Mai 12
Apr 12
Mrz 12
Feb 12
Jan 12
Dez 11
0
registrierte Arbeitslosigkeit
Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit)
Beziehende von Arbeitslosengeld II (erwerbsfähige Leistungsberechtigte)
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Arbeitslosigkeit ist kein fest gefügter Block,
sie ist beständig in Bewegung. Sie nimmt ab,
wenn mehr Arbeitslose aus der Arbeitslosigkeit
abgehen oder wenn weniger Beschäftigte
arbeitslos werden. Im Idealfall geschieht beides
gleichzeitig, bei ungünstiger Entwicklung
verlaufen die Ströme andersherum. Zwar ist
im Land Bremen der Zustrom in Arbeitslosigkeit etwa unverändert geblieben. Doch im
Verlauf des Jahres 2012 ließ sich eine Trendveränderung ausmachen. Im Arbeitslosenversicherungssystem, das unmittelbarer auf konjunkturelle Veränderungen reagiert, stiegen
die Arbeitslosenzahlen um insgesamt 2,6 Prozent, nachdem 2011 noch ein stabiler Rückgang zu verzeichnen gewesen war. Gleichzeitig
sind die Chancen gesunken, aus der Arbeitslosigkeit heraus einen neuen Arbeitsplatz zu
finden. Insgesamt wurden bei der Agentur
für Arbeit Bremen-Bremerhaven 10,4 Prozent
weniger offene Arbeitsstellen gemeldet als
noch im Vorjahr. Die Dynamik auf dem Bremer Arbeitsmarkt ist also deutlich rückläufig.
Joboffensive – neue Spaltung am
schwierigen Arbeitsmarkt für Arbeitslose
In dieser Situation entschieden die Arbeitsverwaltung und das Land Bremen, das Konzept
des Berliner Modellprojekts ›Joboffensive‹
auf die Jobcenter in Bremen und Bremerhaven
zu übertragen. Die ›Joboffensive‹ war in Berlin
im Juni 2011 in einer konjunkturell guten
Arbeitsmarktphase gestartet. Der wachsende
Personalbedarf von regionalen Unternehmen
sollte auch aus den Potenzialen der Jobcenter
gedeckt werden. In Bremen ist das Projekt
dagegen seit März 2013 unter anderen Arbeitsmarktvorzeichen gestartet. Das Ziel ist ungeachtet dieser unterschiedlichen Ausgangslagen
identisch: die schnelle Vermittlung von
sogenannten ›marktnahen‹ Arbeitslosen.
Etwa 7.700 Menschen hat das Jobcenter
Bremen als ›marktnah‹ identifiziert. Sie sind
eher gut qualifiziert und die Prognose, innerhalb von sechs bis maximal zwölf Monaten
eine Arbeitsstelle zu finden, gilt als positiv. Im
Rahmen des Projekts ›Joboffensive‹ wird diese
42
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
4 Interview mit Götz von
Einem, Kurier am Sonntag, 27. Januar 2013.
5 Siehe beispielsweise
Stellungnahme der
Arbeitnehmerkammer
für die öffentliche
Anhörung von Sachverständigen im Bundestagsausschuss für
Arbeit und Soziales am
5. September 2011.
Gruppe in speziellen Teams mit einem Personalschlüssel von 1:100 betreut. Mit einer mindestens vierzehntägigen Termindichte und
dem Stellenangebot des Arbeitgeberservice der
Agentur für Arbeit soll die schnelle Integration
in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
erreicht werden.
Mit etwa 32.000 Menschen gilt die weit
überwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden
im Jobcenter Bremen dagegen als ›marktfern‹.
Bei ihnen gehen die Prognosen von einem
höheren Förderbedarf und einem mittel- oder
sogar langfristigen Zeithorizont bis zur
Arbeitsmarktintegration aus. Das Konzept der
›Joboffensive‹ sieht vor, dass diese Gruppe in
sogenannten Basis-Teams mit einem deutlich
schlechteren Personalschlüssel von 1:214
betreut wird.
Im Ergebnis schafft das Modellprojekt
innerhalb des Grundsicherungssystems Strukturen für Arbeitsuchende erster und zweiter
Klasse, für ›produktive‹ und für ›unproduktive‹
Arbeitslose. Wenn personelle Ressourcen und
Fördermittel konsequent auf ›marktnahe‹ Menschen konzentriert werden, drohen Menschen
mit mehr Unterstützungsbedarf weiter ins
Abseits zu geraten. Das Konzept ›Joboffensive‹
erklärt zudem die ›schnelle Vermittlung‹ zum
›Kerngeschäft‹ der Grundsicherung /Hartz IV
und treibt damit das Primat der kurzfristigen
Arbeitsmarktintegration auf die Spitze (siehe
dazu auch den Beitrag ›Qualifizieren statt
Aktivieren‹, S. 46 ff.).
Anlass zur Sorge bieten auch die potenziellen Zielbranchen im Projekt ›Joboffensive‹.
Manche Arbeitgeber bedienen sich bevorzugt
der Vermittlungsdienstleistungen der Arbeitsagentur, wenn sie auf dem Markt nicht genügend Kräfte finden. Die Wahlmöglichkeiten
von Arbeitslosen sind gesetzlich begrenzt und
der Druck ist hoch, auch unattraktive Stellen
anzunehmen. Mit jahresdurchschnittlich 50
Prozent des Stellenangebots ist die Zeitarbeitsbranche der mit Abstand größte Nachfrager
beim Arbeitgeberservice Bremen-Bremerhaven.4 Wenn die Zielbranchen der ›Joboffensive‹
aber strukturell durch hohe Personalfluktuation und einen überdurchschnittlichen Anteil
prekärer Beschäftigung gekennzeichnet wären,
dann könnte der Preis für schnelle Vermittlungserfolge die kurzlebige Integration in
prekäre Beschäftigung sein. Drehtüreffekte
und Zuwächse beim ergänzenden Leistungsbezug wären die heimlichen Begleiterscheinungen.
Es wird darauf ankommen, die Umsetzung
des Projekts kritisch zu begleiten und die
Ergebnisse differenziert zu evaluieren. Arbeitslose so schnell wie möglich in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu integrieren
ist ein richtiges Ziel. Allerdings muss die
Entwicklung nachhaltiger Arbeitsmarktperspektiven und die Vermittlung in existenzsichernde Arbeit Vorrang haben, übrigens auch
im Sinne einer weitsichtigen regionalen Fachkräftestrategie. Auf die eigentlichen Herausforderungen der regionalen Arbeitsmarktpolitik – verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit
und ein hoher Anteil Ungelernter – findet
die ›Joboffensive‹ keine Antworten.
Instrumentenreform und massive
Mittelkürzungen bestimmen
die Arbeitsmarktpolitik
Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ konzentriert
die Ressourcen der Jobcenter auf die Gruppen,
die mit geringen Kosten schnell in Arbeit
integrierbar sind. In dieser Grundausrichtung
stimmt das Konzept überein mit den Intentionen des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, kurz
Instrumentenreform, das seit dem 1. April
2012 den gesetzlichen Rahmen der regionalen
Arbeitsmarktpolitik bildet.
Die Arbeitnehmerkammer hatte im Vorfeld
ausführlich und kritisch Stellung dazu
genommen.5 Eine einschneidende Wende hat
es bei der öffentlich geförderten Beschäftigung
gegeben, der zweiten großen Säule in der
Arbeitsförderung.
43
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Zwar war der Großteil der Maßnahmen im
Land Bremen noch nach altem Recht bewilligt
worden, so dass die ganz großen Einschnitte
im Jahr 2012 ausblieben. Nach deren Auslaufen Anfang 2013 wird es nun aber deutlich
schwieriger, sinnstiftende und zugleich an
Stadtteilbedarfen orientierte Tätigkeitsfelder
zu entwickeln. Denn die Arbeitsgelegenheiten
als wichtigstes Instrument wurden in Ausgestaltung und Dauer erheblich beschnitten.
Die Anforderungen an ihre Zusätzlichkeit und
das öffentliche Interesse wurden erhöht und
darüber hinaus das Kriterium der Wettbewerbsneutralität eingeführt. Erste Erfahrungen
mit den neuen Prüfpraktiken haben gezeigt,
dass sie nur schwer mit lokalen Zielsetzungen
und Stadtteilinteressen in Einklang zu bringen
sind. Außerdem kann flankierende Unterstützung für die Teilnehmenden wie die persönliche Stabilisierung, individuelle Qualifizierung oder die Erarbeitung beruflicher Alternativen nun nicht mehr integriert angeboten
werden. Erste Versuche, Arbeitsgelegenheiten
mit den neu eingeführten ›Aktivierungsgutscheinen‹ zu verknüpfen und den Teilnehmenden auch weiterhin Qualifizierung zu ermöglichen, zeigten vor allem, wie hoch die
bürokratischen Hürden dafür sind.
Arbeitsgelegenheiten in der sozialversicherungspflichtigen Entgeltvariante sind seit
der Reform nicht mehr möglich und laufen
aus. Das neue sozialversicherungspflichtige
Instrument ›Förderung von Arbeitsverhältnissen‹ wurde bisher kaum genutzt. Im Dezember
2012 waren im Land Bremen erst 183 Plätze
geschaffen. In Arbeitsgelegenheiten als
›Ein-Euro-Jobs‹ waren dagegen 2.488 Menschen
beschäftigt.
Es bleibt zweifelhaft, wie es unter den neuen
Bedingungen gelingen kann, einen Bremer
Weg fortzusetzen, der idealtypisch Individualförderung und sozialräumliche Strukturförderung in öffentlich geförderter Beschäftigung miteinander verbindet, der die sozialintegrative Dimension der Arbeitsförderung
unterstreicht und schließlich einen Förderschwerpunkt in der sozialversicherten Variante
setzt.
Mit der Instrumentenreform verband die
Bundesregierung das Ziel, die schnelle und
effiziente Arbeitsmarktintegration in den
Fokus zu rücken, das Maßnahmerepertoire zu
straffen und schließlich Kosten bei der Arbeitsförderung einzusparen. Das ist gelungen, denn
quantitativ ließ sich im Jahr 2012 über alle
arbeitsmarktpolitischen Instrumente hinweg
eine rückläufige Entwicklung beobachten,
so auch im Land Bremen. Nur noch jahresdurchschnittlich 9.976 Menschen nahmen an
arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen
teil. Das waren im Bestand 17,8 Prozent weniger als im Vorjahr. In der beruflichen Weiterbildung gingen die Teilnahmezahlen um
15,4 Prozent zurück, bei den Beschäftigung
schaffenden Maßnahmen war der durchschnittliche Bestand um 10,4 Prozent niedriger
als im Vorjahr. Besonders große Rückgänge
waren mit einem Minus von 38 Prozent im
Bereich geförderter Selbstständigkeit zu
verzeichnen.6
Die Einbrüche sind drastisch. Sie vollziehen
die radikalen Kürzungen der Bundesmittel
nach. Seit 2010 sind die Budgets für die
Eingliederung in den Jobcentern Bremen
und Bremerhaven um mehr als ein Drittel
(35 Prozent) reduziert worden. Im Jahr 2012
standen in der Grundsicherung/Hartz IV im
Land Bremen nur noch 60,3 Millionen Euro
für die Arbeitsförderung zur Verfügung. Dabei
ist der Problemdruck unverändert groß.
6 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit,
Arbeitsmarkt in Zahlen –
Förderstatistik, Jahreszahlen zu arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, Dezember 2012.
44
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 2: Leistungen zur Eingliederung – zugewiesene
Bundesmittel und geleistete Bruttoausgaben, in Millionen Euro
70
70,0
70,4
80
45,7
53,8
50,2
50
38,7
40
30
10
14,7
11,7
20
17,0
14,1
23,4
22,1
Millionen Euro
60
zugewiesene Bundesmittel
verausgabte Bundesmittel
0
Jobcenter
Bremen
Jobcenter
Bremerhaven
2010
Jobcenter
Bremen
Jobcenter
Bremerhaven
2011
Jobcenter
Bremen
Jobcenter
Bremerhaven
2012
Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, eigene Darstellung
Geschenke aus Bremen
an den Bundeshaushalt
7 Vgl. Bremer Institut für
Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe,
BIAJ-Materialien vom
12. Februar 2013.
Die Landesregierung hat im Jahr 2012 leider
nicht die Initiative ergriffen, den Bundeskürzungen mit Landesmitteln entgegenzuwirken,
und sei es auch nur als Signal für eigene politische Schwerpunktsetzungen. Die finanzielle
Situation in der Arbeitsförderung hat sich
unterdessen noch weiter verschärft, weil die
Bundesmittel nicht im vollen Umfang genutzt
worden sind. Von dem ohnehin gekürzten Etat
für Leistungen zur Eingliederung haben die
Jobcenter zehn Millionen Euro weniger ausgegeben als vom Bund dafür zugewiesen, sieben
Millionen in Bremen und drei Millionen in
Bremerhaven. Nach Umschichtungen in
das Verwaltungskostenbudget im Jobcenter
Bremerhaven flossen am Ende rund 9,4 Millionen Euro an den Bund zurück.7
Es bleibt offen, wieso die Jobcenter in Bremen
und Bremerhaven nun schon im zweiten
Jahr in Folge nicht in der Lage waren, die Bundesmittel besser auszuschöpfen, wieso also
nicht alle Möglichkeiten zur Förderung
von Arbeitsuchenden genutzt wurden. Es ist
zudem nun schwieriger geworden, glaubwürdige Argumente gegen die fortgesetzte
Kürzungsspirale des Bundes vorzubringen, die
sich auch 2013 weiterdreht. Bundesweit brauchen die Jobcenter bessere Möglichkeiten, ihre
Planungen über mehrere Haushaltsjahre auszugestalten, mehr Mittel längerfristig binden
zu können und Restmittel ins Folgejahr
übertragen zu dürfen. Vor Ort sind die Träger
der Jobcenter in der Pflicht, eine Arbeitsmarktstrategie zu entwickeln, die den tatsächlichen
regionalen Herausforderungen begegnet,
Programm- und Mittelplanung zieladäquat
auszugestalten und schließlich die Umsetzung
und Mittelausschöpfung mit zu steuern.
45
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Neujustierung der Arbeitsmarktstrategie als Antwort auf regionale
Herausforderungen
Die besondere strukturelle Herausforderung
für die Bremer Arbeitsmarktpolitik ist der
große Anteil von Arbeitslosen, die den gestiegenen Anforderungen der Arbeitswelt mit ihrer
Belastbarkeit oder ihren Qualifikationen
tatsächlich oder auch nur vermeintlich nicht
gewachsen sind. Dazu gehören in besonderem
Maß Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Eine nachhaltige und individuelle Unterstützung würde die Integrationschancen auch
dieser Gruppen verbessern, die heute kaum
Chancen am Arbeitsmarkt haben. Für sie muss
die Förderung langfristig angelegt sein, ihre
soziale Situation muss nachhaltig stabilisiert,
die Qualifikation schrittweise gestärkt werden.
Ein Element einer solchen nachhaltigen
Strategie ist ein sozialer Arbeitsmarkt mit
klaren und verlässlichen Rahmenbedingungen
und integrierter Unterstützung, die sich auch
an den Bedarfen und Möglichkeiten des
Einzelnen orientiert. Die aktuellen Diskussionen, ihn mithilfe der Umwandlung der passiven Leistungen zum Lebensunterhalt sozialverträglich auszugestalten, weisen in eine gute
Richtung. Seit Langem plädiert die Arbeitnehmerkammer außerdem dafür, systematisch
eine auf Abschlüsse orientierte Qualifizierung
als zentrales Handlungsfeld in der Arbeitsförderung zu entwickeln – sei es traditionell
als Umschulung, als Nachqualifizierung oder
kleinschrittig mit aufeinander abgestimmten
Modulen.
Während Arbeitsmarktpolitik klassisch darauf
ausgerichtet ist, den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung zu ermöglichen, sollte
sie mehr die Qualität von Beschäftigung in
den Blick nehmen und schnelle Wiedereintritte in Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Eine
nachhaltige Arbeitsförderung zielt auf Beschäftigungsstabilität und auf ein Einkommensniveau, das den Lebensunterhalt sichert.
Schließlich wird es künftig zunehmend
darum gehen müssen, Übergänge innerhalb
des Beschäftigungssystems zu erhöhen, den
Aufstieg in höherwertige Beschäftigung und
die Mobilität von den Randbereichen des
Arbeitsmarktes in seine gesicherten Zonen
zu stärken. Eine solche Mobilitätsbewegung
würde im gleichen Zuge Luft im Arbeitsmarkt
für Geringqualifizierte schaffen und neue
Beschäftigungschancen für arbeitslose Ungelernte entstehen lassen.
Die Möglichkeiten für veränderte landespolitische Schwerpunktsetzungen in der
Arbeitsförderung ergeben sich mit der neuen
Förderperiode der europäischen Strukturfonds
ab 2014 und dem zeitgleich zu überarbeitenden Beschäftigungspolitischen Aktionsprogramm. Das Ziel einer neu justierten regionalen Arbeitsmarktstrategie wäre in einem
Dreiklang, die Beschäftigungsqualität zu steigern, das Fachkräftepotenzial zu entwickeln
und die Arbeitslosigkeit zu senken. Die
Zeiten kurzfristig angelegter Aktivierung und
schneller Vermittlung haben sich dagegen
überlebt.
46
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Qualifizieren statt Aktivieren
Bildungschancen für Arbeitslosengeld-IIEmpfängerinnen und -Empfänger
SUSANNE HERMELING
1 Vgl. Bundesagentur
für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung
Im Land Bremen sind zwei Drittel der arbeitslosen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und
-Bezieher ohne Berufsabschluss und fast zwei
Drittel sind schon länger als zwei Jahre arbeitslos. Diese Gruppen haben besonders geringe
Erwerbschancen. Die Arbeitslosenquote für
nicht formal Qualifizierte lag in Deutschland
(2009) bei 22 Prozent und bei Erwerbspersonen
mit beruflichem oder akademischem Abschluss nur bei sechs Prozent.1 Das Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat
ermittelt, dass viele Betriebe Bewerbungen von
Langzeitarbeitslosen grundsätzlich aussortieren, weil ihre Qualifikation als entwertet gilt.2
Daher ist die Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) eines der wichtigsten Instrumente
der Arbeitsförderung. Die Arbeitnehmerkammer untersuchte 2011 und 2012 die gesamten
Prozesse von der jährlichen Bildungszielplanung der Jobcenter, über die Vergabe und Einlösung von Bildungsgutscheinen bis hin zur
Planung und Durchführung einzelner Maßnahmen im SGB II im Land Bremen. In Interviews wurden die Perspektiven von erwerbslosen Maßnahmeteilnehmern, von Führungskräften und Vermittlungsfachkräften in
Jobcentern sowie von Leitungen und Lehrkräften bei Bildungsträgern erfasst. Zusätzlich
wurden Förderstatistiken und Studien der vergangenen Jahre ausgewertet.
Dezember 2011, S. 5 f.
2 Vgl. Kettner, Anja:
Fachkräftemangel –
Fakt oder Fiktion?
IAB-Bibliothek 337
2012, S. 57.
Wettbewerb, Mittelkürzungen und das
Primat der schnellen Vermittlung prägen
seit zehn Jahren das Feld der beruflichen
Weiterbildung in der Arbeitsförderung
3 Vgl. Paul M. Schröder:
BIAJ-Materialien vom
05.12.2012
www.biaj.de/images/
stories/2012-1205_asmk-jobcenterbudgets-uebertragen2012-2013.pdf
Bis 2002 haben die Arbeitsagenturen Maßnahmen direkt bei den Bildungsträgern mit festgelegten Platzzahlen in Auftrag gegeben. In diesem System waren Bildungsanbieter oft auf
persönliche Kontakte zu Arbeitsberatern angewiesen. Außerdem kam es vor, dass Teilnehmer
ohne Eignung und Motivation Umschulungen
zugewiesen wurden, nur um Plätze zu belegen.
Das alte System bot jedoch andererseits eine
hohe Planungssicherheit für alle Beteiligten.
Die Arbeitsverwaltung konnte ihre Ausgaben
für den Bereich gut steuern und Maßnahmen
gezielt auswählen, denn die Weiterbildungsangebote und deren Qualität waren bekannt.
Die Bildungsträger konnten ihr Angebot langfristig planen. Arbeitsuchende konnten sicher
sein, dass ihre Maßnahme stattfindet.
Mit dem Ziel, einen freien Wettbewerb in
der Förderung beruflicher Weiterbildung
(FbW) zu schaffen, wurden 2003 Bildungsgutscheine eingeführt. Die Vermittlungsfachkräfte
geben seitdem lediglich Gutscheine mit definierten Bildungszielen aus und die Empfänger
suchen sich selbst eine Maßnahme. Konkrete
Empfehlungen dürfen die Vermittler nicht
abgeben. Die Bildungsträger müssen ihre
Einrichtung und die einzelnen Maßnahmen
von unabhängigen Stellen kostenpflichtig
zertifizieren lassen und im Wettbewerb mit
anderen Einrichtungen Teilnehmer gewinnen.
Auch die Aussagen von Weiterbildungsträgern
in den Interviews der Arbeitnehmerkammer
legen nahe, dass seitdem viele Maßnahmen
aufgrund zu geringer Teilnehmerzahlen ausfallen. In den Jobcentern wird oft nach aktueller Haushaltslage entschieden, ob Bildungsgutscheine ausgegeben werden. Da die Kosten
über das Jahr nicht kalkulierbar sind und ein
Teil der ausgegebenen Gutscheine nicht eingelöst wird, schöpfen die Jobcenter gar nicht alle
Mittel aus, die ihnen zur Verfügung stehen
beziehungsweise die sie für die Förderung
beruflicher Weiterbildung eingeplant hatten.3
Auch in den Interviews mit der Arbeitnehmerkammer äußerten sich Vertreter der Jobcenter
zu diesen Steuerungsproblemen.
Diese Steuerungsproblematik erweist sich
derzeit als schwerwiegend, da Mittelkürzun-
47
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 1: Entwicklung der Eintritte in berufliche Weiterbildung
mit Abschluss (2000–2011)
Bemen
480
630
2010
375
172
200
622
194
300
309
400
584
532
346
500
323
Eintritte
600
2009
628
604
662
2001
706
749
682
700
2000
800
783
823
SGB II
900
100
2011
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
0
Bremerhaven
SGB II
450
400
350
120
114
80
82
2010
2011
79
59
101
71
93
2008
66
77
75
2005
50
2007
94
100
2004
150
104
112
186
155
200
233
250
227
300
Eintritte
2009
2006
2003
2002
2001
0
2000
gen in der Arbeitsförderung das Weiterbildungssystem zusätzlich destabilisieren. Innerhalb von zehn Jahren erlebt es bereits die zweite Trockenperiode. Schon 2003 wurde gleichzeitig mit Einführung der Gutscheine der
Mittelfluss gedrosselt und in den Jahren der
Krise und Konjunkturprogramme 2008 bis
2010 wieder aufgefüllt. Seit 2011 greift das
Sparpaket der Bundesregierung. Die drastischen Einschnitte von einem Viertel des Budgets von 2010 auf 2011 und weitergehenden
Kürzungen in den Folgejahren stehen in keinem Verhältnis zur Entwicklung der Erwerbslosigkeit (vgl. Beitrag Arbeitsmarktpolitik:
Kürzungen und neue Instrumente als doppelte
Herausforderung, S. 40 ff.). Die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II
ist nämlich in demselben Zeitraum in Deutschland nur um sechs Prozent, in Bremen und
in Bremerhaven nur um drei beziehungsweise
vier Prozent (von 53.620 auf 51.928 bzw. von
15.158 auf 14.527) gesunken.4 Die Schwankungen in den förderpolitischen Entscheidungen
sind unabhängig vom Bedarf, bezogen auf die
Zahl der erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-IIBezieherinnen und -Bezieher. Die Kürzungen
der Bundesmittel passen außerdem nicht zu
den Bekundungen der Politik, dass die Qualifizierung von Fachkräften volkswirtschaftlich,
sozial- und bildungspolitisch eins der wichtigsten Anliegen unserer Zeit sei. Es sei denn,
die Politik identifiziert die potenziellen Fachkräfte kaum mehr unter den Erwerbslosen.
Als Folge der Kürzungen hat sich von 2010
auf 2011 die Zahl der Eintritte in der Stadt Bremen nicht nur bei den abschlussbezogenen
Maßnahmen, sondern bei allen Weiterbildungen mehr als halbiert, insgesamt von 4.050
auf 1.749 Eintritte. In Bremerhaven sind die
gesamten Eintritte zwischen 2009 und 2011
von 891 auf 635 zurückgegangen. Doch die Förderung von abschlussbezogenen Maßnahmen
(siehe Abbildung) ist gestiegen, da dieser
Bereich in Bremerhaven aufgebaut werden
soll, während die bisher dominante Förderung
von Arbeitsgelegenheiten abgebaut wird.
Quelle: Statistikservice der Bundesagentur für Arbeit; Eintritte Jahressumme; eigene Darstellung
Obwohl in Bremen ein im Bundesländervergleich hoher Anteil der Mittel für berufliche
Weiterbildung verwendet wird, lösen die
Schwankungen regelrechte Umwälzungen in
der Bildungsinfrastruktur aus. Auch einige bremische Bildungsträger äußerten in Interviews
2011 Befürchtungen vor drohendem
Personalabbau und Standortschließungen.
Mit den Hartz-Reformen wurde das Primat
der schnellen Vermittlung handlungsleitend
für die Kundenbetreuung im Jobcenter. Dies
prägt das Prinzip des Forderns, indem die
4 Vgl. Der Senator für
Wirtschaft, Arbeit und
Häfen: Informationen
zum Arbeitsmarkt –
Dezember 2011, S. 21
(Entwicklung September
2011 im Vergleich
zum Vorjahresmonat)
www.arbeit.bremen.de/
sixcms/media.php/13/
AM%20%20%20SGB%20
II-Bericht_2011_12.pdf
48
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind
neue Maßnahmeformen geschaffen worden,
bei denen eher das Fordern als die
Qualifizierung im Mittelpunkt steht.
5 Vgl. Kruppe, Thomas:
Bildungsgutscheine in
der Aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sozialer Fortschritt 1/2009, S. 13.
6 Bosch, Gerhard: Berufliche Weiterbildung in
Deutschland 1969 bis
2009: Entwicklung und
Reformoptionen. In:
Arbeitsmarktpolitik in der
sozialen Marktwirtschaft:
vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III.
VS-Verlag, S. 99 f.
7 Vgl. Kruppe, Thomas:
Bildungsgutscheine in
der Aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sozialer Fortschritt 1/2009, S. 10 f.
8 wbmonitor Umfrage
2011: Weiterbildungsanbieter im demographischen Wandel, S. 6 f.
www.bibb.de/dokumente/pdf/wb_monitor_
umfrage_2011_
koscheck_schade.pdf
Zumutbarkeitsschranken zur Aufnahme unterwertiger Beschäftigung in der Vermittlung
gefallen sind. Damit wird für formal Qualifizierte der Zugang zu beruflichen Arbeitsmärkten oft abgeschnitten und für Geringqualifizierte kein Zugang ermöglicht. Die Förderstatistik im Gegenzug zeigt den deutlichen
Trend zu kürzeren Weiterbildungen, Trainings
oder Aktivierungsmaßnahmen und die Abkehr
von abschlussbezogenen Qualifizierungen.5
Das ist die Folge der arbeitsmarktpolitischen
Wende weg von vorausschauender Weiterbildung hin zur Qualifizierung als schneller
Vermittlungshilfe.
In den 1970er-Jahren wurden sogar Anreize
zur Weiterbildung gesetzt, um Aufstiege zu
ermöglichen und unterwertige Beschäftigung
zu vermeiden. In den 1980er- und Anfang der
1990er-Jahre wurde ›auf Vorrat‹ qualifiziert.
Diese Ansätze zur Prävention von Langzeitarbeitslosigkeit einerseits und Fachkräfteengpässen andererseits sind in der Arbeitsförderung stark zurückgedrängt worden.6 Mit Einführung der Bildungsgutscheine wurden die
Arbeitsagenturen angewiesen, nur bei einer
hohen Eingliederungswahrscheinlichkeit
von 70 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt zu
fördern. 2005 wurde diese Regelung zwar
gelockert, jedoch sind die Verbleibsquoten
immer noch ausschlaggebend für die Förderung. Bildungsträger müssen im Anschluss an
Maßnahmen den Verbleib von Teilnehmenden
dokumentieren.
Inzwischen konnte durch verschiedene Studien nachgewiesen werden, dass Erwerbslose mit
schlechten Vermittlungschancen, wie Geringqualifizierte, Ältere oder Langzeitarbeitslose,
seltener durch Bildungsgutscheine gefördert
werden. Die erste Auslese zugunsten arbeitsmarktnaher Kunden passiert in der Gutscheinausgabe durch Vermittlungsfachkräfte, dies
bestätigten auch Rückmeldungen von Vermittlern in Bremen.7 Die zweite Auslese betreiben
die Bildungsträger, die ebenfalls ein hohes
Interesse daran haben, sichere Kandidaten in
ihre Maßnahmen aufzunehmen. Weiterbildungsträger haben in Umfragen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) gleich nach
Einführung des Gutscheinsystems bestätigt,
dass gezielt ›gute‹ Bewerberinnen und Bewerber für Maßnahmen ausgewählt werden.
Auf die Ausgrenzung von arbeitsmarktfernen
Menschen hat man in den vergangenen Jahren
mit dem Programm Initiative zur Flankierung
des Strukturwandels (IFlaS) zur Förderung
des Erwerbs von Berufsabschlüssen von arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten
Arbeitnehmern reagiert. Damit stellen sich
auch die Bildungsträger wieder etwas mehr
auf die Qualifizierung von Un- und Angelernten ein.8 Von einem wesentlich verbesserten
Angebot ist aufgrund der Mittelkürzungen
dennoch nicht auszugehen.
Aufgrund der arbeitsmarktpolitischen
Vorgaben sind Barrieren in der Qualifizierungsförderung also systematisch erhöht und
das Angebot verengt worden.
Mit dem Trend zu kurzen Trainings sind
neue Maßnahmeformen geschaffen worden,
bei denen eher das Fordern als die Qualifizierung im Mittelpunkt steht. Dazu gehören
neben Maßnahmen zur Kenntnisvermittlung
und Eignungsfeststellungen für Berufsbereiche
49
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
auch Bewerbercenter und sogenannte Kombinationsleistungen mit einer Mischung aus
Profiling, Bewerbungstraining, Praktikum und
einer Art ›Vermittlungscoaching‹. Seit 2009
werden diese Formen in dem Instrument
›Maßnahmen zur Aktivierung und Wiedereingliederung‹ zusammengefasst. Die entsprechenden, hochstandardisierten Maßnahmen
bei Bildungsträgern kauft die Arbeitsverwaltung vor Ort über Ausschreibungen ein. Diese
Ausschreibungen werden in der Regel nicht
vom Jobcenter, sondern vom Regionalen Einkaufszentrum der Regionaldirektion der
Bundesagentur für Arbeit in Hannover abgewickelt. Die angesetzten Kostensätze liegen
zum Teil unter zwei Euro pro Teilnehmerstunde. Sie werden von Trägern, die sich auf diese
Angebote spezialisiert haben, oft noch unterboten. Die Qualität ist bei vielen Aktivierungsmaßnahmen dementsprechend gering. Auch
die Bildungsträger berichteten im Rahmen
der Studie von einem Unterbietungswettbewerb in diesem Bereich, aus dem sich ›seriöse‹
Anbieter zunehmend zurückziehen. Erwerbslose äußerten in den Interviews frustrierende
Erfahrungen in ihnen sinnlos erscheinenden
Trainingsmaßnahmen. Die Vermittler weisen
Arbeitsuchende zu und belegen die Nichtteilnahme mit einer Sanktionsdrohung. Häufig soll lediglich die Verfügbarkeit der Arbeitslosen überprüft werden. Diese Aktivierungspraxis folgt dem seit den Hartz-Reformen
gängigen Bild von Arbeitslosen mit mangelnder Arbeitsmoral oder Arbeitsunfähigkeit.
Das Bild von trägen und inkompetenten
Arbeitslosen ist bereits fest etabliert. Wissenschaftliche Studien belegen jedoch unter
Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfängern eine ausgeprägte Erwerbsorientierung
sowie hohe Konzessionsbereitschaft hinsichtlich der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.9
Auch die Interviews mit Teilnehmern von
Maßnahmen in Bremen und Bremerhaven
bestätigten, dass die Erwerbschancen in den
Motiven für eine Weiterbildung noch vor
persönlichen Interessen rangieren. Die meisten
Erwerbslosen haben zudem wechselvolle
Erwerbs- und Lebensverläufe und ruhen sich
keinesfalls in der ›sozialen Hängematte‹ aus.
Resignation lässt sich nur bei einer geringen
Zahl von älteren und gesundheitlich beeinträchtigen Menschen ausmachen. Dennoch
hält sich das Klischee und prägt weiterhin die
Nutzung von Förderinstrumenten.
In den Jahren 2012 und 2013 werden in
Bremen und Bremerhaven Pläne für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen erstellt.
Dabei sollen regionale Spielräume innerhalb
des vorgegebenen Systems genutzt werden.
Im Jobcenter Bremerhaven haben die Bildungsträger inzwischen die Möglichkeit, auf einer
Messe Erwerbslosen und Vermittlern ihre
Angebote vorzustellen. Die Arbeitsverwaltung
in Bremen-Stadt plant, im ersten Halbjahr
2013 bereits 65 Prozent der Eintritte in
FbW-Maßnahmen zu realisieren, um nach
Ende des Haushaltsjahres weniger Bundesmittel ›verschenken‹ zu müssen. Die Arbeitnehmerkammer wird in diesem Jahr einen
genauen Bericht mit den Auswertungen
der Förderstatistik und ihrer qualitativen
Studie mit Interviewausschnitten vorlegen.
9 Vgl. IAB-Kurzbericht
15/2010: ALG-II-B
ezug ist nur selten
ein Ruhekissen
www.doku.iab.de/
kurzber/2010/kb1510.
pdf; Brenke, Karl: Fünf
Jahre Hartz IV – Das
Problem ist nicht die
Arbeitsmoral; in: DIWWochenbericht 6/2010,
S. 10 ff.; Mayrhofer et
al.: Auf der Suche nach
der verlorenen Arbeit.
UVK 2009, S. 172 ff.
50
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Handlungsfelder für eine regionale
Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik
❚ Für eine Neujustierung seiner Arbeitsmarktpolitik
braucht das Land Bremen eigene Mittel. Das Arbeitsmarktprogramm des Landes, das ›Beschäftigungspolitische Aktionsprogramm‹ (BAP), wird nahezu
ausschließlich aus Mitteln des Bundes und der EU
finanziert. Deshalb dominieren die beiden großen
Mittelgeber seine Ausgestaltung mit ihren zentralistisch vorgegebenen Zielen und Instrumenten. Der
regionalen Arbeitsmarktpolitik kann es in diesem
engen Korsett kaum gelingen, auf die spezifischen
Probleme vor Ort die passenden Antworten zu finden. Hinzu kommt, dass Bund und EU ihre Mittel
immer weiter zurückfahren. Die Bundesregierung
setzt ihre Kürzungspolitik in der Arbeitsförderung
fort und auch für die ab 2014 beginnende neue Förderperiode des ESF ist mit einem drastisch verringerten Volumen zu rechnen. Sicherlich kann das
Land diese wegbrechenden Fördermittel nicht kurzerhand kompensieren. Landesmittel könnten im
BAP aber gezielt und punktuell investiert werden,
um programmatische Schwerpunkte zu setzen.
❚ Auch die neue Förderperiode von ESF und EFRE
bietet Chancen für die strategische Neujustierung
der Landesarbeitsmarktpolitik. Das ESF-Programm
des Landes Bremen sollte sich wie bisher auf Arbeitsförderung konzentrieren und sich dabei stärker
auf soziale Teilhabe, auf die Begleitung erwerbsbiografischer Übergänge, auf Beschäftigungsqualität
und auf nachhaltige Beschäftigungssicherheit konzentrieren.
❚ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die
Arbeitsmarktpolitik setzt der Bund, die programmatische Ausrichtung bestimmt die Region. In Bremen
und Bremerhaven können die Kommunen stärker
als bisher die Schwerpunktsetzungen der Arbeitsmarkt- und Integrationsprogramme der Jobcenter
akzentuieren. Regionale Spielräume, wie die seit
April 2012 bestehende Möglichkeit, berufliche
Weiterbildungsmaßnahmen zu beauftragen, sollten
genutzt werden, um einzelne Zielgruppen besser
zu erreichen. Die Kooperation von Bildungsträgern
und Arbeitsverwaltung sowie der Bildungsträger
untereinander muss hierfür verbessert werden.
51
❚ Die Arbeitsfördermittel, die vom Bund zur Verfügung gestellt werden, müssen ausgeschöpft werden,
solange es im Land Bremen Förderbedarfe gibt.
Die Sozialministerkonferenz forderte, dass Restmittel
in das nächste Haushaltsjahr übertragen werden
können. Die Landesregierung sollte dieser Forderung
Nachdruck verleihen. Im Bund muss man sich
dafür einsetzen, dass hohe Haushaltsschwankungen
im Haushalt der Agentur vermieden werden, da
diese Bildungsinfrastrukturen gefährden und Bedarfe von Arbeitslosen angesichts der Budgetvorgaben
nachrangig werden.
❚ Das Modellprojekt ›Joboffensive‹ sollte differenziert
ausgewertet werden. Dabei ist nicht nur die Zusätzlichkeit und Qualität der Arbeitsmarktintegrationen
zu hinterfragen, sondern auch die Wirkungen
abseits vom schnellen Vermittlungsgeschäft. Zu
befürchten ist, dass nachhaltige Förderstrategien
wie berufliche Weiterbildung zugunsten der
schnellen Vermittlung zurückgehen. Zu befürchten
ist auch, dass die Chancen auf Teilhabe und Integration für die Gruppen sinken, die nicht als ›marktnah‹ gelten.
❚ Insgesamt gilt, dass Qualifizierungsangebote
sozial- und arbeitsmarktpolitisch vorrangig sind.
Evaluationen des Instruments ›Förderung beruflicher Weiterbildung‹ (FbW) zeigen, dass längerfristige und abschlussbezogene Maßnahmen
nachhaltige Integration, verbesserte Einkommenschancen und Aufstiege ermöglichen.
❚ Individuelle Förderung erfordert eine Anpassung
der Maßnahmen an die Lebensumstände und (Vor-)
Qualifikationen der Teilnehmenden. Unterstützung
in Form von kursbegleitenden Hilfen sollte verstärkt
angeboten werden. Förderketten müssen für die
›marktfernen‹ Zielgruppen über längere Zeiträume
ineinandergreifen.
❚ Die Zahl der Kunden pro Vermittlungsfachkraft
sollte reduziert werden – nicht nur im Rahmen
der Joboffensive, nicht nur für ›marktnahe‹ Kunden
und nicht zulasten des Budgets für Fördermaßnahmen. Eine verbesserte Betreuungsrelation
ist wichtig, da gerade bei intensiven Betreuungsbedarfen Integrationsfortschritte und die Auswahl
geeigneter Fördermaßnahmen von der Intensität
und Qualität der Beratungsgespräche abhängt.
52
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Ausbildung in Bremen und Bremerhaven
Noch immer gehen zu viele verloren
REGINE GERAEDTS
Viele erwarten eine Wende am Ausbildungsmarkt. In der öffentlichen Diskussion werden
inzwischen eher der demografische Wandel,
Nachwuchsmangel und Besetzungsengpässe
thematisiert als die mangelnden Ausbildungschancen von Jugendlichen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Jedes Jahr aufs Neue
suchen junge Menschen vergeblich nach
einem passenden Ausbildungsplatz. Die Folge:
Mehr als jeder fünfte junge Erwachsene zwischen 20 und 29 Jahren im Land Bremen bleibt
ohne Berufsabschluss.1 Dieser hohe Anteil
hält sich konstant seit vielen Jahren, denn die
betroffene Altersgruppe wird beständig von
unten mit jüngeren Jahrgängen aufgefüllt.
Ausbildungsnachfrage der Bremer
Jugendlichen bleibt stabil
1 Vgl. Vorlage Nr. 18/274L für die Sitzung der
staatlichen Deputation
für Wirtschaft, Arbeit
und Häfen des Landes
Bremen am 28.
November 2012.
2 Wenn nicht anders
vermerkt, vergleiche zu
allen Daten das Zahlenmaterial der ›Bremer
Vereinbarung‹ für das
Jahr 2012 in der Fassung vom 29.01.2013.
Die Ausbildungsinteressierten in der Region
werden nicht weniger. Im Land Bremen werden für die nächsten Jahre etwa konstante
Schulabgangszahlen prognostiziert.2 Im Jahr
2012 sorgte der doppelte Abiturjahrgang sogar
für einen statistischen Ausschlag nach oben,
insgesamt 9.121 Schulabsolventinnen und
Schulabsolventen wurden gezählt. Sie sind die
potenziellen Auszubildenden. Hinzu kommen
die jungen Menschen, die in den Vorjahren
keinen Erfolg bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz hatten. Allein 2.473 junge Frauen
und Männer waren als sogenannte ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹ statistisch erfasst.
Die tatsächliche Anzahl liegt darüber.
Der Ausbildungsmarkt in Bremen ist außerdem geprägt von engen Pendlerverflechtungen
mit dem Umland. Deshalb bewerben sich
junge Bremerinnen und Bremer zusammen
mit zahlreichen Interessierten aus Niedersachsen um die Lehrstellen vor Ort. Im Jahr 2012
meldeten bremische Betriebe 2.467 neue
Ausbildungsverträge mit Jugendlichen aus
dem Umland, das entspricht 40 Prozent. Der
Druck auf den Bremer Ausbildungsmarkt ist
demnach deutlich stärker, als die oft zitierte
Angebots-Nachfrage-Relation abbilden kann.
Ausbildungsangebot
reicht nicht für alle aus
Die offizielle Statistik der Agentur für Arbeit
gewährt einen ersten Blick auf den Ausbildungsmarkt im Land Bremen. 4.485 Bewerberinnen und Bewerber waren 2012 hier registriert. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Plus
von 1,1 Prozent, in Bremerhaven sogar von
8,1 Prozent. Gleichzeitig waren 4.672 Ausbildungsstellen gemeldet. Das entspricht einem
Minus von 6,7 Prozent. Trotz dieser gegenläufigen Entwicklung von Nachfrage und Angebot
scheint das Verhältnis auf den ersten Blick günstig. Doch der Schein trügt. Denn die Statistik
der Bundesagentur für Arbeit zeigt nur einen
kleinen Ausschnitt des Geschehens. Es suchen
nämlich längst nicht alle Jugendlichen dort
Beratung und längst nicht alle Ausbildungsbetriebe lassen ihre Lehrstellen registrieren.
Aussagekräftigere Daten bietet die Statistik
über die tatsächlich abgeschlossenen Ausbildungsverträge. Im Jahr 2012 waren das 6.209
und damit 1,3 Prozent weniger Verträge als im
Vorjahr. Die 82 verlorenen Ausbildungsplätze
gingen allesamt in die Negativbilanz der Stadt
Bremen ein. Mag der Ausbildungsplatzverlust
in anderen Bundesländern auch größer gewesen sein, so ändert das nichts an der negativen
Entwicklung. Besonders bedenklich ist der
Trend bei den mit Abstand wichtigsten Anbietern, den Mitgliedern von Handels- und Handwerkskammern. Dort stagnierten die Vertragsabschlüsse oder gingen gar zurück. Die einzige
Ausnahme war die Handwerkskammer Bremerhaven, deren Mitglieder 21 Ausbildungsverträge mehr abschlossen als im Vorjahr. Auch der
53
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
öffentliche Dienst gehört zu den dualen Ausbildern und könnte mit seinen Lehrstellen
negative Marktentwicklungen zumindest symbolisch korrigieren. Prozentual führte er aber
2012 das Ranking beim Ausbildungsplatzabbau mit einem Minus von 8,2 Prozent an.
Es gibt Berufsgruppen, die bis heute nicht
im dualen, sondern ausschließlich im Schulberufssystem erlernt werden können. Der
Schwerpunkt liegt bei den Erziehungs- und
Gesundheitsberufen und damit in Bereichen
mit expandierender Fachkräftenachfrage.
Doch auch im Schulberufssystem ist das Platzangebot zurückgegangen. 1.307 schulische
Erstausbildungsplätze wurden im Jahr 2012
im Land Bremen besetzt, im Vorjahr waren
es 1.280.3
Die Gesamtbilanz für das Jahr 2012 ist
also negativ: Die potenzielle und registrierte
Ausbildungsnachfrage ist gestiegen, das Angebot ist dagegen rückläufig. Weder die gute
Konjunktur im vergangenen Jahr noch die
Diskussionen über den erwarteten Fachkräftemangel haben Impulse für eine Ausweitung
des Ausbildungsangebots gesetzt.
Beste Bildungsvoraussetzungen bei
Bewerberinnen und Bewerbern – unbesetzte Ausbildungsstellen bei Betrieben
Den Erfolg von Bewerberinnen und Bewerbern
können wir für die Menschen nachvollziehen,
die bei der Agentur für Arbeit gemeldet
sind. Von den 4.485 dort registrierten jungen
Menschen hatte lediglich gut ein Drittel am
Ende einen Ausbildungsvertrag in der Tasche
(1.584 Jugendliche). Zusätzlich erhielten
358 junge Menschen mit Benachteiligungen,
Lernschwächen oder Behinderungen einen
öffentlich geförderten außerbetrieblichen
Ausbildungsplatz. In Bremen-Stadt war dieser
Anteil geringer als in Bremerhaven (BremenStadt 6,3 Prozent, Bremerhaven 11,8 Prozent).
Zum Stichtag am 30.09. wurden noch insgesamt 135 junge Menschen als sogenannte
›unversorgte Bewerberinnen und Bewerber‹
gezählt. Sie hatten also weder eine Ausbildung
begonnen noch ein Alternativangebot beispielsweise im Übergangssystem gefunden und
hatten selbst zwei Monate nach Beginn des
Ausbildungsjahres die aktive Suche noch nicht
aufgegeben. Auffallend war die Situation in
Bremerhaven. Dort stieg die Zahl der ›Unversorgten‹ im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent, in Bremen-Stadt waren es 40 Prozent.
Immer wieder ist zu hören, der Grund für
den Misserfolg am Ausbildungsmarkt seien
schlechte Bildungsvoraussetzungen. Es lohnt
deshalb ein Blick auf die Bildungsstruktur der
Bewerberinnen und Bewerber. Nach der Statistik der Agentur für Arbeit4 brachten die
meisten jungen Frauen und Männer 2012 gute
bis beste Voraussetzungen für eine duale Ausbildung mit. Der Anteil der Bewerberinnen
und Bewerber ohne Schulabschluss war verschwindend, Hauptschulabsolventinnen und
-absolventen machten ein Viertel aus. Die
meisten brachten den Realschulabschluss mit.
Fast ebenso viele können mit der Fachhochschul- oder der Hochschulreife aufwarten. Insgesamt verfügten gut 70 Prozent über einen
mittleren oder höheren Schulabschluss. Mit
2.473 jungen Menschen gehörte etwas mehr
als die Hälfte der bei der Agentur für Arbeit
beratenen Ausbildungsinteressierten zur
Gruppe der ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹. Auch bei diesen schon im Vorjahr erfolglosen jungen Menschen waren die schulischen
Bildungsvoraussetzungen überwiegend gut.
Etwas mehr als je ein Drittel verfügte über den
Hauptschulabschluss oder die mittlere Reife
und ein Viertel über die (Fach-)Hochschulreife.
Mangelnde schulische Bildung scheint als
Hauptursache für das Scheitern beim Übergang in Ausbildung demnach auszuscheiden.
3 Entsprechend des
Korrekturhinweises der
Bremer Vereinbarung,
der dort leider nicht im
Zahlenmaterial berücksichtigt wurde, wird hier
die Ausbildung zum
Erzieher/zur Erzieherin
nicht zu den Erstausbildungen gezählt (287
Plätze). Als Erstausbildung wurde sie mit dem
Schuljahr 2012/2013
durch den zweijährigen
Bildungsgang ›Sozialpädagogische Assistenz‹ (121 Plätze)
ersetzt und ist seitdem
als berufliche Weiterbildung definiert.
4 Vgl. Bundesagentur
für Arbeit, Arbeitsmarkt
in Zahlen, Ausbildungsstellenmarkt, September 2012.
54
B ER IC H T ZU R L AGE 2012
Insgesamt 234 Lehrstellen blieben offen.
Dabei gingen die Entwicklungen in den beiden
Kommunen deutlich auseinander.
5 Vgl. Ebbinghaus/ Loter:
Besetzung von Ausbildungsstellen; welche
Betriebe finden die
Wunschkandidaten –
welche machen Abstriche bei der Bewerberqualifikation – bei
welchen bleiben Ausbildungsplätze unbesetzt?
Hrsg.: Bundesinstitut
für Berufsbildung
(BIBB), 2010.
6 Vgl. Bildungsberichterstattung für das Land
Bremen Bd. 1, Bildung
– Migration – soziale
Lage. Hrsg.: Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, 2012, S. 222 f.
7 Vgl. Modellprojekt
Jugend stärken:
Aktiv in der Region,
Bestandsaufnahme in
Bremen, Oldenburg,
Februar 2012.
Auch die Zahl der als unbesetzt gemeldeten
Ausbildungsplätze nahm zu, und zwar im
Land Bremen um knapp ein Drittel. Insgesamt
234 Lehrstellen blieben offen. Dabei gingen
die Entwicklungen in den beiden Kommunen
deutlich auseinander. In Bremen-Stadt war
die Steigerung mit 70 Prozent erheblich, in
Bremerhaven konnten dagegen die meisten
bei der Agentur für Arbeit registrierten Ausbildungsstellen besetzt werden.
Die Situation erscheint paradox: Auf der
einen Seite bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt, auf der anderen Seite suchen ausbildungsinteressierte Jugendliche vergeblich eine
Lehrstelle. Tatsächlich gehört dieses Phänomen
in begrenzten Größenordnungen zum Marktgeschehen und das Grundrecht auf Berufswahlfreiheit verlangt geradezu nach einem
Überhang auf der Angebotsseite.
Zieht man für das Ausbildungsjahr 2012 die
Daten über die tatsächlich abgeschlossenen
Ausbildungsverträge zurate, fallen die beachtlichen Rückgänge im Hotel- und Gaststättengewerbe auf. Jeder fünfte Ausbildungsplatz
ist hier gegenüber dem Vorjahr nicht besetzt
worden (- 90 Plätze). Die Branche steht wegen
ihrer Arbeitsbedingungen, der schlechten
Bezahlung und schließlich der Ausbildungsqualität immer wieder öffentlich in der Kritik.
Mit einer Minijobquote von etwa 50 Prozent
bietet sie jungen Menschen kaum Zukunftsperspektiven. Ein Teil der Lehrstellenvakanzen
lässt sich also mit mangelnder Ausbildungsattraktivität erklären. Ein anderer relevanter
Erklärungsansatz deutet darauf hin, dass
erfolglose Auswahlverfahren häufig mit
überzogenen Wunschvorstellungen von Betrieben an die Bewerberinnen und Bewerber
einhergehen.5 Auch im Land Bremen gibt es
entsprechende Hinweise, denen nachzugehen
sich lohnt.
Das Übergangssystem –
verwirrende Angebotsvielfalt und
intransparente Entwicklung
Der Bildungsbericht des Landes Bremen zeigt,
dass nur gut jeder fünfte Jugendliche direkt
aus der allgemeinbildenden Schule in die
duale Berufsausbildung wechselt. Dagegen
gehen 43,2 Prozent (in Bremen-Stadt 39,3
Prozent und in Bremerhaven 58,2 Prozent) in
das sogenannte Übergangssystem.6 Etwa 3.300
Plätze im Übergangssystem wurden 2012
öffentlich finanziert. Weshalb es bremischen
Schulabgängerinnen und Schulabgängern so
vergleichsweise selten gelingt, direkt in Ausbildung einzumünden, und was die Ursachen
misslingender Übergänge sind, bleibt eine offene Frage. Auch wissen wir nichts darüber, wie
viele Jugendliche ganz ›verloren gehen‹. Allein
die Agentur für Arbeit verzeichnet in ihrer
Statistik 2012 mehr als 1.000 Jugendliche, über
deren Verbleib nichts bekannt ist. Nach vielen
Jahren manifester ›Ausbildungskrise‹ fehlen
belastbare regionale Daten, überzeugende
Erklärungsansätze und Analysen über die
tatsächlichen Bedarfe. So bleibt auch unklar,
ob die bestehenden Übergangsangebote
überhaupt passen. Selbst Expertinnen und
Experten fällt es schwer, sich einen Überblick
zu verschaffen.7
Politisch gewollt ist im Land Bremen der
Vorrang von Ausbildung. Alle Akteure sind
sich einig, dass das Übergangssystem zugunsten von Berufsausbildung abgebaut werden
soll. Dieser Abbau ist im vollen Gange –
währenddessen im Hintergrund das Ausbildungsplatzangebot ebenso zurückgeht wie
die öffentlichen Finanzierungsmittel.
So sind die über Bundesmittel geförderten
Maßnahmen der Agentur für Arbeit allesamt
rückgängig (-3,3 Prozent). Bei der Einstiegsqualifizierung ist etwa jeder zehnte Platz entfallen. Dabei hatte die ›Bremer Vereinbarung‹
für dieses Instrument den Ausbau verabredet.
Denn es erreicht überproportional viele
55
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 1: Struktur der Bewerberinnen und
Bewerber bei der Agentur für Arbeit nach
Bildungsvoraussetzungen im Land Bremen
2012
Anteil an allen
Bewerberinnen
und Bewerbern
in Prozent
alle Bewerberinnen und Bewerber
ohne Hauptschulabschluss
25
0,6
Hauptschulabschluss
1.220
27,2
Realschulabschluss
1.590
35,5
Fachhochschulreife
826
18,4
allgemeine Hochschulreife
687
15,3
unversorgte Bewerberinnen und Bewerber
ohne Hauptschulabschluss
0
0
Hauptschulabschluss
33
24,4
Realschulabschluss
31
23,0
Fachhochschulreife
38
28,1
allgemeine Hochschulreife
30
22,2
Struktur der ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹
alle ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹
14
0,5
Hauptschulabschluss
835
33,8
Realschulabschluss
888
35,9
Fachhochschulreife
368
14,9
allgemeine Hochschulreife
236
9,5
ohne Hauptschulabschluss
unversorgte ›Altbewerberinnen und Altbewerber‹
0
0
Hauptschulabschluss
26
35,6
Realschulabschluss
20
27,4
Fachhochschulreife
17
23,3
7
9,6
ohne Hauptschulabschluss
allgemeine Hochschulreife
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit,
Ausbildungsstellenmarkt im September 2012
Übergänge in duale Ausbildung (Übergangsquote 58,9 Prozent) und in Kombination mit
dem Berufsschulbesuch und der Anrechenbarkeit auf eine folgende Ausbildung ist gerade
die Einstiegsqualifizierung keine Warteschleife. Anlass zur Sorge ist auch der drastische
Rückgang von außerbetrieblicher Ausbildung.
Das Instrument gehört zwar nicht im eigentlichen Sinn zum Übergangssystem, verdient
aber deshalb Beachtung, weil es besonders
benachteiligten Jugendlichen einen Ausbildungsabschluss ermöglicht. In zwei Kürzungsrunden wurden die Plätze innerhalb von
zwei Jahren mehr als halbiert.
Im schulischen Übergangssystem hat das
Bildungsressort seine Angebote ebenfalls
abgeschmolzen. Inwieweit das Ziel erreicht
wurde, etwa durch die nun obligatorische
Beratung bei Anmeldung zur berufsvorbereitenden Berufsfachschule mehr Schülerinnen
und Schüler direkt in duale Ausbildung zu
vermitteln, ist bisher nicht veröffentlicht.
Gerade für Jugendliche mit geringen
Chancen macht der Rückbau des Übergangssystems die Situation schwieriger. Zu ihnen
gehören die Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss, die pauschal als
›nicht ausbildungsgeeignet‹ definiert und von
56
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
der Arbeitsagentur in aller Regel noch nicht
einmal als Bewerberinnen und Bewerber
geführt werden. Auch Hauptschulabsolventinnen und -absolventen – im Jahr 2012 immerhin 1.220 Jugendliche – gehören häufig zu den
›Marktverlierern‹. Denn sie müssen sich der
ungleichen Konkurrenz mit vielen Bewerberinnen und Bewerbern mit höheren Schulabschlüssen stellen. Schließlich gibt es ganz
unabhängig vom Bildungsstatus junge Menschen, die sozial unangepasst wirken oder aus
schwierigen Herkunftsfamilien stammen,
Sprachschwierigkeiten haben oder aus einem
anderen Kulturkreis kommen.
Nicht einmal der demografische Wandel
wird ihre Chancen absehbar verbessern. Der
Markt wirkt nicht integrativ, sondern selektiv.
Die Auslesemechanismen nach schulischer
Vorbildung, nach Geschlecht oder Migrationshintergrund sorgen hartnäckig für Ausschlüsse. Solange Unternehmen aber eher auf Nachwuchsförderung verzichten als sich auf junge
Menschen einzulassen, die Unternehmenskulturen vielfältiger machen oder mehr Begleitung brauchen, bleiben viele junge Frauen und
Männer auf systematische Unterstützung angewiesen.
Mehr Ausbildungsplätze schaffen –
Übergangssystem optimieren
Das Übergangssystem ist in der nun schon
Jahrzehnte andauernden Ausbildungskrise als
Alternativangebot für Jugendliche entstanden,
die im ersten Anlauf am Markt scheitern. In
den vergangenen Jahren ist es massiv in die
Kritik geraten: Es schaffe weder Übergänge,
noch habe es System. Als dritte Säule des
Berufsbildungssystems wird es aber solange
gebraucht, bis genügend Ausbildungsplätze
zur Verfügung stehen. Doch es muss sich verändern. Die Instrumente müssen sich an der
Lebenswirklichkeit von Jugendlichen orientieren – nicht umgekehrt. Wer Berufsorientie-
57
rung und Berufsvorbereitung braucht, soll sie
bekommen. Doch wir wissen längst, dass diese
standardisierten Übergangswege nicht für
alle passen. Die vielfältigen Lebenssituationen
junger Menschen machen es nötig, vielfältige
Wege zu eröffnen. Der Übergang in Ausbildung muss vorrangig sein und da, wo er nicht
gelingt, muss die Abschlussorientierung in
den Fokus rücken, und sei es in noch so
kleinen Schritten. Am Ende muss für alle, die
wollen, ein Berufsabschluss stehen.
In diesem Sinne ist die Berufseinstiegsbegleitung ein neues Instrument, das bundesweit
modellhaft bis 2014 erprobt wird. Dieser
individuelle und institutionenübergreifende
Ansatz setzt neue Impulse und verspricht
interessante Erkenntnisse. Seit dem 1. Oktober
2012 entwickelt ein Pilotprojekt in BremenNord das Konzept für einen ›Bremer Weg‹
für die Einstiegsbegleitung. Über Umsetzung,
Ausstattung und Qualitätsstandards wird
weiter zu diskutieren sein.
Die oberste Priorität bleibt aber: Endlich mehr
Ausbildungsplätze schaffen! Die ›Bremer Vereinbarung‹, der auch die Arbeitnehmerkammer angehört, hat sich diesem zentralen Ziel
verpflichtet. Dennoch lässt sich seit der Erstunterzeichnung im Jahr 2008 im Land Bremen
ein Rückgang der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge von insgesamt 5,1 Prozent feststellen. Zuletzt bildeten nur 24,1 Prozent mit
leicht rückläufiger Tendenz aus.8 Es ist also
nicht gelungen, die Ausbildungsplatzlücke zu
schließen.
Denn am Ende bleibt es allein der Entscheidung von Unternehmen überlassen, wie viele
Lehrstellen sie schaffen. Bei knapp gehaltenem
Angebot und anhaltend hoher Nachfrage bleiben die Betriebe in der komfortablen Lage, aus
einem großen Bewerberinnen- und BewerberPool auswählen zu können. Auf der anderen
Seite beschränkt das knappe Ausbildungsangebot die Chancen von jungen Erwachsenen, eine
zu ihrem Wunschberuf passende Lehrstelle
zu finden.
8 Vgl. Tabellen zur
jährlichen Erhebung der
neu abgeschlossenen
Ausbildungsverträge
zum Stichtag 30. September des Bundesinstituts für Berufsbildung
(BIBB), abrufbar unter
www.bibb.de/de/
wlk8225.htm
58
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die seit vielen Jahren andauernde Ausbildungskrise hat tiefe Spuren hinterlassen. Im Land
Bremen haben fast 27 Prozent der Erwachsenenbevölkerung zwischen 25 und unter 65 Jahren keinen Berufsabschluss. Das ist bundesweit
der höchste Wert und liegt zehn Prozentpunkte über dem bundesdeutschen Durchschnitt.9
In der Altersgruppe der unter 35-Jährigen ist
der Anteil groß und verfestigt, die Risikolagen
Arbeitslosigkeit und Armut sind für den gesamten Lebensverlauf programmiert. So hatten
im Land Bremen 60,5 Prozent der Arbeitslosen
keinen Berufsabschluss. Das sind 21.723 Menschen. Bei den unter 25-Jährigen waren es sogar 75 Prozent.10 Teile einer ganzen Generation
drohen abgehängt zu werden. Sie brauchen
eine zweite Chance mit Nachqualifizierungsangeboten, die einen Berufsabschluss mit
guten Perspektiven zum Ziel haben.
Ausbildung bleibt die gesellschaftliche Verpflichtung der Arbeitgeber. Solange Wirtschaft
und Verwaltung nicht ausreichend in Nachwuchsförderung investieren, verlieren Klagen
über einen Fachkräftemangel ihre Glaubwürdigkeit.
Handlungsbedarfe – was zu tun ist
9 Vgl. Bildungsberichterstattung für das Land
Bremen Bd. 1, Bildung –
Migration – soziale
Lage. Hrsg.: Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, 2012, S. 62.
10 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit,
Arbeitsmarkt in Zahlen,
Arbeitslose nach
Rechtskreisen, Dezember 2012 und Statistik
der Bundesagentur
für Arbeit, Analyse des
Arbeits- und Ausbildungsstellenmarktes für
unter 25-Jährige in
Bremen, Oktober 2012.
❚ Betriebliche Ausbildungsplätze sind der Kern des
Berufsbildungssystems. Die Arbeitgeber tragen
die besondere gesellschaftliche Verantwortung,
betriebliche Ausbildung sicherzustellen. Sie müssen
deutlich mehr Ausbildungsplätze im dualen System
schaffen. Solange aber nur jedes vierte Unternehmen
ausbildet, Fachkräfte gebraucht werden und
dennoch junge Menschen ohne Ausbildungsplatz
bleiben, ist diese Verantwortung nicht eingelöst.
Die Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe
wird angesichts der fehlenden Plätze und auch
der Quote ausbildender Betriebe wieder aktuell.
❚ Solange nicht alle jungen Menschen mit Ausbildungsplätzen versorgt sind, ist das Übergangssystem nicht überflüssig. Sparanstrengungen dürfen
nicht vor dem Erhalt von sinnvollen Angeboten,
Eigeninteressen nicht vor der passgenauen Weiterentwicklung stehen. Das Übergangssystem muss
optimiert und systematisiert werden. Übergänge
›ins Nichts‹ darf es nicht geben. Da, wo das direkte
Einmünden in Ausbildung nicht gelingt, muss
Abschlussorientierung in den Fokus rücken, und
sei es in noch so kleinen Schritten. Die Erfahrungen
aus dem Modellprojekt ›Berufseinstiegsbegleitung‹
in Bremen-Nord müssen orientiert an diesen Zielsetzungen ausgewertet und bilanziert werden. Ob eine
flächendeckende Einführung des Instruments gelingen kann, wird davon abhängen, ob der gesetzliche
Kofinanzierungsvorbehalt fällt. Dafür sollte sich
das Land Bremen im Bund einsetzen. Bestehende
Angebote wie die Einstiegsqualifizierung oder die
2012 neu eingerichtete ›Dualisierte Berufsfachschule‹
mit hohen Praktikumsanteilen im handwerklichen
Bereich bieten Möglichkeiten zur Anrechenbarkeit
auf Ausbildung. Es ist im Sinne von Jugendlichen
fahrlässig, dass diese Chancen im Land Bremen
kaum genutzt werden.
❚ Auszubildende mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf sollen ebenso wenig allein bleiben
wie Betriebe, die sich ihnen öffnen. Es gibt neue und
bewährte Instrumente zur Unterstützung wie die
Berufseinstiegsbegleitung, die Einstiegsqualifizierung oder auch ausbildungsbegleitende Hilfen.
Sie werden zurzeit gekürzt. Sie müssen stattdessen
ausgeweitet, miteinander verknüpft und koordiniert
an den Lernorten Berufsschule und Betrieb eingesetzt werden. So können auch als schwierig angesehene Jugendliche erfolgreich zum Berufsabschluss
begleitet werden.
❚ Je länger der Schulabschluss zurückliegt, desto
geringer werden die Chancen auf duale Erstausbildung. Im Februar 2013 hat ein Nachqualifizierungsprojekt begonnen, das auf das Instrument
›Externenprüfung‹ setzt. Es ist für eine begrenzte
Gruppe Arbeitsloser geeignet, denen jenseits einer
Erstausbildung und einer klassischen Umschulung
ein dritter Weg zum Berufsabschluss eröffnet werden soll. Das ist ein guter erster Schritt. Er muss
ausgebaut werden, um auch andere Arbeitslose und
nicht zuletzt ungelernte Beschäftigte mit abschlussbezogener Nachqualifizierung erreichen zu können.
59
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Minijobs
Umfassende Reform notwendig
REGINE GERAEDTS
Im Oktober 2012 hat der Deutsche Bundestag
eine ›Minireform‹ für ›Minijobs‹ beschlossen.
Schon im Vorfeld war dadurch die Diskussion
über die sozial- und arbeitsmarktpolitische
Bedeutung geringfügiger Beschäftigung neu
entfacht. Darin wurden immer mehr Stimmen
laut, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln Argumente für eine umfassende Neuordnung der ›kleinen‹ Beschäftigungsverhältnisse
und auch konkrete Reformmodelle einbrachten. Auch die Arbeitnehmerkammer hat sich
mit zwei Expertisen an der Debatte beteiligt.1
Seit Beginn des Jahres 2013 gilt nun die neu
beschlossene gesetzliche Grundlage für Minijobs: Erhöhung der Einkommensgrenze
von bisher 400 auf 450 Euro und verbesserte
Integrationsmöglichkeiten in der Rentenversicherung. Antworten auf die problematischen
Auswirkungen von Minijobs auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liefern diese Veränderungen nicht.
Ein Blick zurück
Im Rahmen der Agenda 2010 und der sogenannten ›Hartz‹-Gesetze wurde 2003 die
geringfügige Beschäftigung grundlegend reformiert. Die Verdienstgrenze wurde damals
auf 400 Euro angehoben, die Beschäftigten
wurden vollständig von Steuern und Sozialabgaben befreit, die Arbeitgeber dagegen mit
Pauschalabgaben von knapp über 30 Prozent
belastet. Für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer entstanden trotz der eingezahlten Beiträge keine nennenswerten Ansprüche
auf Leistungen der Sozialversicherung. Die
steuer- und abgabenfreie Nebenbeschäftigung
wurde im Minijob wieder zugelassen und
schließlich wurde die Limitierung der
Wochenarbeitszeit auf maximal 15 Stunden
aufgehoben, die bis dahin die zeitliche Obergrenze für Geringfügigkeit markiert hatte.
Bei den politischen Zielsetzungen der Reform
stand im Vordergrund, mehr Beschäftigung
im Niedriglohnsektor und Flexibilität
vordringlich für Unternehmen zu schaffen.
Außerdem wurde den Minijobs eine Brückenfunktion für Arbeitslose zugeschrieben,
indem sie den ersten Schritt auf dem Weg in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
darstellen sollten.
Die Bilanz nach zehn Jahren Reform ist bei
Expertinnen und Experten selten einhellig
und gleichzeitig ernüchternd: Minijobs sind
kein guter Einstieg in sozialversicherte Beschäftigung, sie entwickeln eher einen besonders festen ›Klebeeffekt‹.2 Zum Ausbau eines
flexiblen Niedriglohnsektors in Deutschland
haben sie dagegen entscheidend beigetragen.
1 Vgl. Rosenthal, Zehn
Jahre Minijobs: Anhebung der Verdienstgrenze auf 450 Euro weist
in die falsche Richtung –
umfassende Reform
notwendig, Hrsg.:
Minijobs als Massenphänomen
Arbeitnehmerkammer
Bremen, Bremen 2012
und Rosenthal/Kunkel:
Nach der Reform stieg die Zahl der Minijobs
sprunghaft von 4,2 Millionen (2002) auf 5,5
Millionen nach Inkrafttreten des Gesetzes im
Juni 2003 bis auf derzeit knapp 7,3 Millionen
(März 2012). Die größten Zuwächse waren in
den ersten beiden Jahren nach der Reform zu
verzeichnen. Seit 2009 hat sich das Wachstum
zwar abgeschwächt, die Anzahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse liegt seitdem
auf einem stabil hohen Niveau knapp über
sieben Millionen. Der bisher höchste jemals
gemessene Wert war im Dezember 2011 mit
7,5 Millionen Minijobs zu verzeichnen.
Im Land Bremen verläuft die Anstiegskurve
ähnlich steil von 56.000 (2003) auf 70.866
(März 2012). Hier, wie auch bundesweit, übt
ungefähr ein Drittel der Minijobberinnen und
Minijobber die geringfügige Beschäftigung als
Nebentätigkeit aus, während bei ungefähr
zwei Dritteln der Minijob das einzige Arbeitseinkommen darstellt.3
Zehn Jahre Minijobs,
Bilanz und Weiterentwicklungsformen
einer problematischen
Beschäftigungsform,
Hrsg.: Arbeitnehmerkammer Bremen,
Bremen 2012.
2 Vgl. Wippermann,
Carsten: Frauen im
Minijob, Motive und
(Fehl‐)Anreize für die
Aufnahme geringfügiger
Beschäftigung im
Lebenslauf, Berlin 2012.
3 Wenn nicht anders
vermerkt, vergleiche zu
allen Daten Rosenthal/
Kunkel, Zehn Jahre
Minijobs, Bilanz und Weiterentwicklungsformen
einer problematischen
Beschäftigungsform,
Hrsg. Arbeitnehmerkammer Bremen,
Bremen 2012.
60
B ER IC H T ZU R L AGE 2012
Noch immer arbeiten überwiegend Frauen
in diesem Arbeitsmarktsegment. Besonders bei
den ausschließlich geringfügig Beschäftigten
dominieren sie im Bundesdurchschnitt mit
knapp zwei Dritteln, während der Unterschied
zwischen den Geschlechtern bei den Nebentätigkeiten geringer ausfällt (57,1 Prozent
Frauen gegenüber 42,9 Prozent Männern). Der
Trend geht aber längst in eine andere Richtung, denn insgesamt ist der Anstieg des Männeranteils rasanter und das Männer-FrauenVerhältnis gleicht sich kontinuierlich an.
Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung in Berlin. Dort sind 44,7 Prozent aller
geringfügig Beschäftigen Männer. Andere Bundesländer rücken nach. Im Land Bremen hat
der Männeranteil die 40-Prozent-Marke bereits
überschritten.
Minijobs werden bis heute gern als kleine
Zuverdienstmöglichkeit für Hausfrauen
betrachtet. Diesem Randbereich des Arbeitsmarkts sind sie aber längst entwachsen.
Mittlerweile sind sie zu einem Massenphäno-
4 Vgl. ebenda; Stellungnahme Deutscher Rentenversicherungsbund.
5 Vgl. ebenda; Stellungnahme Claudia Weinkopf.
Abb. 1:
Minijobs im Land Bremen
80.000
70.000
60.000
50.000
40.000
30.000
20.000
ausschließlich
Nebenjob
insgesamt
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigung am Arbeitsort,
Bremen und Bremerhaven, Ende Juni 2012
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
0
2003
10.000
men geworden. Etwa jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis ist inzwischen geringfügig,
bundesweit und auch in Bremen. Nach der
sozialversicherten Teilzeitbeschäftigung
sind Minijobs die am stärksten verbreitete
atypische Beschäftigungsform.
Klein ist beim Minijob nur der Verdienst
Die meisten Verdienste im Minijob liegen
unterhalb der bisher gültigen Grenze von 400
Euro. So weist die Bundesagentur für Arbeit
für das Jahr 2009 ein durchschnittliches Entgelt über alle Branchen hinweg von 293 Euro
aus. Das mittlere Einkommen variiert dabei
je nach Wirtschaftsabschnitt zwischen
162 Euro und 344 Euro. Aktuellere Daten
unterstreichen, dass die Rede von ›400-EuroJobs‹ nicht der Realität entspricht. Nur
etwa zehn Prozent der Minijobberinnen und
Minijobber erzielen ein monatliches Einkommen von annähernd 400 Euro.4
Jenseits der Monatsverdienste sind auch die
Stundenlöhne von Minijobberinnen und Minijobber aufschlussreich. Das Institut für Arbeit
und Qualifikation (IAQ) an der Universität
Duisburg-Essen ermittelte auf Stundenlohnbasis für das Jahr 2010 einen Niedriglohnanteil
von 86 Prozent bei geringfügig Beschäftigten.
Das heißt, dass nahezu neun von zehn Minijobberinnen und Minijobber in Westdeutschland Stundenlöhne unter 9,54 Euro und in Ostdeutschland unter 7,04 Euro beziehen. Knapp
die Hälfe verdient dabei unter sieben Euro
und ein Viertel sogar weniger als fünf Euro pro
Stunde. Inzwischen stellen Minijob-Beschäftigte einen Anteil von mehr als einem Drittel
(35,8 Prozent) im Niedriglohnsektor. Er hat
sich seit 1995 verdoppelt. Dabei macht die
Qualifikation der Beschäftigten bei der Bezahlung keinen großen Unterschied. Minijobberinnen und Minijobber ohne Berufsabschluss
tragen zwar das höchste Niedriglohnrisiko,
aber auch von den geringfügig beschäftigten
Akademikerinnen und Akademiker erhielten
61,4 Prozent nur einen Niedriglohn.5
61
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Ein Minijob bietet auch bei vollen Rentenbeiträgen
am Ende immer nur eine Minirente, der Verzicht auf
eigene Beitragszahlungen lässt dagegen ein bisschen
mehr vom verfügbaren monatlichen Einkommen übrig.
Die Erhöhung der Verdienstgrenze auf 450
Euro hat die Bundesregierung vor allem damit
begründet, geringfügige Beschäftigung würde
nun ›erstmals an die seither erfolgte Lohnentwicklung angepasst‹ und Minijobberinnen
und Minijobber könnten nun ›mehr hinzuverdienen‹. In den durchschnittlichen und
mittleren monatlichen Arbeitsentgelten kann
diese Anpassung nicht begründet sein. Dass
die neue Verdienstgrenze zur Anhebung der
Stundenlöhne führt, wird kaum gemeint sein.
Wahrscheinlicher ist, dass bei gleichbleibend
niedrigen Stundenverdiensten die Arbeitszeiten ausgeweitet werden, also ein höherer
Monatslohn durch noch mehr schlecht bezahlte Arbeitsstunden erreicht wird. Ein ganz
neues Problemfeld eröffnet sich durch die
Reform für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute zwischen 401 und 450 Euro
in sozialversicherter Teilzeit verdienen. Spätestens nach der längstens bis zum 31. Dezember
2014 währenden Übergangszeit werden sie von
der neuen Verdienstgrenze ›eingeholt‹ und verlieren ihren vollen Sozialversicherungsschutz.
Noch weit kleiner als die Verdienste bleiben
die Rentenansprüche. Zwar gilt nun grundsätzlich die Rentenversicherungspflicht für Minijobs, die eingebaute Opt- out- Regelung wird
aber dazu führen, dass der größte Teil der
geringfügig Beschäftigten sich aus der Rentenversicherung herauswählen wird. Davon geht
selbst die Bundesregierung aus. Die Rechnung
ist einfach: Ein Minijob bietet auch bei vollen
Rentenbeiträgen am Ende immer nur eine
Minirente, der Verzicht auf eigene Beitragszahlungen lässt dagegen ein bisschen mehr vom
verfügbaren monatlichen Einkommen übrig.
Benachteiligungen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Die gesamte Konstruktion geringfügiger
Beschäftigungsverhältnisse basiert darauf, dass
soziale Sicherung und insbesondere die
Krankenversicherung durch andere Systeme
garantiert sind. Denn gegen soziale Risiken
wie Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und
vor allem Krankheit sind Minijobberinnen und
Minijobber trotz abgeführter Pauschalbeiträge
nicht abgesichert. Nach dieser Sicherungslücke
definieren sich automatisch die Gruppen, für
die geringfügige Beschäftigung überhaupt
möglich oder attraktiv ist. Bei einem groben
Überblick über die ausschließlich geringfügig
Beschäftigten stellen Ehefrauen bisher noch
die größte Gruppe. Der Familienernährer sorgt
für das Haupteinkommen, aus dem sich auch
der familiäre Versicherungsschutz ableitet.
Weil sich mit dieser Konstruktion für Frauen
familiäre Abhängigkeitsverhältnisse im gesamten Lebensverlauf verfestigen, hat der erste
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung
Minijobs als ›gleichstellungspolitisch desaströs‹
bezeichnet. Bei Minijobberinnen und Minijobbern, die ergänzende ›Hartz-IV‹-Leistungen
beziehen, trägt die steuerfinanzierte Grundsicherung die Krankenkassenbeiträge. Bundesweit sind etwa 15 Prozent der Minijobberinnen
und Minijobber auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen, im Land Bremen ist es
sogar jede/r fünfte, wie die ›Aufstockerstudie‹
der Arbeitnehmerkammer gezeigt hat. Betrachtet man andersherum die Gruppe der sogenannten Aufstockerinnen und Aufstocker insgesamt, ist jeder zweite Mensch im Minijob.6
Geringfügig Beschäftigte sind deutlich häufiger von Armut betroffen als andere Gruppen
von Erwerbstätigen. Während die Armutsgefährdungsquote von Minijobberinnen und
Minijobber bei 23 Prozent liegt, trifft dies nur
auf 3,2 Prozent der Normalbeschäftigten zu.
Allein mit einem Minijob lässt sich schließlich
schon aufgrund der maximalen Verdienstgrenze kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Dabei würden zwei Drittel der geringfügig
Beschäftigten ihre Arbeitszeit gerne ausweiten.
Minijobberinnen und Minijobber partizipieren auch in deutlich geringerem Umfang
als Normalbeschäftigte an betrieblicher Weiterbildung. Während 34 Prozent der Normalbeschäftigten an solchen Angeboten teilnehmen,
trifft dies nur auf 15 Prozent der Minijobberin-
6 Vgl. Rosenthal/
Farke/von den Berg:
Aufstocker im Land
Bremen. Hrsg.:
Arbeitnehmerkammer
Bremen, Bremen 2010.
62
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
nen und Minijobber zu. Zudem entspricht bei
der Hälfte der geringfügig Beschäftigten die
ausgeführte Tätigkeit nicht dem erlernten
Beruf. Diese Kombination trägt dazu bei, dass
Minijobs sehr viel häufiger den Einstieg in eine
qualifikatorische Abwärtsspirale und biografische Sackgasse darstellen als eine Brücke in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Schieflagen am Arbeitsmarkt –
ganze Branchen verändern ihr Gesicht
7 Vgl. Hanau, Peter:
Das Rätsel Minijob.
In: Neue Zeitschrift
für Arbeitsrecht.
Zweiwochenschrift
für die betriebliche
Praxis 15/2006.
8 Vgl. Hohendanner/
Stegmaier: Umstrittene
Minijobs – geringfügige
Beschäftigung in
deutschen Betrieben. In:
IAB-Kurzbericht Nr. 24,
Dezember 2012.
9 Vgl. Die Welt vom
26.12.12: ›Rösler fordert einen flexibleren
Arbeitsmarkt‹; vgl. dazu
auch Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und
FDP zur 17. Legislaturperiode des Bundes vom
26. Oktober 2009; vgl.
Geringfü g ige Beschäftigung: Situation und
Gestaltungsoptionen;
Bertelmann Stiftung,
Gü t ersloh 2012; vgl.
IW-Dienst Nr. 51/52,
Hrsg. Institut der deutschen Wirtschaft Köln,
Dezember 2012.
Die niedrigen Stundenverdienste deuten auf
eine weitere gravierende Benachteiligung von
Minijobberinnen und Minijobber hin. Die
eigentlich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtete Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern dürfte in der
Praxis häufig an die Arbeitgeber als ›Bruttolohnzugeständnis‹ übergehen und den Stundenlohn reduzieren. Der brutto-für-nettoVorteil erweist sich dann als Illusion. Dabei
haben geringfügig Beschäftigte die gleichen
tariflichen Ansprüche wie sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Verletzung des Diskriminierungsverbots ist offenbar nicht nur in Bezug auf
die Stundenlöhne, sondern auch auf weitere
Arbeitsrechte wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüche
und Jahressonderzahlungen gängige Praxis.
Dies scheint die Lösung des ›Rätsels Minijob‹7,
weshalb geringfügige Beschäftigung trotz
der im Vergleich hohen Pauschalabgaben für
Arbeitgeber so attraktiv ist, dass sie in
manchen Arbeitsmarktsegmenten inzwischen
Normalität geworden ist.
Branchenanalysen zeigen, dass Minijobs vor
allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe, in
der Gebäudereinigung und im Gesundheitsund Sozialwesen entstanden sind. Absolut
gesehen finden sich die meisten Minijobs im
Einzelhandel. In der Gebäudereinigung und
im Gastgewerbe sind dagegen die Anteile an
der Gesamtbeschäftigung besonders hoch. Fast
jeder zweite Arbeitsplatz ist hier ein Minijob.
In Branchen mit besonders hohen Konzentrationen mehren sich die Hinweise auf
Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.8
Im Land Bremen ist das Gastgewerbe die
Branche, die die Entwicklung antreibt.
Hier gibt es mittlerweile mehr Minijobs als
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
In manchen Branchen hat sich so ein paralleler Arbeitsmarkt entwickelt, auf dem die
Löhne besonders niedrig und die Arbeitsverhältnisse besonders unsicher sind.
Solange die Legende sich hält, Minijobs
seien eine besondere, nicht reguläre Beschäftigungsform, bleiben sie ein Einfallstor für
Rechtsverletzungen und die Diskriminierung
von Beschäftigten. Allein durch ihre quantitative Ausweitung haben sie inzwischen prägende
Bedeutung im gesamten Erwerbssystem.
Das bietet Anlass zu der Sorge, dass soziale
Schutzstandards unterhöhlt werden und sich
Normen dauerhaft verschieben, die doch
eigentlich als unteilbar und selbstverständlich
einzuhalten gelten.
Dass diese Sorge nicht unbegründet ist,
zeigen die mit Jahresende 2012 schon wieder
neu ausgebrochenen Diskussionen um die
Minijobs. Da ist in der Bundespolitik die Rede
davon, die Zone für geringfügige und nicht
mehr sozialrechtlich geschützte Beschäftigung
noch weiter auszudehnen, das Institut zur
Zukunft der Arbeit (IZA) spielt im Auftrag der
Bertelsmann Stiftung durch, wie sich die
Anhebung der Verdienstgrenze auf 600 Euro
auswirken würde, und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln deutet Sozialversicherungsschutz in ›Sozialversicherungsbürokratie‹
um, deren ›Maschinerie‹ nicht für jedes
Beschäftigungsverhältnis anlaufen müsse.9
Dahinter scheint eine Arbeitswelt auf, in
der das selbstverständliche und starke Band
zwischen abhängiger Beschäftigung und
Sozialversicherungssystem aufgelöst ist. Um
dem Einhalt zu gebieten, hat der Deutsche
Gewerkschaftsbund ein Reformmodell in die
Debatte eingebracht, das diese Verbindung
63
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb. 2:
Erweitertes Gleitzonenmodell
Handlungsbedarfe – was zu tun ist
Die notwendige umfassende Reform ist nur
durch den Bundesgesetzgeber umsetzbar.
Wichtige Impulse dafür können die Bundesländer geben. Für die Beschäftigten im Land
Bremen sind aber auch vor Ort Verbesserungen
umsetzbar.
❚ Ein gravierendes Problem sind Verstöße gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz in der betrieblichen
Praxis, die ohne rechtliche Reaktionen hingenommen werden. Dies führt nicht nur zu Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
sondern auch von all den Unternehmen, die sich
gesetzeskonform verhalten. Wirksame Kontrollen
können Missstände aufdecken, Verstöße sanktionierbar machen und den Gleichbehandlungsgrundsatz
durchsetzen helfen. Nach dem Vorbild der Mindestlohn-Hotline in Großbritannien könnte eine Hotline
für Beschäftigte das niedrigschwellige Melden von
Verstößen ermöglichen.
❚ Zur Eindämmung von Minijobs sind in NordrheinWestfalen und auch in Berlin Pilotprojekte gestartet,
die geringfügige Beschäftigung gezielt in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umwandeln. Denn
Minijobs belasten auch die öffentlichen Kassen, nicht
zuletzt, wenn besonders
21
800
niedrig entlohnte Beschäfti21
gung durch Sozialleistun20
750
22
gen subventioniert wird.
In Nordrhein-Westfalen
19
700
23
sind mit Unterstützung der
Sozialpartner in ausgewähl18
650
24
ten Jobcentern MinijobTeams gebildet worden. Sie
17
600
25
animieren offenbar erfolg16
reich Arbeitgeber, geringfü550
26
gige Beschäftigung zu Teil15
zeit- oder sogar Vollzeitbe500
27
schäftigung auszubauen. In
14
Schwerpunktbranchen mit
450
28
hoher Minijobquote werden
12
sie dabei aktiv von Arbeitge400
30
berverbänden unterstützt.
10
350
Ein solches Vorhaben wäre
32
auch im Land Bremen
8
300
unmittelbar umsetzbar.
34
❚ Angemessen bezahlte und
6
250
sozial gesicherte Arbeitsplät36
ze sind nicht nur im Interes4
200
38
se von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, son2
150
40
dern auch im öffentlichen
Interesse. Das hat die Verab100 0
42
schiedung des Bremischen
Mindestlohngesetzes noch
0
10
20
30
40
einmal unterstrichen und
Beiträge zur Sozialversicherung in Prozent
gleichzeitig übertragbare
Arbeitnehmer
Arbeitgeber
landespolitische Spielräume
Quelle: Claudia Weinkopf, Minijobs – politisch
aufgezeigt. Wirtschaftsförstrategische Handlungsoptionen; eigene Darstellung
derung und öffentliche
Mittelzuwendungen des Landes können auch einen
aktiven Beitrag zur Begrenzung von Minijobs
10 Der Reformvorschlag
leisten. Nehmen Arbeitgeber öffentliche Förderung
entspricht dem von
in Anspruch, wäre die Anzahl der Minijobs durch
Dr. Claudia Weinkopf
Quoten für den Anteil geringfügiger Beschäftigung
entwickelten Modell;
limitierbar.
vgl. Weinkopf, Claudia,
Arbeitnehmereinkommen in Euro
wieder stärkt. Der Bremer Öffentlichkeit ist
dieser Vorschlag mit einer Veranstaltung in
der Arbeitnehmerkammer vorgestellt worden.
Er hebt den Sonderstatus der Steuer- und Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigung
auf und führt die Sozialversicherungspflicht
ab der ersten Stunde ein. Die Beiträge sind
in einer erweiterten Gleitzone progressiv
zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern
und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
verteilt, um Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu entlasten. Sie werden zudem
nicht mehr pauschal, sondern personenbezogen abgeführt und sichern wieder individuelle
Ansprüche auf Leistungen im Versicherungsfall.10 Tatsächlich ist nach zehn Jahren Minijobs eine umfassende Reform notwendig. Dafür liefert das Modell des DGB einen richtungweisenden und weiterzuverfolgenden Beitrag.
Minijobs – politisch
strategische Handlungsoptionen, Expertise im
Auftrag des Projekts
Wert.Arbeit, Berlin
2011.
64
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Vom Job direkt in ›Hartz IV‹
Weniger Absicherung durch Arbeitslosenversicherung
P E E R RO S E N T H A L / FA L K - C O N S T A N T I N WAG N E R
Immer weniger Menschen können im Fall von
Arbeitslosigkeit beziehungsweise Jobverlust
ihren Lebensstandard durch Arbeitslosengeld I
sichern. Daran hat sich auch im Jahr 2012
nichts geändert. Eine wachsende Zahl an
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat
trotz vorheriger Beschäftigung bei Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf die Leistungen der
Arbeitslosenversicherung. Andere erhalten
zwar Arbeitslosengeld I, bekommen aber so
wenig, dass sie parallel noch Arbeitslosengeld II (›Hartz IV‹) beziehen müssen. Absicherung bei Arbeitslosigkeit durch die Arbeitslosenversicherung ist damit vom Regel- zum Ausnahmefall geworden. Ursache hierfür sind
politische Maßnahmen, mit denen die Arbeitslosenversicherung als Netz der sozialen Sicherung in den vergangenen Jahren geschwächt
wurde.
Bundesweit erhielt im September 2012
einer von vier Arbeitslosen Leistungen der
Arbeitslosenversicherung nach Sozialgesetzbuch (SGB) III, also das sogenannte Arbeitslosengeld I. Im Land Bremen ist es sogar nur
einer von sechs. Im September 2004 hingegen
waren es im Bund noch einer von drei Arbeitslosen, im Land Bremen nur etwas weniger (29
Prozent). Diese Entwicklung kann einerseits
auf die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I auf zwölf Monate zurückgeführt
werden, die im Zuge der ›Hartz‹-Reformen vorgenommen wurde. Damit gehen Menschen,
die nach einem Arbeitsplatzverlust längere
Zeit arbeitslos bleiben, deutlich schneller in
die Grundsicherung des SGB II – ›Hartz IV‹ –
über.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber,
dass auch die Zugänge in Arbeitslosigkeit aus
Arbeit am ersten Arbeitsmarkt häufig direkt
in die Grundsicherung führen. Abbildung 1
zeigt, dass davon im Jahr 2012 im Land Bremen 8.273 von 23.182 neu arbeitslos geworde-
Abb. 1: Entwicklung der Zugänge aus einer Beschäftigung auf dem ersten
Arbeitsmarkt in Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen im Land Bremen 2007–2012
40
30.000
31,6
35
30
28,9
15.000
8.273
8.059
7.788
20.000
8.303
7.407
33,3
25
14.909
0
15.319
15
16.450
5.000
18.196
20
15.602
10.000
2007
2008
2009
2010
2011
2012
SGB III
SGB II
Anteil SGB II in Prozent
34,7
15.137
Zugänge in Arbeitslosigkeit
25.000
35,7
7.598
35,2
0
Anteil SGB II
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen; eigene Darstellung.
Anmerkung: Daten ohne Auszubildende. Arbeitslosigkeit definiert als Reduzierung der Wochenarbeitsstunden von
≥15 auf <15; ausschließlich geringfügig Beschäftigte finden daher abhängig vom genauem Arbeitsumfang Eingang
65
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung
ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen der
Arbeitslosenversicherung zu erfüllen.
nen Personen betroffen waren. Damit ging
über ein Drittel der aus regulärer Beschäftigung heraus von Arbeitslosigkeit Betroffenen
in Bremen und Bremerhaven trotz geleisteter
Beitragszahlungen direkt in den Bezug von
Arbeitslosengeld II über. Sie beziehen aufgrund kurzer Beschäftigungsdauer oder geringer Entlohnung keine oder nur geringe Leistungen der Arbeitslosenversicherung, so dass
sie unmittelbar bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit auf die Grundsicherung angewiesen sind.
Verursacht wird diese Entwicklung durch
politische Maßnahmen am Arbeitsmarkt.
Mit den ›Hartz‹-Reformen wurde der Zugang
zum Arbeitslosengeld I erschwert, indem die
Anwartschaftszeit auf zwölf und die Rahmenfrist auf 24 Monate festgelegt wurde. Das
bedeutet, dass innerhalb von 24 Monaten
mindestens zwölf Monate Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet werden müssen,
damit ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I
besteht. Gleichzeitig wurden die atypischen
Beschäftigungsverhältnisse massiv ausgeweitet.
Gerade für die Menschen in prekärer Beschäftigung ist es aber schwer, die Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung zu
erfüllen.
So haben befristet Beschäftigte durch
mangelnde sofortige Anschlussverträge oft
diskontinuierliche, also immer wieder von
Arbeitslosigkeit unterbrochene, Erwerbsverläufe. Dadurch kommen sie oft nicht auf die
geforderte Anwartschaftszeit innerhalb der
zweijährigen Rahmenfrist, um Arbeitslosengeld I beziehen zu können. Auch unbefristete
und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stellt nicht immer sicher, im Fall der
Arbeitslosigkeit in das System der Arbeitslosenversicherung (SGB III) übergehen zu können:
Bei Teilzeitbeschäftigung ist die Höhe des
monatlichen Verdienstes häufig zu gering,
um Arbeitslosengeld I in existenzsichernder
Höhe zu erzielen. Für diesen Fall muss mit
Arbeitslosengeld II auf das Niveau der Grundsicherung aufgestockt werden. Brisant ist, dass
diese Parallelbezieherinnen und Parallelbezieher nicht mehr im Rechtskreis SGB III, sondern im SGB II verbleiben – also trotz ihrer
erworbenen Ansprüche als Bezieher der Fürsorgeleistung Arbeitslosengeld II und nicht der
Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I
behandelt werden. Damit unterliegen sie –
neben der Bedürftigkeitsprüfung und der
Einbeziehung der weiteren Mitglieder ihrer
Bedarfsgemeinschaft – auch den ›restriktiveren, gegenüber der Qualität von Beschäftigung
gleichgültigen‹ Zumutbarkeitskriterien des
SGB II. Gleich doppelt betroffen sind Beschäftigte in der Leiharbeit. Sie erhalten durchschnittlich deutlich geringere Entgelte als die
Stammbeschäftigten und erwerben dadurch
nur geringe Versicherungsansprüche. Gleichzeitig sind sie zu 60 Prozent weniger als
drei Monate lang beschäftigt, so dass es für viele in weite Ferne rückt, die Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen: Jede/r zweite Leiharbeitnehmer/in stürzt bei Jobverlust direkt in
›Hartz IV‹. Die sogenannten ›Minijobs‹ schließlich unterliegen überhaupt keiner Pflicht
zur Beitragsleistung in der Arbeitslosenversicherung und könnten durch den geringen
Stundenumfang und den hohen Anteil an
Niedriglöhnen ohnehin kaum existenzsichernde Ansprüche erzeugen.
66
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die Arbeitslosenversicherung ist durch die
genannten Schritte – Erschwerung des Zugangs, Kürzung der Leistungsdauer und Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse –
deutlich weniger als früher in der Lage, Menschen im Fall von Arbeitslosigkeit abzusichern.
Stattdessen ist die Grundsicherung nach SGB II
inzwischen der Regelfall der Unterstützung
für Arbeitslose. Für das Land Bremen gilt dies
in besonderem Maße: hohe Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch besonders viele prekäre
Beschäftigungsverhältnisse tragen dazu bei,
dass sowohl der Anteil der Arbeitslosen im
Rechtskreis SGB II als auch der Anteil der
Zugänge aus Beschäftigung in Arbeitslosigkeit
aus dem ersten Arbeitsmarkt direkt in
›Hartz IV‹ im Bundesvergleich überdurchschnittlich hoch sind.
Diese Probleme sind durch Maßnahmen auf
Bundesebene jedoch lösbar, indem die Arbeitslosenversicherung als soziales Sicherungsnetz
wieder gestärkt wird. Konkret ist die maximale
Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I wieder auf
24 Monate zu erhöhen, um die Absicherung
bei Arbeitslosigkeit verlässlicher zu gestalten.
Darüber hinaus ist die Rahmenfrist auf drei
Jahre zu erhöhen und die Anwartschaftszeit
67
auf sechs Monate zu verringern. Auf diese
Weise können Menschen in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen wieder verstärkt
von den Leistungen der Arbeitslosenversicherung profitieren. Nach Berechnungen der
Bundesagentur für Arbeit würden von solch
einer Neuregelung 200.000 bis 250.000 Menschen pro Jahr profitieren. Gleichzeitig wird
die Legitimation der Arbeitslosenversicherung
gestärkt: Wer einbezahlt, erhält häufiger auch
Leistungen. Geringe und nur kurze Bezüge
aus der Arbeitslosenversicherung werden sich
dadurch aber nicht verhindern lassen. Um die
Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung in dieser Hinsicht zu stärken, müssen
atypische Beschäftigungsverhältnisse zurückgedrängt und der politische Fokus auf
das Normalarbeitsverhältnis gelegt werden.
68
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Menschen mit Behinderungen auf dem
(Bremer) Arbeitsmarkt
BARBARA REUHL
1. Vgl. Bundesagentur für Arbeit.
2012. Der Arbeitsmarkt in
Deutschland – Der Arbeitsmarkt
für schwerbehinderte Menschen.
März 2012 (aktualisiert Juni
2012).
2. Vgl. Verordnung zur Durchführung
des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30
Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des
Bundesversorgungsgesetzes
(Versorgungsmedizin-Verordnung –
VersMedV) vom 10.12.2008.
3. Der GdB bezieht sich auf die
Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen, im Gegensatz zur
Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) im Renten- und Unfallversicherungsrecht, um die es im
Beitrag über das Erwerbsminderungsrenten-Geschehen im Land
Bremen auf Seite 95 ff. geht.
¢
In Deutschland leben derzeit fast neun Millionen Menschen mit Behinderung, davon waren
im Jahr 2011 etwa 3,2 Millionen im Erwerbsalter. Sie sind mit fast 15 Prozent mehr als doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen
als die Allgemeinheit (rund 6,5 Prozent).1
›Behinderung‹ wird oftmals gleichgesetzt
mit reduzierter Leistungsfähigkeit. Jemand,
der eine Gehhilfe nutzt, sehbehindert oder
schwerhörig ist, vielleicht auch eine Werkstatt
für behinderte Menschen wie der Martinshof
in Bremen sind häufige Assoziationen. Doch
viele Behinderungen sind erst auf den zweiten
Blick oder von Außenstehenden gar nicht
wahrnehmbar und ob die Betroffenen in der
Lage sind, die im Erwerbsleben geforderten
Leistungen zu erbringen, hängt nicht zwangsläufig mit ihrer Beeinträchtigung zusammen.
Wer gilt als schwerbehindert?
Die amtliche Feststellung einer Schwerbehinderung erfolgt auf
Antrag bei der am Wohnort zuständigen Behörde. Diese stellt
nach bundesweit einheitlichen Kriterien2 fest, in welchem Maß
sich körperliche, geistige, seelische und soziale Auswirkungen
auf alle Lebensbereiche aus der Funktionsbeeinträchtigung
ergeben. Der Grad der Behinderung (GdB) wird in Zehnerschritten von 20 bis 100 festgesetzt.3
Wer einen GdB von 50 oder darüber attestiert bekommt, gilt
als schwerbehindert. Mit einem GdB von 30 bis 50 ist es möglich, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt zu werden
(§ 2 SGB IX). Wer als schwerbehindert anerkannt oder gleichgestellt ist, hat nach Kapitel 2 SGB IX Anspruch auf Ausgleich
von Nachteilen. Dazu zählen steuerliche Erleichterungen, die
vergünstigte Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, der
besondere Kündigungsschutz sowie Förderung der Teilhabe
am Arbeitsleben, wie die Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen und/oder einer der Behinderung angepassten
Ausstattung des Arbeitsplatzes.
Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen
mit Behinderung in Deutschland leben, gibt
es nicht, nur über die Zahl der Menschen mit
einer anerkannten Schwerbehinderung und
diesen Gleichgestellten.
Ende 2011 gab es in Deutschland nach
Angaben des Statistischen Bundesamts rund
7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen
(knapp 9 Prozent bzw. jede/r Zwölfte). Im Land
Bremen leben aktuell mehr als 58.000 schwerbehinderte Menschen (10,5 Prozent bzw.
jede/r Neunte der gesamten Bevölkerung).
Nur gut vier Prozent der Behinderungen
sind angeboren, wie beispielsweise Schädigungen von Gliedmaßen durch das in den 1960erJahren vertriebene Schlafmittel Contergan,
Kleinwuchs oder Autismus. Die meisten
schwerbehinderten Menschen im Land Bremen
haben diesen Status infolge einer chronischen
Erkrankung oder durch Unfälle im Lauf des
Lebens erworben. Dazu zählen beispielsweise
die Einschränkung der Beweglichkeit infolge
eines Schlaganfalls oder durch Rheuma,
innere Erkrankungen wie insulinpflichtiger
Diabetes, eine Suchtkrankheit und andere
psychische Erkrankungen. Zwei Drittel der
Behinderungen entfallen auf körperliche Ursachen, in gut 30 Prozent der Fälle liegt eine
seelische oder geistige Behinderung vor oder
die Behinderungsart ist nicht ausgewiesen.
❚ Auch die Arbeitsbedingungen können chronische
Erkrankungen verursachen. So können schweres
Heben und Tragen, die Arbeit mit gefährlichen Stoffen oder unter Lärm, Stress und psychischen Belastungen dauerhaft den Rücken, die Haut, das Gehör
oder die psychische Gesundheit beeinträchtigen.
Etwa 43 Prozent der schwerbehinderten
Menschen im Land Bremen waren 2011 im
Erwerbsalter. Wer sich nicht ›outet‹, wird nicht
in der Statistik der Agentur für Arbeit erfasst,
denn viele Behinderungen sind nicht sichtbar.
69
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Abb.1: Altersstruktur schwerbehinderter
Menschen im erwerbsfähigen Alter
in Deutschland 2009, in Prozent
70
54
62
60
50
33
40
29
30
17
20
10
5
Zahlreiche schwerbehinderte Menschen
melden sich jedoch nicht arbeitslos, weil sie
ihre Chancen auf Ausbildung oder Beschäftigung gering einschätzen. Sie gehen ebenfalls
nicht in die Statistik ein.
Die Zahl der von Behinderung Betroffenen
nimmt mit dem Lebensalter zu, wie Abbildung 1 zeigt. Im Jahr 2011 entfielen auf die
Gruppe der unter 25-Jährigen vier Prozent
der Schwerbehinderungen. Von den gut
3,2 Millionen schwerbehinderten Menschen im
Erwerbsalter waren nach Hochrechnungen
der Bundesagentur für Arbeit nahezu zwei
Drittel zwischen 55 und 65 Jahren alt.
Nach Schätzungen wird die Zahl der Menschen wachsen, die in der zweiten Hälfte des
Erwerbslebens von Behinderungen betroffen
sind, denn die geburtenstarken Jahrgänge
altern. Zudem bewirken das erhöhte Renteneintrittsalter und auslaufende Altersteilzeit- und Vorruhestandsregelungen, dass
mehr gesundheitlich angeschlagene und von
Behinderung bedrohte Beschäftigte länger am
Arbeitsmarkt verbleiben – allerdings tragen
sie ein höheres Risiko, erwerbslos oder von
Hartz IV betroffen zu sein.
In der Gruppe der Jüngeren sind Menschen
mit Behinderungen ebenfalls im Nachteil
gegenüber nicht Behinderten. Insbesondere
wer keinen Schulabschluss hat oder von der
Förderschule kommt, hat es schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden und eine nachhaltige
Qualifikation mit entsprechenden Erwerbsmöglichkeiten zu erwerben.
0
15 bis
unter
25 Jahre
25 bis
unter
50 Jahre
50 bis
unter
65 Jahre
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
schwerbehinderte Menschen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2012.
Auch ein Blick auf die Geschlechterverteilung
ist interessant: Etwas mehr als 51 Prozent
der Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung sind männlich. Nach Daten des
Mikrozensus 2005 waren in Deutschland
9,7 Prozent der männlichen, aber 7,4 Prozent
der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen
18 bis 64 Jahren schwerbehindert. Beide
Geschlechter sind stärker von Erwerbslosigkeit
betroffen, wenn eine Behinderung vorliegt:
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behinderungen liegt bei 23 Prozent, bei Frauen
ohne Behinderungen bei 53 Prozent.
Abb. 2: Besetzung von Pflichtarbeitsplätzen,
Arbeitgeber nach Ausgleichsabgabe im Land Bremen, Berichtsjahr 2010
private
Arbeitgeber
mit mehr
als 20
Beschäftigten
gesamt
davon Arbeitgeber
mit
beschäftigten
schwerbehinderten
Menschen
ohne
beschäftigte
schwerbehinderte
Menschen
ohne
Ausgleichsabgabe
mit 105 Euro
Ausgleichsabgabe
574
1.379
968
411
mit 180 Euro
Ausgleichsabgabe
mit 260 Euro
Ausgleichsabgabe
179
162
464
gesamt 915
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
70
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Schwerbehinderte Männer sind zu 30 Prozent
erwerbstätig, Männer ohne Behinderungen zu
71 Prozent.4 Die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt zeigt
sich allerdings auch hier. Laut § 2 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) sind die besonderen Belange von Frauen mit Behinderungen
deshalb bei der Gleichstellung der Geschlechter einzubeziehen.
Kein Ablass: die Ausgleichsabgabe
4 Vgl. Bundesministerium
für Arbeit und Soziales
(Hrsg.): Unser Weg
in eine inklusive Gesellschaft. Der nationale
Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention,
September 2011.
Um Nachteile auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, sind Betriebe mit mehr als 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens fünf Prozent
davon für Schwerbehinderte vorzuhalten.
Andernfalls ist eine Ausgleichsabgabe an das
zuständige Integrationsamt zu entrichten –
das enthebt den Arbeitgeber jedoch nicht von
der Beschäftigungspflicht! Die Ausgleichsabgabe soll zugleich einen Anreiz setzen, damit die
Beschäftigungspflicht erfüllt wird. Sätze für
das Jahr 2013 belaufen sich jeweils monatlich
auf 115 bis 290 Euro, je nachdem ob und
inwieweit die Beschäftigungsquote erfüllt
wird. Aus der Ausgleichsabgabe finanziert das
Integrationsamt technische Anpassungsmaßnahmen am Arbeitsplatz, Qualifizierungsmaßnahmen oder fördert auch die Einstellung
von schwerbehinderten Beschäftigten durch
Zuschüsse.
Trotz einer Vielzahl von Beratungs- und
Förderangeboten sowie Projekten, die das
Integrationsamt durchführt, erfüllt ein Großteil der Betriebe die Zielzahlen für die Beschäftigung nicht. Von 7.230 Pflichtarbeitsplätzen
für Schwerbehinderte in der Privatwirtschaft
waren nur 5.635 besetzt. Mit einer durchschnittlichen Quote von 3,7 Prozent lagen die
privatwirtschaftlichen Betriebe im Land Bremen deutlich unter den vorgeschriebenen fünf
Prozent. Demzufolge zahlten von den 1.379
privaten Arbeitgebern mit mehr als 20 Arbeitsplätzen 915 Betriebe eine Ausgleichsabgabe,
71
Wo sind die Barrieren?
wie Abbildung 2 zeigt. In 411 Betrieben war
niemand mit einer Schwerbehinderung
beschäftigt, die Quote war nur in 464 Unternehmen voll erfüllt, die damit von der Ausgleichsabgabe befreit waren.
Im bremischen öffentlichen Dienst fällt die
Bilanz besser aus: Im Dezember 2011 waren
laut Bericht der Senatorin für Finanzen 1.712
Arbeitsplätze mit schwerbehinderten oder
gleichgestellten Beschäftigten beziehungsweise Auszubildenden besetzt: 979 mit Frauen,
733 mit Männern. Berechnet auf den Jahresdurchschnitt von 24.809 Arbeitsplätzen im
Jahr 2011 waren dies 6,9 Prozent der Arbeitsplätze, so der Bericht der Senatorin für Finanzen für das Jahr 2011. Der Anteil der schwerbehinderten Beschäftigten bei den öffentlichen
Arbeitgebern ist steigend, infolge von Neueinstellungen, aber auch weil bei bereits
Beschäftigten eine Schwerbehinderung attestiert wurde.
Verschiedene Faktoren können die Einstellung
oder Weiterbeschäftigung von Menschen mit
Behinderungen erschweren. So haben viele
der Arbeitgeber, die keine Menschen mit
Behinderungen beschäftigen beziehungsweise
Vorbehalte haben, bisher noch keine Erfahrung mit der Beschäftigung von Menschen mit
Behinderungen gemacht, wie in einer Studie
des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW) im
Auftrag des Bremer Versorgungsamts festgestellt wurde.5 Doch neben den Barrieren in den
Köpfen gibt es auch handfeste materielle
Hemmnisse.
Es geht darum, Beschäftigte in Arbeit zu
halten, die im Lauf der Erwerbstätigkeit eine
Schwerbehinderung erworben haben, und es
geht um die Einstellung von Bewerberinnen
und Bewerbern mit Behinderung. Erfahrene
Kräfte können für die Unternehmen gewonnen
werden, oder ihre Kompetenz bleibt erhalten,
wenn sie im Lauf des Lebens eine Behinderung
5 Vgl. Fietz/Gebauer/
Hammer: Die Beschäftigung schwerbehinderter
Menschen auf dem
ersten Arbeitsmarkt.
Einstellungsgründe und
Einstellungshemmnisse –
Akzeptanz der Instrumente zur Integration.
Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung in
Unternehmen des Landes
Bremen, Januar 2011.
72
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
erworben haben. Je mehr Fortschritt in dieser
Hinsicht erzielt wird, desto weniger Anstrengungen zur Integration sind für alle Beteiligten erforderlich.
So könnte beispielsweise ein Arbeitgeber
in die Situation kommen, eine für die betrieblichen Bedarfe bestens qualifizierte junge
Ingenieurin nur deshalb nicht einstellen zu
können, weil sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist, der Betrieb ihr aber keinen rollstuhlgerechten Zugang zum Gebäude und zu
der Abteilung, wo sie eingesetzt werden würde,
bieten kann. Der Bewerberin wird eine berufliche Chance versperrt, es sei denn, es würde
extra für sie umgebaut.
Umbauen und umorganisieren ist in den
Betrieben gang und gäbe – die gesundheitlichen Belange der Beschäftigten, insbesondere
derjenigen, die durch bauliche Gegebenheiten
benachteiligt sind, müssen dabei einbezogen
werden. In vielen Fällen ist der Aufwand
für barrierefreie Gestaltung weniger groß, als
es vielleicht erscheint, wenn sie denn frühzeitig ›mitgedacht‹ wird.
Eine kleine, aber äußerst wirksame Gestaltungslösung beispielsweise dürfte den meisten,
die am PC arbeiten und nicht behindert sind,
noch nicht aufgefallen sein: Bei den Buchstaben F und J sowie auf der Ziffer fünf auf dem
Nummernblock aller Tastaturen ist jeweils
eine kleine tastbare Markierung angebracht.
Das reicht aus, um eine wichtige Barriere für
blinde und stark sehbehinderte Menschen
abzubauen: Sie können die normale Tastatur
nutzen, indem sie ›blindschreiben‹.
Barrieren abzubauen erfordert ein Umdenken, es verursacht aber auch Umstände und
Kosten im Unternehmen. Besser ist es, aufwendige und teure Bau- und Nachrüstungsmaßnahmen von vornherein zu vermeiden: Das
macht es selbstverständlicher und erleichtert
es dem Arbeitgeber auch praktisch, Menschen
mit Behinderungen zu beschäftigen. Wer
seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann,
verfügt über eine wesentliche Voraussetzung
dafür, gleichberechtigt zu sein und ein selbst-
bestimmtes Leben führen zu können, statt
von anderen Menschen und von Sozialleistungen abhängig zu sein.
Arbeitsschutz –
auch ein Feld der Inklusion
Barrierefreiheit ist im öffentlichen Raum und
in öffentlichen Gebäuden bereits weiter fortgeschritten und fast schon Normalität geworden:
Geh- und Radwege sind mit Steinen in unterschiedlichen Farben oder Farbtönen kontrastreich gestaltet, Gehwegkanten abgesenkt,
Türen automatisch zu öffnen, um nur einige
Beispiele zu nennen. In die Arbeitswelt hält
der Gedanke der Barrierefreiheit erst langsam
Einzug. So erhielt die Bundesregierung bei der
Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz/BGG) im Jahr 2002 den
Auftrag, das Arbeitsstättenrecht dahingehend
zu ergänzen, dass die besonderen Belange
von behinderten Menschen hinsichtlich der
›behindertengerechten Gestaltung‹ von Arbeitsstätten berücksichtigt werden. Deshalb wurde
bei der Novellierung der Arbeitsstättenverordnung im Jahr 2004 unter dem Punkt ›Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten‹ auch
die barrierefreie Gestaltung einbezogen.
Auch in den Betrieben überfällig:
barrierefreie Gestaltung
Wenn im Betrieb Beschäftigte mit Behinderung arbeiten, ist der Arbeitgeber zur barrierefreien Gestaltung verpflichtet, damit ›bauliche
und sonstige Anlagen, Transport- und Arbeitsmittel, Systeme der Informationsverarbeitung,
akustische, visuelle und taktile Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen
für Beschäftigte mit Behinderungen in der
allgemein üblichen Weise, ohne besondere
Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde
Hilfe zugänglich und nutzbar sind‹, so die
Begriffsbestimmung aus der Arbeitsstättenverordnung.
73
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
Sie bezieht sich auf das Verständnis des Begriffes ›Behinderung‹ aus dem BGG und meint
somit alle Beschäftigten mit einer Behinderung, nicht nur diejenigen mit einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichgestellte: ›Menschen sind behindert, wenn ihre
körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder
seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für
das Lebensalter typischen Zustand abweichen
und daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist‹, definiert das
Behindertengleichstellungsgesetz.
Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV)
ergänzt die Vorgaben aus dem Arbeitsschutzgesetz. Sie enthält Mindestanforderungen an
die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der
Beschäftigten ›beim Einrichten und Betreiben
von Arbeitsstätten‹, für die der Arbeitgeber
verantwortlich ist. Das Arbeitsschutzgesetz
verlangt, dass er die erforderlichen Schutzmaßnahmen anhand der für seine Beschäftigten mit der Arbeit verbundenen Gefährdungen
ermittelt. Auch müssen die besonderen
Gefahren für Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden, wie die Beschäftigten,
die von einer Behinderung betroffen sind.
Die Arbeitsstättenregel
›Barrierefreie Gestaltung‹
Die Regel besteht aus einem allgemeinen Vorspann und einem Anhang, der die Anforderungen aus den übrigen Fachregeln, zum Beispiel
für Fluchtwege und Notausgänge oder für
Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung um die Kriterien für barrierefreie Gestaltung ergänzt. Dabei orientiert sie sich am
Stand der Technik der barrierefreien Gestaltung, beispielsweise an DIN-Normen.
Welche Bereiche des Betriebs für eine
barrierefreie Gestaltung berücksichtigt werden
müssen, muss der Arbeitgeber durch die
Gefährdungsbeurteilung ermitteln. Wird in
den in der Regel beschriebenen Fällen in der
Weise verfahren wie vorgeschlagen, kann der
Arbeitgeber davon ausgehen, dass er die
Vorgaben erfüllt. Dabei kann er sich durch
seine Fachkraft für Arbeitssicherheit, den
Betriebsarzt, von der Berufsgenossenschaft
oder der Gewerbeaufsicht beraten lassen. Auch
das Integrationsamt oder der Integrationsfachdienst kommen für fachkundige Beratung
infrage.6
Ein Beispiel veranschaulicht die ›Denkweise‹
der Regel:
❚ Wesentliches Prinzip einer barrierefreien Gestaltung
ist das Zwei-Sinne-Prinzip, das es ermöglicht,
Informationen alternativ wahrzunehmen: Wenn
einer der drei Sinne, beispielsweise das Hören
ausfällt, muss die Information über einen der beiden anderen Sinne aufgenommen werden können.
So kann ein blinder oder stark sehbehinderter
Beschäftigter beispielsweise den Rettungsplan ›lesen‹,
wenn die Informationen auch fühlbar, zum Beispiel
als Relief gestaltet, dargestellt sind. Informationsund Leitsysteme ermöglichen es ihm, den Fluchtweg
zu finden.
Neubauten oder umfangreichere Umbaumaßnahmen werden nicht wesentlich teurer,
wenn die Barrierefreiheit schon ab der
Planung einbezogen wird. Teure Nachbesserungen können entfallen. Wenn es die individuellen Bedarfe schwerbehinderter oder ihnen
gleichgestellter Beschäftigter erfordern, sind
zusätzlich zur barrierefreien Gestaltung auch
behindertengerechte Anpassungsmaßnahmen
am einzelnen Arbeitsplatz möglich. Sie können vom Integrationsamt bezuschusst werden.
Eine barrierefreie Gestaltung macht nicht
nur den direkt Betroffenen, sondern auch
anderen das Leben leichter – breitere Türen,
Rampen oder gut wahrnehmbare Sicherheitszeichen nutzen auch der Hausmeisterin, der
Reinigungskraft oder dem Besucher, der mit
Kinderwagen in eine Dienststelle kommt.
6 Zahlreiche anschauliche
Beispiele bietet die
online verfügbare Handlungshilfe ›Barrierefreie
Arbeitsstätten planen
und gestalten‹ der
Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG):
www.vbg.de/barriere/
74
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Einige der Vorgaben aus der Regel zur barrierefreien Gestaltung wirken jedoch einschränkend auf die Chancen eines barrierefreien
Zugangs zu Arbeitsstätten, im wörtlichen und
im übertragenen Sinn:
❚ Nur, wenn im Betrieb Beschäftigte mit Behinderungen arbeiten, ist der Arbeitgeber zu einer
barrierefreien Gestaltung verpflichtet.
❚ Es sind lediglich die Bereiche barrierefrei zu
gestalten, zu denen die jeweiligen Beschäftigten mit
Behinderungen Zugang haben müssen, wie der
Zugang zum jeweiligen Arbeitsplatz, zur Kantine,
zum Betriebsrat und das WC.
❚ Und wenn in bestehenden Gebäuden ›ein unverhältnismäßiger Aufwand‹ betrieben werden müsste,
um die Barrierefreiheit zu erreichen, kann auch auf
einen geringeren Arbeitsschutz- beziehungsweise
Gestaltungsstandard zurückgegriffen werden.
Höchste Zeit für Inklusion:
Handlungsbedarfe
Inklusion ist nicht ›nice to have‹, sondern ein
Menschenrecht. Menschen mit Behinderungen
sind Mann oder Frau, alt oder jung, gut oder
weniger gut qualifiziert und motiviert – kurz,
sie unterscheiden sich eigentlich nicht so sehr
von den Menschen, die keine Behinderung
haben. Die Teilhabechancen von Menschen mit
Behinderungen hängen häufig mehr von ihrer
Bildung und Qualifikation und von ihrem
sozialen Rückhalt ab, als von den gesundheitlichen Einschränkungen. Beste Beweise dafür
geben diejenigen, die mit einer Behinderung
leben und in Schlüsselstellungen des öffentlichen Lebens erfolgreich sind, als Politikerin,
als Wissenschaftler, als Künstler. Notwendig
sind technische und materielle Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt, die Menschen
mit Behinderungen nicht länger behindern.
Allerdings sitzt ein großer Teil der Hemmnisse
in den Köpfen: Genauso wie im Straßenbild
der Rollator inzwischen alltäglich geworden
ist, muss es auch selbstverständlich werden,
dass Menschen mit Behinderungen erwerbstätig sind.
Um Inklusion in der Erwerbsarbeit zu verwirklichen, muss und kann an verschiedenen
Stellen angesetzt werden:
❚ Aus Kindern werden Leute: Es kommt darauf an,
Armut und Ausgrenzung schon ab dem Kinderund Jugendalter vorzubeugen. Inklusion im Erziehungs- und im Bildungsbereich trägt zur Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit und dazu
bei, dass Jugendliche gute Bedingungen für den
Start ins Erwerbsleben haben. Allerdings muss
Inklusion Rahmenbedingungen vorfinden, die sie
auch tatsächlich ermöglichen. Dies so konkret
wie möglich zu definieren, muss Teil des gerade entstehenden Aktionsplans zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention im Land Bremen werden.
❚ Rückenkurse und Gutscheine fürs Fitnessstudio
reichen nicht: Arbeitsschutz, die Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und auch das
Betriebliche Eingliederungsmanagement gehören
zu den Pflichten des Arbeitgebers und machen ein
systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement aus. Hier sind auch der Betriebsrat und die
Schwerbehindertenvertretung gefragt.
❚ Der Topf der Ausgleichsabgabe ist im Land Bremen
gut gefüllt und er wird trotz einer schier unübersehbaren Fülle von Maßnahmen, die das Integrationsamt fördert, nicht leerer, sondern eher noch voller –
weil zahlreiche Betriebe keine oder zu wenige
schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Arbeitgeber und Sozialpartner sind gefragt, Menschen mit
Behinderungen den Weg in den Betrieb zu ebnen
und/oder mindestens die Mittel aus dem Ausgleichstopf für entsprechende Maßnahmen in Anspruch
zu nehmen.
❚ Die Arbeitsstättenverordnung und die Arbeitsstättenregel ›Barrierefreie Gestaltung‹ enthalten
wichtige erste Schritte. Die Vorschriften sind technisch auf der Höhe der Zeit, sie sind aber noch
nicht ›stark‹ genug für die Verwirklichung von Barrierefreiheit. So gilt sie bislang nur für Betriebe,
die bereits Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Betriebe, die dies nicht tun, werden aus
der Verantwortung entlassen. Das Land Bremen
muss sich auf Bundesebene dafür einsetzen, dass
Barrierefreiheit Ziel aller Betriebe ist.
75
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
EXKURS
¢
Jetzt auf Dauer:
Beratung für von Berufskrankheiten Betroffene
BARBARA REUHL
Auf Beschluss des Bremer Senats wird das
Beratungsangebot für von Berufskrankheiten
Betroffene in der Geschäftsstelle Bremen-Nord
der Arbeitnehmerkammer fortgesetzt.1
Nach der Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) werden im
Land Bremen seit 2007 jährlich durchschnittlich etwa 1.060 Anzeigen auf Verdacht einer
Berufskrankheit (BK-Anzeigen) gestellt. Im Jahr
2011 wurde in 372 Fällen eine Berufskrankheit
neu anerkannt, in 184 Fällen wurde eine
Berufskrankheiten-Rente (BK-Rente) erstmals
festgesetzt. In Bremen wird – betrachtet man
die Zahl der jährlichen Anzeigen – ein größerer Teil der angezeigten BK-Fälle anerkannt
als im Bund. Auch BK-Renten werden in mehr
Fällen gezahlt und es kommt zu mehr Todesfällen infolge einer Berufserkrankung. Ein
Grund dafür ist, dass in Bremen nach wie vor
sehr viele Berufserkrankungen im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen in der Werftindustrie
und im Hafenumschlag auftreten. Bei den im
Jahr 2011 angezeigten 1.066 Berufskrankheiten
in Bremen geht es in mehr als einem Drittel
der Fälle um Asbestose (216 Fälle), Lungenoder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbest
sowie Lungen- oder Rippenfellkrebs (Mesotheliom, 59 Fälle). In der gesamten Bundesrepublik
machen diese Erkrankungen lediglich 12 Prozent der BK-Anzeigen aus.
Beim Berufskrankheiten-Verfahren (BKVerfahren) handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren mit festgelegtem Ablauf. Es
kommt nur in Gang, wenn jemand den
Verdacht hegt, bei einer Erkrankung könnte es
sich um eine Berufskrankheit handeln und
dies bei der zuständigen Berufsgenossenschaft
(BG) anzeigt.2 Die BG ist dann verpflichtet zu
ermitteln, ob bei der beruflichen Tätigkeit die
in der BK-Liste beschriebene, genau definierte
schädigende Einwirkung (= Exposition) vorgelegen hat.
1 Das Beratungsangebot
wird auf den Erfahrungen
und Ergebnissen aus dem
¢
Trägerschaft der Arbeitnehmerkammer Bremen
durchgeführt wurde.
2013 auslaufenden Pro-
2 Eine Berufskrankheitenan-
jekt ›Wissenstransfer zur
zeige kann jeder stellen:
präventiven Unterstützung
der oder die Betroffene
von Betrieben zur Verhin-
selbst, Angehörige, der
derung von Berufskrank-
Betriebsrat, die Kranken-
heiten‹ aufbauen, das –
kasse oder die Renten-
gefördert mit Mitteln aus
versicherung. Der
dem Europäischen Struk-
Arbeitgeber und Ärzte
turfonds (EFRE) – von Mai
müssen es tun.
2011 bis Juni 2013 in
Warum brauchen die Betroffenen
Unterstützung?
Die Berufskrankheiten sind ein Sonderfall der arbeitsbedingten Erkrankungen. Nur diejenigen Krankheiten, die
in der Berufskrankheiten-Liste (BK-Liste) aufgeführt sind,
können unter eng definierten Kriterien als Berufskrankheit
anerkannt werden. Berufskrankheiten fallen nicht wie
andere Erkrankungen in die Zuständigkeit der Krankenversicherung. Die durch eine Berufskrankheit entstehenden
Kosten werden wie beim Arbeitsunfall aus der gesetzlichen
Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften (BG),
getragen. Dieser Zweig der Sozialversicherung wird ausschließlich aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert, denn
die gesetzliche Unfallversicherung übernimmt die Haftpflicht des Arbeitgebers, wenn Beschäftigte einen Schaden
erleiden. Die BG zahlt die infolge von Unfällen oder Berufskrankheiten anfallenden Behandlungskosten, gesundheitliche und berufliche Rehabilitationsleistungen sowie Renten
zur Kompensation von Erwerbsminderung.
Das Berufskrankheiten-Modell baut auf dem Verständnis
des Unfallversicherungsrechts auf: Eine (eindeutige) Ursache
erzeugt eine (eindeutige) Wirkung. Der Zusammenhang
zwischen einem Unfallereignis und dem Unfallschaden
leuchtet ein, denn sie liegen in der Regel zeitlich nahe
beisammen. Bis sich die Symptome einer Berufserkrankung
bemerkbar machen, vergehen aber meist mehrere Jahre,
bei Asbest- und Krebserkrankungen oft Jahrzehnte. Ein
Ursache-Wirkungszusammenhang ist dann nur noch schwer
abzuklären – beweisen müssen ihn die Betroffenen.
76
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 1:
Land Bremen: angezeigte, anerkannte und
erstmals entschädigte Berufskrankheiten 2011
75
Lendenwirbelsäule
7
3
120
Lärmschädigung
50
3
216
Asbestose
165
65
111
Lungen-/Kehlkopfkrebs, Asbest
44
44
314
Hautkrankheiten
8
2
100
0
angezeigte Berufskrankheiten
200
300
anerkannte Berufskrankheiten
400
BK-Rente
Quelle: DGUV Statistik 2013
Ist das der Fall, wird der Zusammenhang
zwischen Einwirkung und Krankheit durch
ein medizinisches Gutachten abgeklärt.
Bis eine Berufskrankheit anerkannt wird,
gibt es viele Hürden, wie die Erfahrungen aus
mehr als 180 Beratungsfällen im Projekt ›Wissenstransfer Berufskrankheiten‹ zeigen. In
vielen Fällen stehen die Chancen auf Anerkennung einer Berufskrankheit schlecht, wenn
beispielsweise die mit der beruflichen Tätigkeit verbundenen Belastungsfaktoren nicht
qualifiziert beschrieben oder im Betrieb keine
Unterlagen über Arbeitsstoffe mehr vorhanden
sind. Viele der Ratsuchenden können ihre
berufliche Biografie auch deshalb nicht vollständig belegen, weil sie als Leiharbeiter oder
als Beschäftigter einer Fremdfirma in verschiedenen Unternehmen eingesetzt waren, oder
weil Betriebe nicht mehr existieren. Das trifft
Abb. 2:
Beweisschritte im Berufskrankheitenverfahren
versicherte
Tätigkeit
e
schädigende
Einwirkung
Zusammenhangsbeweis
e
Erkrankung
Zusammenhangsgutachten
beispielsweise auf den Hafenumschlag zu. Der
Bremer Überseehafen war bis in die 1970erJahre Deutschlands Hauptumschlagsplatz für
Asbest. Um jedoch im konkreten Fall eine
Asbestexposition zu beweisen, braucht es oft
detektivischen Spürsinn. Ein wesentlicher Teil
der Beratung besteht darin, die Ratsuchenden
beim Nachweis des beruflichen Zusammenhangs zu unterstützen.
Einige Berufskrankheiten werden nur
dann anerkannt, ›wenn sie zur Unterlassung
aller Tätigkeiten geführt haben, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das
Wiederaufleben der Krankheit ursächlich
waren oder sein können‹, so § 9 Siebtes Sozialgesetzbuch. Diese einschränkende Bedingung
gilt für neun Berufskrankheiten, die mehr
als die Hälfte aller BK-Anzeigen, darunter
Haut-, Sehnenscheiden- und Wirbelsäulenerkrankungen ausmachen.
Forderungen/ Perspektiven
Vor allem die Betroffenen, aber auch die Sozialversicherungssysteme und vor allem die
Arbeitgeber haben Vorteile, wenn Ansprüche
der Versicherten zügiger abgeklärt und vor
allem die Aktivitäten zur Prävention von
77
WIRTSCHAFT ARBEIT ARBEITSMARK TPOLITIK
¢
Eine BK-R ente ist nicht mit einer Altersrente
gleichzusetzen. Entschädigt wird der Grad, in
dem die ›Minderung der Erwerbsfähigkeit‹
(MdE), die ausdrückt, inwiefern durch die
Berufserkrankung der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigt ist. Durch
eine abstrakte Schadensberechnung auf Grundlage des Jahresarbeitsverdienstes (JAV )3, maßgeblich das Arbeitseinkommen im Jahr, bevor
die Berufserkrankung aufgetreten ist, wird die
Rente festgesetzt. Der Zahlbetrag errechnet
sich als Prozentsatz, analog dem Prozentsatz
der MdE. Gezahlt wird erst ab einer MdE von
20 Prozent – dieser Wert wird jedoch meist
infolge einer Berufserkrankung nicht erreicht
– bis maximal zwei Drittel des JAV , bei einer
MdE von 100 Prozent. Die BK-Rente ist ein
abstrakt berechneter Zahlbetrag und wird
zusätzlich zum Gehalt gezahlt, auf Alters- oder
Erwerbsminderungsrente aber teilweise und
auf Hartz-IV-Leistungen voll angerechnet.
Frauen sind häufig nicht direkt, sondern als
Angehörige oder Hinterbliebene von einer
Berufskrankheit betroffen. Auch Witwen und
Witwer haben Anspruch auf Rente, die jedoch
auf Erwerbseinkommen, Altersrenten und
Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird.
Berufskrankheiten verbessert werden. Die
Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten kann erhalten und Kosten für Behandlung und Rehabilitation können eingespart werden, Lohnnebenkosten, wie die Beiträge für die Krankenkassen und für die gesetzliche Unfallversicherung gesenkt werden. Es bleibt zu hoffen,
dass alle beteiligten Stellen dazu beitragen,
künftig die mit dem Projekt aufgebaute Vernetzung zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Handlungsbedarf gibt es auf
verschiedenen Ebenen:
❚ In den Betrieben:
Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung gerecht
werden und durch systematischen Arbeitsschutz und
eine bessere betriebliche Prävention Berufskrankheiten verhüten und die Gesundheitsrisiken bei der
Arbeit dokumentieren.
❚ Bei Institutionen und Experten:
Die Berufsgenossenschaften müssen ihrem gesetzlichen Auftrag, Berufskrankheiten mit allen
geeigneten Mitteln zu verhüten, nachkommen –
durch Beratung und Kontrolle in den Betrieben.
Die Abklärung einer Berufskrankheit muss von den
zuständigen Stellen zwar zügig, aber vor allem
qualitätsgesichert, also sorgfältig und auf Grundlage des Standes der Wissenschaft erfolgen.
Ärzte sollten systematischer als dies bisher der Fall
ist, bei der Diagnose und Behandlung die
Möglichkeit einer Berufskrankheit berücksichtigen
und im Verdachts- oder Zweifelsfall eine BK-Anzeige
stellen.
❚ Für die Politik:
Die staatliche Gewerbeaufsicht und insbesondere der
Landesgewerbearzt haben wichtige Funktionen für
die Prävention von Berufskrankheiten und als unabhängige Experten im BK-Verfahren. Deshalb muss
auf Landesebene dafür gesorgt werden, dass die
personelle Ausstattung auch künftig zumindest
erhalten bleibt.
Weil die Beweislast die Betroffenen oft in Beweisnot
bringt, hat das Land Bremen eine Initiative zur
Änderung der rechtlichen Vorgaben vorbereitet, um
die Beweislast umzukehren oder mindestens zu
erleichtern. Sie stand zunächst in der Arbeits- und
Sozialministerkonferenz auf der Tagesordnung. Die
Chancen auf Durchsetzung sind auch aufgrund der
veränderten Sitzverteilung im Bundesrat gestiegen
und deshalb ist an der Zeit, die Initiative auch auf
dieser Ebene voranzubringen. Auch sollte geprüft
werden, ob das einschränkende Kriterium der
Tätigkeitsaufgabe bei der weiteren Verfolgung der
Initiative zur Erleichterung der Beweislast einbezogen werden kann.
3 Der JAV ist nach oben
und nach unten begrenzt
auf 32.340 Euro bzw.
höchst unterschiedlich
62.400 bis 84.000 Euro,
für Ostdeutschland gelten niedrigere Beträge.
78
2
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Gesundheit, Rente,
Bildung und Integration
79
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Zur Situation in der Pflege
Zwischen Fachkräftebedarf und Pflegenotstand
CAROL A BURY
Der ›demografische Wandel‹ wird häufig
als Grund für einen steigenden Bedarf an
Pflegekräften angeführt. Verschiedene Prognosen gehen bundesweit von mehreren Hunderttausend fehlenden Pflegekräften aus – umgerechnet in Vollzeitstellen und bezogen auf
das Jahr 2030.1 Zwischen Panikmache und
Beschwichtigung liegt derzeit – je nach Interessenlage – die Haltung in Bezug auf die Pflege
und die Versorgung Pflegebedürftiger und
Kranker. Das Schlagwort ›Pflegenotstand‹
beschrieb in den 1960er- und 1970er-Jahren
des 20. Jahrhunderts in Deutschland den
akuten Mangel an Personal vor allem in den
Krankenhäusern. Heute wird es sowohl auf
die stationäre Krankenpflege wie auf die Altenpflege angewendet, um die durch Unterbesetzung und Minutenpflege angespannte Situation der Beschäftigten und die nicht ausreichende Versorgung der Pflegebedürftigen zu
kritisieren. Damals wie heute wird als Lösung
die Anwerbung ausländischer hoch qualifizierter Krankenschwestern sowohl aus den
europäischen Staaten, aber auch aus Indien
und China gefordert. ›Pflegenotstand‹
bedeutet, dass für die Versorgung nicht
genügend Personal zur Verfügung steht und
der Versorgungsauftrag von Kommunen
und Staat nicht mehr ausreichend erfüllt
werden kann.
Dabei muss in Bezug auf die ›Diagnose‹ genau
unterschieden werden:
❚ Personalmangel kann durch schlechte Arbeitsbedingungen entstehen, wenn zum Beispiel Fachkräfte abwandern und Unternehmen Fachkräfte
nicht binden können oder eine Unterbeschäftigung
besteht.
❚ Ein Arbeitskräftemangel würde sogar bestehen,
wenn Arbeitskräfte auf allen Qualifikationsniveaus
nicht zur Verfügung stehen – im Fall des Berufsfelds
Pflege also beispielsweise auch Helferinnen und
Helfer.
❚ Fachkräftemangel bedeutet, dass Arbeitskräfte mit
qualifizierten Berufsabschlüssen und Kompetenzen
nicht ausreichend zur Verfügung stehen, etwa weil
nicht ausreichend ausgebildet beziehungsweise qualifiziert wurde und/oder Fachkräfte nicht gebunden
werden können.
1 Entscheidende Frage
bei den verschiedenen
Szenarien kommt den
jeweiligen Pflegearrangements zu und
den regional unterschiedlichen Entwicklungen in Bezug auf die
Pflegefälle und den
Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung. Die
Modellrechnungen des
IAB unterscheiden
nach gleichbleibenden
Raten die Versorgung
durch Angehörige (46
Prozent), durch die
ambulante Versorgung
(22 Prozent) und in
stationären Einrichtungen (32 Prozent). Dabei
wäre ein Personalbedarf
Die Agentur für Arbeit spricht bei ihren Analysen häufig von ›Engpässen‹, um deutlich zu
machen, dass nicht geklärt ist, inwieweit die
angebotenen Stellen so unattraktiv sind, dass
sie nicht besetzt werden können, oder ob es an
einem Mangel an Fachkräften liegt.
In der Pflege im Land Bremen gibt es derzeit zwar keinen Arbeitskräftemangel – denn
Helferinnen und Helfer werden teilweise sogar
über Bedarf ausgebildet. Ein Personal- und
Fachkräftemangel lässt sich in der Pflege
aber durchaus belegen: Schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und ein hoher
Teilzeitanteil machen den Beruf unattraktiv
und halten junge Menschen davon ab, eine
Ausbildung in der Pflege anzustreben. Im
Ergebnis steht also zu wenig Personal zur
Verfügung. Gleichzeitig gibt es nicht genügend
Fachkräfte, weil zu wenig qualifiziert und
ausgebildet wird. Statt also qualifizierte Kräfte
einzustellen, müssen Einrichtungen teilweise
auf Helferinnen und Helfer zurückgreifen.
in Höhe von 796.000
Vollzeitäquivalenten
bundesweit für 2030
nötig, um die Versorgung sicherzustellen.
Im Alternativszenario
wurde angenommen,
dass die Zahl der pflegenden Angehörigen
stagniert. Danach würde
dann ein Personalbedarf
in Höhe von 888.000
Vollzeitäquivalenten
für ambulante und
stationäre Versorgung
gemeinsam errechnet.
Vgl. Pohl, Carsten:
Arbeitsmarkt Altenpflege. Der Ruf nach
Hilfe wird immer lauter.
In: IAB-Forum 1/2012,
S. 92–93. Die Studie
der Bertelsmann
Stiftung geht von rund
500.000 Vollzeitäquivalenten zum Jahre 2030
aus. Vgl. Rothgang/
Müller/Unger: Themenreport ›Pflege 2030‹,
2012.
80
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
2 Zwischen 1996 und
2001 lagen die Gründe
für den Stellenabbau
vor allem in den politisch vorgegebenen pauschalen Kürzungen und
Deckelungen der Budgets. Ab 2001 geht der
Stellenabbau deutlich
über das Maß der Budgetreduzierung hinaus.
›Offensichtlich wurden
Pflegepersonalstellen
vielfach auch reduziert,
um Finanzmittel für
andere Zwecke freizusetzen. Im Vordergrund
standen dabei vor allem
die Finanzierung dringend notwendiger Investitionen und die Bereitstellung von Mitteln
für zusätzliche Stellen
im ärztlichen Dienst.‹
Vgl. Simon, Michael:
Beschäftigte und
Beschäftigungsstrukturen in Pflegeberufen.
Eine Analyse der Jahre
1999 bis 2009.
Berlin 2012, S. 35 f.
3 Vgl. Simon, Michael:
Beschäftigte und
Beschäftigungsstrukturen in Pflegeberufen.
Eine Analyse der
Jahre 1999 bis 2009.
Berlin 2012.
Beim Fachkräftebedarf im Pflegesektor sind
neben der Gesundheitspolitik und natürlich
den Arbeitgebern auch die Bildungs- und
Arbeitsmarktpolitik gefragt, ihren Teil zu einer
ausreichenden und fachgerechten Ausbildung
der jeweiligen Fachkräfte beizutragen. Zudem
müssen für die Branche Lohn-, Einstellungsund Weiterbildungsfragen bearbeitet werden,
um langfristig Fachkräfte auszubilden,
an Betriebe zu binden und dadurch den Fachkräfte- und Personalmangel abzubauen.
Im Unterschied zu anderen Berufsbereichen, die ebenfalls Fachkräfte suchen, wie
Mediziner oder Ingenieure, hat die Pflege
gleich mehrere Herausforderungen. Zum
einen lässt die Alterung der Bevölkerung die
Nachfrage nach Dienstleistungen in der
Gesundheitsbranche vermutlich steigen, zum
anderen gehen immer mehr Fachkräfte in
den Ruhestand. In der Konkurrenz um motivierten Nachwuchs zwischen den Branchen
werden die Gesundheitswirtschaft und Pflege
nicht nur an ihrer Krisensicherheit gemessen,
sondern sie müssen sich dem Wettbewerb
mit anderen Beschäftigungsbranchen bei
sinkenden Geburtenraten stellen. Während
im Handwerk und Gewerbe der Markt Möglichkeiten hat, zum Beispiel durch Anheben
der Löhne und Verbesserung von Arbeitsbedingungen zu punkten, ist dies beim Sozialsektor
nur in geringem Ausmaß möglich. Die über
Krankenkassenbeiträge, Pflegeversicherung
oder durch private Mittel aufzubringenden
Etats sind begrenzt und häufig ›gedeckelt‹.
Seit Jahren wurden die Tagessätze weder im
Krankenhausbereich noch in der ambulanten
oder Heimpflege ausreichend angepasst.
Als Reaktion auf die begrenzten Mittel wurde
Personal abgebaut.
Deutlich wird dies am Beispiel der Krankenhäuser: In den vergangenen Jahren sind viele
Stellen gekürzt worden – bundesweit waren
es zwischen 1999 und 2006 mehr als umgerechnet 50.000 Vollzeitstellen (-15 Prozent).
Die Zahl der Beschäftigten ging aber lediglich
um 36.300 (-8,5 Prozent) zurück. Dies führte
zu einer überproportionalen Zunahme von
Teilzeit-Arbeitsverhältnissen. So stieg die Teilzeitquote bis 2009 auf 47,3 Prozent in den
Krankenhäusern an.2 In den Bremer Kliniken
wurden seit Einführung der Fallpauschalen
in den Krankenhäusern mehrere Hundert
Vollzeitstellen gestrichen.
Dies führte zu einer steigenden Arbeitsbelastung und teils chronischer Unterbesetzung
von Stationen. Viele Pflegekräfte sind auf die
ambulante Pflege ausgewichen, die zugleich
ein stark wachsender Bereich ist.3
a) Sicherstellung der Pf lege
und Pf legearrangements
Die Sicherstellung der Pflege und Pflegearrangements ist eine Herausforderung für
Kommunen, Kassen und Sozialpolitik und dies
sowohl im Hinblick auf die Organisation und
Finanzierung der Versorgung als auch mit
Blick auf die Legitimation des Sozialstaats.
Noch immer ist die Familie der größte Pflegebetrieb der Nation, doch die ›aufopfernden‹
Ehefrauen und Töchter werden weniger.
Erwerbsarbeit und Familienstrukturen haben
sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Die vom Arbeitsmarkt
geforderte Mobilität bedeutet auch, dass Kinder und pflegebedürftige Eltern oft räumlich
entfernt voneinander leben.
Professionelle Unterstützung durch ambulante Pflege oder stationäre Pflege eröffneten
für immer mehr Pflegebedürftige eine bessere
Versorgung und damit neue gewerbliche
Entwicklungsmöglichkeiten für Dienstleister.
Voraussetzung dafür war die neu begründete
Pflegeversicherung (SGB XI) ab 1995. Die ambulanten Pflegeeinrichtungen haben inzwischen
mit rund 3.500 Beschäftigten im Land Bremen
eine wirtschaftliche und beschäftigungsrelevante Größe erreicht, auch die Beschäftigung
in stationären Einrichtungen ist mittlerweile
auf 5.500 Pflegekräfte angewachsen.
Entsprechend wird mit Prognosen versucht,
den zukünftigen Bedarf an Pflegekräften
hochzurechnen. So wurden Ende des Jahres
81
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
2012 die kleinräumigen Prognosen des Bremer
Gesundheitsökonomen Prof. Heinz Rothgang
und seiner Mitarbeiter vorgestellt. Auf der
Basis von Bevölkerungsvorausberechnungen
führten die Bremer Wissenschaftler des
Zentrums für Sozialpolitik im Auftrag der
Bertelsmann Stiftung Vorausberechnungen zur
Situation der Pflegebedürftigen bis zum
Jahr 2030 durch. Im Vergleich zu anderen
Bundesländern stellt sich die Situation in Bremen weniger dramatisch dar. So wiesen die
Modellrechnungen für den Stadtstaat Bremen
im Zeitraum von 2009 bis 2030 ein Wachstum
der Zahl der Pflegebedürftigen von 28 Prozent
aus. Wie unterschiedlich die Ergebnisse
auch sind: Die Kommunen müssen handeln.
Und auch auf Bundesebene ist klar, dass
endlich Versorgungs- und Finanzierungsfragen der Pflegeversicherung geklärt werden
müssen.
b) Die Ökonomisierung der Pf lege
Auf den wachsenden ökonomischen Druck im
Gesundheitswesen ist die Arbeitnehmerkammer bereits im Lagebericht 2012 eingegangen.
Dieser lässt sich unter anderem daran ablesen,
dass Fragen der Versorgung als ›gesundheitswirtschaftliche Fragen‹ behandelt werden –
und eben nicht als Fragen der angemessenen
Versorgung.
Die Kostenträger für Pflege unterscheiden
sich nach Bereichen der stationären beziehungsweise ambulanten Krankenversorgung
(SGB V) und nach dem Sozialgesetzbuch XI,
das die stationäre und ambulante Versorgung
Pflegebedürftiger, meist älterer Menschen,
regelt. Größter Ausgabenträger im Gesundheitswesen bundesweit war 2011 die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) mit rund 169
Milliarden Euro.4 Für die Pflegeversicherung
(SGB XI) wurden 2011 etwa 20,9 Milliarden
Euro für Leistungen aufgewandt.5
In allen Bereichen vollzog sich die Entwicklung seit den 1990er-Jahren in einem
Spannungsfeld zwischen gedeckelten Budgets
und der Bedarfsdeckung. Dabei wurde für den
Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung
1989 der Grundsatz der Beitragssatzstabilität
aufgenommen. Dieser begrenzt nicht nur
die Gesamtausgaben der Krankenversicherung,
sondern auch die Ausgaben der Leistungserbringer. Die tatsächlichen Bedarfe spielen
dabei eine untergeordnete Rolle. Die Pflegeversicherung ist vom Anfang ihrer Entstehung
an nie eine Vollversicherung, sondern lediglich
eine Teil-Versicherung gewesen. Auch bei der
Pflegeversicherung war es Vorgabe der Bundesregierung, die Lohnnebenkosten insgesamt
nicht weiter ansteigen zu lassen. Der zunehmende Kosten- und Leistungsdruck, der im
Rahmen personenbezogener Dienstleistungen
eben nicht einfach durch Rationalisierung
beziehungsweise eine erhöhte Produktivität
erzielt werden kann, hat in der Pflege
verschiedene Auswirkungen:
❚ Die Rahmenbedingungen verändern sich
erheblich durch neue Berechnungsgrundlagen.
Es entkoppeln sich aber auch die Entgeltstrukturen
von den erbrachten pflegerischen Leistungen, da
die Budgets für die Dienstleistungen gedeckelt
sind. Die Folge: Belastung und Arbeitsverdichtung
nehmen zu.
❚ Darüber hinaus wird das patientenbezogene Denken
und Handeln durch eine betriebswirtschaftliche
Handlungslogik verändert. Medizinisch-pflegerische
Versorgungsziele werden durch wirtschaftliche
Vorgaben bestimmt.
4 Vgl. GKV Spitzenverband 2013, Leistungsausgaben insgesamt.
5 Vgl. Bundesministerium
für Gesundheit, amtliche
Statistik PV 45/2010.
6 DRG: Diagnosis Related
Groups, diagnosebezogene Fallgruppe ist ein
Klassifikationssystem,
das Grundlage für
die Abrechnung beim
Deutlich wird dies aus Sicht der Pflegekräfte
zum Beispiel an der veränderten Dokumentation der Pflegearbeit:
Der Anteil der Dokumentation hat sich im
Vergleich zu früher erheblich gesteigert
und dient nicht mehr allein der Sicherstellung
der Versorgungsqualität, sondern vor allem
zur rechtlichen Absicherung und Beleg
gegenüber Ansprüchen von Patienten,
Angehörigen und Leistungsträgern. Zudem ist
die Dokumentation Grundlage für die Optimierung der Erlöse im DRG6-System des Krankenhauses und auch in der ambulanten Pflege.
Kostenträger ist. Muss
bei der Behandlung
eines Patienten mehr
aufgewendet werden,
als durch die pauschale
Vergütung gedeckt ist,
kommt es zu Verlusten.
Ein Gewinn lässt sich
nur erzielen, wenn es
gelingt, wirtschaftlicher
zu arbeiten, als bei
der Kalkulation der DRGPauschale berechnet
wurde. Basis ist das
Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) von
2002.
82
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
7 Mit den Auswirkungen
durch die Umstellung
auf DRG-System haben
sich in den vergangenen
Jahren vor allem zwei
Forscherteams beschäftigt und dazu veröffentlicht. Vgl. Buhr, Petra/
Klinke, Sebastian:
Qualitative Folgen der
DRG-Einführung für
Arbeitsbedingungen und
Versorgung im Krankenhaus unter Bedingungen
fortgesetzter Budgetierung, Bd. SP I 2006311, WZB Discussion
Paper. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung
2006. Braun, Bernard
u.a.: Einfluss der DRGs
auf Arbeitsbedingungen
und Versorgungsqualität
von Pflegekräften im
Krankenhaus – Ergebnisse einer bundesweiten schriftlichen Befragung repräsentativer
Stichproben von Pflegekräften an Akutkrankenhäusern in den Jahren
2003, 2006 und 2008.
artec-paper Nr. 173,
Bremen Januar 2011.
8 Zum Beispiel EuGHUrteil zum Beschäftigungsdienst von Ärzten.
9 Vgl. Braun u.a. (2006),
S. 9–12.
Was den Personalbestand angeht, so bestehen
zwar in der ambulanten und stationären
Pflege Vorgaben über Fachkraftquoten, nicht
jedoch über Personalrichtwerte, also die
Ausstattung von Bereichen mit Personal.
Zudem sind die Entgelte niedrig angesetzt und
wurden in den zurückliegenden Jahren nicht
ausreichend angepasst. Im Krankenhaus wurde
mit dem DRG-System der bis dahin bestehende
Personalschlüssel bei den Pflegekräften aufgehoben.
Mit dieser Entwicklung einhergehen
Arbeitsverdichtung und Erhöhung der Arbeitstempi als wesentliche Veränderungen der
Arbeitssituation von Pflegekräften in einem
System der Versorgung, das ökonomische
Anreize vor allem in der Erhöhung von Fallzahlen, zeitlichen Reglementierungen oder der
Zerlegung von Dienstleistungen setzt. Diese
Entwicklungen kennzeichnen inzwischen
alle Bereiche der Pflege.
Im Krankenhaus gingen mit der neuen
Orientierung auf das DRG-Abrechnungssystem
auch Statusveränderungen und eine Umbildung der Hierarchie einher. Während der
Einfluss des Managements und der Controller
wuchs, verloren sowohl Ärzte, vor allem aber
die Pflege an Einfluss, Anerkennung und
Funktionen.7 Interne Umverteilungen gingen
meistens zulasten der Pflege, während die ärztlichen Dienste eher entlastet wurden.8 Angesichts klammer kommunaler Kassen wurden
die nach der dualen Krankenhausfinanzierung
notwendigen Investitionen zusätzlich auf
die Krankenhäuser abgewälzt, die mögliche
Gewinne zur Finanzierung von Investitionen
ebenfalls zulasten der Pflegedienste zu
generieren suchten.
Höhere Tarifabschlüsse werden seit Jahren
nicht durch Erhöhungen auf der Seite der
Kostenträger gegenfinanziert.
Die Folge ist wiederum ein angekündigter Stellenabbau. In der Not, ›dem Mangel an Händen
und Köpfen‹, wird von Pflegedienstleitungen
und Politik der Einsatz niedrig Qualifizierter
angedacht. Doch der Personalabbau zum
Beispiel im Krankenhaus ist längst so weit fortgeschritten, dass häufig nur noch Mindestbesetzungen vorhanden sind.
Aus den ›Fürsorgeanstalten‹ wurden Krankenhaus-Dienstleistungsunternehmen, die ihre
Wettbewerbsfähigkeit am Markt behaupten
müssen und auf ›Kundenbindung‹ angewiesen
sind. Der einzelne Patient ist Teil einer
Gewinnschöpfungs-Kette, alle Teile sind immer
weiter zu optimieren.
Hier wird häufig nicht differenziert, dass
das Problem der Krankenhäuser nicht allein
ein Fachkraftmangel ist. Der massive Stellenabbau hat zu einer Abwanderung von Fachkräften geführt und zu einer steigenden
Arbeitsbelastung und chronischen Unterbesetzung.
Damit einhergeht bei den Pflegekräften
eine Auseinandersetzung mit dem eigenen
beruflichen Selbstverständnis und der Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten.
Pflegekräfte erleben diese Entwicklung
auf zwei Ebenen:
❚ Bei den optimierten und stärker medizinisch
ausgerichteten ›normierten‹ Behandlungen werden
pflegerische Elemente zurückgedrängt. Sie
erscheinen als untergeordnete Assistenzarbeit zur
medizinisch-ärztlichen (abrechnungsrelevanten)
Tätigkeit. Angesichts des Stellenabbaus und neuer
administrativer Aufgaben entwickelte sich ein
Selbstverständnis, als Pflegekraft nicht gut genug
ausgebildet zu sein und keinen eigenständigen Einfluss aus pflegerischer Sicht zu haben. Kooperation
und Kommunikation zwischen den ärztlichen und
pflegerischen Tätigkeiten werden faktisch erschwert.9
❚ Das Erleben der Sinnhaftigkeit der pflegerischen
Tätigkeit in diesem traditionell geprägten Berufsbild gilt als eine der wichtigsten Positivressourcen
und auch als Positivfaktor in der Konkurrenz
um potenzielle Berufskandidatinnen und
-kandidaten. Durch die beschleunigten Abläufe wird
83
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 1: Pflege in Zahlen
Land Bremen
Pflege 2011
männlich
weiblich
Stadt Bremen
insgesamt
männlich
weiblich
Bremerhaven
insgesamt
männlich
weiblich
insgesamt
Personal stationäre Einrichtung
15,55 %
84,45 %
5.478
15,81 %
84,19 %
4.763
13,85 %
86,15 %
715
davon Vollzeitbeschäftigte
26,11 %
73,89 %
1.348
27,89 %
72,11 %
1.083
18,87 %
81,13 %
265
davon Teilzeitbeschäftigte
11,23 %
88,77 %
3.909
11,44 %
88,56 %
3.497
9,47 %
90,53 %
412
10,55 %
89,45 %
2.682
10,48 %
89,52 %
2.423
11,20 %
88,80 %
259
91
n
davon Teilzeitbeschäftigte über 50%
n
davon 50% und weniger, nicht geringfügig
n
geringfügige Teilzeitbeschäftigung
8,42 %
91,58 %
546
9,67 %
90,33 %
455
2,20 %
97,80 %
16,15 %
83,85 %
681
16,48 %
83,52 %
619
12,90 %
87,10 %
62
Personal ambulante Dienste
14,34 %
85,66 %
3.472
14,86 %
85,14 %
2.881
11,84 %
88,16 %
591
davon Vollzeitbeschäftigte
22,73 %
77,27 %
748
22,91 %
77,09 %
563
22,16 %
77,84 %
185
davon Teilzeitbeschäftigte
11,91 %
88,09 %
2.696
12,71 %
87,29 %
2.298
7,29 %
92,71 %
398
12,12 %
87,88 %
1.510
13,15 %
86,85 %
1.278
6,47 %
93,53 %
232
6,45 %
93,55 %
372
7,67 %
92,33 %
300
1,39 %
98,61 %
72
14,00 %
86,00 %
814
14,03 %
85,97 %
720
13,83 %
86,17 %
94
n
davon Teilzeitbeschäftigte über 50%
n
davon 50% und weniger, nicht geringfügig
n
geringfügige Teilzeitbeschäftigung
Empfänger/innen SGB XI,
33,46 %
66,54 %
22.178
32,96 %
67,04 %
17.771
35,49 %
64,51 %
4.407
n
ambulante Pflege
28,53 %
71,47 %
6.222
0,00 %
0,00 %
0
0,00 %
0,00 %
0
n
stationäre Pflege
26,28 %
73,72 %
6.263
0,00 %
0,00 %
0
0,00 %
0,00 %
0
n
Angehörigenpflege/Pflegegeld und Kombi
38,86 %
61,14 %
12.476
0,00 %
0,00 %
0
0,00 %
0,00 %
0
Pflege-Versicherung, insgesamt
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Pf legestatistik
die psychosoziale Versorgung der Patientinnen
und Patienten, die in der traditionellen Pflege
Leitbild war, zurückgedrängt und findet keinen
Raum mehr. Damit erleben Pflegekräfte im Ergebnis
weniger Arbeitszufriedenheit.
c) Veränderung der
Beschäftigungsstruktur
Die veränderten gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen schlagen durch
auf die Struktur der Beschäftigung in diesem
Sektor. Dies machen auch die Ergebnisse
aus der Pflegestatistik10 deutlich, die für
Bremen-Stadt, Bremerhaven und das Land
Bremen die Veränderung im vergangenen
Jahrzehnt nachvollziehen.
Während die Zahl der Beschäftigten sich für
den Bereich der ambulanten und stationären
(Alten-)Pflege im Land Bremen von 2001 auf
2011 um 33,44 Prozent auf 8.950 erhöht hat,
sind die Effekte in den einzelnen Bereichen
und Regionen sehr unterschiedlich. Während
in Bremen der ambulante Bereich bei den
Beschäftigten mit 30 Prozent in der ambulanten Pflege und in der stationären Pflege um
40 Prozent zulegen konnte, wuchs in Bremerhaven lediglich der stationäre Bereich,
während die ambulante Pflege keine Erhöhung der Beschäftigung ausweist.
Seit Einführung der Pflegeversicherung
(SGB XI) ist die ambulante Pflege deutlich ausgebaut worden und gilt als ›Jobmotor‹. In der
ambulanten Pflege werden heute überwiegend
nur Teilzeitbeschäftigungen angeboten. Die
Pflegestatistik 2011 weist für das Land Bremen
78 Prozent aus, im Jahre 2001 waren es noch
65 Prozent.11 Inwieweit damit das Argument
des Jobmotors überhaupt belegbar ist, bleibt
offen, denn eine Bilanz umgerechnet auf
Vollzeitstellen ist nicht möglich.
Zwar bietet die ambulante Pflege für
Beschäftigte in der Familienphase oder beim
10 Alle Daten aus:
Statistisches Landesamt
Bremen, Pflegestatistik
2001 und 2011.
11 Dabei beträgt der Anteil
für Teilzeitarbeitende in
Bremen-Stadt sogar 80
Prozent, in Bremerhaven
lediglich 68 Prozent. Es
ist davon auszugehen,
dass die niedrigere
Teilzeitrate auch dadurch
zu erklären ist, dass
Beschäftigte in Bremerhaven eher auf Vollzeitverträgen bestehen,
um existenzsichernde
Löhne zu erhalten.
84
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
¢
Pflege und Pflegearbeit ist weiblich
Professionelle, berufliche Pflege wird überwiegend von Frauen geleistet, dies zeigt
sich zum Beispiel in den Zahlen der Pflegever-sicherung. Sowohl in der ambulanten
wie der stationären Pflege arbeiten mehr
als 80 Prozent Frauen. Die meisten Frauen
arbeiten in Teilzeit-Arbeitsverhältnissen.
Auch die zu Pflegenden sind überwiegend
weiblich. Rund 67 Prozent der Pflegebedürftigen sind Frauen.
12 Vgl. Bundesagentur für
Arbeit: Der Arbeitsmarkt
in Deutschland 2011 –
Gesundheits- und
Pflegeberufe,
Dezember 2011, S. 11.
13 Die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) in der HansBöckler-Stiftung basiert
auf einer Online-Befragung des LohnSpiegels
von rund 3.550
Beschäftigten aus
verschiedenen Berufen
und Tätigkeitsbereichen
in der Kranken- und
Altenpflege.
14 Vgl. alle Angaben
www.lohnspiegel.de,
Stand 17.1.2013.
15 Im Pflegebereich
verdienen die Frauen
im Durchschnitt
11,7 Prozent weniger
als die Männer. Frauen
verdienen im Durchschnitt monatlich
2.268 Euro, Männer
verdienen mit
2.567 Euro rund
300 Euro mehr.
Wunsch nach selbstbestimmter und ganzheitlicher Pflege teilweise interessante Beschäftigungsmöglichkeiten, doch überwiegend ist
die hohe Teilzeitquote betriebswirtschaftlich
begründet. Einfach gesagt: Teilzeitbeschäftigung ist ein Instrument zur Flexibilisierung
des Personaleinsatzes und um Personalkosten
zu reduzieren. Viele Fachkräfte brauchen
und wollen jedoch existenzsichernde Löhne,
Teilzeit kommt für sie damit nicht infrage.
Auch in den Pflegeheimen werden zunehmend überwiegend Teilzeitstellen angeboten.
Auch hier zählt die Zahl der Köpfe und der
Hände(!). Dabei ist auch hier seit 2001 eine
Ausweitung der Teilzeit von 58 auf heute
75 Prozent der Beschäftigten in stationären
Einrichtungen im Land Bremen festzustellen.
Vor allem in der stationären Pflege wird
diese Kostensenkung durch den Einsatz
niedrig qualifizierter Beschäftigter in der
Pflege ›optimiert‹, solange die vorgegebene
Fachkraftquote erreicht ist.
Bundesweit wurden Teilzeitbeschäftigungen
in der Krankenhaus-Pflege stark ausgeweitet –
innerhalb von zehn Jahren von 35,1 Prozent
(1999) auf 47,3 Prozent (2009). Die Gründe
auf Arbeitgeberseite waren, dadurch Personalkosten zu reduzieren und dennoch einen Pool
von Beschäftigten mit flexiblen Einsatzmöglichkeiten zu erhalten. Zugleich reagierten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die
steigende Arbeitsbelastung mit einer ›Flucht
in die Teilzeit‹.
Auch in den Gesundheits- und Pflegeberufen
ist die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsformen deutlich angestiegen. Rund 60 Prozent
arbeiten als ausschließlich geringfügig
Beschäftigte, 40 Prozent im Nebenerwerb.
Auch wenn geringfügige Beschäftigung in den
Gesundheits- und Pflegeberufen noch eine
untergeordnete Bedeutung hat, so sind einzelne Zuwächse erheblich und verwunderlich:
Bei den Ärzten stiegen Minijobs um 92 Prozent
(auf bundesweit 2.700), bei Masseurinnen/Masseuren und Krankengymnastinnen/-gymnasten
um 81 Prozent (auf 21.000), bei Sozialarbeitern
und Beschäftigten in der Altenpflege um
73 Prozent (auf 56.800).12
d) Lohnniveaus und Lohnfindung
in der Pf lege
Der Lohnspiegel des WSI-Tarifarchivs der
Hans-Böckler-Stiftung hat sich in einer Untersuchung mit den Gehältern von Beschäftigten
in Pflegeberufen beschäftigt.13 Die folgenden
Bruttomonatseinkommen wurden auf Basis
einer 38-Stunden-Woche ohne Sonderzahlungen ermittelt. Mit der Bezahlung sind die
Beschäftigten nach dem Ergebnis der Studie
mehrheitlich nicht zufrieden.14
❚ Denn mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet
in (unfreiwilliger) Teilzeit, insbesondere die niedrig
bezahlten Helferinnen und Helfer.
❚ Unterschiede bei den Einkommen um deutliche 11,7
Prozent zwischen Frauen und Männern bestehen
auch in diesen typischen Frauenberufen.15 Zwischen
befristeten und unbefristeten Beschäftigten beträgt
der Einkommensrückstand durchschnittlich
18 Prozent. Dabei war auch bei den befristet
Beschäftigten der Anteil in den gering bezahlten
Tätigkeiten der Helferinnen und Helfer und in
der Altenpflege besonders hoch.
❚ Einkommensrelevant ist neben der Berufserfahrung
vor allem die Tarifbindung der Betriebe. So verdienten Beschäftigte in Betrieben, für die ein Tarifvertrag gilt, durchschnittlich knapp 19 Prozent mehr
als ihre Kolleginnen und Kollegen in nicht tarifgebundenen Betrieben (2.597 Euro statt 2.118 Euro.)
85
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Mindestlohn und ortsübliche
Vergütung in der Pflege
Bereits seit Juli 2008 gilt, dass die Kassen nur
Versorgungsverträge mit Pflegeunternehmen
abschließen dürfen, die eine ›ortsübliche
Vergütung‹ bezahlen. Diese werden von den
Landesverbänden der Pflegekassen festgestellt
und liegen in der Regel über dem Mindestlohn.
Dass die Bundesregierung im August 2010
für die ambulante und stationäre (Alten-)Pflege einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt
hat, hat dennoch Gründe. Die Branche kommt
immer mehr unter Druck und insbesondere
angelernte Helferinnen und Helfer tragen das
Risiko, besonders niedrige Löhne zu erhalten.
Dies gilt längst nicht nur für die ostdeutschen
Länder. Gerade die an Tarifverträge gebundenen Wohlfahrtsverbände versuchen, sich im
Helferbereich von Personalkosten zu entlasten.
Zum Teil lagen aber auch Tariflöhne für Helfer
unter dem jetzigen Pflege-Mindestlohn. Dieser
beträgt für Pflegehelfer in ambulanten und
stationären Pflegeeinrichtungen, die überwiegend Tätigkeiten in der Grundpflege verrichten (Hilfe bei Körperpflege, Ernährung, Mobilität), seit dem 1. Januar 2012 8,75 Euro/Stunde
(West). Dieser Mindestlohn erhöht sich ab dem
1. Juli 2013 auf neun Euro je Stunde.
e) Die Situation von abhängig
Beschäftigten in der Pf lege und
gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Die Flächentarifverträge in Deutschland haben
in den vergangenen Jahrzehnten deutlich
an Bedeutung verloren. Zwar wenden die
kommunalen Krankenhäuser in der Regel
Tarifverträge an, doch in weiten Teilen der
Pflege ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering und die Durchsetzung von
Arbeitnehmerrechten und Tarifverträgen wird
damit erschwert. Dies hängt zum einen mit
den hohen Anteilen der kirchlichen Einrichtungen, wie der Diakonie und der Caritas
zusammen, die die Vergütungshöhe und die
Arbeitsbedingungen nach dem sogenannten
›Dritten Weg‹ regeln.
Aber auch in der ambulanten Pflege sind
vergleichsweise wenige Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert.
Dieser noch relativ junge Dienstleistungsbereich besteht häufig aus kleinen Unternehmen
mit nur wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Selbst Interessenvertretungen sind
hier nicht häufig zu finden. Dabei belasten die
unterschiedlichen Gehälter und Arbeitsbedingungen die Konkurrenz unter den Arbeitgeber.
Handlungserfordernisse
❚ Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, angemessene Entlohnung, verlässliche berufsbiografische
Perspektiven durch Fortbildung und Aufstiegsmöglichkeiten, besondere Arbeitsplatzgestaltung
auch für ältere und gesundheitlich eingeschränkte
Pflegekräfte sind Voraussetzung für das Ansehen
der Pflege bei jungen Menschen.
❚ Das hohe Niveau der Teilzeitarbeit in allen Qualifikationsstufen verschärft den Fachkräftemangel.
So sind Modelle gefragt, die das Potenzial an Vollzeitstellen für alle daran interessierten Pflegekräfte
so weit wie möglich ausschöpfen.
❚ Da die ›Flucht in Teilzeit‹ mit der Belastung insbesondere älterer Beschäftigter zu tun hat, sollten in
den Einrichtungen Altersstrukturanalysen durchgeführt werden, um mehr altersgerechte Arbeitsplätze
zu schaffen und entsprechende Arbeits- und Gesundheitsschutzkonzepte zu entwickeln.
86
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
❚ Fachkräfte fehlen – Hilfskräfte wurden über Bedarf
ausgebildet. Hier müssen systematisch diejenigen
gesucht, gefunden und gefördert werden, die für
eine Anschlussqualifizierung zum dreijährigen
Berufsabschluss geeignet sind. Dabei ist sowohl an
im Beruf stehende Pflegekräfte wie an Arbeitsuchende zu denken. Bremen sollte sich auf Bundesebene
für Nachbesserungen beim SGB III und II einsetzen,
die zum Beispiel die Gewährung von Unterhaltsgeld
für Umschülerinnen und Umschüler ermöglichen,
um Anreize für Nachqualifizierung zu geben.
¢
Exkurs:
Die Not der Beschäftigten ist groß. Nach der jährlichen
Auswertung der Arbeits- und Sozialversicherungsberatung der Arbeitnehmerkammer Bremen haben
knapp 600 Beschäftigte aus der Pflege- und Gesundheitsbranche die Beratung persönlich aufgesucht. Dabei
waren 83 Prozent der Ratsuchenden Frauen und mehr
als die Hälfte arbeitete in Teilzeit. Im Vordergrund
standen Arbeitsrechtsthemen wie Kündigung, Lage und
Gestaltung der Arbeitszeit sowie die daraus folgenden
Fragen der Vergütung. Häufige Probleme waren Fragen
zur Abdeckung von Schicht- und Einsatzzeiten,
insbesondere am Wochenende, in der Nacht oder an
Feiertagen. Nach den Auswertungen der Beratungen
hatten Beschäftigte häufig Fragen zu verlangter Mehrarbeit vom Arbeitgeber, trotz oder gerade wegen der
nur vereinbarten Teilzeit. Viele Ratsuchende berichteten
von Überlastung, fehlenden familienfreundlichen
Arbeitszeiten. Im Unterschied zu anderen Branchen
ergab sich bei Pflegekräften ein hoher Anteil von
Kündigungen seitens der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Einen neuen Arbeitsplatz zu finden ist
angesichts des Bedarfs auf dem Arbeitsmarkt relativ
leicht und wird offensichtlich zunehmend genutzt, um
sich individuell bessere Bedingungen zu verschaffen.
❚ Für die Nutzung von Aufstiegschancen durch
Qualifizierung sind die Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Qualifizierung
weiterzuentwickeln, um insbesondere auch den
Frauen Aufstiege zu ermöglichen.
❚ Der Ausbau der dreijährigen Altenpflegeausbildung
sollte prioritär angegangen werden. In der
›Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege 2012–2015‹ wird hier eine jährliche Steigerung von zehn Prozent angepeilt, die mindestens
ausgeschöpft werden sollte.
❚ In den Einrichtungen muss gezielt der Frage
nachgegangen wird, ob die Anerkennung eines
vorliegenden, im Ausland erworbenen einschlägigen
Berufsabschlusses aus dem Bereich der Krankenpflege möglich ist oder eine zu diesem Ziel führende
Qualifikationsplanung angestoßen und umgesetzt
werden kann.
87
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
EXKURS
¢
Fachkräftebedarf in der Bremer Pflege
Engpassanalyse mittels Arbeitslosen- und Stellenstatistik
der Bundesagentur für Arbeit
DR. ESTHER SCHRÖDER
Abb. 1:
Gesundheits- und Krankenpflegehelfer
60
50
45
41
40
41
41
40
40
44
43
41
38
40
36
30
20
Sep 11
Okt 11
4
4
5
7
Mai 12
Aug 11
5
8
Apr 12
5
Mrz 12
5
Feb 12
5
6
Jan 12
6
Jul 11
12
10
Arbeitslose
Jun 12
Dez 11
Nov 11
0
Arbeitsstellen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik;
eigene Darstellung
Abb. 2:
Altenpflegehelfer
300
250 222 222
198
230
221
57
59
218
219
213 208
230
221 216
200
150
Okt 11
55
46
45
50
46
33
Jun 12
28
Mai 12
32
Mrz 12
34
Feb 12
30
Sep 11
50
Aug 11
100
Jul 11
Arbeitslose
Apr 12
Jan 12
Dez 11
0
Nov 11
Wie hoch der Personal- und Fachkräftebedarf
in der Bremer Pflege ist, lässt sich anhand
der Arbeitsmarktstatistik verdeutlichen. Die
Arbeitslosen- und Stellenstatistik der Bundesagentur für Arbeit gibt Einblicke, welche
einfachen und gehobenen Qualifikationen
die Pflegeeinrichtungen suchen und welche
Potenziale und beruflichen Orientierungen
die Arbeitsuchenden haben. Auch wenn die
Analyse der öffentlichen Arbeitsvermittlung
nur einen Ausschnitt des Geschehens am
Pflegearbeitsmarkt darstellt, liefert sie wertvolle Erkenntnisse darüber, welche Personalengpässe und Fachkräftebedarfe für diese
Berufe bestehen.
Um die Arbeitsmarktdaten analysieren zu
können, hat die Arbeitnehmerkammer bei
der Bundesagentur für Arbeit eine Sonderauswertung in Auftrag gegeben. Diese Auswertung
umfasst für das Land Bremen Angaben zum
Bestand der Arbeitslosen nach Zielberufen und
zum Bestand an gemeldeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen nach Zielberufen. Ausgewertet wurden die Daten bezogen
auf den Zeitraum Juli 2011 bis Juni 2012.1
Zunächst ist festzustellen, dass die Arbeitgeber ihre Stellensuche bei den Arbeitsagenturen
und Jobcentern auf wenige Pflegeberufe konzentrieren. In der Krankenpflege schalteten
die Einrichtungen bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung insbesondere Gesuche für Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer sowie für
Gesundheits- und Krankenpflegerinnen/
Gesundheits- und Krankenpfleger. Für die
Altenpflege waren es die Zielberufe Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer 2 sowie Altenpflegerin/Altenpfleger. Dabei stellt sich im
Vergleich von Helfertätigkeiten und Fachkräftebedarfen die Situation nahezu spiegelbildlich dar. So waren Arbeitsuchende in starkem
Maße auf Helferjobs in der Pflege orientiert,
Arbeitsstellen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik;
eigene Darstellung
88
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 3:
Gesundheits- und Krankenpfleger
100
83
80
65
60
60
55
46
45
54
47
58
58
12
13
50
40
16
11
8
11
Feb 12
14
Jan 12
10
Dez 11
10
Nov 11
15
9
Okt 11
20
Sep 11
40
18
Arbeitslose
Jun 12
Mai 12
Apr 12
Mrz 12
Aug 11
Jul 11
0
Arbeitsstellen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik;
eigene Darstellung
Abb. 4:
Altenpfleger
120
93
100
98
90
79
80
76
78
70
74
75
71
67
70
60
31
29
29
33
34
31
30
31
Feb 12
Mrz 12
Apr 12
Mai 12
Jun 12
42
Jan 12
44
Dez 11
42
Nov 11
44
40
20
Arbeitslose
Okt 11
Sep 11
Aug 11
Jul 11
0
Arbeitsstellen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Daten der Arbeitslosen- und Arbeitsstellenstatistik;
eigene Darstellung
die jedoch nur in geringer Zahl von Pflegeeinrichtungen gemeldet wurden. Häufiger dagegen schalteten Arbeitgeber die öffentliche
Arbeitsvermittlung in die Suche nach Fachkräften ein, die sich aus dem Pool arbeitsloser
Bewerberinnen und Bewerber jedoch nicht
ausreichend rekrutieren ließen. Der Stellenüberhang bei Fachkräften als Indiz für einen
Personalengpass in der Pflege und der Bewerberüberhang bei den Helferinnen und Helfern
lässt sich sowohl für die Krankenpflege als
auch für die Altenpflege konstatieren.
Insgesamt waren im Juni 2012 deutschlandweit 469.105 offene Stellen bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet, davon
8.166 Stellen im Bereich der Gesundheits- und
Krankenpflege und 13.332 in der Altenpflege.
Somit entfallen 4,6 Prozent der in Deutschland
gemeldeten Stellen auf den Pflegebereich,
im Land Bremen 5,3 Prozent. Hier kamen im
Juni 2012 von den insgesamt 4.635 gemeldeten
Stellen 118 aus der Gesundheits- und Krankenpflege und 126 aus der Altenpflege.
Von den 2,8 Millionen im Juni 2012 registrierten Arbeitslosen waren deutschlandweit
1,6 Prozent auf Pflegeberufe orientiert. Im
Land Bremen suchten im Juni 2012 von den
insgesamt 36.500 registrierten Arbeitslosen
626 (1,7 Prozent) eine Stelle in der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege.
Berufe in der Gesundheits-, Kranken- und
Altenpflege sind eine Frauendomäne. Arbeitslose, die eine Beschäftigung im Pflegebereich
suchen, sind zu über 80 Prozent weiblich.
Insgesamt liegt der Anteil der arbeitslosen
Frauen an allen Arbeitslosen unter 50 Prozent.
Und es fällt auf, dass in Bremen eine besonders
große Diskrepanz zwischen den Frauenanteilen bei Hilfs- und Fachkräften vorliegt. Mit
steigender Qualifikation sinkt der Anteil
weiblicher Arbeitskräfte auch in einer von
Frauen dominierten Branche.
In den monatlich von der Bundesagentur
für Arbeit veröffentlichten Analysen der
gemeldeten Arbeitsstellen nach Berufen
werden Vakanzzeiten als Hauptindikator für
89
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Engpässe bei Stellenbesetzungen gemessen
und ausgewiesen. Die abgeschlossene Vakanzzeit wird nach Berufsgruppen erfasst und
misst dabei die Zeitspanne vom gewünschten
Besetzungstermin bis zur Abmeldung der
Arbeitsstelle und damit den Zeitraum, in dem
Arbeitsstellen in der jeweiligen Berufsgruppe
nicht besetzt werden konnten. Je länger die
Vakanzzeiten, desto schwieriger gestaltet sich
die Suche nach geeignetem Personal. Identifizieren lassen sich Engpässe in den beiden
Berufsgruppen ›Gesundheit, Krankenpflege,
Rettungsdienst, Geburtshilfe‹ und ›Altenpflege‹.3 Die ausgewiesenen langen Vakanzzeiten
für die interessierenden Berufsgruppen signalisieren besondere Besetzungsschwierigkeiten.
Dabei ist Personal in der Kranken- und Altenpflege im Land Bremen noch schwerer zu
rekrutieren als bundesweit. Hier rangieren,
gemessen an den längsten Vakanzzeiten, die
Pflegeberufe weit oben. Im Herbst 2011 wurden in Bremen im Bereich der Gesundheitsund Krankenpflege die längsten Vakanzzeiten
aller Berufsgruppen mit mehr als 130 Tagen
gemessen. Gemeldete Arbeitsstellen blieben
hier länger als vier Monate nach dem geplanten Besetzungstermin vakant. In der Tendenz
jedoch verkürzte sich in Bremen die Vakanzzeit sowohl in der Kranken- wie in der Altenpflege, während sie sich bundesweit verlängerte. Im Jahr 2012 betrug die durchschnittliche
Vakanzzeit im Bereich der Gesundheits- und
Krankenpflege bundesweit 106 Tage, in Bremen 123 Tage. Im Bereich der Altenpflege
konnten im ersten Halbjahr 2012 Stellen bundesweit etwa 97 Tage nach dem eigentlich
gewünschten Besetzungstermin besetzt werden, in Bremen erst nach 107 Tagen. Auch
der Stellenandrang, also das Verhältnis von
Arbeitslosen zu Arbeitsstellen signalisiert
in beiden Berufsgruppen eine angespannte
Bedarfssituation vor allem in der Gesundheitsund Krankenpflege. Hier kommen aktuell
in Bremen wie auch bundesweit nur noch
75 Arbeitslose auf 100 gemeldete Arbeitsstellen.
Nicht zuletzt aufgrund demografischer
Entwicklungen ist den Gesundheits- und Pflegeberufen bildungs- und arbeitsmarktpolitisch
weiterhin eine hohe Beachtung zu schenken
und Priorität bei Bundes- wie Landesinitiativen
einzuräumen. Der Arbeitnehmerkammer
Bremen geht es hierbei nicht nur um bloße
Arbeitsvermittlung, um Matching und Passgenauigkeit zwischen angebotenen und nachgefragten Qualifizierungen am Arbeitsmarkt.
Denn nicht jeder angezeigte Fachkräftemangel
ist auch einer. Viel zu oft verbirgt sich stattdessen dahinter ein Mangel an guter Arbeit.
Und darum richtet sich unser Augenmerk
gerade in diesem Bereich typischer Frauenarbeitsplätze auf die Beseitigung dieses Mangels.
Es geht um Arbeitsbedingungen, die die
schweren physischen und psychischen Belastungen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen des Pflegepersonals aushalten lassen,
um flexible Arbeitszeiten, die Familie und
Berufsleben in Einklang bringen sowie um
faire Entgelte, die Wertschätzung ausdrücken
und Existenzen sichern. Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat sich am Equal Pay Day 2013
aktiv beteiligt, der diese Forderungen zum
Schwerpunktthema erhoben hat und am
21.03.2013 unter dem Motto ›Lohnfindung in
den Gesundheitsberufen – viel Dienst, wenig
Verdienst‹ stand. Damit der Pflegebereich nicht
selbst zum Pflegefall wird!
1 Definition Zielberuf:
Auswertungen zu
Arbeitslosen und Arbeitsuchenden geben
Auskunft über den
angestrebten Zielberuf
des Kunden (unabhängig
von der absolvierten
Ausbildung und dem
tatsächlichen Beruf bei
Abgang aus Arbeitslosigkeit). Bei gemeldeten
Arbeitsstellen erfolgt
die Kategorisierung
nach dem vom Arbeitgeber gewünschten
Hauptberuf.
2 Die Berufsbezeichnung
›Altenpflegehelferin/
Altenpflegehelfer‹ meint
Helfertätigkeiten mit
Voraussetzung einer
einjährigen Ausbildung.
Davon unterscheiden
sich in der Statistik
›Helferin/Helfer in der
Altenpflege‹, die als
Ungelernte über keine
Qualifikation verfügen.
3 Daten für Bremen liegen
für die Berufsgruppe
›813 Gesundheit,
Krankenpflege, Rettungsdienst, Geburtshilfe‹ von Oktober 2011
bis Dezember 2012 vor.
Für die Berufsgruppe
›821 Altenpflege‹
werden in den Engpassanalysen der Bundesagentur für Arbeit
Vakanzzeiten für den
Zeitraum Oktober 2011
bis Juni 2012 ausgewiesen. Ab Juli 2012
konnte aufgrund zu
geringer Besetzungszahlen im Bereich
der Altenpflege diese
Berufsgruppe nicht
mehr berücksichtigt
werden. Weniger als
100 Bestandsfälle
führen zu Verzerrungen
in der Berechnung von
Vakanzzeiten.
90
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Lebensstandardsicherung
oder Armutsbekämpfung?
INGO SCHÄFER
¢
Zukünftig vermutlich ansteigende Altersarmut
ist ein heiß diskutiertes Thema. Die Debatte
um sinkende Renten und drohende Altersarmut heizte zuletzt die Bundesministerin für
Soziales, Ursula von der Leyen, mit ihrer sogenannten ›Schock-Tabelle‹ in der BILD deutlich
an. Aufgrund des sinkenden Rentenniveaus
müssten Menschen, die weniger als 2.500 Euro
brutto im Monat verdienen, nach 35 Jahren
›mit dem Tag des Renteneintritts den Gang
zum Sozialamt antreten‹, drohte sie über die
BILD .1
Ursula von der Leyen verwies damit zu
Recht auf eine der zentralen Ursachen für
zukünftig wahrscheinlich zunehmende Altersarmut: Die Senkung des Rentenniveaus und
die Abkehr von der Lebensstandardsicherung.
Politisch gewollt und absehbar führt ein sinkendendes Rentenniveau dazu, dass alle Renten an Wert verlieren und eine steigende Zahl
unterhalb der Grundsicherung liegen wird.
Statt die benannten Ursachen bekämpft die
Bundesarbeitsministerin mit ihrem Vorschlag
einer ›Zuschussrente‹2 das daraus resultierende
Symptom der ›Armut‹. Denn die Zuschussrente
ist eine bessere Fürsorgeleistung. Die in den
vergangenen Jahren beschlossenen Leistungskürzungen in der Rente will sie aber gerade
nicht zurücknehmen. Auch die anderen Parteien bieten Konzepte im Kampf gegen die Altersarmut an: ›Solidarrente‹ (SPD ), ›Mindestrente‹
(Die Linke) oder ›Garantierente‹ (Bündnis 90/
Die Grünen). Sie alle werfen ihre eigenen
Probleme auf.
Exkurs:
Was ist Lebensstandardsicherung?
Lebensstandardsichernd meint, dass im Falle von
Erwerbsminderung oder ab einem bestimmten Alter
eine Rente in einer Höhe gezahlt wird, die bei langjährig
Versicherten so hoch ausfällt, dass der gewohnte ›Lebensstil‹ fortgeführt werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich auch, dass Menschen, die nur selten
oder geringe Beiträge gezahlt haben, im Grunde auch
nur eine geringe Rente bekommen würden. Um typische
Risiken wie Erwerbslosigkeit, Kindererziehung, Pflege
oder niedrigen Stundenlohn abzusichern, gibt es solidarische Ausgleichselemente. Diese sollen Zeiten aufwerten und Lücken schließen, um einen Verlust des Lebensstandards alleine aufgrund von Arbeitslosigkeit oder
Kindererziehung zu vermeiden.
Bis zu den Rentenreformen der Bundesregierung
zu Beginn des 21. Jahrhunderts folgte die Rentenversicherung dem Ziel der Lebensstandardsicherung. Seit
den Reformen steht das Ziel im Vordergrund, die Beitragssätze nicht steigen zu lassen. Anders formuliert:
Die Renten dürfen nur noch steigen, wenn und soweit
das politisch gesetzte Beitragsziel eingehalten wird.
Dies wird als Paradigmenwechsel bezeichnet. Der
Wechsel von einem leistungsorientierten hin zu einem
beitrags(satz)orientierten Rentensystem.
1 Vgl. Hellemann, Angelika: Die neue RentenSchock-Tabelle. BILD
vom 2.9.2012.
2 Die ›Zuschussrente‹
wurde seit ihrer ersten
Verkündung im Frühsommer 2011 beständig
kritisiert. Zuletzt hat die
Abb. 1:
Altersrenten
Regierung die ›Zuschus-
Deutschland
Hamburg
Bremen
Saarland
Berlin
srente‹ umbenannt in
›Lebensleistungsrente‹.
Allerdings besteht
Jahr
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
2000
485
921
557
990
463
960
347
1.044
664
958
keit in der Koalition
2011
520
868
602
905
520
881
452
983
686
838
über eine genaue
Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund, Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang nach Wohnort, Zahlbeträge, Oktober 2012
weiterhin keine Einig-
Ausgestaltung der
›Lebensleistungsrente‹.
91
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 2:
Zahlbetrag Altersrenten
1.050
960 970 968
919
908
677 690
692
665
474
487
504
460
2009
2010
876
2008
927
2007
947
950
874
903
904 881
850
750
650 623 631
639
647
643 650
658
451
450
450
445
431
438
2006
463 461
2005
550
707
520
Männer
Frauen
2011
2004
2003
2002
2001
2000
350
Grundsicherungsbedarf, brutto Bremen
Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort.
Grundsicherung in Bremen: Bruttobedarfe,
Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 und 2006 fehlend:
Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt.
Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100.
Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund; Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen
Aber wie ist die Lage der Rentnerinnen und
Rentner heute? Welche Gründe gibt es für die
aktuelle Entwicklung? Welche Entwicklung
ist zukünftig zu erwarten und was wären
sinnvolle Antworten auf die zentralen Probleme in der Rentenpolitik?
Lage der Rentnerinnen und Rentner
in Bremen
Zurzeit ist Altersarmut noch kein sehr verbreitetes Phänomen. In Bremen sind aktuell (Jahr
2011) 12.909 Menschen auf Leistungen der
Grundsicherung angewiesen. Aber die Zahlen
steigen stetig. Aufgrund des sinkenden Rentenniveaus bleibt die Rente hinter der mäßigen
Lohnentwicklung zurück. Die weiteren Leistungskürzungen und die prekäre Lage auf dem
Arbeitsmarkt verschärfen den Trend. Die Renten stagnieren seit Jahren. Für Bremen beispielsweise ist die durchschnittliche Altersrente für Männer von 960 Euro (im Rentenzugang3
2000) auf 881 Euro (Rentenzugang 2011)
gesunken, also um acht Prozent.
Wird zusätzlich noch der Kaufkraftverlust
über diesen Zeitraum berücksichtigt, dann
haben die durchschnittlichen Altersrenten bei
Männern um 23 Prozent an Wert verloren.
Bei den Erwerbsminderungsrenten für Männer
wie Frauen sieht es noch schlechter aus. Zur
Entwicklung und Situation der Erwerbsminderungsrente vergleiche den Artikel ›Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit‹, Seite
95 ff. Einzig die Altersrenten der Frauen
entwickeln sich weniger dramatisch. Einerseits
sind diese ohnehin sehr niedrig. Andererseits
wirkt die zunehmende Erwerbsbeteiligung
der Frauen sich leicht positiv auf die durchschnittlichen Renten aus.
3 Zum Rentenzugang
zählen alle Renten,
die in diesem Jahr
erstmals gezahlt wurden. Im Unterschied
zu Bestandsrenten, in
die alle noch laufenden Renten eingehen.
92
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Ursachen der Entwicklung
Ursächlich für die skizzierte Rentenentwicklung sind die Rentenpolitik und Arbeitsmarktentwicklung/-politik. Niedriglohn,
unfreiwillige Teilzeit, Langzeiterwerbslosigkeit
und versicherungsfreie Erwerbsformen (Minijobs/Solo-Selbstständige) führen zu geringeren
Rentenansprüchen und wachsenden Versicherungslücken. Die wegen der Arbeitsmarktentwicklung geringeren Rentenansprüche werden
durch den Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik in den 2000er-Jahren zusätzlich entwertet. Denn bis zu den 2030er-Jahren soll das
Rentenniveau um rund 20 Prozent sinken. Der
Abschied vom Ziel der Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung führt im Zusammenspiel mit der Arbeitsmark- und Lohnentwicklung zu sinkenden
Renten.
Bremer Arbeitsmarkt
4 Eigentlich der
›Standardrente‹. Die
Standardrente ist
definiert als eine
abschlagsfreie Altersrente auf Grundlage
von 45 Entgeltpunkten. Für die Zeit
vom 1.7.2012 bis
30.6.2013 beträgt
diese im Westen
1.263,15 Euro
(brutto).
Der Arbeitsmarkt in Bremen ist stark gespalten
(vgl. Artikel Arbeitsmarktpolitik S. 40 ff.). Die
Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch.
Die Teilzeitquote steigt kontinuierlich. Und die
Löhne gehen weit auseinander. So lag der
durchschnittliche Bruttostundenlohn von Vollzeitbeschäftigten Ende 2011 zwischen 12,82
Euro (Gastgewerbe) und 29,89 Euro (verarbeitendes Gewerbe). Entsprechend ergeben sich
auch unterschiedliche Rentenansprüche. Wer
erwerbslos ist, nur geringfügig beschäftigt
Abb. 3: Modellrechnungen:
Altersrente nach Beitragsjahren und Stundenlohn*
Beitragsjahre
Gastgewerbe
(12,83 Euro)
Handel
(20,45 Euro)
Gesundheit und verarbeitendes
Sozialwesen
Gewerbe
(24,23 Euro)
(29,89 Euro)
35
704
1.121
1.329
1.639
40
804
1.282
1.519
1.873
45
905
1.442
1.708
2.107
* Rente nach Sozialabgaben, aber vor Steuern; 38,5 Wochenstunden; Rechengrößen RV 2012.
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Arbeitnehmerverdienste 4/2011; eigene Berechnungen
oder (unfreiwillig) in Teilzeit arbeitet, erwirbt
nochmals geringere Anwartschaften. Frauen
beispeilsweise arbeiten häufiger in Teilzeit
oder nur geringfügig, verdienen oft weniger
als Männer und unterbrechen häufiger sowie
länger ihre Erwerbstätigkeit aufgrund von Kindererziehung oder Pflege. Daher weisen sie
durchschnittlich geringere Rentenzahlbeträge
auf als Männer.
Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt sind
zu großen Teilen politisch gemacht. Die HartzReformen haben den Druck auf Erwerbslose
und Beschäftigte erhöht. Wer Arbeitslosengeld II bekommt, muss jeden auch noch so
schlecht bezahlten Job annehmen. Mit Leiharbeit unterlaufen Unternehmen Tarifverträge
und üben Druck auf die Stammbelegschaft
aus, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld
und eine fehlende Absicherung in der Rente
bei Langzeiterwerbslosigkeit tragen ihren Teil
zur Problematik bei. Die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf hindert weiterhin
vor allem Frauen daran, durchgängiger in Vollzeit zu arbeiten. Wird hier politisch nicht
gegengesteuert, können die Betroffenen auch
nur mit geringen Renten rechnen. Wenn der
Lohn nicht reicht, reicht auch die Rente nicht.
Rentenniveau
Entscheidend für ein auf Lebensstandardsicherung zielendes Rentensystem ist die Höhe
des Rentenniveaus. Dieses gibt das Verhältnis
zwischen Durchschnittslohn und Rente4
wieder. Denn die Versicherten zahlen ihre
Beiträge, damit sie im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit eine Rente erhalten, mit der sie
ihren bisherigen versicherten Lebensstandard
fortführen können. Mit den Rentenreformen
der vergangenen zehn Jahre wurde dafür
gesorgt, dass das Rentenniveau langfristig
deutlich sinkt.
Mit der beschlossenen Senkung des Rentenniveaus sind die Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt worden und verlieren
93
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
zunehmend an Wert. Dies gilt für Rentenzugänge wie Bestandsrenten gleichermaßen. Um
weitere rund 14 Prozent sinkt das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 nach den aktuellen
Hochrechnungen. Angenommen, dieses
Rentenniveau gälte bereits heute, dann ergäbe
eine 40-jährige Vollzeitbeschäftigung im
Gastgewerbe nicht mehr 804 Euro, sondern
nur noch knapp 700 Euro Rente. Ein Mensch
im verarbeitenden Gewerbe hätte dann mit
1.610 Euro rund 260 Euro weniger Rente
(bei 40 Jahren Vollzeiterwerbstätigkeit).
Lösungen oder Losungen?
Wer nun denkt, ›Zuschussrente‹ (Bundesregierung) oder ›Garantierente‹ (Bündnis 90/Die
Grünen) würden vor dieser Entwicklung schützen, der irrt. Jene mit einem höheren Verdienst schützt die Zuschussrente sowieso nicht
vor dem sinkenden Rentenniveau und der Entwertung ihrer Ansprüche. Jenen, denen aufgrund des sinkenden Rentenniveaus der ›Gang
zum Sozialamt‹ droht, hilft die Zuschussrente
auch nicht, da diese selbst an die Rentenentwicklung gekoppelt ist. Sie verliert im gleichen
Maß an Wert wie die Rente und liegt damit am
Ende genauso unterhalb der Grundsicherung
im Alter. Die Modelle ›Zuschuss-‹ und ›Garantierente‹ versprechen für langjährig Versicherte eine Bruttorente von 850 Euro im Monat.
Netto, also nach Abzug der Sozialabgaben, blieben schon heute nur 760 Euro übrig. Wird an
der Senkung des Rentenniveaus festgehalten,
sinkt der Wert bis zum Jahr 2030 auf etwa
650 Euro ab. Dieser Wert läge jedoch deutlich
unterhalb der Grundsicherung von derzeit
rund 700 Euro. Die Regierungskoalition aus
CDU/CSU und FDP wie auch Bündnis 90/
Die Grünen halten uneingeschränkt an der
Niveausenkung fest. Zuschuss- und Garantierente verfehlen somit ihr Ziel der Armutsbekämpfung. Sie lösen weder die Ursachen
(Senkung des Rentenniveaus) noch die Symptome (zunehmende Altersarmut) der aktuellen
Rentenpolitik.
Auch bei den Vorschlägen von ›Solidar‹- (SPD)
und ›Mindestrente‹ (Die Linke) entsteht ein
Konflikt zwischen Armutsbekämpfung und
beitragsbezogener Rente. Denn je höher eine
solche Solidar- oder Mindestrente ist, desto
mehr Menschen werden trotz umfangreicher
eigener Beitragsleistung nur eine Solidar-/
Mindestrente bekommen. Gleiches gilt, wenn
an der Senkung des Rentenniveaus festgehalten wird (wie es die SPD im Grunde fordert).
Dann liegt bei gleicher Beitragsleistung die
Rente niedriger und es werden mehr Menschen in die Solidar- /Mindestrente fallen.
Andererseits: Auch ein hohes Rentenniveau
gerät in Konflikt mit einer Mindestrente, wenn
diese hoch angesetzt wird. Eine Mindestrente,
die nur erreicht, wer 45 Jahre lang nie weniger
als 2.500 Euro brutto im Monat verdient,
macht eine beitragsbezogene Pflichtversicherung faktisch überflüssig. Die Mindestrente
wird ohne eigene Beitragsleistung gewährt.
Um eine gleich hohe Rente durch Arbeit zu
erwerben, muss die/der Beschäftigte über
120.000 Euro Beitrag zahlen.
Ausblick
Der Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik
ist an einem neuen Scheidepunkt. Hinter
der Diskussion um die Bekämpfung der Altersarmut steht eine Grundsatzfrage: Welche Aufgabe hat die gesetzliche Rentenversicherung?
Auf der einen Seite eine solidarische und
lebensstandardsichernde Rente, welche auch
Zeiten wie Erwerbslosigkeit, Kindererziehung
oder Erwerbsminderung solidarisch absichert.
Auf der anderen Seite eine geringe weitgehend
einheitliche Grundversorgung, die durch
zusätzliche private Vorsorge ergänzt werden
muss.
94
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die aktuell diskutierten Entwürfe von
Zuschussrente über Solidar- und Garantierente
bis zur Mindestrente laufen darauf hinaus,
dass ein immer größerer Teil der Menschen
weitgehend unabhängig von der eigenen
Beitragsleistung eine gleich hohe Rente
bekommt. Damit wird das bestehende Pflichtversicherungssystem infrage gestellt, da sich
eine Beitragsleistung individuell kaum noch
auszahlt. Gleichzeitig werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die zusätzliche Vorsorge erheblich finanziell belastet. Ohne einen vergleichbaren Schutz zu
erhalten, wie bisher alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Alternativen zur aktuellen Politik
❚ Um heutige wie auch zukünftige (Alters-) Armut
konsequent zu vermeiden, muss zuallererst am
Arbeitsmarkt angesetzt werden. Denn im Grundsatz
gilt: Niedrige Löhne führen zu niedrigen Renten.
❚ Ein gesetzlicher Mindestlohn ist hierbei ein notwendiges Haltenetz. Soll der Mindestlohn so ausgestaltet sein, dass nach 45 Jahren Vollzeit eine armutsfeste Rente entsteht, müsste dieser heute 10,38 Euro
brutto pro Stunde betragen. Um Zeiten niedriger
Entlohnung in der Vergangenheit, wo ein Mindestlohn nicht mehr helfen kann, auszugleichen, könnte
die sogenannte ›Rente nach Mindestentgeltpunkten‹5 fortgeführt werden.
5 Die Rente nach
Mindestentgeltpunkten wertet niedrige
Rentenansprüche
um bis zu 50 Prozent
auf. Damit wäre bei
45 Beitragsjahren
aktuell eine Nettorente (Zahlbetrag)
von bis zu 850 Euro
möglich.
❚ Eine vernünftige Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik setzt auf mehr und gute Beschäftigung sowie
Tarifverträge, statt auf Minijobs, Leiharbeit und
Langzeitarbeitslosigkeit. Und nicht minder wichtig:
Erst gute Arbeitsbedingungen schaffen die
Grundlage, um gesund bis zur Rente zu arbeiten.
(Langzeit-) Erwerbslosigkeit darf nicht zu Lücken
in der Erwerbsbiografie führen. Zeiten von Arbeitslosigkeit müssen in der Rente an der Lebensstandardsicherung orientiert abgesichert werden.
❚ Dreh- und Angelpunkt einer systematischen Rentenpolitik ist das Rentenniveau, also das Verhältnis
zwischen Lohn und Rente. Wird die Senkung des
Rentenniveaus nicht rückgängig gemacht, laufen auf
die Lebensstandardsicherung ausgerichtete Maßnahmen ins Leere. So müsste bei dem für das Jahr 2030
erwarteten Rentenniveau der Mindestlohn heute
schon bei über zwölf Euro brutto pro Stunde liegen.
Die Versicherten wollen im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit eine Rente bekommen, mit der sie ihren
bisherigen Lebensstandard fortführen können. Das
Ziel der gesetzlichen Rentenversicherung muss daher
wieder die Lebensstandardsicherung sein. In
Verbindung mit entsprechenden Verbesserungen im
Bereich des Arbeitsmarktes sowie des gezielten
Ausbaus von solidarischen Elementen würde so eine
strukturell armutsfeste Rente gewährleistet.
95
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Gesundheitliche und soziale Risiken für Beschäftigte
Bremen im Ländervergleich
CAROL A BURY / BARBAR A REUHL
Durch eine Erkrankung oder einen Unfall
teilweise oder vollständig erwerbsunfähig zu
werden, kann jede Arbeitnehmerin und
jeden Arbeitnehmer treffen. Eine Erwerbsminderung (EM) kann Folge eines privaten Unfalls
oder Arbeitsunfalls sein, durch gesundheitlichen Verschleiß oder durch eine Erkrankung
mit schwerem Verlauf hervorgerufen worden
sein. Sie macht es dem betroffenen Menschen
unmöglich, wie bisher der gewohnten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dieses Risiko stellt
keine Randerscheinung dar, wie die Zahlen der
Rentenneuzugänge zeigen: Obwohl mehr als
die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderung
in der Regel abgelehnt wird, sind noch immer
rund 16 Prozent, also fast jede sechste der
neu bewilligten Renten in Bremen, Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Für
die Betroffenen wird Erwerbsminderung
zunehmend zum Armutsrisiko, dies gilt auch
für Bremen.
Erwerbsminderungsrenten –
die Situation in Bremen
Im Jahr 2011 gingen in Bremen 6.909 Menschen in Rente, davon 1.546 (22,4 Prozent) in
Frührente aufgrund von Erwerbsminderung.
Von diesen 1.546 anerkannten Erwerbsgeminderten waren 783 Männer und 763 Frauen.
Meist geht der Frühverrentung eine langwierige Krankheitsgeschichte voraus, die zu
langfristigen Einschränkungen der Gesundheit
und Leistungsfähigkeit führt und das Ende
der beruflichen Laufbahn markiert. Das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
durch Frühverrentung ist für die Betroffenen
in mehrfacher Hinsicht ein gravierendes
krankheitsbezogenes und soziales Ereignis.
Besonders dramatisch für Bremen zeigt sich
auch die Höhe des durchschnittlichen Zahlbetrages für Erwerbsgeminderte. Waren es vor
der Reform durch die Bundesregierung (2001)
noch durchschnittlich 698 Euro pro Monat,
so fiel dieser Betrag im Land Bremen kontinuierlich auf durchschnittliche 521 Euro/Monat.
Die Rente wegen Erwerbsminderung liegt um
92 Euro unter dem durchschnittlichen Wert
für Niedersachsen1 und unterhalb des Grundsicherungsniveaus in Höhe von 707 Euro
(2011).
Risiken für eine Erwerbsminderung
Auch wenn die Gefahr einer Erwerbsminderung für alle Erwerbstätigen besteht, sind
unter ihnen Gruppen auszumachen, für die
ein weitaus höheres Risiko besteht. Wissenschaftliche Untersuchungen verweisen darauf,
dass diese Risiken abhängig sind vom sozialen
Status, den beruflichen Qualifikationen und
schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen.
Generell sind Unterschiede hinsichtlich des
Geschlechts, der Region und des Bildungsstands zu erkennen. Die größte Gefahr besteht
beispielsweise für männliche gering qualifizierte Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Am anderen Ende der Risikoskala befinden sich weibliche hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen in den alten Bundesländern. Sie
weisen ein zehnmal geringeres Risiko für die
Erwerbsminderung auf. Ursache ist meist die
schwerere körperliche Arbeit, die in der Regel
von gering Qualifizierten verrichtet wird. Im
Auftrag der Arbeitnehmerkammer Bremen
hat deshalb das Zentrum für Sozialpolitik der
Universität Bremen erstmals mögliche Einflussfaktoren für das Land Bremen auf Basis
von Zahlen der Deutschen Rentenversicherung
ausgewertet. Die Bremer Daten wurden mit der
bundesweiten Erwerbsminderungs-Statistik,
differenziert nach West- und Ostdeutschland,
in Bezug gesetzt, um einen Vergleich der Risiken und mögliche Unterschiede zu erkennen.
1 Dagegen lagen die
durchschnittlichen
Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2000
noch weitaus näher
zusammen, bei 730 Euro
in Niedersachsen und
698 in Bremen.
96
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
2 Vgl. Müller/Hagen/Himmelreicher: Risiken für
eine Erwerbsminderungs-
Zentrale Ergebnisse der Studie ›Risiken
für eine Erwerbsminderungsrente‹ 2
rente. Bremen im Ländervergleich. Eine Analyse
des Rentenzugangs in
Erwerbsminderungsrente
auf Basis von Daten der
Deutschen Rentenversicherung. Hrsg.: Arbeitnehmerkammer Bremen,
Veröffentlichung in 2013
in Vorbereitung. Soziale
Unterschiede beim
Zugang in die Erwerbsminderungsrente
(EM-Rente) werden in
der Studie auf Basis von
Daten der gesetzlichen
Rentenversicherung
(GRV) untersucht. Diese
Daten werden vom Forschungsdatenzentrum
der Rentenversicherung
(FDZ-RV) zur Verfügung
gestellt. Bei den Analysen wird davon ausgegangen, dass soziodemografische und
sozioökonomische
Unterschiede eine hohe
Bedeutung für das
Risiko einer krankheitsbedingten Frühberentung
zukommen. Ziel der
Untersuchung ist es, die
spezifischen EM-Risiken
in Bremen herauszuarbeiten. Diese werden
im Vergleich zu den EMRisiken in den alten und
neuen Bundesländern
dargestellt. Neben soziodemografischen und
-ökonomischen Dimensionen werden auch die
zugrunde liegenden und
für die Rentenbewilligung
maßgeblichen Krankheitsdiagnosen berücksichtigt. Der Fokus liegt
dabei auf Herz-Kreislauf-,
Muskel-Skelett- und psychischen Erkrankungen,
die prozentual zu den
häufigsten Diagnosegruppen der Frühberentung gehören.
Verdeutlicht wird die unterschiedliche
Verteilung der Risiken, wenn die Krankheitsbilder mit beruflichen Belastungsfaktoren
abgeglichen werden. Demnach sind Muskelund Skelett-Erkrankungen die häufigste
Ursache für Erwerbsminderung bei gering
qualifizierten Männern, während bei höher
qualifizierten Menschen psychische Erkrankungen als Hauptursache dominieren.
Auffällig im regionalen Vergleich ist, dass
das Verrentungsrisiko wegen Erwerbsminderung in Bremen für Frauen nahezu gleich
hoch ist wie das der Männer. Sowohl in den
alten als auch in den neuen Bundesländern
haben Frauen hingegen ein geringeres
EM-Risiko. Unterschiede hinsichtlich der
Geschlechterverhältnisse zeigen sich jedoch in
allen Regionen, wenn man nach Diagnosegruppen unterscheidet: Hervorzuheben ist
zum einen die starke Betroffenheit von Frauen
durch psychische Erkrankungen – sie liegt
in Bremen etwa 30 Prozent höher als bei
Männern.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen hingegen bei Männern eine größere Rolle als bei
Frauen. In Bremen ist die ErwerbsminderungsQuote wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen
bei Männern mehr als dreimal so hoch wie bei
Frauen. In den neuen und alten Bundesländern
ist diese Relation etwas geringer ausgeprägt.
Das Risiko, Erwerbsminderungsrente zu
beziehen, ist in Bremen bei Deutschen wie bei
Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit annähernd gleich hoch. In den alten
Bundesländern zeigen die Nicht-Deutschen
eine leicht höhere Quote, in den neuen
Bundesländern eine niedrigere.
Die Gesamtquote liegt in Ostdeutschland in
jeder Altersgruppe höher als in Westdeutschland. In Bremen liegen die jüngeren Jahrgänge
auf dem erhöhten Niveau von Ostdeutschland,
ab dem 50. Lebensjahr ungefähr auf dem
niedrigeren westdeutschen Niveau.
Deutliche Unterschiede gibt es in jeder Region
je nach Bildungsniveau. Die höchsten Quoten
ergeben sich für Menschen mit geringer Bildung und die geringsten Quoten für Menschen
mit hoher Bildung. Auch bei der Betrachtung
des Alters und anderer Variablen bleibt dieser
Effekt bestehen. Dies gilt für Bremen ebenso
wie für die neuen und alten Bundesländer.
Eine geringe berufliche Qualifikation
oder/und eine ausgeübte manuelle Tätigkeit
haben einen vergleichbaren Effekt auf die Verrentung wegen Erwerbsminderung. Menschen
mit geringer beruflicher Qualifikation
oder/und manuellen Tätigkeiten haben die
höheren Verrentungsquoten. Auch diese
Unterschiede sind in allen Regionen in vergleichbarem Ausmaß zu finden.
Armutsrisiko Erwerbsminderung
Die Erwerbsminderungsrente sollte die Lücken
im Einkommen füllen, wenn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in vollem Umfang
oder gar nicht mehr gearbeitet werden kann
und noch keine Regelaltersrente bezogen
wird. Im Gegensatz zur Altersrente wird die
Erwerbsminderungsrente höchstens bis zum
65. Lebensjahr gezahlt (beziehungsweise nach
der neuen Regelung ab 2029 bis zum 67.
Lebensjahr). Erst ab Erreichen der regulären
Regelaltersgrenze schließt sich die gesetzliche
Altersrente an. Dafür werden mittels der
Zurechnungszeit die infolge von Erwerbsminderung nicht erbrachten Rentenbeiträge
rechnerisch ersetzt.
Die Aussage, ›wer krank ist, darf nicht arm
werden‹, war vor über 100 Jahren noch gesellschaftlicher Konsens. Die Absicherung von
Beschäftigten bei geminderter Erwerbstätigkeit
war neben der Alterssicherung und der
sozialen Absicherung der Familien von Anfang
an eines der zentralen Ziele der gesetzlichen
Rentenversicherung. Doch Beschäftigte, die
aus gesundheitlichen Gründen aus dem
Erwerbsleben ausscheiden müssen, unterliegen heute einem zunehmend höheren Armuts-
97
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 1:
Erwerbsminderungsrenten in Bremen
risiko. Die Ursachen für die diskutierten
künftig steigenden Altersarmutsrisiken sind
bekannt: Änderungen in der Rentenpolitik
und die Entwicklungen am Arbeitsmarkt
verstärken sich dabei (siehe Beitrag Lebensstandardsicherung oder Armutsbekämpfung?,
S. 90 ff.).
800
771
694
690
700
664
650 623 631
600
¢
727
750
650
639
590
569 579
658
665
692
707
677
643
647 645
625
579
568
567
603
639
589
582
562
547
552
550
528
529
527
521
494
500
Zurechnungszeit:
Die durchschnittlichen Zahlbeträge der neu
bewilligten Erwerbsminderungsrenten in den
alten Bundesländern sind bei Männern von
780 Euro im Jahre 2000 auf 635 Euro im Jahre
2011, bei Frauen von 666 Euro (2000) auf
606 Euro (2011) gesunken. Sie liegen teilweise
knapp über dem Grundsicherungsniveau in
Höhe von 660 Euro, teilweise darunter.
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
450
Zweck der Zurechnungszeit ist es, einen von
Erwerbsminderung betroffenen Menschen so
zu stellen, als hätte er bis zum 60. Lebensjahr
weiterverdient wie bisher. Die Zurechnungszeit
ist der Zeitraum zwischen dem Tag, ab
welchem Erwerbsminderung festgestellt wurde
und dem 60. Lebensjahr. Im Rahmen einer
Günstigerprüfung (Gesamtleistungsbewertung)
wird ermittelt, wie hoch die Zurechnungszeit
bewertet wird.
In der aktuellen Debatte gibt es zwei
Verbesserungsvorschläge:
1. Die Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei
Jahre soll auf die Zurechnungszeit übertragen
werden, so dass diese bis zum Jahr 2029 stufenweise
auf 62 Jahre heraufgesetzt würde.
2. Im Rahmen einer zusätzlichen Günstigerprüfung
werden die letzten Jahre vor der Erwerbsminderung
nur berücksichtigt, wenn sie nicht zu einer niedrigeren Zurechnungszeit führen.
Ob diese Vorschläge noch vor der Bundestagswahl umgesetzt werden, ist unsicher.
Erwerbsminderungsrente – Männer
Erwerbsminderungsrente – Frauen
Grundsicherungsbedarf, brutto Bremen
Rentenzahlbetrag bei Rentenzugang nach Wohnort.
Grundsicherung in Bremen: Bruttobedarfe,
Werte für 2000, 2001, 2002, 2005 und 2006 fehlend:
Fehlende Werte durch Hochrechnung aufgefüllt.
Preisbereinigt anhand HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) mit 2011=100.
Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund; Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen
Bei den Erwerbsminderungsrenten machen
sich die allgemeinen Rentenkürzungen der vergangenen Jahre bemerkbar. Zudem müssen seit
2001 Abschläge von bis zu 10,8 Prozent hingenommen werden, wenn die Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr (ab 2029:
vor dem 65. Lebensjahr) in Anspruch genommen wird. Inzwischen sind bereits mehr als
95 Prozent aller neu bewilligten Erwerbsminderungsrenten mit entsprechenden Abschlägen belegt.
In der Zeitreihe wird deutlich, dass die
Zugänge bei Erwerbsminderungsrenten seit
Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgehen. Dies hängt sowohl mit der Situation auf
dem Arbeitsmarkt, wie mit den Auswirkungen
einzelner gesetzlicher Regelungen, wie zum
Beispiel dem Altersteilzeitgesetz zusammen.3
Die neue Rechtslage ab 2001 durch das Gesetz
zur Reform der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit wirkt sich weiter negativ
sowohl in Bezug auf die Anerkennung wie auf
die Höhe von Erwerbsminderungsrenten aus.
3 Das Gesetz zur Altersteilzeit (AltTZG) ist am
23.7.1996 in Kraft getreten. Danach bestand ein
gesetzlich geregeltes
Modell, bei dem ältere
Arbeitnehmer (55+) für
die verbleibende Zeit bis
zur Rente (mindestens
3 Jahre) ihre Arbeitszeit
halbieren konnten.
98
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
¢
Exkurs:
Die geltenden gesetzlichen Regelungen
Bei den Erwerbsminderungsrenten geht es
um die Beeinträchtigung im Erwerbsleben und
den möglichen Ausgleich: Wenn jemand wegen
einer Krankheit oder Behinderung keine sechs
Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann, dann liegt damit die
gesetzliche Voraussetzung für den Erhalt einer
Rente wegen Erwerbsminderung vor. Die
Erwerbsminderung wird durch medizinische
Gutachten festgestellt. Dabei wird auch geprüft,
ob die Erwerbsminderung möglicherweise
durch eine Rehabilitationsmaßnahme behoben
werden kann. Hier gilt der Grundsatz ›Reha vor
Rente‹.
Je nachdem, wie viele Stunden man täglich
arbeiten kann, liegt eine volle oder eine teilweise Erwerbsminderung vor. Wer weniger als
drei Stunden täglich arbeiten kann, bekommt
die volle Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die teilweise Erwerbsminderungsrente kann
beantragt werden, wenn die gesundheitlichen
Einschränkungen nur noch drei bis sechs Stunden Erwerbsarbeit am Tag zulassen. Die Höhe
einer teilweisen Erwerbsminderungsrente
entspricht der Hälfte einer vollen Erwerbsminderungsrente.
Im Januar 2001 trat das Gesetz zur Reform
der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Kraft. Aus der früheren Berufsunfähigkeitsrente wurde die Rente wegen ›teilweiser
Erwerbsminderung‹. Die ›Rente wegen voller
Erwerbsminderung‹ schloss an die frühere
Erwerbsunfähigkeitsrente an. Neben den neuen
Begrifflichkeiten gab es allerdings auch weitere
Änderungen, die sich nachteilig auswirken sollten. Eine von ihnen ist, dass die Bemessungsgrundlage für die Einteilung in ›teilweise‹ oder
›voll‹ erwerbsgemindert nun nicht mehr das
erzielbare Einkommen, sondern die mögliche
tägliche Arbeitszeit ist.
Auch der früher bestehende ›Berufsschutz‹
besteht nur noch für Ältere, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind, was einer schrittweisen
Abschaffung dieser Regelung entspricht. Danach
müssen Beschäftigte jede zumutbare zur
Verfügung stehende Teilzeit-Erwerbstätigkeit
annehmen. Durch die Neuregelung haben
außerdem Menschen, die zwar sechs oder
mehr Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit
nachgehen können, aber nicht in der Lage sind
Vollzeit zu arbeiten, keinen Anspruch mehr
auf eine unterstützende Leistung in Form einer
teilweisen Erwerbsminderungsrente.
Rentenbescheide wegen Erwerbsminderung
werden grundsätzlich zeitlich befristet bewilligt. Das bedeutet, dass sie nicht automatisch bis
zum Eintritt der Regelaltersgrenze ausgezahlt
werden. Alle drei Jahre wird neu geprüft, ob
weiterhin eine Erwerbsminderung vorliegt. Nur
in seltenen Fällen, wenn davon ausgegangen
wird, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit
nicht behoben werden und der betroffene
Mensch durch Rehabilitationsmaßnahmen die
Erwerbsfähigkeit nicht erneut erlangen kann,
wird die Rente unbefristet geleistet. Nach einer
dreimaligen Befristung von je drei Jahren,
insgesamt also nach neun Jahren, wird die
Rente unbefristet gewährt.
Wenn die Erwerbsminderungsrente nicht
für das Existenzminimum reicht, besteht
Anspruch auf
❚ Grundsicherung nach SGB XII (Kapitel 4), bei der
in der Regel kein Unterhaltsrückgriff auf Kinder und
Eltern erfolgt, wenn die Erwerbsfähigkeit voll und
dauerhaft gemindert ist und ab der Regelaltersgrenze.
❚ Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bei einer
vollen befristeten Erwerbsminderungsrente, mit
Unterhaltsrückgriff bei Kindern und Eltern.
❚ Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II
(Arbeitslosengeld II), mit allen Konsequenzen wie
Bedarfsprüfung, Anrechnung des Vermögens,
Hinzuverdienstgrenzen, Sanktionsmöglichkeiten.
99
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 2: Entwicklung des Rentenzugangs der Versicherten
bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Männer
und Frauen) und durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro
Das Problem der vorweggenommenen Altersarmut wird besonders deutlich, wenn die bremischen Zahlen nach Geschlechtern getrennt
und im Vergleich zum Bundesdurchschnitt
und zu Niedersachsen betrachtet werden. Hier
zeigt sich, dass eine Spreizung der Erwerbsminderungsrenten zwischen Niedersachsen
und Bremen stattgefunden hat, die vermutlich
durch eine zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes in Bremen mit einer relativ hohen
Anzahl von prekären Arbeitsverhältnissen,
aber auch mit Teilzeit-Arbeitsverhältnissen zu
erklären ist.
Hier wird auch deutlich, dass gerade die
Gruppe von Beschäftigten mit hohen Erwerbsminderungsrisiken schon vor einer Feststellung der bestehenden Erwerbsminderung
infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit und
prekären Arbeitsverhältnissen niedrige Einkommen und häufig Versicherungslücken in
den Erwerbsbiografien aufweist. Dies sind die
Ursachen dafür, dass die Erwerbsminderungsrente für immer mehr Betroffene zu einem
Armutsrisiko geworden ist. Zudem schlagen
sich niedrige Verdienste und Versicherungslücken über die Zurechnungszeiten überproportional bei der Rentenhöhe nieder.
Abb. 3: Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag
in Euro nach Bundesland und Rentenart (2011)
Renten wegen
Erwerbsminderung
Renten wegen
Alters
Männer
Männer
Frauen
Frauen
Bund
628
573
940
546
Bremen
547
494
881
520
Niedersachsen
655
569
950
483
Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Rentenzugang 2011, 2012
Deutschland
insgesamt
Zugänge
Jahr
Niedersachsen
Höhe in
Euro
Zugänge
Höhe in
Euro
Bremen
Zugänge
Höhe in
Euro
1993
271.541
654
25.250
715
2.414
693
1995
293.994
680
28.195
726
2.900
702
1997
264.203
691
24.300
725
2.362
675
1999
218.187
703
21.212
728
1.827
695
2001
200.579
676
20.259
708
1.610
656
2003
174.361
652
16.466
676
1.346
626
2005
163.960
627
16.116
648
1.287
598
2007
161.515
611
15.579
637
1.360
568
2009
173.028
600
16.564
617
1.440
545
2011
180.238
596
18.122
613
1.546
521
Quelle: Deutsche Rentenversicherung in Zeitreihen, Rentenzugang
und durchschnittlicher Zahlbetrag in Euro/Monat, 2012
Handlungsbedarf
❚ Erwerbsminderung gilt es generell zu vermeiden.
Daher muss dem Grundsatz Rehabilitation vor
Rente wieder voll Rechnung getragen werden. Dazu
ist es erforderlich, die gesetzliche Begrenzung der
Ausgaben für Reha-Maßnahmen (›Reha-Deckel‹)
aufzuheben.
❚ Durch zusätzliche Maßnahmen muss das Armutsrisiko bei Erwerbsminderung reduziert werden. Die
Abschläge müssen abgeschafft und die Zurechnungszeit verlängert werden. Die letzten vier Jahre vor
Eintritt der Erwerbsminderung sind nur dann bei
der Rentenberechnung zu berücksichtigen, wenn sie
sich auf die Höhe des Rentenzahlbetrages positiv
auswirken.
❚ Die Verlängerung der Zurechnungszeit, eine bessere
Bewertung der letzten Kalenderjahre vor Renteneintritt sowie eine Anhebung des Reha-Deckels sind
der parteiübergreifende Konsens. Bremen sollte sich
auf Bundesebene, beispielsweise im Rahmen einer
Bundesratsinitiative, für entsprechende Verbesserungen bei der Rentengesetzgebung einsetzen.
100
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Betriebsräte und berufliche Weiterbildung
von Beschäftigten
SUSANNE HERMELING
1 Das weisen die letzten
Zahlen der vom
Bundesministerium für
Bildung und Forschung
(BMBF) beauftragten
Bevölkerungsbefragung
von 18–64- jährigen
Menschen aus. Vgl.
BMBF (Hrsg.): Weiterbildungsverhalten in
Deutschland. AES 2010
Trendbericht, 2011.
2 Vgl. Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB):
Datenreport zum
Berufsbildungsbericht
2012, S. 287 ff.
Berufliche Fort- und Weiterbildung ist für alle
Beschäftigten ein Thema. Oft geht es darum,
im eigenen Arbeitsfeld bei Umstrukturierungen oder nach Erwerbsunterbrechungen
beschäftigungsfähig zu bleiben. Erwerbstätige
profitieren dabei je nach Branche und Unternehmen von betrieblich finanzierter Weiterbildung oder sie müssen selbst Zeit und Geld
in individuelle Weiterbildung investieren.
Betrieblich unterstützte Umqualifizierungen
können Arbeitsplatzverluste für die Beschäftigten verhindern, die aus gesundheitlichen
Gründen in weniger belastende Bereiche wechseln müssen. In einer tendenziell alternden
Gesellschaft mit längeren Lebensarbeitszeiten
ist dieses Thema besonders akut. Der demografische Wandel ist gleichzeitig Anlass für
Unternehmen, Strategien zur Deckung ihres
zukünftigen Fachkräftebedarfs zu entwickeln.
Weiterbildung ist daher immer mehr ein
gemeinsames Interessenfeld von Unternehmen, Arbeitnehmervertretern und Beschäftigten. Auch Unternehmen sollten ein wachsendes Interesse daran haben, nicht nur reaktiv
für kurzfristige Bedarfe, sondern prophylaktisch zu qualifizieren. Demnach müssten
neben kurzen Schulungen vermehrt auch
Anpassungs-, Wiedereinstiegs- und Umqualifizierungen gefördert werden. Aufstiegsfortbildungen, etwa zum Meister oder zur Betriebswirtin, gelten in der Regel als persönliche
Weiterbildung. Hier müssen Unternehmen
umdenken, die nach eigenen Aussagen
entsprechende Fachkräfte suchen, und auch
längerfristige Fortbildungen vermehrt fördern.
Welche Beschäftigtengruppen
profitieren?
Die größte Zahl aller statistisch erfassten
Weiterbildungsveranstaltungen findet im
betrieblichen Kontext statt. Zu bedenken ist
dabei, dass fast die Hälfte der Aktivitäten
nur wenige Stunden bis maximal einen Tag
umfassen.1 Am meisten profitieren nach einer
Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Hochschul- und Fachschulabsolventen von betrieblicher Weiterbildung. Im Vergleich dazu werden Beschäftigte
ohne Berufsabschluss in Betrieben kaum
gefördert.2 Die Teilnahme an betrieblicher
Weiterbildung ist außerdem abhängig vom
Erwerbsstatus, darum sind die oft teilzeitbeschäftigten Frauen gegenüber den überwiegend vollzeitbeschäftigten Männern benachteiligt. Die Teilnahmequoten an betrieblicher
Weiterbildung sind zudem bei den 35–49Jährigen am höchsten und bei den Älteren am
niedrigsten. Auch Beschäftigte mit Migrationshintergrund profitieren erheblich weniger
von betrieblicher Weiterbildung als Deutsche
ohne Migrationshintergrund. Die großen
Unterschiede nach Qualifikation, Alter,
Geschlecht und Migrationshintergrund weisen
auf gruppenbezogene Benachteiligungen in
den Betrieben hin, denn in individueller
berufsbezogener Weiterbildung sind die Unterschiede in den Teilnahmequoten nicht vorhanden oder wesentlich geringer. Für die
benachteiligten Gruppen, insbesondere für
Un- und Angelernte, müssen daher in verstärktem Maße Qualifizierungsprojekte und
Förderprogramme entwickelt werden.
101
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Welche Betriebe investieren
in Weiterbildung?
Das IAB- Betriebspanel, eine Befragung von
Arbeitgebern, ergibt ein anderes Bild zu Weiterbildungschancen im Betrieb. Danach profitieren Frauen in gleichem Maße wie Männer.
Allerdings zeigt auch die Betriebsbefragung,
dass weniger in die Weiterbildung von Älteren
und sehr wenig in die Weiterbildung von
An- und Ungelernten investiert wird. Auch
spezielle Angebote für Ältere gibt es kaum,
obwohl der Anteil der über 50-jährigen
Beschäftigten im Land Bremen auf ein Viertel
gestiegen ist und viele Stellen in den nächsten
Jahren altersbedingt neu besetzt werden müssen. Im verarbeitenden Gewerbe ist sogar ein
Drittel der Belegschaften über 50 Jahre alt
und in der öffentlichen Verwaltung (inklusive
Non-Profit-Organisationen) sogar mehr als ein
Drittel. Trotzdem haben die bremischen Betriebe kaum vermehrt spezielle Maßnahmen für
ältere Beschäftigte angeboten.3
Ob ein Betrieb in Weiterbildung investiert,
ist nicht nur vom Bedarf, sondern auch von
betrieblichen Ressourcen und von der Durchsetzungskraft der Beschäftigten abhängig.
Wie in den Vorjahren war 2011 laut Betriebspanel jeder zweite Betrieb im Land Bremen
weiterbildungsaktiv. Die von den Betrieben
geschätzten Teilnahmequoten von Beschäftigten stiegen jedoch auf über ein Drittel an.
Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt,
dass auch die bremischen Betriebe Kurzarbeitsphasen in den Krisenjahren kaum für Weiterbildung genutzt haben, ab 2011 dagegen
verbessert sich die Lage.4
Unter den Betrieben mit künftigem Fachkräftebedarf im Land Bremen erwarten nach
IAB- Betriebspanel zwei Drittel Probleme bei
Stellenbesetzungen. Hauptgründe dafür
seien ein voraussehbarer Bewerbermangel für
bestimmte Berufe und ein Mangel an Zusatzqualifikationen. Fast alle dieser Betriebe
nannten personalpolitische Maßnahmen – vor
allem Weiterbildung – als wichtigste Strategie
zur Sicherung ihres Fachkräftebedarfs. Doch
mangelnde Ressourcen und fehlende Infrastrukturen behindern oft eine entsprechende
Umsetzung. Im Baugewerbe etwa wird der
zukünftige Fachkräftebedarf am deutlichsten
geäußert, gleichzeitig wird in der Branche am
wenigsten Weiterbildung gefördert. Das liegt
unter anderem daran, dass viele kleine Betriebe das Bild dieser Branche bestimmen. Große
Unternehmen haben dagegen mehr finanzielle
Ressourcen für Weiterbildung und Spielräume
für bildungsfreundliche Arbeitszeitmodelle.
In einigen mittelständisch geprägten Branchen
gibt es daher umlagenfinanzierte Fonds für
Aus- und Weiterbildung. Ein Beispiel ist
die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes mit
Mitteln, die vor allem in abschlussbezogene
Nachqualifizierungen und in Fortbildungen
investiert werden.
Mittelständische Unternehmen sind dann
weiterbildungsaktiv, wenn Ressourcen vorhanden sind und neue Produkte oder organisatorische Veränderungen häufig vorkommen.
Dies ist zum Beispiel im Kredit- und Versicherungsgewerbe der Fall.5 Ausbildungsbetriebe,
das gilt insbesondere für kleine Betriebe bis
19 Beschäftigte, investieren wesentlich häufiger in Weiterbildung als Betriebe, die nicht
ausbilden.6 Wahrscheinlich werden für die
Ausbildung geschaffene Kompetenzen und
Strukturen im Betrieb auch für die Weiterbildung genutzt.
3 Auch in der Betriebsrätebefragung 2012
(n=127) der Arbeitnehmerkammer Bremen
gab nur ein einziger
Betrieb an, Programme
für über 50-jährige
Mitarbeiter zu fördern.
4 Vgl. SÖSTRA : Beschäftigungstrends. Ergebnisse der jährlichen Arbeitgeberbefragung, IABBetriebspanel Bremen,
Befragungswelle 2011.
5 Vgl. Käpplinger: Welche
Betriebe in Deutschland
sind weiterbildungsaktiv? BMBF 2007, S. 17.
6 Vgl. Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB):
Datenreport zum
Berufsbildungsbericht
2012, S. 302.
102
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Mitbestimmte berufliche Weiterbildung
7 Vgl. Stegmaier: Effects
of Works Councils on
Firm-Provided Further
Training in Germany. In
British Journal of Industrial Relations, Dec.
2012. Berger: Betriebsräte und betriebliche
Weiterbildung. In: WSI
Mitteilungen 5/2012.
8 Beispiele zeigen Gröne/Kozlowski (2007):
Personalentwicklung im
Betrieb mitgestalten.
Gröne/Kozlowski
(2010): Mitarbeitergespräche. Online www.
arbeitnehmerkammer.de
/mitbestimmung/
personalentwicklung/
Eine neue Auswertung der Daten des IABBetriebspanels gibt Hinweise darauf, dass insbesondere kleine und mittlere Unternehmen
(KMU ), aber auch Großunternehmen mit
Betriebsrat, häufiger Weiterbildung fördern
als Unternehmen ohne Betriebsrat.7 Tatsächlich ist Weiterbildung auch für Betriebsräte
ein zunehmend wichtiges Thema. Nach dem
Betriebsverfassungsgesetz können Betriebsräte
Maßnahmen vorschlagen und bei der Durchführung mitbestimmen und sie können die
Teilnahme von einzelnen oder Gruppen von
Arbeitnehmern vorschlagen.8 Betriebsräte können daran mitwirken, dass die Arbeitsplatzsicherheit durch Anpassungsqualifizierungen
verbessert wird und Qualifizierungen in höherwertige oder alternsgerechte Tätigkeiten unterstützt werden. Und sie können ungleichen
Weiterbildungschancen gegensteuern. Beschäftigte, die sich über individuelle Weiterbildung
beruflich entwickeln wollen, brauchen außerdem oft den Beistand des Betriebsrats, etwa für
besondere Arbeitszeitregelungen. Instrumente,
die Betriebsräte nutzen können, sind tarifliche, betriebliche und individuelle Vereinbarungen.
103
Qualifizierungstarifverträge wurden zuletzt
unter anderem in der chemischen Industrie
(2003), der Metall- und Elektroindustrie
(2001/2006), im öffentlichen Dienst (2005/
2006) und im Versicherungsgewerbe (2007)
abgeschlossen. Der individuelle Qualifizierungsbedarf soll in der Regel durch ein
jährliches Mitarbeitergespräch festgestellt werden. Die Kosten für betrieblich notwendige
Maßnahmen sollen vom Arbeitgeber getragen
werden. Allerdings werden keine rechtlichen
Ansprüche auf Weiterbildung festgelegt.
Solche Regelungen sind bisher die Ausnahme,
wie zum Beispiel die garantierten zweieinhalb
Tage Weiterbildung für Beschäftigte im kommunalen Erziehungsdienst. Der Einfluss von
Tarifverträgen auf die Praxis von betrieblicher
und beruflicher Weiterbildung scheint bisher
schwach zu sein. Handlungsverpflichtungen
für die Betriebsparteien sind beispielsweise aus
dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
nicht abzuleiten. Auch der Qualifizierungsta-
rifvertrag Metall/Elektro legt keine Qualitätsnormen oder Ansprüche fest, so dass er von
Betriebsräten oft als ›zahnlos‹ empfunden
wird.9 Die Tarifverträge bieten jedoch Handlungsansätze für den gesetzlich schwach
geregelten Bereich der beruflichen Weiterbildung, die durch Betriebsvereinbarungen
konkretisiert werden können. Die Umsetzung
von Qualifizierungen hängt von finanziellen
Ressourcen und Infrastrukturen in den Betrieben ab. Daher müssten mehr Tariffonds
aufgelegt und öffentliche Förderprogramme
genutzt werden. Für die Umsetzung müssten
angemessene Unterstützungsstrukturen
geschaffen werden, damit tarifliche Regelungen tatsächlich greifen können. Ein Beispiel
dafür ist die Agentur Q zur Förderung der
beruflichen Weiterbildung in der Metall- und
Elektroindustrie, die in Baden-Württemberg
gemeinsam von IG Metall und Arbeitgeberverband geführt wird.10
9 Vgl. Bahnmüller:
Tarifverträge als Instrument der beruflichen
(Weiter-)Bildung in
Deutschland. Workshop-Paper, S. 14.
10 Vgl. Bahnmüller/
Hoppe: Tarifliche
Qualifizierungsregelungen im öffentlichen Dienst:
betriebliche Umsetzung
und Effekte. In: WSI
Mitteilungen 7/2011.
104
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
In der Regel waren Betriebsvereinbarungen
das entscheidende Mitbestimmungsinstrument
in Fragen der beruflichen Weiterbildung.
Betriebsräteinterviews im Land Bremen
Im Anschluss an die Betriebsrätebefragung
2012 der Arbeitnehmerkammer Bremen11 wurden im Zeitraum November 2012 bis Februar
2013 zum Thema Aus- und Weiterbildung
Experteninterviews mit Betriebsräten geführt.
Die Betriebe, die sich im Rahmen der Betriebsrätebefragung zu einem Interview bereit
erklärt hatten, kommen aus den Branchen verarbeitendes Gewerbe, öffentliche Dienstleistungen, Handel/Verkehr/Logistik sowie Finanzen
und Versicherungen. Sie sind ansässig in Bremen und Bremerhaven. Bis auf eine Ausnahme
sind alle Ausbildungsbetriebe. Da die Interviews nur in mitbestimmten Betrieben und
vor allem in mittleren und großen Betrieben
geführt wurden, ist die Stichprobe nicht repräsentativ für die Gesamtheit aller bremischen
Betriebe. Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus den Branchen verarbeitendes Gewerbe und öffentliche Dienstleistungen zusammengefasst.
Verarbeitendes Gewerbe
11 Vgl. Muscheid, Jörg:
Betriebsrätebefragung
2012. In: Bericht zur
Lage der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Land
Bremen, S. 136–143.
12 Vgl. Busse: Qualifizierung in Kurzarbeit bei
ArcelorMittal Bremen.
Hans-Böckler-Stiftung,
2009. Online unter
www.boeckler.de/pdf/
mbf_netzwerke_
fallstudie_arcelor.pdf
Die Größe der drei Mittel- und zwei Großbetriebe variiert stark. Zwei hier nicht anonymisierte Betriebe sind neben dem öffentlichen
Dienst die beiden größten Arbeitgeber in Bremen: das Mercedes-Benz-Werk/Daimler mit
rund 12.500 und ArcelorMittal mit rund 3.600
Beschäftigten. Vier Betriebe haben IG-MetallTarifverträge und gute Organisationsgrade
zwischen 60 und 80 Prozent, ein Betrieb im
Organisationsbereich der NGG hat keinen
Tarifvertrag. In der Regel waren Betriebsvereinbarungen das entscheidende Mitbestimmungsinstrument in Fragen der beruflichen Weiterbildung.
In einigen Betrieben waren jährliche Mitarbeitergespräche verbindlich gemacht worden,
um individuelle Qualifizierungsprofile zu
erstellen. Weiterhin wurde vereinbart, die
Gespräche als Dialog zu gestalten, in dem auch
die Beschäftigten eine Rückmeldung an die
Führungsebene geben können. Diese Regelung
scheint im Betrieb ein Klima zu fördern, in
dem die Beschäftigten eigene Weiterbildungsbedarfe äußern. Im Stahlunternehmen ArcelorMittal sind solche Mitarbeiter-VorgesetztenGespräche per Betriebsvereinbarung seit Jahren fest verankert. Aus den individuellen
Qualifizierungsprofilen entwickelt die zentrale
Personalentwicklungsabteilung des Unternehmens größtenteils innerbetriebliche und teils
externe Weiterbildungen. Das Beispiel zeigt,
dass die regelmäßige Erfassung von Qualifizierungsbedarfen Grundlagen für eine betriebliche Weiterbildungsinfrastruktur bietet. ArcelorMittal Bremen nutzte seine entwickelten
Schulungskonzepte in der Kurzarbeitsphase
2008/2009 zur Qualifizierung von Beschäftigten in allen Bereichen und war damit eins der
wenigen Unternehmen in Deutschland, die
während der Kurzarbeit systematisch qualifizierten. In einer Betriebsvereinbarung wurden
die Ziele der Arbeitsplatzsicherheit sowie
der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten
für die Beschäftigten verankert. Beschäftigte
und Unternehmen profitieren nachhaltig von
der aufgebauten Weiterbildungsinfrastruktur,
die auch in Zukunft genutzt werden kann,
wenn eine Reihe von Beschäftigten in Altersteilzeit gehen und jüngere Beschäftigte im
Gegenzug einen Arbeitsplatz erhalten.12
Die Kurzarbeiterqualifizierungen während der
Krise waren ein sinnvolles Instrument der
Beschäftigungssicherung einerseits und dem
Erhalt von wettbewerbsfähigen Unternehmen
andererseits. Allerdings kann die Verwendung
öffentlicher Mittel in so großem Umfang nicht
zur Regel werden, wo die Unternehmen selbst
Investitionen in ihre Zukunft tätigen müssten.
105
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Betrieblich erforderliche Schulungen sind
grundlegend und werden in allen Betrieben
vom Arbeitgeber finanziert. In den großen
Betrieben wird das Jahresprogramm in einem
Ausschuss vorgestellt, in dem auch Betriebsräte
vertreten sind. Themen, die Betriebsräte oft
in die Planung einbringen, sind Gesundheit,
Arbeitssicherheit oder Vereinbarkeit von Beruf
und Familie. In den großen Betrieben, wie
Daimler, kommen fachliche Vorschläge auch
von den Bereichsbetriebsräten. Produktschulungen oder andere betrieblich notwendige
Maßnahmen, wie Schweißen, werden innerbetrieblich und mitunter über unternehmenseigene Weiterbildungsabteilungen oder - einrichtungen durchgeführt.
Ungleiche Weiterbildungschancen wurden
vor allem in Bezug auf Betriebshierarchien thematisiert. Bei zwei mittelgroßen Betrieben
bestehen konstant Schieflagen. Es würden zwar
ausreichend Mittel in Führungskräfteentwicklung investiert, doch betriebliche Schulungen
für andere Beschäftigtengruppen seien oft
wenig nachhaltig, weil Stellen in der Produktion unterbesetzt seien. Notwendige Maßnahmen, wie die Einarbeitung in neue Anlagen,
würden in produktionsintensiven Phasen auf
einen zu kleinen Kreis von Beschäftigten
beschränkt. Auch bei ArcelorMittal seien Basisschulungen in der Produktion aufgrund von
personellen Engpässen aktuell in den Hintergrund getreten. Leiharbeitnehmer nehmen an
allgemeinen Kurzschulungen nur dann teil,
wenn sie länger in einem Bereich arbeiten. Von
Weiterbildungen sind sie in der Regel ausgeschlossen.
Das Arbeitsagentur-Programm WeGebAU
zur Förderung abschlussbezogener Qualifizierungen für An- und Ungelernte und Ältere, ist
noch von keinem der Betriebe genutzt worden,
obwohl Bedarf besteht. Daimler und ArcelorMittal haben schätzungsweise fünf bis acht
Prozent, meist ältere, un- und angelernte
Beschäftigte in der Produktion. Viele müssten
für alternsgerechte Arbeitsplätze außerhalb
der taktgebundenen Schichtarbeit am Band
qualifiziert werden. Die Themen demografischer Wandel, Gesundheit und Beschäftigungssicherung hängen oft zusammen. In dem
mittelgroßen Betrieb im NGG- Organisationsbereich beispielsweise sind alternsgerechte
Arbeitsbereiche für Un- und Angelernte ausgelagert. Der Betriebsrat arbeitet daher an Konzepten zur Qualifizierung von Produktionsmitarbeitern für den kaufmännischen Bereich,
damit auch gesundheitlich beeinträchtigte
Beschäftigte im Betrieb gehalten werden können. Bei Daimler existiert die Arbeitsgruppe
›Demografischen Wandel gestalten‹ bereits seit
2004, da Bremen das ›älteste‹ Mercedes-Werk
in Deutschland ist. Aus Analysen zum zukünftigen Fachkräftebedarf entstanden Projekte
wie die Erwachsenenqualifizierung für die
Ausbildung zum Werkzeugmacher. Die Personalabteilung und der Betriebsrat suchen
für dieses Pilotprojekt vier Bewerber zwischen
40 und 50 Jahren. Diese hatten ursprünglich
Werkzeugmacher oder Industriemechaniker
erlernt, haben jedoch jahrelang am Band
gearbeitet. Diese Gruppe bekam nun die
Chance, von der körperlich belastenden Arbeit
am Band in den Bereich Werkzeugmechanik
zu wechseln. Auch bei ArcelorMittal wurden
in den vergangenen Jahren etwa 70 Beschäftigte berufsbegleitend zum Verfahrensmechaniker ausgebildet. Solche Pilotprojekte müssen
in großen Betrieben ausgeweitet und wo
möglich, im Verbund mit kleineren Betrieben
durchgeführt werden.
106
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Angebote für (zukünftige) Führungskräfte
gab es in allen Betrieben, von Führungskräfteschulungen bis hin zu systematischen Entwicklungsprogrammen. In den Großbetrieben
werden Anreize für ein (berufsbegleitendes)
oder Vollzeitstudium gesetzt. Finanzielle
Unterstützung ist allerdings selten und muss
individuell ausgehandelt werden. Meister- und
Technikerfortbildungen finanzieren die
Beschäftigten selbst. Nach der Aufstiegsfortbildung zum Meister gehen allerdings viele
zurück ans Band, wenn Plätze im Meisterentwicklungsprogramm von Daimler und
entsprechende Stellen belegt sind. Frauen werden bei Daimler besonders ermutigt, sich als
Meisterinnen zu qualifizieren. Das Ziel ist
eine Meisterinnenquote von fünf Prozent. Bei
ArcelorMittal gibt es ähnliche Unterstützungsstrukturen für Studium und Fortbildung,
doch auch hier ist der Wechsel in eine adäquate Stelle nicht garantiert.
Öffentliche Dienstleistungen
Unter den befragten fünf Betrieben waren vier
Non-Profit-Organisationen: Ein Kleinbetrieb,
drei Mittelbetriebe und ein Großbetrieb (ein
Krankenhaus). Alle Betriebe gehören nicht
(mehr) zur öffentlichen Verwaltung, sind
jedoch im Organisationsbereich von ver.di. Die
tarifvertraglichen Regelungen entsprechen
denen des öffentlichen Dienstes.
In dem Krankenhaus und einem weiteren
großen Betrieb werden regelmäßig betrieblich
finanzierte fachliche Schulungen im technischen Pflege- oder Verwaltungsbereich
angeboten, die auch vom Betriebsrat und den
Beschäftigten mitinitiiert werden. In anderen
Betrieben werden nach Einschätzung der
Betriebsräte nur noch die gesetzlich verordneten Schulungen durchgeführt, etwa im Bereich
Erste Hilfe oder grundlegende Arbeitssicherheit. Im Zusammenhang mit Mittelkürzungen
und Stellenabbau verhindern, so die befragten
Betriebsräte, Arbeitsverdichtung und Zeitmangel Möglichkeiten von Weiterbildung und
Organisationsentwicklung. Selbst unbezahlte
Freistellungen für individuelle Fort- und
Weiterbildungen werden auch in den größeren
Betrieben zunehmend schwieriger. Im Krankenhaus werden nach individueller Vereinbarung teilweise fachliche Aufstiegsfortbildungen kofinanziert.
107
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Aufstiegsmöglichkeiten sind allerdings auch
hier unsicher, zum Teil aufgrund mangelnder
Personalplanung. In Betrieben, wo Aufstiegsmöglichkeiten gänzlich fehlten, beschrieben
die Betriebsräte die Situation als frustrierend
und demotivierend für die Beschäftigten. Auch
im Rahmen der Betriebsrätebefragung der
Arbeitnehmerkammer 2012 gaben die Betriebsräte an, dass die eigene berufliche Weiterentwicklung (84 Prozent) sowie bessere Aufstiegsund Verdienstmöglichkeiten (56 Prozent) die
stärksten Anreize für berufliche Weiterbildung
sind. Vermehrt müssen also ›Sackgassenbereiche‹ in Betrieben identifiziert und Perspektiven geschaffen werden, damit Beschäftigte
Zeit, Geld und Energie in Bildung investieren.
Für Un- und Angelernte gibt es in den befragten Betrieben wenig oder keine Qualifizierungen und der Ressourcenmangel der öffentlichen Dienstleistungen wird hier besonders
deutlich.
In allen Interviews wurde die alternde
Belegschaft im Betrieb problematisiert. In
den größeren Betrieben sind zu dem Thema
Arbeitsgruppen entstanden, die allerdings
noch am Anfang stehen und auf wenig personelle Ressourcen zurückgreifen können. Im
Krankenhaus gab es einzelne Umschulungen
gesundheitlich beeinträchtigter Pflegekräfte,
die anschließend im Verwaltungsbereich
weiterbeschäftigt wurden. Einige Betriebsräte
sahen allerdings kaum Möglichkeiten zur
Gestaltung des demografischen Wandels durch
Um- oder Weiterqualifizierungen, weil keine
alternsgerechten Arbeitsplätze zur Verfügung
stehen. Die Belastungen würden von den
Beschäftigten einfach hingenommen, weil
sonst der Verlust des Arbeitplatzes drohe. Hier
sind auch Land und Kommunen aufgerufen,
ihre ausgelagerten Betriebe zu unterstützen
und beispielhafte Konzepte für die Bewältigung des demografischen Wandels zu entwickeln.
108
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Perspektivwechsel in Bremen
Von Integration zu Vielfalt und Partizipation
T H O M A S S C H WA R Z E R
1 In der Stadtgemeinde
Bremen nennen in den
öffentlichen Schulen
37 Prozent der
Schüler/innen mit
›Migrationshintergrund‹
Türkisch als ihre Muttersprache, 15 Prozent
Russisch und 7 Prozent
Arabisch, aber auch
Deutsch (6 Prozent),
Polnisch (5 Prozent) und
Kurdisch (4 Prozent). In
Bremerhaven geben die
Schüler und Schülerinnen mit ›Migrationshintergrund‹ hingegen zu
26 Prozent Russisch als
Muttersprache an, 25
Prozent Türkisch und
18 Prozent Deutsch,
aber auch Polnisch (6
Prozent) und Portugiesisch (4 Prozent).
Das Schwerpunktthema des Berichts zur
sozialen Lage hat sich 2012 den Migrantinnen
und Migranten im Land Bremen gewidmet.
Ihre Arbeits- und Lebenssituationen sind
mittlerweile so vielfältig, dass es nicht mehr
sinnvoll ist, von den Deutschen hier und den
Migranten dort zu sprechen. In Bremen und
Bremerhaven hat heute mehr als ein Viertel
der Bewohnerinnen und Bewohner einen
sogenannten Migrationshintergrund, bei den
Grundschülern trifft dies sogar auf fast die
Hälfte zu. Alle gemeinsam leben wir in einer
vielfältigen Stadtgesellschaft, die sich aus
Menschen verschiedener Herkunft zusammensetzt.
Die soziale Lage der Migrantinnen und
Migranten wurde für den Bericht 2012 auch
deshalb als Thema ausgewählt, weil kaum
ein gesellschaftliches Thema immer wieder so
hitzig und kontrovers in der Politik und der
Öffentlichkeit debattiert wird. Diese Debatten
werden häufig mit pauschalen Zuschreibungen, Vorurteilen und Populismus geführt.
Schon um die Verwendung der ›richtigen‹
Begriffe wird intensiv gestritten. Zum Beispiel
um das korrekte Wort für jene Menschen,
deren Eltern oder die selbst aus einem anderen
Land nach Deutschland und Bremen gekommen sind.
¢
Begriffswirrwarr
❚ Gastarbeiter/innen ❚ Ausländer/innen
❚ Aussiedler/innen ❚ Einwanderer ❚ Zugewanderte
❚ Migranten/innen ❚ Fremde ❚ Nichtdeutsche
❚ Eingebürgerte ❚ Zweiheimische ❚ Menschen mit
familiärer Migrationsgeschichte ❚ Schüler/innen
mit Migrationshinweis ❚ Bewohner/innen mit
Migrationshintergrund
In Bremen und Bremerhaven hatten 2010 von
den 660.000 Bewohnerinnen und Bewohnern
184.000 einen Migrationshintergrund (27,8
Prozent). Weit über die Hälfte von ihnen sind
deutsche Staatsbürger (100.000). Und von allen
im Land Bremen lebenden Menschen, die
als Menschen mit Migrationshintergrund
gezählt werden, ist fast ein Drittel in Deutschland geboren (53.000) und hat selbst keine
Migrationserfahrung. Im Vergleich mit den
deutschen Großstädten liegt die Stadt Bremen
mit rund 28 Prozent bei den Menschen mit
Migrationshintergrund im ›Mittelfeld‹. Die
höchsten Anteile an Bewohnerinnen und
Bewohnern mit Migrationshintergrund haben
Stuttgart (40 Prozent), Frankfurt am Main
(39 Prozent), Nürnberg (39 Prozent) und München (36 Prozent).
Sprachenvielfalt und Sprachförderung –
Herausforderung für Kitas und Schulen
Die besondere Vielfalt durch die verschiedenen
Herkunftsländer und Erfahrungen wird im
Land Bremen besonders bei den Kindern und
Jugendlichen deutlich. Im Kindergartenalter
wird bei 47 Prozent ein familiärer ›Migrationshintergrund‹ gezählt, im Schulalter bei 42
Prozent. Mit entsprechend vielen unterschiedlichen Muttersprachen1 kommen die Kinder
und Jugendlichen in die Bremer Betreuungsund Bildungseinrichtungen. Je nachdem, in
welchem Ortsteil eine Schule liegt, wie hoch
dort der Anteil der Schülerinnen und Schüler
mit ›Migrationshintergrund‹ ist und aus welchen Herkunftsländern die Familien kommen,
sind unterschiedlich viele Muttersprachen
verbreitet. Lediglich in einer Bremer Schule ist
Deutsch die einzige Muttersprache, an drei
weiteren Schulen sind neben Deutsch lediglich
zwei weitere Muttersprachen vorhanden.
Dagegen gibt es an 56 Schulen 11 bis 15 ver-
109
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 1: Zahl der öffentlichen allgemeinbildenden Schulen nach Anzahl der in der
Schule erfassten Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler, Schuljahr 2009/10
Stadt Bremen
Bremerhaven
Zahl der Schulen
Zahl der Schulen
1
8
5
36
11
43
bis zu 5 Muttersprachen
6 bis 10 Muttersprachen
11 bis 15 Muttersprachen
17
56
mehr als 15 Muttersprachen
Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen und Bremerhaven 2012, S. 180
schiedene Muttersprachen und an weiteren
36 Schulen mehr als 15 Muttersprachen.
Es gibt sogar eine Schule, an der die Schülerschaft 26 Muttersprachen spricht.
Angesichts dieser Sprachvielfalt wird in
den Bremer Kindertagesstätten und Schulen
derzeit wieder intensiv über Sprachförderung
diskutiert. Neben den aktuellen bildungspolitischen ›Baustellen‹ der Inklusion und des
ganztägigen Lernens, muss auch die Sprachförderung neu ausgerichtet und erheblich
intensiviert werden. Nicht allein aus sozial-,
bildungs- und integrationspolitischen Erfordernissen, sondern auch aus ausbildungs- und
arbeitsmarktpolitischen Erwägungen.
Diese Herausforderungen müssen benannt
werden, sie sollten aber nicht den Blick verstellen auf die positiven Entwicklungen, gerade
im Bildungsbereich. Denn mittlerweile
schließen zwei Drittel der Schülerinnen und
Schüler mit Migrationshinweis im Land
Bremen ihre Schulzeit mit der mittleren Reife
oder der Hochschulreife ab. Selbstverständlich
zeigen die nachfolgend abgebildeten Zahlen,
dass im Schuljahr 2009/2010 immer noch viel
zu wenige Kinder mit einem Migrationshinweis Abitur machen (nicht ganz ein Viertel).
Die Zahlen zeigen auch die starke soziale
Spaltung der Bildungswege. Denn eine viel zu
große Anzahl von Schülerinnen und Schülern
mit einem Migrationshinweis beendet ohne
Abschluss ihre Schulzeit (10 Prozent) und weitere acht Prozent lediglich mit einer einfachen
Berufsbildungsreife. Das bedeutet, dass sich
fast jede/r fünfte Schüler/in mit einem Migrationshinweis mit ausgesprochen schlechten
Chancen auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz machen muss oder nach einer
häufig prekären Beschäftigung. Denn viele
Unternehmen übergehen Bewerber selbst mit
Haupt- oder Realschulabschlüssen oder aufgrund eines ausländisch klingenden Namens.
Gleichzeitig stellt die große Mehrheit der
Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshinweis, die einen Realschulabschluss oder
das Abitur erwerben, diejenigen Fachkräfte,
nach denen die Unternehmen so intensiv
suchen. Doch ein zu großer Anteil scheitert an
Vorurteilen und nicht an seinen fehlenden
Qualifikationen.
110
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 2: Schulabsolventinnen und -absolventen
mit Migrationshintergrund nach Schulabschlüssen 2009, Land Bremen, in Prozent
42,5
allgemeine Hochschulreife (Abitur)
21,2
33,1
mittlerer Schulabschluss
erweiterte Berufsbildungsreife
einfache Berufsbildungsreife
ohne Abschluss
41,1
11,8
19,5
6,4
8,0
6,1
10,2
20
ohne Migrationshintergrund
40
60
mit Migrationshintergrund
Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung
Bremen und Bremerhaven 2012, S. 277
Teilhabe durch Erwerbsarbeit in Bremen
Ob Integration und Teilhabe tatsächlich gelingen, dafür werden vor allem im Bildungssystem entscheidende ›Weichen‹ gestellt. Entschieden wird über gelingende Integration
und Teilhabe aber vor allem auf den regionalen Arbeitsmärkten. Über ein Viertel der
erwerbsfähigen Menschen, die in Bremen und
Bremerhaven leben, haben mittlerweile einen
Migrationshintergrund. Das sind rund 115.000
Bremerinnen und Bremer. Ihre beruflichen
Biografien sind ebenfalls vielfältig: Erfolgreich
und hoch identifiziert mit ihrem Beruf oder
auch am Hadern mit schlechten Jobs und
mangelnden Möglichkeiten. Genaue Zahlen zu
den Erwerbstätigen mit ›Migrationshintergrund‹ liegen für das Land Bremen nicht vor.
Die Bundesagentur für Arbeit will erst im
nächsten Jahr dieses statistische Merkmal
erstmals ausweisen. Deshalb kann lediglich für
die Ausländerinnen und Ausländer Näheres zu
ihrer Arbeitsmarktintegration gesagt werden.
Sie müssen sich auch in Bremen auf einem
gespaltenen Arbeitsmarkt zurechtfinden.
Dabei muss außerdem berücksichtigt werden,
dass ein Teil der Ausländerinnen und Ausländer aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keine
oder lediglich eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis erlangen kann und über begrenzte
Zugänge zu den sozialen Sicherungssystemen
verfügt. Die Erwerbsintegration der Ausländerinnen und Ausländer, anhand der vorliegenden statistischen Daten, zeigt dadurch das folgende Muster, beruhend auf vier Standbeinen:
❚ Fast 20.000 Ausländerinnen und Ausländer im Land
Bremen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt,
rund 12.000 Männer und nicht ganz 8.000 Frauen.
Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und sie verfügen über eine solidere
soziale Absicherung als die anderen Gruppen.
Dennoch sind sie vor allem in Wirtschaftssektoren
beschäftigt, in denen Niedriglöhne und flexible
Arbeitszeiten (auch Wochenendarbeit) weit verbreitet
sind: im Groß- und Einzelhandel, in der Arbeitnehmerüberlassung, in der Logistik/Lagerei, Verkehr
und Kurierdiensten, in der Gastronomie und im
Gebäudeservice.
❚ Rund weitere 8.500 Ausländerinnen und Ausländer
sind geringfügig beschäftigt, fast 4.000 Männer und
4.500 Frauen. Ihre Anzahl ist in den vergangenen
Jahren ebenfalls kontinuierlich angestiegen, während
die Zahl der geringfügig beschäftigten Deutschen
stagniert. Diese Ausländerinnen und Ausländer sind
ausgesprochen schlecht sozial abgesichert, zumal sie
ebenfalls vor allem in Wirtschaftssektoren beschäftigt sind, in denen Niedriglöhne weit verbreitet sind:
im Gebäudeservice, in der Gastronomie, im Einzelhandel und im Bereich persönlicher Dienstleistungen
beziehungsweise als Hauspersonal.
❚ Ein drittes Standbein sind Ausländerinnen und Ausländer, die sich selbstständig gemacht haben. Dieser
Weg hat in den vergangenen Jahren durch die
schwierige Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten,
wie in Bremen, an Bedeutung gewonnen. Eine Fallstudie zum Bremer Stadtteil Gröpelingen zeigt, dass
zwei Drittel der dortigen Selbstständigen materiell
relativ stabil wirtschaften, ein Drittel sich jedoch in
prekären Einkommenssituationen befindet. Es wird
geschätzt, dass im Land Bremen etwa 9.000 Ausländerinnen und Ausländer als Selbstständige tätig
sind.
❚ Weitere 8.000 Ausländerinnen und Ausländer sind
im Land Bremen als arbeitslos gemeldet, rund
7.200 beziehen Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (Hartz IV) und rund 800 nach dem
dritten Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld).
111
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Die Zahlen zur Armut und zur Arbeitslosigkeit verweisen
auf massive Folgeprobleme für die Bildungschancen der Kinder
und Jugendlichen im Land Bremen.
Diese insgesamt prekäre Arbeitsmarktintegration der Ausländerinnen und Ausländer im
Land Bremen zeigt sich zugespitzt in ihrer
besonderen Armutsproblematik: 48 Prozent
aller Ausländerinnen und Ausländer galten im
Jahr 2011 als armutsgefährdet, aber auch 40
Prozent aller Menschen mit einem Migrationshintergrund. Die für einen erheblichen Teil
der Ausländerinnen und Ausländer schwierige
Lage auf dem Arbeitsmarkt wird meistens mit
ihrem niedrigen Qualifikationsniveau erklärt.
Tatsächlich gibt es aber weitere Ursachen:
❚ Die formale Anerkennung von im Ausland
erworbenen Qualifikationen ist in Deutschland
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden
und soll erst jetzt verbessert werden.
❚ Viele Unternehmen übergehen Bewerberinnen
und Bewerber mit Haupt- oder Realschulabschluss
oder diskriminieren sie aufgrund eines ausländisch
klingenden Namens. Leistungen werden entwertet,
nur weil sie von Migranten erbracht wurden.
Die Zahlen zur Armut und zur Arbeitslosigkeit
verweisen auf massive Folgeprobleme für die
Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen
im Land Bremen. Ein vergleichsweise hoher
Anteil von deutschen und migrantischen
Eltern ist erwerbslos, hat einen niedrigen Bildungsstand und lebt in Armut. 42 Prozent
aller Kinder wachsen in Bremen mit mindes-
tens einer dieser Risiken auf, 12,1 Prozent sogar mit allen drei Risiken. Das führt zu
schlechten Startchancen, die bisher in den
Bremer Betreuungseinrichtungen und Schulen
nicht hinreichend ausgeglichen werden. Insbesondere in jenen Stadtquartieren, in denen
ein hoher Anteil der Familien in materieller
Armut lebt, können ihre Kinder nicht die Bildungs- und Lebenswege einschlagen, die für
sie möglich wären: weil es die Einkommen der
Eltern nicht zulassen, aber auch, weil die
extreme Bremer Haushaltsnotlage einer optimalen Kinderbetreuung und exzellenten Schulen im Wege steht.
Eine neue Phase der Bremer
Integrations- und Partizipationspolitik?
Bereits kurz nach der Wiedervereinigung
begann in Bremen mit dem 1991 neu gegründeten Ressort für Kultur und Ausländerintegration eine neue Phase der Integrationspolitik. Die neuen Regelungen zum Staatsbürgerschaftsrecht im Jahr 2000 führten zu
dem Beschluss, in einer Landeskonzeption
Grundsätze, Leitlinien und Handlungsempfehlungen für die bremische Integrationspolitik
zu entwickeln. Diese Konzeption bildete die
Grundlage für das erste Bremer Integrationskonzept (2003 bis 2007), dem ein zweites
Integrationskonzept (2007 bis 2011) folgte.
Abb. 3:
Beschäftigungssituation der Ausländerinnen und Ausländer im Land Bremen
ausländische Bevölkerung
Land Bremen 2011: 84.000
19.589
sozialversicherungspflichtige
beschäftigte Ausländer/ innen
12.198
ca. 9.000
4.437
selbstständige
Ausländer/innen
3.887
8.324
8.073
arbeitslose
Arbeitslose
Ausländer/innen
7.391
geringfügig entlohnte
Ausländer/innen
insgesamt rund 45.000
ausländische Erwerbstätige
Frauen
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Statistik-Service Nordost, eigene Darstellung
Männer
112
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Die besondere Vielfalt durch die verschiedenen
Herkunftsländer und Erfahrungen wird im Land Bremen
besonders bei den Kindern und Jugendlichen deutlich.
2 Es ist weiterhin für die
Aufnahme und Versorgung von Asylbewerbern,
Flüchtlingen, Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen zuständig
sowie für Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, für
die Förderung von Migrationsberatungsstellen,
für die Selbsthilfeförderung und für die Härtefallkommission.
In diesen Integrationskonzepten wurden die
vielfältigen Projekte und Initiativen zusammenfassend dargestellt und in einen konzeptionellen Rahmen mit Handlungsempfehlungen gestellt. Das zweite Integrationskonzept
entstand parallel zum Nationalen Integrationsplan 2007, in dem die 16 Bundesländer in
Form von Selbstverpflichtungen mit dem Bund
gemeinsame integrationspolitische Leitlinien
und ein koordiniertes Vorgehen verabredeten.
Seit dem zweiten Integrationskonzept zielt
die Bremer Integrationspolitik nicht allein auf
die strukturelle und soziale Integration von
Migrantinnen und Migranten. Orientiert an
dem Grundsatz der interkulturellen Öffnung
sollen sich auch die städtischen Institutionen
und sozialen Dienste öffnen. Integration wird
damit als Prozess wechselseitiger Öffnung
betrachtet. Als ein wichtiger ›Baustein‹ für die
Stärkung der Bremer Integrationspolitik hat
sich der im Dezember 2004 gebildete Rat
für Integration erwiesen. Trotz der üblichen
Konkurrenz zwischen einzelnen Gruppen und
Nationalitäten im Bremer Rat konnte er seine
Arbeit über die Jahre verstetigen und professionalisieren. Zum Beispiel startete er zur
Bürgerschaftswahl 2011 eine erfolgreiche
Kampagne, um möglichst viele Bremerinnen
und Bremer mit einer Migrationsgeschichte
zur Teilnahme an der Wahl zu motivieren.
Aktuell hat der Bremer Rat für Integration
einen eigenen Büroraum im Gebäude der Bürgerschaft bezogen (im ›Europa-Punkt‹). Erstmals konnte, zur Unterstützung und Koordination der immer umfangreicher werdenden
ehrenamtlichen Arbeit, eine eigene Verwaltungskraft eingestellt werden.
Insgesamt ist es in den vergangenen Jahren
durch die geschilderten Entwicklungen in Bremen, in der Bundespolitik und auch durch
öffentliche Debatten zu einer deutlichen Aufwertung der Integrationspolitik gekommen.
Einen weiteren, starken Rückenwind hat die
Bremer Integrationspolitik aber vor allem
durch das neue Wahlrecht bei der Bürgerschaftswahl 2011 erhalten. Dadurch bestand
die Möglichkeit, mit seinen Stimmen nicht
allein Parteilisten, sondern gezielt auch Kandidatinnen und Kandidaten – selbst von hinteren
Plätzen – durch eine Konzentration der Stimmen zu wählen. Das führte dazu, dass erheblich mehr Kandidatinnen und Kandidaten mit
Migrationshintergrund als jemals zuvor und
auch mehr als in anderen Stadt- und Landesparlamenten in die Bremische Bürgerschaft
eingezogen sind. Aktuell ist die Bremische Bürgerschaft das Parlament in Deutschland mit
den meisten Abgeordneten mit einer familiären Migrationsgeschichte. Diese durch die
Wählerinnen und Wähler forcierte Öffnung
der politischen Parteien und des parlamentarischen Betriebs hat zu einem erheblichen
Schub an politischen und parlamentarischen
Initiativen und Debatten um Integration, Partizipation und Migration geführt. Diese folgenreichen Entwicklungen in Bremen, die sich
auch in anderen deutschen Großstädten in
ähnlicher Art und Weise beobachten lassen,
haben zu einer weiteren, überfälligen Aufwertung des Politikfeldes der Integration und
Partizipation geführt.
Das hat sich im Politikbetrieb in Bremen
auch in der institutionellen Verankerung der
Integrationspolitik niedergeschlagen. Zum
einen wurde in der Bürgerschaft ein neuer
Ausschuss speziell zur Integrationspolitik eingerichtet. Zum anderen wurde das Politikfeld
Partizipation und Integration endlich auch
in Bremen als Querschnittsthema konzipiert.
Der Bereich Integrationspolitik und die Integrationsbeauftragte werden zentral in der
Bremer Senatskanzlei angesiedelt, nicht mehr
separat im Sozialressort. Dort verblieb lediglich das Referat Zuwanderungsangelegenheiten2. Ob mit dieser institutionellen ›Zweiteilung‹ eine Integrationspolitik ›erster Klasse‹ (in
der Senatskanzlei) und ›zweiter Klasse‹ (im
Sozialressort) verbunden sein könnte, muss
aufmerksam beobachtet werden.
113
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Ein erstes Integrationskonzept
auch für Bremerhaven
Die beschriebenen Entwicklungen im Bundesland Bremen und in der Bundespolitik haben
auch in Bremerhaven zu einer Neuorientierung in der Integrationspolitik geführt. Seit
2010 stellt sich auch die Seestadt den Herausforderungen einer möglichst systematischen,
kommunalen Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe. In einem Beteiligungsprozess
über zwei Jahre, mit unterschiedlichen Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus verschiedenen Politikfeldern Bremerhavens, wurden
gemeinsame Zielvorstellungen, Handlungsfelder3 und Leitprojekte entwickelt. Bei diesem
Prozess konnte aufgebaut werden auf das
integrationspolitische Engagement im Projekt
›Lernen vor Ort‹, an lokale Projekte und die
langjährige Arbeit des Rats ausländischer
Mitbürger (R AM ) und des Bremerhavener Netzwerkes4 für Zuwanderinnen und Zuwanderer.
Im Frühjahr 2013, wenn das neue Integrationskonzept offiziell vom Magistrat verabschiedet
ist, soll ein ›Fachbeirat Integration‹ gegründet
werden. Er wird sich aus Leitungskräften
der Verwaltung und anderen Partnerinnen
und Partnern in der Stadt zusammensetzen
und soll die Umsetzung der neuen Leitprojekte
konstruktiv begleiten.
Handlungsfelder und Handlungsbedarfe
❚ Bremen und Bremerhaven haben ambitionierte
Integrationskonzepte ›auf dem neusten Stand‹
entwickelt und die Integrationspolitik ressortübergreifend organisiert. Nun gilt es, die formulierten
Aufgaben und Leitprojekte tatkräftig umzusetzen.
Dafür existieren in der politischen Öffentlichkeit
durchaus gute Rahmenbedingungen: vor allem,
wenn das große Potenzial der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mit einem sogenannten
Migrationshintergrund in den Mittelpunkt gestellt
wird. Sie sind die motivierten Fachkräfte, die
überall gefordert werden.
❚ Die Potenziale der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund nutzen bereits
etliche Unternehmen, insgesamt aber immer noch
zu wenige. Die Arbeitgeber tragen eine besondere
gesellschaftliche Verantwortung dafür, Menschen
mit einer anderen Herkunft eine Chance zu geben
und sie auch innerbetrieblich zu fördern. Das
schreibt das Betriebsverfassungsgesetz vor. Dieses
Ziel müssen auch Gewerkschaften sowie Betriebsund Personalräte offensiver verfolgen. Die Bremer
Stadtpolitik kann und muss dieses Ziel bei der
Vergabe von öffentlichen Fördermitteln offensiv
einfordern.
❚ Die Stadtpolitik in Bremen und Bremerhaven
kann eine verbesserte Integration von Migrantinnen
und Migranten in den Arbeitsmarkt durch begleitende und beratende kleinteilige (lokale) Netzwerke
intensiver unterstützen – durch den Aufbau von
›sozialem Kapital‹.
❚ Der derzeitige Aufbau der frühkindlichen Tagesbetreuung bietet die einmalige Chance, frühkindliche
Sprachförderung – auf dem neusten Stand – fest zu
etablieren. Die bisherige Förderung von einem Jahr
vor der Einschulung ist bei Weitem nicht hinreichend. Integrierte Sprachförderung und die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit muss durch entsprechend qualifiziertes Personal von Anfang an gegeben sein – für deutsche und ausländische Kinder!
❚ Diese integrierte, wertschätzende Sprachförderung
muss, wenn erforderlich, bis in die Mittelstufe konsequent weitergeführt werden – sonst sind neben den
erforderlichen Sprachkompetenzen keine hinreichenden schriftsprachlichen Fähigkeiten zu erwarten.
❚ Strukturelle Diskriminierung muss offensiv angesprochen, offengelegt, dokumentiert und dann
reduziert werden.
❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen unterstützt
nachdrücklich die aktuellen Initiativen der Bremer
Stadtpolitik zur Ausweitung des Ausländerwahlrechts im Bundesland Bremen. Politische Partizipation und das Recht an Wahlen teilzunehmen, fördert
nachweislich die Integration, die Teilhabe und die
Identifikation von Migranteninnen und Migranten.
Deshalb darf das Wahlrecht nicht erst als ›Lohn‹
einer gelungenen Integration am Ende dieses
Prozesses stehen.
3 Frühe Förderung
und Elternarbeit, Schulabschlüsse, Berufsabschlüsse, Wirtschaft
und Beschäftigung,
interkulturelle Öffnung
des öffentlichen Dienstes
sowie Teilhabe/Partizipation und Bewusstseinsbildung.
4 Es handelt sich um einen
freien Zusammenschluss
von ca. 40 Organisationen, die über geplante
Maßnahmen zur Integrationsförderung beraten,
Stellungnahmen für
Kostenträger abgeben
sowie zur Förderwürdigkeit geplanter Projekte.
Das Netzwerk wirkt
planend, koordinierend,
begleitend, empfehlend
und bewertend bei
Projekten und anderen
Integrationsmaßnahmen.
114
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
EXKURS
¢
Anerkennung von Abschlüssen
Als Weg zu qualifizierter Beschäftigung
SUSANNE HERMELING
1 Vgl. Fohrbeck,
Dorothea: Anerkennung
ausländischer
Berufsqualifikation.
In: Bundesinstitut
für Berufsforschung
(BIBB), BWP 5/2012,
S. 7.
2 Vgl. Rüb, Herbert:
Anerkennung von im
Ausland erworbenen
Abschlüssen. In:
Bericht zur Lage der
Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im
Lande Bremen 2011,
S. 116–124.
3 Der Name ist geändert.
Die im Folgenden
aufgeführten Fälle sind
auf Menschen zurückzuführen, die an
Interviews im zweiten
Halbjahr 2011 im
Rahmen einer Studie
der Arbeitnehmerkammer Bremen zur
Qualifizierung im
SGB II teilgenommen
haben.
Von mehr als drei Millionen Inhaberinnen und
Inhabern ausländischer Schul- oder Berufsabschlüsse hatten bis 2008 nur 20 Prozent einen
Antrag auf Anerkennung ihrer Qualifikation
gestellt. Nach einer Sonderauswertung des
Mikrozensus 2008, die ein Prozent aller deutschen Haushalte erfasst, könnten allein aus
dieser Gruppe schätzungsweise weitere
285.000 in Deutschland lebende Migrantinnen
und Migranten eine Anerkennung ihrer Auslandsqualifikation beantragen. Die meisten –
etwa 246.000 – haben einen berufsqualifizierenden Abschluss, etwa 23.000 bringen einen
Meister- oder Technikerabschluss und etwa
16.000 einen (Fach-)Hochschulabschluss mit.1
Durch das Anerkennungsgesetz des Bundes2,
das am 01.04.2012 in Kraft getreten ist, sollen
nun die Wege zur Anerkennung, unabhängig
von Herkunftsland und Aufenthaltsstatus,
einfacher und transparenter werden.
An Beispielen lassen sich die unterschiedlichen Wege und Möglichkeiten der Anerkennung am besten nachvollziehen:
Frau Kusmin3 hat in der ehemaligen Sowjetunion sechs Jahre lang Pharmazie studiert
und in Russland eine Apotheke geleitet. Nach
sechs Jahren in Deutschland hat sie 2011 erstmalig wieder Kontakt mit ihrem Berufsfeld. In
einem durch das Jobcenter finanzierten Lehrgang mit Deutschkurs, vermittelte man ihr
ein unbezahltes Praktikum in einer bremischen Apotheke. Ihre Kenntnisse seien dort
aber nicht abgefragt worden. In Deutschland
werden Apothekerinnen gesucht, aber für
die Berufsausübung in einem reglementierten
Heilberuf braucht Frau Kusmin eine formale
Anerkennung. Frau Kusmin kann nach dem
Anerkennungsgesetz des Bundes ihre Zeugnisse beim bremischen Gesundheitsressort
einreichen. In der Prüfung wird auch ihre
zehnjährige einschlägige Berufstätigkeit
berücksichtigt. Auch wenn keine volle, son-
dern nur eine teilweise Gleichwertigkeit
festgestellt wird, müssen die vorhandenen
Kompetenzen in einem Bescheid ausführlich
dargestellt werden. Im Bescheid werden
auch die zu einer Vollanerkennung fehlenden
Qualifikationen beziehungsweise Inhalte
aufgeführt. Bei einer Teilanerkennung von
reglementierten Berufen, haben die Antragstellerinnen und Antragsteller außerdem das
Recht auf eine Anpassungsmaßnahme. Das
bedeutet nicht, dass eine Weiterbildung
gefördert wird, sondern, dass sie im Regelfall
eine zeitlich beschränkte Berufserlaubnis bei
einem Arbeitgeber in Deutschland erhalten.
In dieser Zeit sollen sich die Antragstellerin
und der Antragsteller auf eine abschließende
Eignungsprüfung vorbereiten. Durch das zum
Anerkennungsgesetz gehörige Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG) sollen sämtliche Verfahren vereinheitlicht werden. Darin
besteht aber schon die Herausforderung für
die zuständigen Stellen in den einzelnen Bundesländern, denn wie genau zum Beispiel eine
Eignungsprüfung konzipiert ist und wer sie
durchführt, ist im Gesetz nicht beschrieben.
Reglementiert sind in Deutschland etwa
60 Berufe in der Medizin, im zulassungspflichtigen Handwerk, im Ingenieurswesen, im
Unterrichtswesen sowie im Sozial- und Erziehungsbereich. Ärztinnen, Architekten, Lehrer,
Altenpflegehelferinnen oder Bäckermeister
müssen also bestimmte Qualifikationen nachweisen, um ihren Beruf ausüben zu können.
Eingeschränkte Berufserlaubnisse sind zeitlich
befristet und auf bestimmte Bereiche beschränkt. Für EU-Bürger ist die Anerkennung
für reglementierte Berufe über die EU-Berufsanerkennungsrichtlinie (2005/36/EG) unkompliziert geregelt. Die Ausbildung muss
allerdings nach dem EU-Beitritt des Mitgliedslandes absolviert worden sein und damit
den EU-Mindestanforderungen unterliegen –
115
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
das ist zum Beispiel für polnische Ausbildungen nach 2005 der Fall. Für Spätaussiedler
besteht eine gesetzliche Regelung schon länger
mit dem Bundesvertriebenengesetz. Mit dem
Anerkennungsgesetz des Bundes haben nun
auch Inhaberinnen und Inhaber mit Qualifikationen aus Ländern außerhalb der EU (sogenannte Drittstaaten) einen Rechtsanspruch
darauf, die Gleichwertigkeit ihrer Ausbildung
mit dem deutschen Berufsabschluss in einem
dreimonatigen und individuellen Verfahren
prüfen zu lassen. Auch aus dem Ausland können Anträge gestellt werden. Welche Stelle für
die Anerkennung zuständig ist, hängt vom
jeweiligen Abschluss ab. Bei Frau Nowak, die in
Polen Friseurin gelernt hat, ist der Fall relativ
einfach. Das BQFG des Bundes regelt alle
dualen Ausbildungsberufe, deren Prüfung den
Kammern obliegt. Die Handwerkskammer
Bremen würde in diesem Fall einen individuellen Bescheid über die volle oder teilweise
Gleichwertigkeit ausstellen. Wenn Nachweise
fehlen, werden Fachgespräche oder Arbeitsproben anberaumt. Das ist insbesondere für
›papierlose‹ Flüchtlinge existenziell. Auf
Bundesebene läuft dazu das Modellprojekt
›Prototyping‹ zur Standardisierung von Qualifikationsanalysen in Kooperation von Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern. Um in dem reglementierten Beruf
Friseurmeisterin arbeiten zu können, ist eine
volle Gleichwertigkeitsbescheinigung nötig.
Als Friseurin kann Frau Nowak jedoch auch
mit einer Teilanerkennung arbeiten. Arbeitgeber können sich zur Einschätzung ihrer
Qualifikation an dem differenzierten Bescheid
orientieren. Offen ist allerdings, wie die
Teilanerkennungen auf dem Arbeitsmarkt
ankommen werden.
Durch die Teilnahme an Weiterbildungen
kann eine volle Anerkennung später erteilt
werden. Doch entsprechende Konzepte für
Anpassungsqualifizierungen stecken noch in
den Kinderschuhen. Außerdem steht die
Finanzierung solcher Maßnahmen zur Disposition. Schon für die Anerkennung müssen die
Antragstellerinnen und Antragsteller mit
mehreren Hundert Euro Kosten rechnen. Eine
Weiterbildung wird dann in der Regel noch
erheblich teurer. Nach Auskunft der Handwerkskammer Bremen gibt es gerade für
Metall- und Elektroberufe Bedarf an Anpassungsqualifizierungen.
In diesem Bereich hatte auch Herr Said seine Ausbildung im Irak absolviert. Inzwischen
hätte er die Möglichkeit bei der IHK FOSA in
Nürnberg, der zentralen Anerkennungsstelle
für alle Industrie- und Handelskammern,
eine Gleichwertigkeitsprüfung für den Beruf
Industriemechaniker oder Mechatroniker zu
beantragen. Seine Qualifikation ist allerdings
veraltet, denn während seines zehnjährigen
Aufenthalts in Deutschland hat er nur in der
Gastronomie gearbeitet. Die Förderung einer
Umschulung wurde aufgrund eines negativen
Testergebnisses bei der Agentur für Arbeit
nicht bewilligt. Statt einer Umschulung könnte im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens
auch eine vom Jobcenter geförderte Weiterbildung mit begleitender Deutschförderung
ihm den Wiedereinstieg in seinen Beruf
ermöglichen – diese Möglichkeiten müssen
deutlich verbessert und ausgebaut werden.
Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz
(BQFG) des Bundes regelt alle bundesgesetzlich
geregelten Berufe. Für die Berufe in Länderzuständigkeit gibt es in Bremen derzeit noch
kein entsprechendes Gesetz. An einem LandesGesetz wird derzeit gearbeitet. Es soll für
soziale und Erziehungsberufe, Lehrer oder
Inhaber von landesgesetzlich geregelten Fortbildungsabschlüssen, wie Technikern, transparente Verfahren ermöglichen. Auch die Berufe
Ingenieur und Architekt fallen in Länderzuständigkeit, im Bremischen Ingenieur- und im
116
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
4 Die GUS (Gemeinschaft
unabhängiger Staaten)
ist ein loser Zusammenschluss verschiedener
Nachfolgestaaten der
ehemaligen Sowjetunion.
5 Vgl. Bremische Bürgerschaft, Landtag, Drucksache 18/243 vom
15.02.2012: Anerkennung von im Ausland
erworbenen Abschlüssen
– Konzept zur Umsetzung
des Bundesgesetzes im
Land Bremen.
6 Das IQ Netzwerk
Bremen wird von der
RKW Bremen GmbH
(www.rkw-bremen.de)
koordiniert.
Architektengesetz wird aber voraussichtlich
kein Bezug zum Landes-BQFG verankert. Viele
der bisher gestellten Anträge fallen in Länderzuständigkeit.
Einen ersten Überblick über die bisherige
Resonanz auf das Anerkennungsgesetz gibt die
Auswertung der bundesweiten Anerkennungsberatung bei den IQ-Beratungsstellen (›Integration durch Qualifizierung‹). Rund 2.300 Menschen wurden dort in der Zeit vom 1. Oktober
bis 31. Dezember 2012 beraten. Zwei Drittel
der Ratsuchenden waren Frauen. Etwa ein
Drittel aller Abschlüsse wurde in den GUSStaaten4, Polen oder der Türkei erworben. Über
die Hälfte hatte mindestens einen Hochschulabschluss. Bei den Beratungsgesprächen stand
der Beruf Lehrerin mit 17 Prozent an erster
Stelle, gefolgt von den Berufen Ingenieurin,
Gesundheits- und Krankenpflegerin, Ökonomin, Ärztin und Erzieherin. Über ein Drittel
der nachgefragten Berufe ist landesrechtlich
reglementiert.
Auch die wichtigen zuständigen Stellen
in Bremen bearbeiten viele Anträge aus den
osteuropäischen Ländern und den GUSStaaten. Beim Bildungsressort sind in den
vergangenen Jahren 50 bis 60 Anträge pro
Jahr gestellt worden, zu zwei Dritteln von
Lehrerinnen aus den genannten Staaten, die
oft von sich aus den Referenzberuf Erzieherin
wählen. Die Hälfte dieser Antragstellerinnen
kann Berufserfahrungen in Deutschland
mit Kindern im Vorschulalter nachweisen.
Die IHK FOSA hat vom 1. April 2012 bis
1. Februar 2013 über 2.000 Anträge bearbeitet.
Von 700 ausgestellten Bescheiden bescheinigten 70 Prozent die volle Gleichwertigkeit.
Aus dem Handelskammerbezirk Bremen
kamen 22 Anträge. Schwerpunktberufe waren
unter anderem Mechatroniker und Groß- und
Einzelhandelskaufleute. Die Handwerkskammer Bremen hat im Zeitraum April bis Ende
September 2012 36 Antragsverfahren eröffnet,
die Hälfte davon im Gewerk Friseure. Sowohl
in der Handelskammer als auch in der Handwerkskammer wurden wesentlich mehr Anträge von Männern gestellt. Viele Anträge kamen
von Arbeitslosen, geringfügig Beschäftigten
und Leiharbeitnehmern. Gerade in diesen
Gruppen wird es im Land Bremen noch viele
potenzielle Antragsteller geben, die es mit
dem Angebot zu erreichen gilt.
Die Regierungskoalition hat im Februar
2012 einen Bericht zur Umsetzung des Anerkennungsgesetzes im Land Bremen gefordert.5
Wichtige Fragen werden dort aufgeworfen,
die baldmöglichst landesweit evaluiert und
angegangen werden müssen. Dabei ist die enge
Zusammenarbeit mit dem Netzwerk IQ (Integration durch Qualifizierung) zu suchen. Das
IQ Netzwerk Bremen setzt seine Schwerpunkte
darauf, den Informationstransfer zwischen
den verschiedenen beratenden und anerkennenden Stellen zu gewährleisten, die Qualität
der bestehenden Strukturen zu erhöhen
und eine Plattform für Bedarfsermittlung und
Konzeptentwicklung anzubieten.6
117
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Handlungsempfehlungen
❚ Eine vom Bundministerium für Bildung und
Forschung beauftragte Studie7 lieferte jüngst Befunde über Diskriminierungserfahrungen von Ingenieurinnen und Naturwissenschaftlerinnen in der
Arbeitsverwaltung. Qualifikationen wurden dort
entwertet, indem Arbeitsberater in unterwertige und
oft frauentypische Qualifizierungen oder Beschäftigung vermittelten. Die Beratung durch interkulturell sensibilisiertes Personal ist daher ein wesentlicher Punkt nicht nur für Anerkennungsstellen,
sondern auch für ›vorgelagerte‹ Institutionen wie
die Agentur für Arbeit und das Jobcenter, um
qualifikationsadäquate Vermittlungen zu ermöglichen.
❚ Potenzielle Antragsteller sollten aktiv informiert
werden. Neben Betrieben wäre auch hier die Arbeitsverwaltung die erste Adresse. Bisher als ›ohne
Berufsabschluss‹ geführte Arbeitsuchende mit Auslandsqualifikationen müssten ausfindig gemacht
und beraten werden.
❚ (Bundesländerübergreifende) Entwicklungen von
Anpassungsqualifizierungen bieten sich insbesondere für die Berufe Erzieherin sowie Metall- und
Elektroberufe an. Im Land Bremen gibt es bisher
nur eine Anpassungsqualifizierung für Pflegekräfte
aus dem Ausland beim Paritätischen Bildungswerk.
❚ Die Finanzierung von Anerkennungsverfahren und
die Teilnahme an Anpassungslehrgängen muss
geregelt werden. Das Land Hamburg beispielsweise
hat für diesen Zweck ein eigenes Stipendienprogramm aufgelegt. Anerkennungsverfahren werden
voll bezuschusst und Förderungen für Anpassungsqualifizierungen, in Anlehnung an BAföGRichtlinien vergeben.
❚ Zuständigkeiten, Verfahren und Bescheide sollen
verständlich und transparent sein. Dazu gehört
auch eine ausreichende Ausstattung der zuständigen Stellen mit entsprechend geschultem Personal,
damit die Bearbeitung von Anträgen in der
Dreimonatsfrist realistisch zu leisten ist.
❚ Ein weiteres wichtiges Feld wäre eine an Arbeitgeber gerichtete Aufklärungskampagne, die für die
Gleichwertigkeitsbescheide als gültige Qualifizierungsnachweise wirbt.
¢
Gut zu wissen:
Informationen für Anerkennungssuchende
Wegweiser zur Anerkennungsberatung vom IQ Netzwerk Bremen
❚ www.arbeit.bremen.de/sixcms/media.php/13/deutsch_internet_2011.pdf
Bundesweit
❚ www.anerkennung-in-deutschland.de
❚ www.anabin.kmk.org
Informationsportal für zuständige Stellen und Unternehmen
❚ www.bq-portal.de
Die Netzwerke IQ www.netzwerk-iq.de entwickeln Instrumente,
Handlungsempfehlungen sowie Beratungs- und Qualifizierungskonzepte,
die von den regionalen Stellen in den Bundesländern umgesetzt werden.
7 Vgl. Bundesministerium
für Bildung und Forschung (Hrsg.): Arbeitsmarktintegration hochqualifizierter Migrantinnen – Berufsverläufe
in Naturwissenschaft
und Technik, 2012
www.bmbf.de/pub/
arbeitsmarktintegration_hochqualifizierter_
migrantinnen.pdf
118
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Auf gleichen Bildungswegen zu neuen Chancen
Was Mariechen lernt, wird Marie noch lange nicht!
SUSANNE ACHENBACH / DR. ESTHER SCHRÖDER
Es gibt etwas zu feiern! Jedenfalls suggerierte
dies ein Flyer mit einem beschwingt geschriebenen ›Happy Birthday‹, der die Politikberatung der Arbeitnehmerkammer Bremen Mitte
vergangenen Jahres erreichte. Eingeladen wurde zum Jubiläum ›Ein Jahr 1. Gleichstellungsbericht für Deutschland‹. Insgesamt wurde
dieser Bericht aus unserer Sicht viel zu wenig
diskutiert und vor allem beherzigt. Weil wir
ihn politisch in besonderer Weise würdigen
wollten, stellten wir im Oktober 2012 die Analysen und Empfehlungen einer breiten Öffentlichkeit vor und konfrontierten diese mit der
Situation vor Ort. Expertinnen der Arbeitnehmerkammer warfen politisch wie rechtlich
Schlaglichter auf gleichstellungsrelevante
Fragen und Problemlagen. In Kooperation mit
der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF )
holten wir damit den ersten Gleichstellungsbericht aus den Schubladen, um ihn Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft zur Erledigung seiner Inhalte
auf die Schreibtische zu legen.
Hundert Jahre nach dem ersten Frauentag
veröffentlichte die Bundesregierung im Juni
2011 diesen Bericht mit dem Titel ›Neue Wege
– Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen
und Männern im Lebensverlauf‹, erarbeitet von
einer interdisziplinär zusammengesetzten
Sachverständigenkommission. Im Fokus stehen
Rollenbilder und Recht, Bildung und Ausbildung, Frauenerwerbstätigkeit, Teilzeit und
Minijobs, Erwerbsunterbrechungen, Frauen in
Führungspositionen, die geschlechtsspezifische Lohnlücke und Niedriglöhne, Erwerbsarbeits- und Familienzeiten, Alterssicherung
sowie Pflege und Pflegebedürftigkeit. Anerkennung verdient nicht allein die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen,
vor allem die Vorlage einer für Deutschland
ersten umfassenden Bestandsaufnahme in
Sachen Geschlechter (un) gerechtigkeiten und
neue Ideen zur langfristigen Entwicklung
einer konsistenten Gleichstellungspolitik für
Frauen und Männer. Trotz erheblicher Fortschritte in der Gleichstellungspolitik fehlte es
in Deutschland bisher an einem gemeinsamen
Leitbild. So stehen politische und rechtliche
Maßnahmen für unterschiedliche Lebensphasen viel zu oft unverbunden nebeneinander; infolgedessen werden gleichzeitig Anreize
für sehr verschiedene Lebensmodelle gesetzt,
bis hin zur Widersprüchlichkeit. Unterstützung in der einen Lebensphase bricht in
der nächsten weg oder weist in eine völlig
andere Richtung (zum Beispiel Ehegattensplitting/Scheidungsrecht). Die Errungenschaft
des Bundesgleichstellungsberichts liegt somit
in der eingenommenen Lebensverlaufsperspektive, nach der langfristige Auswirkungen
bestimmter Entscheidungen und Arrangements betrachtet werden. Welche Rolle
spielen die zu einem bestimmten Zeitpunkt
getroffenen Entscheidungen im weiteren
Leben? Diese Sicht kennzeichnet moderne
Gleichstellungspolitik nicht mehr nur als
Querschnitts-, sondern auch als Längsschnittaufgabe – mit dem Ziel der Sicherstellung
gleicher und tatsächlicher Wahlmöglichkeiten
und Verwirklichungschancen für Frauen und
Männer. Es geht also nicht um ›Gleichmacherei‹ der Geschlechter, sondern immer um
eine Gleichverteilung von Ressourcen ungeachtet der Geschlechterzugehörigkeit.
Sobald nicht nur Momentaufnahmen von
Lebensereignissen und getroffenen Entscheidungen für Gleichstellungspolitik relevant
sind, sondern vielmehr deren Ursachen und
langfristigen Folgewirkungen in den Blick
genommen werden, zeigen sich die Knotenpunkte Bildung und Ausbildung am Beginn
weiblicher und männlicher Erwerbsbiografien
in ihrer Wichtigkeit besonders deutlich:
119
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Hier werden gleichstellungspolitische Weichen
gestellt, die später nur schwer oder gar nicht
mehr korrigierbar sind. Nicht zuletzt geht
es auch um die Nutzung aller Potenziale in
unserer Gesellschaft – angesichts des demografischen Wandels und eines wachsenden
Fachkräftebedarfs unverzichtbar.
Geschlechtergerechtigkeit und Bildung
stehen gerade bei Einnahme der Lebensverlaufsperspektive in einer engen Beziehung. So
behindern zum Beispiel Geschlechterinszenierungen und (überzeichnende) Rollenklischees
sowohl junge Frauen als auch Männer auf
ihrem Bildungsweg – jedoch auf höchst
unterschiedliche Weise.
Wir sehen zunächst: Junge Frauen verwirklichen im allgemeinbildenden Schulsystem
Bildungsaspirationen und -chancen besser, sie
eignen sich Bildungsinhalte leichter an – und
sie erzielen formal die höheren Bewertungen
und Abschlüsse. Oft wird dieser in der Wissenschaft sehr gut belegte und auch öffentlich
bekannte Sachverhalt der Vermutung zugeschrieben, dies liege vor allem an der Angepasstheit und Bravheit von Mädchen. Diese
Deutung jedoch verkennt und diskreditiert
bereits am Anfang des Bildungs- und Lebensweges die Leistung und die Potenziale junger
Frauen – und hat somit selbstverständlich
negative Wirkungen. Daher ist es für uns eine
Frage der Geschlechtergerechtigkeit, bereits
hier zu intervenieren: Die Ursachen für unterschiedlich gute Schulleistungen von Mädchen
und Jungen sind angemessen zu erklären –
und in der Folge im Schulalltag für beide
Geschlechter optimale Bedingungen herzustellen, wobei es sich um eine noch weitgehend
ungelöste Aufgabe der Bildungspolitik und
der Pädagogik handelt.
Der Berliner Wissenschaftler Marcel Helbig1
liefert hierfür sachdienliche sozialpsychologische Ansätze, die sich erfrischend von
mediengängigen Klischees abheben.
›Boy crisis‹? – die Bildungskrise der Jungen
durch ein sie benachteiligendes Schulwesen
gibt es nicht, sagt er, auch wenn sie in den
Medien immer wieder beschworen wird. Denn
Marcel Helbig weist nach, dass Jungen schon
seit mehr als 100 Jahren schlechtere Noten
bekommen als Mädchen. Die sinnfällige Frage:
›Warum bekommen Jungen schlechtere
Schulnoten?‹ – und wie kommt es zu den Leistungsunterschieden zwischen Mädchen und
Jungen – erklärt er unter anderem mit einer
nicht angemessenen schulischen Leistungsbereitschaft von Jungen. Sie resultiert zunächst aus der Zuschreibung einer gleichsam
natürlichen Begabung, Kompetenz und Überlegenheit auch in Lernangelegenheiten durch
das erwachsene Umfeld. Mit dieser Haltung
können Lern-Kompetenzen weniger gut erworben werden beziehungsweise es prägen sich
Verhaltensweisen aus, die zu schlechteren
Noten führen. Männlichkeitsinszenierungen
und schulischer Erfolg passen, vor allem in der
Pubertät, nicht zusammen. ›Peergroups‹, die
persönlich wichtigen Gleichaltrigen, werten
Schulerfolg und Lernanstrengungen als unmännlich, als weibisch ab. Dies verändert sich
allenfalls mit der Aufnahme eines karriereträchtigen Studiums; Zielstrebigkeit und
Leistungswillen werden erst hier zu anerkannten männlichen Attributen.
Die Verweigerung von Schulerfolg hat
Konsequenzen: Wer ohne oder mit nur
geringer schulischer Qualifikation auf dem
Ausbildungsmarkt konkurrieren will, hat
keine Chance.
Während Mädchen sich insgesamt also
angemessenere Strategien aneignen, mehr
Kompetenzen erwerben und höhere Leistungen erzielen, sind sie dennoch bereits in der
Schule mit Schwierigkeiten konfrontiert,
erzielte Resultate und Wirksamkeit auch sich
selbst und ihrem Erfolgshandeln zuzuschreiben. Wenn solche Selbstzweifel nur mäßig
ausgeprägt sind, können sie durchaus einen
weiter anspornenden Effekt auf die Einsatzund Leistungsbereitschaft haben.
Gängige Weiblichkeitsinszenierungen
haben indessen negative Effekte und wirken
dem Ausschöpfen von Potenzialen entgegen –
1 Vgl. Helbig, Marcel
(2012) Warum bekommen Jungen schlechtere
Schulnoten als Mädchen?
Ein sozialpsychologischer Erklärungsansatz.
In: Zeitschrift für Bildungsforschung, 2, 1,
S. 41–54.
120
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Insgesamt sind mehr Männer in der dualen
Berufsausbildung. Das Verhältnis war in 2011 sowohl im
Bundesdurchschnitt als auch in Bremen etwa 3 : 2.
2 Vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen (2013):
Unsere Leistungen im
Überblick 2012,
S. 26 f.
3 Vgl. www.bibb.de/
dokumente/pdf/naa
309_2011_tab67_
0bund.pdf
zumal noch immer Intellekt und Frausein
nicht gleichzeitig ins Rollenbild beziehungsweise -klischee passt. Die feministische Provokation ›Pink macht dumm‹ ist daher durchaus
nicht abwegig. Vor allem durch die Medien
verbreitete übersexualisierende und geradezu
verblödende weibliche Rollenzuschreibungen
wirken auf Selbstwertgefühl und Eigenständigkeit junger Frauen destruktiv und beeinflussen
so auch die Berufswahl und damit verbundene Lebensperspektiven. Bei einem Teil der
jungen Frauen, die keine oder nur eine
geringe schulische Qualifikation erworben
haben, beobachten wir im direkten Kontakt2
mit ihnen häufig sehr bedenkliche – passive
und abhängigkeitsbejahende Haltungen.
Sie sehen kaum Anlass, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, die über kosmetische Aktivitäten hinausgehen. Dabei scheint
die Investition von Ressourcen in ein attraktives Äußeres unter ökonomischen Gesichtspunkten sogar sinnvoll – solange, wie es
die Soziologin Jutta Allmendinger prägnant
formuliert, der Heiratsmarkt immer noch
attraktiver ist als der Arbeitsmarkt, um die
weibliche Existenz zu sichern.
Ihre diesbezügliche Feststellung gilt
allerdings nicht nur für junge Frauen aus
(bildungs-)benachteiligten Milieus, die sich
mangels realer Alternativen allenfalls in
Traumwelten bewegen und in vagen Hoffnungen verlieren. Auch für einen weitaus größeren Teil der jungen Frauen wird es problematisch, wenn offenbar von ihren prinzipiell
geringeren Erwartungen an ihre persönliche
Bildungsrendite Entscheidungen auf dem
Lebens- und Berufsweg abhängen.
Sie schrauben im Zweifelsfall – vor dem
Erfahrungshintergrund, dass weiblicher
Berufserfolg schwerer zu erzielen ist, prophylaktisch ihre Ansprüche an eine berufliche
Karriere herunter, selbst wenn sie über einen
Abschluss mit hohem Tauschwert verfügen.
Ein wesentlicher Einflussfaktor ist dabei:
Weibliche Berufswahl bezieht die schlechte
Vereinbarkeit von Familie und Karriere von
vornherein mit ein. Besonders heikel ist es,
dass zu viele junge Frauen allem Anschein
nach weder dazu erzogen noch darüber informiert werden, dass sie von ihrem Beruf auch
ihre Existenz eigenständig bestreiten können
sollten. Daher ist die Wahl junger Frauen von
Berufen mit nicht existenzsichernder Entlohnung und schlechten beziehungsweise belastenden Arbeitsbedingungen immer noch ein
gravierendes Problem mit langfristigen Folgewirkungen. Folgewirkungen, die im späteren
Erwerbsverlauf oft nicht mehr zu korrigieren
sind. Während die Bildungsbiografien junger
Männer häufiger auf das Fehlen der notwendigen formalen Qualifikationen hinauslaufen
– das ›Ticket‹ zur Verwirklichung ihrer Bildungsaspirationen seltener erworben wird,
nutzen junge Frauen ihre erreichten Zugangsberechtigungen und ihre vorhandenen Potenziale nicht im möglichen Maße.
Geschlechtstypische Berufswahl
Die Berufswahl junger Menschen, die in die
Ausbildung starten, wird seit vielen Jahren
als relativ statisch wahrgenommen. Das Gros
verteilt sich auf immer wieder die gleichen
Berufe, wobei die Hitliste3 von Einzelhandelskaufleuten, Verkaufspersonal, Bürokaufleuten,
Kraftfahrzeugmechatronikern, Industriekaufleuten und Kaufleuten im Groß- und Einzelhandel angeführt wird.
Die Tendenz zu geschlechterrollenkonformer Berufswahl ist ungebrochen. Dazu
einige Kennziffern: Insgesamt sind mehr
Männer in der dualen Berufsausbildung. Das
Verhältnis war in 2011 sowohl im Bundesdurchschnitt als auch in Bremen etwa 3:2.
Anders sieht es bei den traditionell weiblich
›dominierten‹ vollzeitschulischen Bildungsgängen aus. Hier liegt der Anteil der Männer
im Bund und in Bremen bei etwa 20 Prozent;
das gleiche Bild zeigt sich etwa für den Beruf
Erzieherin/Erzieher sowie den Anteil der
jungen Männer in den Schulen des Gesundheitswesens.
121
GESUNDHEIT RENTE BILDUNG INTEGR ATION
Abb. 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge
nach Berufsbereichen im Land Bremen am 31.12.2011
Abb. 2: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge
nach Berufsbereichen im Land Bremen am 31.12.2011
männliche Azubis
weibliche Azubis
36%
weitere
Berufsbereiche
18%
Elektroberufe 11%
weitere
Berufsbereiche
Groß- und Einzelhandelskaufleute 8%
Büroberufe, kaufm. Angestellte 21%
Büroberufe, kaufm. Angestellte 7%
übrige Gesundheitsdienstberufe 11%
andere Dienstleistungskaufleute, Ein- und Verkauf 7%
andere Dienstleistungskaufleute und zugehörige Berufe 10%
Fahr-, Flugzeugbau und -wartungsberufe 6%
Groß- und Einzelhandelskaufleute 10%
Rechnungskaufleute, Informatiker 6%
Verkaufspersonal
9%
Lagerverwalter, Lager- und Transportarbeiter 5%
Hotel- und Gaststättenberufe
7%
Maschinenbau- und -wartungsberufe 4%
Bank-, Bausparkassen- und Versicherungsfachleute
5%
Köche 4%
Berufe in der Körperpflege
5%
Metall- und Anlagenbauberufe 3%
Berufe in der Unternehmensleitung, -beratung und -prüfung
2%
Maler und Lackierer 3%
Haus- und ernährungswirtschaftliche Berufe
2%
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Berichte:
Beruf liche Bildung im Land Bremen am 31.12.2011,
Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen und Darstellung
Die Abbildungen 1 und 2 zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen nach
Berufsbereichen im Land Bremen machen die
geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich.
Für die jungen Frauen zeigt sich ein bedenklich enges Berufswahlspektrum: Gut 80 Prozent der neuen weiblichen Auszubildenden
verteilen sich auf die zehn häufigsten Berufsbereiche. Mehr als die Hälfte von ihnen findet
sich in nur vier Bereichen wieder.
Nicht einmal jede fünfte junge Frau hat
die Wahl eines ›sonstigen Berufs‹ außerhalb
dieses Schemas getroffen.
Zwei von drei neuen männlichen Azubis
finden sich in den elf beliebtesten Berufsbereichen wieder.
Immerhin hat ein gutes Drittel mit einem
sonstigen Beruf eine Wahl außerhalb der ›Top
Ten‹ getroffen und damit doppelt so viele wie
im Vergleich zu den jungen Frauen (36 Prozent
gegenüber 18 Prozent).
Dass die Berufswahl eine determinierende
Bedeutung für die Berufs- und Lebenschancen
hat, liegt auf der Hand und erklärt bei einer
Quelle: Statistisches Landesamt Bremen,
Statistische Berichte: Beruf liche Bildung im Land Bremen am 31.12.2011,
Tabelle 5, S. 23–24; eigene Berechnungen und Darstellung
tiefergehenden Analyse zum Teil auch die
schlechtere Position von Frauen auf dem
Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich ihrer finanziellen Situation.
Abb. 3: Anzahl der Schulentlassenen ohne Abschluss,
Land Bremen 2005–2011
800
männlich
700
weiblich
gesamt
690
580
600
593
530
500
463
432
400
415
360
426
375
311
300
258
271
220
218
253
256
162
170
2010
2011
219
192
200
100
0
2005
2006
2007
2008
2009
Quelle: Senatorin für Bildung und Wissenschaft, Abteilung Statistik 2013
122
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Für beide Geschlechter fatal sind Bildungswege, die zu keinem verwertbaren Abschluss
und somit in Sackgassen führen. Dieses
Problem ist leider nicht überwunden; 2011
konnten in Bremen nach Beendigung der
Vollzeitschulpflicht 426 Jugendliche keinen
verwertbaren Schulabschluss erwerben. Der
Prozentsatz von Jugendlichen ohne Schulabschluss an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung liegt bei 7,1 Prozent. Wie in den vergangenen Jahren zeigt sich, dass es weitaus
weniger junge Frauen als Männer sind, die an
der Schule scheitern, wobei ihr Anteil seit
2005 in der Tendenz von 37 auf 40 Prozent
gestiegen ist.
Das gute und auch realistische Ziel der Landesregierung, eine Quote von fünf Prozent junger
Menschen ohne Schulabschluss zu erreichen,
wurde damit verfehlt.
Aber: Selbst eine verringerte oder erreichte
Quote entbindet nicht von der Pflicht, eine
Lebens- und Berufsperspektive für alle Jugendlichen bereitzuhalten. Wenn die Optionen
und Perspektiven für den Berufs- und Lebensweg mangelhaft sind, darf nicht reflexhaft
auf die bildungsfernen und sozial schwachen
Herkunftsfamilien verwiesen werden; die die
Verantwortung für die Misere tragen sollen.
Vielmehr müssen defizitäre Bedingungen und
Angebote des Bildungswesens, das bekanntermaßen Benachteiligung nicht auszugleichen
vermag, sondern mitunter selbst hervorruft,
selbst einer kritischen Bilanz unterzogen
und Verbesserungen eingeleitet werden. Dazu
gehört es, Genderkompetenz in Bildungspolitik und Pädagogik zu verankern:
123
Vor dem Hintergrund, dass geschlechterbewusster und -fördernder Unterricht noch eher
die Ausnahme als die Regel ist, erscheint vor
allem die Lehreraus- und -fortbildung stark
ausbaufähig.
Ähnliches gilt auch für die kompetente
und kontinuierliche Anleitung und Begleitung
des Berufswahlprozesses. Denn in beiden –
wie wir aufgezeigt haben, eng verknüpften –
Bereichen, können neue Wege der Gerechtigkeit, sowohl in der Bildung als auch zwischen
den Geschlechtern geschaffen werden.
Sich auf neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit zu begeben, heißt eben, die Kraft und den Mut aufzubringen, die alten ausgetretenen Pfade zu verlassen und gut gerüstet mit festem Schuhwerk
und mit dem Leitbild des Gleichstellungsbe-
richts als Kompass voranzugehen. Insbesondere gilt es, in allen Politikbereichen die Alltagsbefunde von Geschlechterungerechtigkeiten
bewusst und transparent zu machen. Vor
allem in der Bildungspolitik Bremens reichen
isolierte Betrachtungen nicht, Klagen allein
schon lange nicht mehr. Politikberatend
gilt es, die Hinweise der Wissenschaft aufzunehmen, das Für und Wider auch der
bildungspolitischen Handlungsempfehlungen
des ersten Bundesgleichstellungsberichts
abzuwägen. Denn Bildung und Ausbildung
sind die ersten Meilensteine im Erwerbsverlauf und Knotenpunkte tragender Lebensentscheidungen. Es gibt erst dann etwas zu
feiern, wenn aus Lebensverläufen tatsächlich
Lebensfairläufe werden.
124
3
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Soziales und
Stadtentwicklung
125
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Familien müssen planen
Bremen und die Bundespolitik taktieren
und improvisieren beim U3-Ausbau
T H O M A S S C H WA R Z E R
Analysen des Statistischen Bundesamtes vom
November 2012 zeigen: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland verläuft viel zu
schleppend. Bundesweit fehlten im März 2012
noch 220.000 Plätze, wenn im August 2013
tatsächlich 39 Prozent aller Kinder unter drei
Jahren ein Betreuungsplatz geboten werden
soll. Das zumindest hat ›die Politik‹ den Eltern
mit kleinen Kindern zugesichert. Doch nicht
allein das Familienministerium zeigte sich
ernüchtert. Schließlich war die Lücke um
60.000 Plätze größer als erwartet.
Ernüchternd waren auch die Zahlen für das
Bundesland Bremen. Lediglich Nordrhein-Westfalen war 2012 noch weiter als Bremen von der
Zielzahl 39 Prozent entfernt. Selbst das Saarland und Schleswig-Holstein, wie Bremen ebenfalls in einer Haushaltsnotlage, sind mit dem
sogenannten ›Krippenausbau‹ bisher besser
vorangekommen.
Tatsächlich ist der sogenannte Krippenausbau von der Bundespolitik unterfinanziert.
Es fängt schon mit der damaligen Zielzahl von
35 Prozent an, die vom Bund und den Ländern
beim Krippengipfel 2007 festgelegt wurde.
Sie beruht auf dem damaligen Erfahrungsstand und relativ unsicheren Schätzungen
und Einschätzungen des zukünftigen Bedarfs.
Außerdem handelt es sich um einen Durchschnittswert: hochgerechnet für den möglichen Bedarf in ländlichen, kleinstädtischen
und großstädtischen Regionen. Doch seit 2007
haben das Interesse und der Bedarf an frühkindlicher Betreuung erheblich zugenommen.
›Der Bedarf läuft uns buchstäblich davon‹,
erklärte jüngst Münchens Oberbürgermeister
Christian Ude, gleichzeitig Präsident des
Deutschen Städtetages.
Um angesichts dieser Unsicherheiten zu solideren Planzahlen zu gelangen, empfahlen das
Familienministerium und der Deutsche Städtetag schon relativ früh Elternbefragungen. In
Großstädten, die gezielt solche Elternbefragungen zu den unter dreijährigen Kindern durchführten, kreuzten 50 bis 60 Prozent der befragten Eltern an, einen Betreuungsplatz zu
benötigen. Trotz dieser Ergebnisse war das
Familienministerium aber lediglich bereit, die
allgemeine Zielzahl von 35 Prozent mit der
Methode ›Pi mal Daumen‹ auf 39 Prozent
zu erhöhen. Ein Wert, an dem sich auch die
Politik in Bremen und Bremerhaven orientiert.
Noch wichtiger für beide Städte wird jedoch
der ebenfalls für 2013 geplante Rechtsanspruch.
Ab August 2013 haben alle Eltern mit
Kindern zwischen einem und drei Jahren
einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Faktisch ist es derzeit eine offene
Frage, ob dann in Bremen und Bremerhaven
Familien für 39, 50 oder 60 Prozent ihrer
Jüngsten einen Betreuungsplatz ›nachfragen‹.
Denn ab August muss dem tatsächlichen
Bedarf entsprochen werden. Doch wie hoch
wird der in Bremen und Bremerhaven sein?
Einen ersten Anhaltspunkt dazu bieten
ebenfalls die vom Statistischen Bundesamt
2012 vorgelegten Zahlen für alle Bundesländer.
Danach ist Rheinland-Pfalz, neben dem Stadtstaat Hamburg, das am weitesten fortgeschrittene westdeutsche Bundesland beim Krippenausbau (Abb. 1). Gibt es dort weniger Umsetzungsprobleme? In Rheinland-Pfalz gibt es
bereits einen umgesetzten Rechtsanspruch auf
einen Betreuungsplatz für Kinder im Alter
zwischen zwei und drei Jahren. Dadurch
musste bereits 2012 dem tatsächlichen Betreuungsbedarf der Familien entsprochen werden.
Das Ergebnis lautet: Im Flächenland Rheinland-Pfalz bevorzugen die Familien für zwei
126
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
1 Eine ebenfalls vergleichsweise geringere
Erwerbstätigkeit der
Mütter vor der Geburt
eines Kindes im
Jahr 2011 gibt es in
Nordrhein-Westfalen
(60 Prozent), im Saarland (61 Prozent), in
Berlin, Niedersachsen
und in Rheinland-Pfalz
(jeweils 63 Prozent).
von drei Kindern in diesem Alter eine öffentliche Tagesbetreuung (68 Prozent).
Einen weiteren Anhaltspunkt für den
erwartbaren Bedarf liefern die bundesweiten
Zahlen des Statistischen Bundesamts zum
sogenannten Elterngeld. Sie zeigen für Kinder,
die in der zweiten Hälfte 2011 geboren wurden, dass knapp zwei Drittel der Mütter (66
Prozent) vor der Geburt erwerbstätig waren
sowie 89 Prozent der Väter. Die Väter im Bundesland Bremen erreichen einen annähernd
gleich hohen Anteil mit 86 Prozent. Bei den
Frauen sind jedoch lediglich 55 Prozent vor
der Geburt erwerbstätig, dem bundesweit mit
Abstand geringsten Wert.1 Das verweist auf
eine vergleichsweise traditionelle Arbeitstei-
lung zwischen Männern und Frauen. In die
gleiche Richtung deutet auch der Anteil jener
Väter, die nach der Geburt eines Kindes
ebenfalls Elterngeld beantragen (meistens für
zwei Monate), es sind insgesamt 21 Prozent.
Lediglich im Saarland (19 Prozent) und in
Nordrhein-Westfalen (20,5 Prozent) nutzen
noch weniger Väter das Elterngeld. Dennoch
zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre,
dass aktuell der weit überwiegende Teil der
Mütter, und der Väter sowieso, lediglich
kurzzeitig ihre Erwerbstätigkeit unterbricht.
Im Anschluss ist deshalb für die meisten
Familien eine verlässliche Kinderbetreuung
zwingend erforderlich.
Am höchsten war
die Erwerbstätigkeit
der Frauen im Osten
Deutschlands in
Brandenburg und in
Sachsen (75 Prozent),
im Westen in Bayern
(70 Prozent) und
Abb. 1: Betreuungsquoten1 von Kindern
unter drei Jahren 2007 und 2012 nach Ländern
Hamburg (68 Prozent).
in Prozent
Sachsen-Anhalt
51,8
Mecklenburg-Vorpommern
44,1
Brandenburg
43,4
Thüringen
53,4
49,8
37,5
Sachsen
34,6
Berlin
46,4
39,8
Hamburg
12,0
Schleswig-Holstein
27,0
8,2
Hessen
24,2
12,4
Baden-Württemberg
23,7
11,5
Bayern
23,1
10,7
Niedersachsen
23,0
6,9
22,1
Saarland
22,1
12,1
10,5
Bremen
Nordrhein-Westfalen
42,6
35,8
22,0
Rheinland-Pfalz
57,5
53,6
0
10
2007
21,2
18,1
6,9
20
30
40
50
60
Zuwachs 2007 bis 2012
1 Anteil der Kinder in Kindertagesbetreuung an allen Kindern dieser Altersgruppe
Quelle: Statistisches Bundesamt, Kindertagesbetreuung in Deutschland 2012, S. 8
127
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Die Situation im Bundesland Bremen –
im Ländervergleich
Das zentrale ›Umsetzungsproblem‹ beim vom
Bund unterfinanzierten Ausbau frühkindlicher Betreuungsangebote ist die angespannte
Haushaltslage der Länder, Städte und Gemeinden. Besonders für Haushaltsnotlageländer wie
Bremen ist der kosten- und personalintensive
Krippenausbau eine enorme Herausforderung.
Deshalb befinden sich die hoch verschuldeten
Länder Nordrhein-Westfalen, Bremen und
das Saarland auch ganz am Ende beim Ländervergleich (vgl. Abb. 1). Dennoch ist allein die
Finanzsituation zwar eine weitreichende,
aber keine hinreichende Erklärung. Das wird
deutlich an den ›wohlhabenden‹ Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Sie
müssten aufgrund dieser Erklärung zumindest
vor Rheinland-Pfalz und vor allem vor Schleswig-Hostein liegen. Doch Schleswig-Holstein,
ebenfalls in einer extremen Haushaltsnotlage,
aber auch Rheinland-Pfalz, verweisen auf
einen weiteren Einflussfaktor: die politische
Prioritätensetzung. Dadurch konnte SchleswigHolstein, trotz einer geringen Betreuungsquote
von lediglich acht Prozent im Jahr 2007
schneller als andere Bundesländer bis auf 24
Prozent vorankommen. Die ebenfalls relativ
gute Situation in Hamburg beruht vor allem
auf einer bereits 2007 relativ hohen Quote von
22 Prozent. Die Berücksichtigung des Aspektes
der ›politischen Priorität‹ ist gerade für das
Bundesland Bremen wenig schmeichelhaft.
Denn auch in Bundesländern, die lange Jahre
von der CDU regiert wurden, wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein, wird 2012 ein
höherer Anteil von Kindern unter drei Jahren
betreut. Und das, obwohl diese beiden Bundesländer von einem niedrigeren Niveau als
Bremen gestartet sind.
Bremen und Bremerhaven im
Krippenausbau-Dilemma
Was kann getan werden, wenn in Bremen und
Bremerhaven 17 Monate vor dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz lediglich Plätze
für 21 Prozent der berechtigten Kinder vorhanden sind? Genauer gesagt, 3.432 Plätze insgesamt, 2.737 in Tageseinrichtungen und 695
in der Tagespflege. Es hilft faktisch relativ
wenig, auf die zurückliegenden vier Jahre (! )
zu verweisen. Denn seit dem Kinderförderungsgesetz (KiföG 2008) war in Bremen
bekannt, dass der Bund lediglich ein Drittel
der Kosten für den Krippenausbau übernimmt
und der Zwei-Städte-Staat Bremen die restlichen zwei Drittel. Doch viel zu lange fehlte
für diesen Anteil im Land Bremen eine solide
durchgerechnete Ausbau- und Finanzierungsplanung. Diese unzureichende politische Prioritätensetzung muss erwähnt werden, auch
wenn sie keinen konkreten Beitrag zur Lösung
des aktuellen Ausbau-Dilemmas liefert.
Bundesweit werden mehrere Alternativen
diskutiert. Einige Großstädte, insbesondere
in Nordrhein-Westfalen, kapitulierten vor
der Zielzahl 39 Prozent bis August 2013. Sie
fordern, den Rechtsanspruch weiter in die
Zukunft zu verschieben. Der Deutsche Städteund Gemeindebund schlug vor, durch größere
Gruppen mehr Kinder betreuen zu können.
Das kritisierte wiederum das Familienministerium. Und die Städte in Baden-Württemberg
setzen sich dafür ein, dass der Rechtsanspruch
zunächst nur für Kinder ab zwei Jahren gelten
soll. In Bremen und Bremerhaven wurde mit
diesem Dilemma komplett unterschiedlich
verfahren – obwohl sich beide Städte in der
›gleichen‹ Haushaltsnotlage befinden.
128
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Abb. 2: Betreuungsplätze 2012 und Planung
2013 für Kinder unter drei Jahren – Stadt Bremen
Plätze
insgesamt
Tagesbetreuung
Tagespflege
März 2012 insgesamt
Versorgungsquote
in Prozent
2.330
658
2.988
22,4
geplanter U3-Ausbau 2013
für 2½ bis 3-Jährige
Tagespflege
zusätzlich bis August 2013
1.671
109
353
neue Plätze insgesamt
2.133
2013 insgesamt
5.121
36,9
Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Kindertagesbetreuung regional 2012, S. 24; Die Senatorin für Soziales,
Kinder, Jugend und Frauen, Vorlage für die Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 19.10.2012, Lfd. Nr.: 88/12 einschließlich
Anhang vom 02.10.2012
❚ In Bremen wird das knappe Geld nicht in erster
Linie in Gebäude, sondern in Plätze investiert.
Dazu wurden die in der Stadt schon vorhandenen
Kindergartengruppen der Drei- bis Sechsjährigen
für jüngere Kinder quasi nach ›unten‹ geöffnet.
Ab August 2012 können bereits zweijährige Kinder,
die zwischen August und Dezember drei Jahre
alt werden, schon vor ihrem dritten Geburtstag eine
Einrichtung besuchen.
❚ In Bremerhaven wird, zugespitzt gesagt, in den
Bau von Kinderkrippen ›im Akkord‹ investiert.
Bremen
Erfreulich an der Entwicklung in Bremen
ist die politische Kraftanstrengung, an der Zielzahl 39 Prozent festzuhalten. Versucht wird,
durch eine ›Schlussoffensive‹ doch noch bis
zum August 2013 für rund 40 Prozent der
Kinder unter drei Jahren eine Betreuung anbieten zu können. Dazu hat die Sozialsenatorin
im November 2012 eine entsprechende Ausbauplanung vorgelegt. Die ambitionierten
Planzahlen verdeutlichen die folgende Vorgehensweise. Laut Statistischem Bundesamt
wurden im März 2012 in der Stadt Bremen insgesamt 2.988 Kinder betreut (22,4 Prozent):
2.330 in der Tagesbetreuung und 658 Kinder in
der Tagespflege (vgl. Abb. 2). Bei diesen Zahlen
werden nach einem bundesweit einheitlichen
Standard, Krabbelgruppen sowie Spielkreise,
die keine durchgehende Betreuung anbieten,
nicht mitgezählt. Bis zum August 2013 sollen
in Bremen für weitere 1.671 Kinder zwischen
zwei und drei Jahren Plätze in den nach ›unten
geöffneten‹ Kindergartengruppen entstehen –
faktisch also keine Krippenplätze. Neue Plätze
in Krippen und Kleinkindgruppen sollen bis
August 2013 im Umfang von 353 entstehen
und weitere 50 Plätze bis zum Frühjahr 2014.
Außerdem soll die Zahl in der Kindertagespflege von 658 um 109 auf 767 Plätze steigen.
Auf der Grundlage dieser verbindlichen Planungen könnten im August 2013 in der Stadt
Bremen rund 5.200 Kinder betreut werden.
Bei insgesamt 13.900 Kindern unter drei
Jahren wären das Plätze für 37 Prozent.
Die Planungen der Sozialsenatorin und der
Sozialverwaltung beruhen insgesamt sogar auf
5.856 Plätzen (42 Prozent). Im Gegensatz zur
Bundesstatistik zählen sie sehr wohl auch
die Kleingruppen und Spielkreise ohne durchgehende Betreuung mit. Bei diesen unterschiedlichen Zählweisen handelt es sich aber
keineswegs um geringfügige Unterschiede. Im
Hinblick auf den bevorstehenden Rechtsanspruch ab August 2013 ist diese Frage von
erheblicher Bedeutung. Denn im Bremischen
Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege (BremKTG) ist
in § 2 festgelegt, dass die Förderung bereits
bei einer Betreuungsdauer von mindestens
zehn Stunden erfüllt ist. Und zehn Stunden,
verteilt auf zwei oder drei Tage die Woche,
bieten durchaus auch Krabbelgruppen
und Spielkreise.
Genau diese Problematik führt wieder
zurück zur Ausgangsfrage, welchen Betreuungsbedarf die Familien in Bremen tatsächlich
haben. Genauer gesagt, benötigen sie wöchentliche Betreuungszeiten von zehn Stunden, verteilt auf zwei oder drei Tage, von 20 oder 30
Stunden bis in den frühen Nachmittag oder
vor allem Ganztagsplätze? Diese Fragen sind in
Bremen aufgrund des praktizierten Angebots-
129
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Abb. 3: Betreuungsplätze 2012
und Planung 2013 für Kinder unter
drei Jahren – Stadt Bremerhaven
Plätze
insgesamt
Tagesbetreuung
Tagespflege
März 2012 insgesamt
Versorgungsquote in
Prozent
407
37
444
15,9
geplanter U3-Ausbau 2012
Tagesbetreuung
Tagespflege
192
71
geplanter U3-Ausbau 2013
Tagesbetreuung
Tagespflege
192
71
neue Plätze insgesamt
526
2013 insgesamt
970
34,6
Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder,
Kindertagesbetreuung regional 2012, S. 24; Seestadt Bremerhaven,
der Magistrat,Dezernat III, Amt für Jugend, Familie und Frauen,
Vorlage Nr. AfJFF 3/2012
verfahrens jedoch nicht annähernd zu klären.
Denn die Zahl der Betreuungsplätze und ihr
zeitlicher Umfang ist an die politisch durchsetzbaren finanziellen Mittel im Haushaltsnotlageland Bremen gebunden – und nicht an
dem tatsächlichen Betreuungsbedarf, den die
Eltern in den Einrichtungen ›nachfragen‹. Dort
werden die Eltern vielmehr immer wieder
auf die Realitäten hingewiesen: dass kein Platz
verfügbar ist und Wartelisten existieren, auf
denen alleinerziehende und erwerbstätige
Eltern Vorrang haben; dass Plätze verfügbar
sind, aber in weiter entfernten Einrichtungen;
dass es zwar einen Platz gibt, aber nicht den
passenden Zeitumfang zur erforderlichen
Erwerbstätigkeit und so weiter und so weiter.
Kurz gesagt, in vielen Einrichtungen versuchen zwar die Erzieherinnen alles Menschenmögliche und praktizieren flexible Lösungen.
Die Möglichkeiten der Einrichtungen und
ihrer Mitarbeiterinnen ›vor Ort‹, stoßen jedoch
rasch an die unterfinanzierten Rahmenbedingungen. Dadurch wird der tatsächliche Bedarf
der Eltern ›runtergehandelt‹.
Bremerhaven
Erfreulich an der Entwicklung in Bremerhaven
ist ebenfalls der politische Wille, zumindest
die ursprüngliche Zielzahl von 35 Prozent
erreichen zu wollen. Das ist eine nicht unerhebliche Korrektur der bisher verfolgten Politik. Denn in der Vergangenheit begründeten
Stadtpolitik und Sozialverwaltung das geringe
Angebot für die Jüngsten in der Stadt mit
einem vergleichsweise geringeren Bedarf der
Familien als in anderen Großstädten. So gab es
in Bremerhaven im Jahr des Kinderförderungsgesetzes (KiföG 2008) für 2.865 Kinder unter
drei Jahren lediglich 200 Krippenplätze (7 Prozent). Nach vier Jahren verweisen die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes für März 2012
auf insgesamt 444 Plätze (16 Prozent), davon
407 Plätze in Kindertageseinrichtungen und
37 Plätze in der Kindertagespflege. Um auf den
auch in Bremerhaven steigenden Betreuungsbedarf für die Jüngsten zu reagieren, brachte
der Magistrat im Juni 2011 ein Neubauprogramm für sechs Kinderkrippen auf den Weg.
Sie werden derzeit gebaut, für eine fehlt noch
das passende Grundstück, aber zwei sind
nahezu fertig. Im Herbst 2011 hat der Magistrat Bremerhaven außerdem beschlossen, sich
an den ›Elternbefragungen zum Betreuungsbedarf U3‹2 zu beteiligen. Durch diese solide und
repräsentative Befragung der Eltern ergab sich
unter anderem ein differenzierter Blick auf
den Betreuungsbedarf der Familien in Bremerhaven. In der Studie wurden die Eltern nach
ihrem Betreuungswunsch gefragt, er lag 2012
bei 50 Prozent. Da aber nicht alle Eltern ihre
›Wünsche‹ auch tatsächlich in einen Betreuungsbedarf umsetzen, beträgt dieser in Bremerhaven insgesamt 40 Prozent. Aus diesem
Betreuungsbedarf ergibt sich auf der Grundlage der gesetzlichen Anspruchskriterien3,
für den ab August geltenden Rechtsanspruch,
ein tatsächlicher Bedarf von 36 Prozent.
Seitdem die Ergebnisse der Elternbefragung
vorliegen, orientiert sich die Stadtpolitik in
Bremerhaven nun auch öffentlich an der Ziel-
2 Dabei handelt es sich
um ein wissenschaftlich
solides, repräsentatives,
differenziertes und relativ preiswertes Instrument für die Befragung
des Betreuungsbedarfs
von Eltern, durchgeführt
vom Forschungsverbund
des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der
Technischen Universität
Dortmund. Diese Art
der Elternbefragung hat
eindeutige Vorteile
gegenüber (teureren)
Angeboten von kommerziellen Meinungsforschungsinstituten, wie
zum Beispiel ›Forsa‹.
Ihre im August 2012
für die Stadt Bremen
vorgelegten Ergebnisse
hatten keine repräsentative Basis und waren
faktisch wertlos.
3 Ab August 2013 gilt für
die Altersgruppe der
Kinder unter einem Jahr
ein Rechtsanspruch
lediglich unter spezifischen Bedingungen (vgl.
§ 24 SGB VIII). Ab der
Vollendung des ersten
Jahres gilt ein absoluter
Rechtsanspruch auf
eine Betreuung in einer
Kindertageseinrichtung
oder in der Kindertagespflege.
130
B ER IC H T ZU R L AGE 2012
zahl 36 Prozent für das Jahr 2013. Es ist jedoch
unwahrscheinlich, das die vielen noch neu zu
schaffenden Plätze bis August tatsächlich vorhanden sein werden. Intern wird damit gerechnet, dass im Sommer 2013 mindestens noch
200 Plätze fehlen werden. Gerade erst werden
die ersten Neubauten fertig und die Einstellung von Personal sowie der Aufbau neuer
Gruppen benötigt zusätzliche Zeit. Für das
Jahr 2013 sind insgesamt 970 Plätze geplant
(rund 35 Prozent), 791 Plätze in Tageseinrichtungen und 179 Plätze in der Tagespflege.
Schwer zu kalkulieren sind in Bremen und
Bremerhaven die Wirkungen des aktuell von
der Bundesregierung gesetzlich eingeführten
Betreuungsgeldes. Familien, die ihre Kinder
nicht in eine Betreuungseinrichtung geben,
erhalten monatlich 100 Euro. Ein völlig kontraproduktives politisches Signal, wenn das Familienministerium gleichzeitig die Städte und
Gemeinden öffentlich und finanziell unterstützt, um auf jeden Fall für 39 Prozent der
Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze
anzubieten. Für Bremen und Bremerhaven ist
zu befürchten, dass aufgrund der vergleichsweise traditionellen Arbeitsteilung zwischen
Männern und Frauen und der überdurchschnittlichen Armut das Betreuungsgeld
tatsächlich zahlreiche Eltern von einer öffentlichen Betreuung abhalten wird. Deshalb legt
dieses Gesetz einen bildungs- und betreuungspolitischen Rückwärtsgang ein, den am Ende
angeblich niemand wirklich wollte – für den
aber dennoch eine Mehrheit in der Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP im Bundestag gestimmt hat.4 Auch Angela Merkel und
Ursula von der Leyen, die in der CDU überhaupt erst eine modernisierte Frauen- und
Familienpolitik mühsam durchgesetzt haben.
4 Vgl. Müller, Peter/
Pfister, René:
Die Zeitmaschine.
In: Der Spiegel
46/2012, S. 28–34.
Forderungen der Arbeitnehmerkammer
❚ Schnellstmögliche Abschaffung des sogenannten
›Betreuungsgeldes‹.
❚ Die Stadt Bremen muss endlich dem Beispiel
Bremerhavens folgen und sich an den repräsentativen und preisgünstigen Elternbefragungen des
Forschungsverbundes der TU Dortmund und dem
Deutschen Jugendinstitut beteiligen.
❚ Beim Ausbau von Angeboten für Kinder unter
drei Jahren in den Stadt- und Ortsteilen, muss der
Betreuungs- und Förderbedarf der Kinder das
wichtigste Kriterium sein und nicht wie derzeit, die
nachfrage- und durchsetzungsstärkste Elternschaft.
❚ In vielen Einrichtungen der Kindertagesbetreuung
fehlen speziell für die Altersgruppe der Kinder
unter drei Jahren ausgebildete Fachkräfte. Das
gilt in besonderem Maße für die frühkindliche
Sprachförderung. Deshalb sind in den Einrichtungen in viel größerem Umfang als bisher, berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen erforderlich.
Sie sollten in Bremen durch den Aufbau eines
trägerübergreifenden Fortbildungsinstituts für
frühkindliche Lernförderung forciert werden. Ohne
eine solche frühe Sprach-, Lern- und Bewegungsförderung kann die in Bremen ausgeprägte
Bildungsarmut nicht wirksam reduziert werden.
131
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Wohnungsbaupolitik:
Neubau alleine reicht nicht
KAI-OLE HAUSEN
Gegenwärtig beherrscht das Thema Wohnraumversorgung – nach Jahren des allgemeinen Desinteresses – in besonderer Weise die
politische Agenda. Kontroverse Debatten im
Zusammenhang mit steigenden Miet- und
Nebenkosten oder dem Verkauf kommunaler
Wohnungsbestände sind die Folge. Dabei ist
tatsächlich festzustellen, dass sich gerade in
Großstädten wie Bremen die Mietpreise in den
vergangenen Jahren von der allgemeinen Preisund Lohnentwicklung abgekoppelt haben. So
stiegen nach einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
die Mieten in der Stadt Bremen von Januar
2007 bis September 2012 um insgesamt 13,5
Prozent (Jahresdurchschnitt 2,2 Prozent).1
Gleichzeitig verschlechterten sich aber in den
vergangenen Jahren die finanziellen Spielräume zur Befriedigung von Wohnwünschen
für viele Arbeitnehmerhaushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen erheblich.
Die durchschnittlichen Bruttoeinkommen
pro Beschäftigten haben sich in Deutschland
zwischen 2000 und 2010 unter Berücksichtigung der allgemeinen Preissteigerungen negativ entwickelt2 und bei einem Fünftel der Vollzeitbeschäftigten im Land Bremen liegt das
Bruttomonatsentgelt bei unter 2.000 Euro.
Steigende Wohn- und Energiekosten
machen sich aber gerade bei Haushalten mit
niedrigeren Einkommen deutlicher als bei
Haushalten mit höherem Einkommen bemerkbar, da ein immer größer werdender Anteil
des durchschnittlich zur Verfügung stehenden
Haushaltseinkommens für das Wohnen aufgewendet werden muss. Vor dem Hintergrund
der zunehmenden Deregulierung der Wohnungsmärkte und des Bedeutungsverlustes der
klassischen Instrumente des sozialen Wohnungsbaus in den vergangenen 20 Jahren, hat
die gegenwärtige Situation eine besondere
Brisanz erreicht. Gab es 1990 im Land Bremen
noch 78.900 Wohnungen für Menschen, die
wegen ihres Einkommens Schwierigkeiten hatten, sich am freien Wohnungsmarkt mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, so verringerte sich deren Anzahl im Jahr 2011 auf nur
noch 9.700 – mit weiter abnehmender Tendenz
in den kommenden Jahren. So werden im Jahr
2015 noch rund 7.900 Sozialwohnungen zur
Verfügung stehen und im Jahr 2020 sogar nur
noch 5.500.3 Aber gerade für die Versorgung
von Haushalten mit kleinen und mittleren
Einkommen ist die Entwicklung des Sozialwohnungsbestandes von besonderer Relevanz.
Denn es gilt zu berücksichtigen, dass weniger
regulierte Wohnungsmärkte dazu führen, dass
wirtschaftlich schwache Haushalte von einkommensstärkeren Haushalten aus Wohnlagen
mit höherem Nutzungswert vermehrt verdrängt werden, in denen das Mietniveau höher
liegt. Aber gerade eine solche Entwicklung
steht den Zielsetzungen der Wohnungsbaupolitik des Senats diametral entgegen, die zum
Ziel hat, ›Bremen und Bremerhaven als lebenswerte und attraktive Städte zu erhalten und
den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dazu
ist es unter anderem erforderlich, ausreichenden und bedarfsgerechten Wohnraum zu
schaffen und der drohenden Spaltung in arme
und reiche Stadtteile entgegenzuwirken‹4.
Aus diesem Grund hat der Bremer Senat ein
Wohnraumförderungsprogramm 2012/2013
beschlossen, das auf den bestehenden Mangel
an preisgünstigem Wohnraum und belegbaren
Sozialwohnungen im Land Bremen reagieren
soll. Dies ist umso dringender, da sich aufgrund der Erkenntnisse aus der aktuellen
Wohnungsbaukonzeption der Stadt Bremen,
die auf Daten des Beratungsinstituts GEWOS
basiert, ohne eine Ausweitung des Wohnungsbestandes eine Versorgungslücke bis zum Jahr
2020 von 14.000 Wohnungen prognostiziert.5
1 Vgl. DIW Wochenbericht
Nr. 45.2012, S. 9.
2 Vgl. Böckler Impuls
(2011).
3 Vgl. Senator für
Umwelt, Bau und
Verkehr: Senatsvorlage
›Stadtentwicklung
durch soziales
Wohnen stärken‹ vom
28.08.2012.
4 Vgl. SUBV ›Stadtentwicklung durch soziales
Wohnen stärken‹, S. 1.
5 Vgl. GEWOS (2009);
S. 15.
132
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Ohne eine Zunahme der jährlich fertiggestellten Wohnungen würde sich der bereits
bestehende Nachfrageüberhang am Wohnungsmarkt jedoch noch einmal deutlich vergrößern. Die Zahl der neu erbauten Wohnungen hat allerdings in den vergangenen Jahren
nicht einmal die Hälfte des prognostizierten
Bedarfs erreicht. So wurden 2010 lediglich 677
neue Wohnungen errichtet und 2011 waren es
sogar nur noch 580.6 Daneben lag der Schwerpunkt des Wohnungsbaus in Bremen in der
Vergangenheit hauptsächlich im mittleren bis
höherpreisigen Marktsegment. Eine wichtige
Ursache des Rückgangs der Investitionen in
den Geschosswohnungsbau ist die begrenzte
Zahl der Haushalte, die kostendeckende Kaltmieten von häufig mehr als 8,50 Euro pro
6 Vgl. Statistisches
Landesamt.
Quadratmeter überhaupt zahlen können,
die zur Amortisation der Investitionen realisiert werden müssen. In den vergangenen
Jahren floss privates Kapital vor allem in
höherpreisige Segmente, da die zu erwartenden Renditen höher sind. Entstanden sind
dadurch vorwiegend Wohnungen (2010 = 525)
mit vier und mehr Zimmern.
Neubaubedarf besteht aber vor allem bei
kleineren und mittelgroßen Miet- und Eigentumswohnungen in zentrumsnahen Lagen, da
sich seit Jahren der Anteil der Haushalte mit
drei oder mehr Personen verringerte, während
die Ein- und Zweipersonenhaushalte an Bedeutung gewannen. Dieser Trend dürfte sich in
den nächsten Jahren sogar noch verstärken,
da zwar die Bevölkerung in der Stadt Bremen
voraussichtlich bis zum Jahr 2025 um 11.750
Menschen abnehmen wird, die Anzahl der
133
Privathaushalte aber dennoch weiter um
rund 3.500 Menschen zunehmen könnte.7
Gleichzeitig gibt es einen steigenden Anteil
von Haushalten mit älteren Menschen, die für
eine wachsende Nachfrage nach kleinen,
seniorengerechten Wohnungen sorgt. Diese
müssen barrierefrei und den besonderen
Bedürf-nissen älterer Bewohner gerecht werden. Auch das Wohnumfeld muss dabei durch
eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur
gekennzeichnet sein (Einzelhandel, ÖPNV ,
ärztliche Versorgung, häusliche Pflege).
Bremer Wohnungsbauoffensive
Wohnungsbauprojekte 30 + (2012–2015)
Folgende Ziele hat die Wohnungsbauoffensive
der Bremer Landesregierung formuliert:
❚ Bau von 14.000 neuen Wohnungen
bis zum Jahr 2020,
❚ ein differenziertes bedarfsgerechtes
Wohnungsangebot,
❚ Schaffung von bezahlbarem Wohnraum
für Haushalte mit kleinerem und mittlerem
Einkommen,
❚ den Anteil des geförderten Wohnungsbaus erhöhen,
❚ der sozialen Entmischung der Stadt
entgegenwirken,
❚ eine regionale Ausgewogenheit des
Wohnungsangebotes sicherstellen,
❚ Vorrang der Innenentwicklung und Stärkung
urbaner Milieus,
❚ Einwohnergewinne ermöglichen.
7 Vgl. vdw/GEWOS
(2011); S. 23/25.
134
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Hierzu wurde unter anderem Ende September
2012 der Öffentlichkeit eine Liste von Bauflächen zur Umsetzung des Wohnungsbauprogramms vorgestellt. Es handelt sich größtenteils um attraktive Bauflächen und es wurde
versucht, den sozialen Wohnungsbau auch
in nicht-segregierten Stadtteilen zu platzieren
und attraktive Neubaugebiete auszuweisen.
Insgesamt sollen somit bis 2015 Flächen für
insgesamt 5.700 Wohnungen zur Verfügung
gestellt werden – davon sollen 50 Prozent von
privaten Bauherren im Innenbereich errichtet
werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
diese Anzahl lediglich auf Annahmen basiert
und die Umsetzung keinesfalls als verbindlich
angenommen werden kann. Unabhängig
davon befinden sich die prioritären Projektgebiete (30 + - Liste), mit immerhin 1.850 Wohnungen, in sehr unterschiedlichen Planungsstadien hinsichtlich Baurecht und Erschließung.
Die Erfahrung zeigt, dass von der Aufstellung
eines Bebauungsplans bis zur Fertigstellung
der Baumaßnahme bis zu vier Jahre benötigt
werden. Damit sind keinesfalls kurzfristige
Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt
zu erzielen.
Darüber hinaus hat der Senat beschlossen,
dass immer dann, wenn kommunale Wohnbauflächen verkauft werden oder wenn neues
Baurecht geschaffen wird, auch sozialer Wohnungsbau entstehen soll. Demnach werden auf
Wohnbauflächen, auf denen mehr als zwölf
Wohneinheiten neu geschaffen werden, mindestens 25 Prozent der Wohnungen mit entsprechenden Belegungsbindungen versehen
werden. Mit diesem neuen Wohnraumförderungsprogramm soll eine gezielte Erweiterung
des Wohnraumangebots in den entsprechenden Marktsegmenten verstärkt werden. Als Ziel
wurde dabei formuliert, in diesem und im
nächsten Jahr 700 Wohnungen und Bestandsmaßnahmen für Haushalte in Bremen und
Bremerhaven zu fördern, die Zugangsschwierigkeiten am allgemeinen Wohnungsmarkt
haben (zum Beispiel SGB-II- Bedarfsgemeinschaften, Haushalte älterer und behinderter
Menschen, Familien mit Kindern, junge
Haushalte).
Nach den Plänen des Senats entfallen dabei
140 Wohnungen auf Bremerhaven und 140
weitere Wohnungen werden in Bremen-Nord
gefördert, obgleich dort in den kommenden
Jahren durch GEWOS nur eine sehr schwache
Nachfrage prognostiziert wurde. Dort, wo der
eigentliche Bedarf besteht, nämlich im Stadtgebiet Bremens, werden demnach nur 420 zu
fördernde Wohnungen errichtet. Zudem soll
ein Fünftel dieser Wohnungen (84 Wohnungen) für von Wohnungslosigkeit bedrohte
(zum Beispiel Obdachlose, Asylbewerber und
zugewanderte Großfamilien) vorgesehen
werden. Ob die dann noch verbleibenden 336
Wohnungen zu messbaren Entlastungseffekten
führen, ist fraglich. Daneben wird aber nicht
nur der Wohnungsneubau gefördert werden,
sondern auch energetische Modernisierungen
von Bestandsimmobilien. Damit werden zwar
keine neuen Wohnungen geschaffen, aber eine
zielgerichtete Förderung kann dafür sorgen,
dass Mieter mit geringem Einkommen nicht
durch außergewöhnlich hohe Mietsteigerungen zusätzlich belastet werden.
Die maximale Miete im Neubaubereich darf
dabei eine Höhe von 6,10 Euro je Quadratmeter
nicht überschreiten, bei modernisierten Objekten 5,60 Euro je Quadratmeter. Eine Mieterhöhung darf erstmalig nach drei Jahren nach
den gesetzlichen Regelungen des BGB erfolgen,
wobei die gesetzliche Kappungsgrenze auf
zehn Prozent reduziert ist. Das bedeutet also
eine Erhöhung von 6,10 Euro auf maximal 6,71
Euro (Neubau) beziehungsweise von 5,60 Euro
auf 6,16 Euro (Modernisierung). Als berechtigte
Haushalte gelten dabei Haushalte, deren Einkommen maximal 60 Prozent über dem Einkommen liegt, das für eine Wohnberechtigung
nach dem Wohnraumförderungsgesetz maßgeblich ist. Das bedeutet, dass bei einem alleinstehenden Rentner ein Bruttoeinkommen von
maximal 21.400 Euro (monatlich rund 1.800
Euro), bei einem Arbeitnehmer von 28.000
Euro (monatlich 2.300 Euro) nicht überschrit-
135
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
ten werden darf. Bei einem Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Personen beträgt der Höchstbetrag 42.000 Euro, mit drei Personen 52.700
Euro. Durch diese erhöhten Einkommensgrenzen wird der Kreis der Berechtigten erheblich
erweitert; dies ist durchaus zu begrüßen, da
damit auch Arbeitnehmer mit niedrigen und
mittleren Einkommen in den Genuss einer
entsprechenden Förderung kommen könnten.
Das Programm ist aus Sicht der Arbeitnehmerkammer insgesamt als eine erste Initiative
zu bewerten, um preisgünstigen Wohnungsneubau für die oben genannten Zielgruppen
zu initiieren. Inwiefern es aber ausreichende
Anreize für Investoren bietet, bleibt vorerst
abzuwarten, denn der hohe Anstieg der Neubaukosten von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter in Verbindung mit hohen Grundstückskosten und Modernisierungskosten von bis
zu 1.200 Euro pro Quadratmeter lassen nicht
erkennen, ob die gegebenen Fördermöglichkeiten eine ausreichende Refinanzierung der
Immobilien sicherstellen. Die Bauherren erhalten beim Neubau von Wohnungen Darlehen
von bis zu 60.000 Euro pro Wohnung, bei
Modernisierungen von bis zu 40.000 Euro.
Dabei wird der marktübliche Zins zehn Jahre
lang um vier Prozent und weitere zehn Jahre
um zwei Prozent herabgesetzt. Die Dauer
der Belegungsbindung beträgt zwanzig Jahre.
Hinsichtlich der befristeten Laufzeit des Programms und den zu vermutenden langen Vorlaufzeiten zur Entwicklung der neuen Wohnbaugebiete, muss geprüft werden, inwieweit
das Konzept über 2013 hinaus weiterentwickelt werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Wohnungsbauförderung nach der
Föderalismusreform I den Ländern obliegt. Vor
dem Hintergrund der Verpflichtung des Landes Bremen zur Verringerung der Neuverschuldung (›Schuldenbremse‹), sollte das Land eine
deutlich verstärkte finanzielle Beteiligung des
Bundes auch für die Zukunft einfordern.
Weitergehende Maßnahmen
Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer kann eine
Strategie, die sich vorwiegend auf den Neubau
konzentriert, nicht die gewünschten Entlastungseffekte auf dem Wohnungsmarkt erzielen. Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt ist nicht der Mangel an Wohnungen
insgesamt, sondern eher die andauernde Verteuerung von bisher preiswerten Wohnungen.
Dies spiegelt sich im Besonderen bei den stark
steigenden Mieten im Bereich der Neuvermietungen wider. Für eine durchschnittliche Mietwohnung in Bremen in mittlerer Lage und
normaler Ausstattung mit drei Zimmern und
rund 70 Quadratmetern, zahlt man heute
rund 6,50 Nettokaltmiete pro Quadratmeter
Wohnfläche – dies entspricht einem Plus von
vier Prozent gegenüber dem Vorjahr (Quelle:
Immobilienverband Deutschland / IVD ). Die
Neubauförderung wird dabei von der Hoffnung getrieben, dass, nachdem erst einmal viele neue Wohnungen gebaut sind, durch sogenannte ›Sickereffekte‹ der Nachfragedruck auf
dem Wohnungsmarkt sinkt und die Bestandsmieten wieder sinken. Ein entspannter Wohnungsmarkt ist aber nach dieser Methode erst
nach einem gewissen Umfang an Neubautätigkeit zu erwarten und ob die jetzt genannten
1.400 Wohnungen im Jahr erreicht werden, ist
bislang mehr als fraglich – gegenwärtig wird
lediglich knapp die Hälfte dieser Anzahl
erstellt und es ist nicht erkennbar, ob die Neubautätigkeit im Geschosswohnungsbau durch
die oben genannte Initiative kurzfristig signifikant erhöht werden kann.
136
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
8 GEWOS (2009); S. 25.
Hinzu kommt, dass Wohnungsneubau teuer
ist. Mit den jetzt zur Verfügung gestellten
40 Millionen Euro versucht Bremen, die Mieten für 700 Wohnungen auf ein sozial verträgliches Maß zu reduzieren. Dabei wird damit
noch nicht einmal der Anteil an Sozialwohnungen kompensiert, deren Förderung aus
früheren Förderperioden bis 2015 ausläuft. Das
heißt, es wird viel Geld ausgegeben, um das
Niveau der Versorgung mit belegbaren Sozialwohnungen annähernd auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten. Zudem ist erkennbar,
dass gerade in den Wohnungsbeständen, die
keine Anschlussförderung früherer Förderperioden erhielten, weil ein künftiger Mangel an
preiswerten Wohnungen als unwahrscheinlich
erachtet wurde, die Mieten teilweise stark
steigen. Das zeigt sich vor allem bei Fehlentwicklungen im Wohnungsbestand ehemaliger
kommunaler Wohnungsbauunternehmen, bei
denen es der Kommune nicht gelang, wirksame Strategien gegen die umfangreichen profitorientierten Privatisierungen von Teilbeständen zu entwickeln. Insofern sollten Strategien
entwickelt werden, die das Vermieten von
Sozialwohnungen nach Ablauf der Förderphase zu Marktpreisen sozialverträglich gestaltet.
Aber gerade im unteren Preissegment des
Wohnungsmarktes in Bremen scheint sich ein
besonderer Bedarf entwickelt zu haben.
Bislang ist es für Bremen versäumt worden,
einen objektiven und qualitativen Bedarf
anhand verlässlicher Daten für Bestandswohnungen zu ermitteln. Es liegen bei allen in
Auftrag gegebenen Studien keine Erkenntnisse
darüber vor, in welchem Umfang Wohnungen
für kleinere Haushalte, für Senioren oder
Haushalte mit geringem Einkommen benötigt
werden. Das GEWOS- Gutachten definierte
lediglich sechs verschiedene ›Wohnstiltypen‹.
Auf Basis von Haushaltsbefragungen wurden
dabei Nachfragegruppen definiert, die nach
Auffassung des Instituts für den Erwerb oder
die Anmietung einer Neubauwohnung infrage
kämen, und zwar in Abhängigkeit von ihren
Wohnwünschen, ihrer finanziellen Leistungs-
fähigkeit zur Befriedigung ihrer Wohnwünsche und ihrer Bereitschaft zum Umzug. Dabei
wurden die beiden ›Wohnstiltypen‹ der ›Alternativen‹ und der ›preissensiblen Mieter‹ –
deren finanziellen Möglichkeiten als gering,
beziehungsweise unterdurchschnittlich kategorisiert wurden – nur unzureichend berücksichtigt. Denn diese Gruppen ›äußern zwar
Umzugsabsichten, sind allerdings keine
Zielgruppe für das Neubau-Segment. Die Alternativen interessieren sich vorwiegend für
Wohnformen im Bestand, auch die preissensiblen Mieter können aufgrund ihres geringen
finanziellen Spielraums keinen Neubau finanzieren und decken ihre Bedarfe überwiegend
im Bestand‹8. Die dahinter stehende Philosophie folgt dem Gedanken, dass die Bezieher
niedriger Einkommen weder als Käufer für
Eigentumswohnungen noch als Mieter von
freifinanzierten Neubauwohnungen infrage
kommen. Die Wohnungsnachfrage dieser
Gruppen wurde daher in der weiteren Wohnungsbaukonzeption nicht mehr berücksichtigt. Dem Prinzip nach werden die Haushalte
bei dieser Zuordnung vor allem nach der
Einkommensposition und den finanziellen
Möglichkeiten zur Befriedigung der Wohnwünsche sortiert. Es zeigt sich das Problem, dass
sich in diesem Verständnis der Wohnungsbau
zwangsläufig auf die Bedürfnisse finanziell
besonders leistungsfähiger Zielgruppen konzentriert.
Bis 2025 wird sich voraussichtlich der Nachfrageüberhang im Immobilienmarkt in Bremen weiter verstärken und sich die Situation
für viele Haushalte weiter verschärfen. So sollte eine sozial verantwortliche und zukunftsorientierte Wohnpolitik für gleichwertige
Lebensverhältnisse in den Stadtteilen und
Wohnquartieren sorgen, um einer weiteren
sozialen Polarisierung der Stadt entgegenzu-
137
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Das größte Problem auf dem Wohnungsmarkt ist nicht
der Mangel an Wohnungen insgesamt, sondern eher die
andauernde Verteuerung von bisher preiswerten Wohnungen.
wirken. Im aktuellen Koalitionsvertrag erklären die bremischen Regierungsfraktionen
daher auch, dass zur Verringerung einer sozialen Entmischung zukünftig auch in teureren
Stadtteilen Wohnungen für Menschen mit
geringem Einkommen zugänglich sein sollen –
und umgekehrt. Dabei muss der Trend zu
mehr Einpersonenhaushalten, die steigende
Anzahl der Senioren, wie auch der wachsende
Anteil von Geringverdienern berücksichtigt
werden. Dazu stellt die Arbeitnehmerkammer
Folgendes fest:
❚ Das wesentliche wohnungsbaupolitische Steuerungselement bei der Veräußerung ist die Preisgestaltung
der Bodenpreise. Gegenwärtig sorgt die desolate
Haushaltslage aber für einen Zielkonflikt mit einem
negativen Steuerungseffekt: Alle für Wohnbebauung
geeigneten Flächen im Eigentum der Stadt werden
zu den am Markt maximal erzielbaren Preisen per
Bieterverfahren veräußert. Dieses Verfahren sollte
zugunsten von Konzeptausschreibungen aufgegeben
werden, in denen die Preisfindung der Grundstücke
hinsichtlich der sozialen Anteile einer Investition
passgenau unter Berücksichtigung ihrer individuellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel unterschiedlicher Lagen, erfolgt. Nur so kann in attraktiven
Lagen die angestrebte soziale Durchmischung und
die Zielsetzung, den sozialen Wohnungsbau in
nicht-segregierten Stadtteilen zu realisieren, erreicht
werden.
❚ Hilfreich wäre die Etablierung eines kommunalen
Bodenmanagements, mit dem die bodenpolitischen
Einzelinstrumente (kommunaler Zwischenerwerb,
städtebauliche Verträge, etc.) in einem umfassenden
strategischen Vorgehen in der Baulandbereitstellung
zusammengeführt werden. Daneben könnte die
Kommune eine aktive Flächenpolitik betreiben und
möglichst frühzeitig Flächen aus privater Hand
aufkaufen, die wegen ihrer aktuellen Nutzung
preisgünstig sind (z. B. Grünland), die aber für den
Wohnungsbau geeignet sind. Der abzuschöpfende
Gewinn, also die Differenz zwischen dem bisherigen
und dem Wiederverkaufspreis als Wohnland, kann
zur Finanzierung sozialer Infrastruktur und zur
Deckung von Kosten des sozialen Wohnungsbaus
eingesetzt werden.
❚ Eine starre Quotierung von 25 Prozent öffentlich
gefördertem Wohnungsbau bei neu zu erschließenden Wohnbaugebieten ist fraglich. Gegebenenfalls
sollte die Möglichkeit der Übertragung und entsprechender Quoten von Gebieten mit Angebotsüberhängen auf stark nachgefragte Baugebiete geprüft
werden, ohne die Gesamtzahl der geförderten
Wohnungen zu reduzieren. Gerade in bevorzugten
Stadteilen mit hohen Grundstückspreisen müssen
die entsprechenden Quoten zwingend erfüllt werden.
❚ In dem vorliegenden Programm wird nicht von
der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die hohen Baulandpreise durch die Zurverfügungstellung von
Erbbaurechten zu reduzieren. Durch gezielte Vergabe von Erbpachtgrundstücken mit ermäßigtem
Erbpachtzins kann eine Reduzierung der Grundstückskosten erreicht werden.
❚ Es ist zu überprüfen, inwiefern der hohe Anstieg
der Neubaukosten von bis zu 2.000 Euro pro Quadratmeter und Modernisierungskosten von bis zu
1.200 Euro pro Quadratmeter durch entsprechende
Anforderungsreduktion gesenkt werden kann.
Eine stärkere Standardisierung des Baus und der
Verzicht nicht notwendiger Anforderungen beim
Neubau, können diese Entwicklung eindämmen.
Landesrechtliche Vorgaben, die weitergehende energetische Anforderungen an die Errichtung neuer
Gebäude stellt als die EnEV 2009, sind abzulehnen.
Vielmehr sollten Modellprojekte, deren Zielsetzung
kostensenkende Bauweisen sind, in besonderer
Weise gefördert werden.
138
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
❚ Eine maßvolle Verdichtung und volle Ausnutzung
der vorhandenen Grundstücksflächen und eine
konsequente Zielgruppenorientierung sind notwendig. Hierzu gehören insbesondere auch die Berücksichtigung der Haushalts- und Wohnungsstrukturen
des Umfeldes, eine gute soziale Durchmischung,
familiengerechte Wohnungen – auch in höherer
Verdichtung – sowie altersgerechter, barrierearmer
Wohnungsneubau.
❚ Überprüfung der Standards hinsichtlich der Anforderungen an die Grundstückserschließung (Straßenquerschnitt etc.) und anderer durch die Kommune
zu bestimmenden Einflußfaktoren. Ein Beispiel kann
hier die Novellierung der Stellplatzverordnung
sein, um die gewünschten Abminderungseffekte zu
erzielen. So kann es gegebenenfalls durch integrierte
Mobilitätskonzepte gelingen, die Anzahl der herzustellenden oder nachzuweisenden Stellplätze zu
reduzieren, um auf die Errichtung von (teuren)
Tiefgaragen zu verzichten.
❚ Konsequente weitere Umsetzung des Baulückenprogramms und des Flächenrecyclings (Konversion).
Um kurzfristige Entlastungseffekte auf dem
Wohnungsmarkt zu erzielen, sollten vor allem
auch Maßnahmen ergriffen werden, die im
Bestand wirken, hierzu zählen:
❚ Verlängerung von bestehenden Belegungsbindungen
im Bestand, denn eine soziale Stadtentwicklung
basiert auf preiswerten Altbaumieten, den Häusern
im kommunalen Besitz und den in der Vergangenheit geförderten Wohnungen.
❚ Nutzung von mittelbaren Belegungsbindungen nach
dem Wohnraumförderungsgesetz. Demnach erfolgt
die Förderung eines Wohnungsneubaus in einem
sozial benachteiligten Stadtteil ohne unmittelbare
Belegungsbindung, stattdessen garantiert die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt ein Besetzungsrecht,
das in einem nicht sozial benachteiligten Gebiet
liegt und Mindestanforderungen erfüllt, wobei eine
höchstzulässige Miete nicht überschritten werden
darf.
❚ Verzicht von Anreizen für Modernisierungsmaßnahmen, die nicht zur entsprechenden
Reduzierung von Energiekosten führen.
❚ Beeinflussung der Mietpreispolitik öffentlicher
Wohnungsunternehmen im Hinblick auf Sozialverträglichkeit und des öffentlichen Interesses.
139
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
¢
Was ist zu tun?
Energetische Sanierung –
in Bremen (zu?) hohe Standards?
Das jetzt aufgelegte Wohnraumförderungsprogramm verfolgt zugleich energiepolitische
Zielsetzungen, denn die neu zu bauenden
Wohngebäude sollen über dem gesetzlichen
Standard der Energieeinspar-Verordnung
(EnEV) von 2009 liegen und dem sogenannten
KfW Standard 70 entsprechen. Demnach muss
der durchschnittliche Primärenergiebedarf
des Gebäudes 30 Prozent unter den aktuellen
gesetzlichen Anforderungen liegen. Hierbei
besteht die Gefahr, dass die Investitionsbereitschaft erheblich gehemmt wird, denn die
dadurch entstehenden Mehrkosten müssen
für den Investor re- und durch die Förderung
entsprechend mitfinanziert werden. Es gilt
dabei zu berücksichtigen, dass die Baupreise
für Mehrfamilien-Wohngebäude zwischen
2005 bis 2011 schon um rund 20,4 Prozent
gestiegen sind, was offensichtlich auch auf die
immer höheren Anforderungen der EnEV
zurückzuführen ist und sich unter anderem
in den niedrigen Baufertigstellungszahlen
dieser Jahre widerspiegelt. Hinzu kommt, das
bereits heute über die Novellierung der Energieeinspar-Verordnung (EnEV 2013) diskutiert
wird und in einem zweistufigen Verfahren
eingeführt werden soll, so dass weitere Energieeinsparungen von 25 Prozent erbracht
werden müssten. Aus Gründen des vorbeugenden Klimaschutzes und hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Energiekosten in der
Zukunft, mögen diese erhöhten Anforderungen durchaus sinnvoll erscheinen, doch
rechtfertigt der tatsächliche Minderverbrauch
an Energie nicht den dadurch entstehenden
bautechnischen Mehraufwand und die dafür
notwendigen finanziellen Aufwendungen.
Im Gegenteil: Um den Bau möglichst preisgünstiger Wohnungen zu fördern, müsste
besonderer Wert auf eine kostensenkende und
serielle Bauweise gelegt werden.
Aber auch energetische Modernisierungsmaßnahmen bei Bestandsimmobilien sind
hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wohnkosten kritisch zu hinterfragen. Es ist ein
weitverbreiteter Irrglaube, dass durch energetische Modernisierungen steigende Mieten
durch entsprechend niedrigere Energiekosten kompensiert werden können. Wie
Modellrechnungen zeigen, fällt die Energieeinsparung in energetisch sanierten Wohngebäuden deutlich geringer aus, als die Mietsteigerungen durch die umgelegten Sanierungsaufwendungen. So ergeben sich in
einem Fallbeispiel für eine 60 Quadratmeter
große Wohnung Modernisierungskosten
von 30.000 Euro. Das Mietrecht erlaubt,
bezogen auf die Modernisierungsinvestition
zur Refinanzierung, eine Umlage von elf
Prozent jährlich – macht 3.300 Euro pro
Jahr beziehungsweise 4,58 Euro pro Monat
und Quadratmeter. Dem steht aber nur eine
Energiekostenreduzierung von 50 bis 60
Cent pro Quadratmeter gegenüber.9 Eine
Erhöhung der Miete im vollen Umfang
würde die Mieter schnell an die Grenze ihrer
finanziellen Möglichkeiten bringen und
der Vermieter kann oder will vielfach den
gesetzlichen Spielraum für Mieterhöhungen
nicht voll ausnutzen. Im Allgemeinen rechnen sich Sanierungen im Wohnungsbestand
häufig nicht und tendenziell können die
Mieter die entsprechenden Kostensteigerungen nicht ohne weitere Verschärfung der
eigenen Lage tragen. Ohne deutliche staatliche Investitionsanreize der energetischen
Modernisierung dürften die finanziellen
Nachteile weitere Investitionen eher bremsen. Gleichzeitig sollten gesetzliche Regelungen gefunden werden, die Mieter vor einer
finanziellen Überforderung aus Klimaschutzgründen bewahren.
9 Dankowski, Raimund (2011):
S. 3 www.deutscherverband.org/cms/
fileadmin/medias/
Veroeffentlichungen/
Veranstaltungen/
wohnraumfoerderung
140
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Bremen-Nord:
Zwischenfazit für einen Stadtbezirk im politischen Fokus
BERND STRÜSSMANN UND ELKE HEYDUCK
Grundlegende wirtschaftsstrukturelle Probleme, die in den vergangenen Jahrzehnten vor
allem durch Arbeitsplatzverluste in der Industrie als Folge von Betriebsschließungen und
Rationalisierungsprozessen entstanden waren,
bilden den Ausgangspunkt für die besondere
Aufmerksamkeit, mit der die Entwicklung
im nördlichsten Bremer Stadtbezirk politisch
begleitet wird. Bereits im Jahr 2006 formulierte der Senat mit dem ›Zukunftsprogramm
Bremen-Nord‹ strukturpolitische Zielsetzungen
und Handlungsempfehlungen zur Entwicklung der Stadtregion. Das Programm wurde
2011 überarbeitet. Seit November 2011 setzt
sich ein direkt beim Bürgermeister Jens Böhrnsen eingerichteter Arbeitskreis mit den Entwicklungsperspektiven Bremen-Nords auseinander, an dem sich Vertreter nordbremischer
Institutionen, Verbände, Kammern und
verschiedene Senatsressorts beteiligen. In verschiedenen Arbeitsgruppen – Wirtschaft, Wohnen, Soziales – werden neben der Ist-Analyse
Instrumente und Maßnahmen diskutiert, die
eine positive Entwicklung anschieben sollen.
Zur Ankurbelung eines regionalen Entwicklungsprozesses stehen keine kurzfristig wirkenden Patentrezepte zur Verfügung. Es müssen
›dicke Bretter gebohrt‹ werden.
Denn die Probleme, mit denen sich eine
Politik zur Entwicklung Bremen-Nords auseinandersetzen muss, sind vielschichtig: Die
Stadtregion hat ein Arbeitsplatzdefizit, was
umfassende Anstrengungen zur Ansiedlung
von Unternehmen und Schaffung von Arbeitsplätzen erforderlich macht. Zugleich verliert
Bremen-Nord Einwohner. Das lange Zeit bestehende gute Image eines attraktiven Wohnund Arbeitsorts in reizvoller landschaftlicher
Umgebung wird seit einigen Jahren durch
›schlechte Nachrichten‹ infrage gestellt. Anders
als im übrigen Stadtgebiet – so zeigte es eine
Untersuchung für die Wohnungsbaukonzep-
tion der Stadtgemeinde Bremen – hat sich die
Nachfrage nach Mietwohnungen oder Immobilieneigentum bei einer abnehmenden Zahl
der Privathaushalte deutlich abgeschwächt.
Hinzu kommt und ist zum Teil ursächlich für
die Entwicklung, dass sich die ökonomischen
und sozialen Probleme für viele Haushalte
in den vergangenen Jahren verstärkt haben.
So ist auch innerhalb des Stadtbezirks eine
zunehmende soziale Spaltung festzustellen,
indem sich diese Probleme in einzelnen Wohnquartieren deutlich konzentrieren. Die Arbeitnehmerkammer begrüßt daher ausdrücklich,
dass der Ortsteil Blumenthal als neues WiNGebiet (Wohnen in Nachbarschaften) in die
Förderung aufgenommen werden soll.
Zentrales Thema ist jedoch die Stärkung
der Wirtschaftskraft sowie der Erhalt und die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Seit dem
Konkurs des Vulkan-Verbundes hat der Senat
erhebliche Anstrengungen unternommen, den
negativen Trend auf dem Arbeitsmarkt in
Bremen-Nord umzukehren. Zwar hat sich die
Beschäftigung mittlerweile stabilisiert und
auch vom Aufschwung am Arbeitsmarkt hat
Bremen-Nord anteilig profitiert. Zwischen dem
30.06.2010 und dem 30.06.2011 sind rund 900
zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Dennoch
arbeiten bei rund 90.000 Einwohnern nur gut
18.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Bremen-Nord. Die Pendlerdaten verdeutlichen zudem, dass Bremen-Nord in Bezug auf
die Gesamtstadt nur noch eine relativ geringe Arbeitsmarktzentralität besitzt. Knapp drei
Viertel der fast 30.000 in Bremen-Nord
wohnenden sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten pendeln in andere Stadtbezirke
oder in die umliegenden Gemeinden. Doch die
Analysen ergeben auch, dass der Wirtschaftsstandort Bremen-Nord über ein hohes Potenzial verfügt, den negativen Trend umzukehren.
Das ›Zukunftsprogramm Bremen-Nord‹ um-
141
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
fasste und umfasst hierzu ein Bündel von Maßnahmen und Schlüsselprojekten in den Bereichen Verkehr, Einzelhandel, Tourismus und
Gewerbeflächenentwicklung, die zum Teil
auch bereits umgesetzt wurden – mit unterschiedlichem Erfolg und den entsprechenden
Schlüssen, die daraus zu ziehen sind.
Ein deutlicher Schwerpunkt des Zukunftsprogramms bestand in der Vergangenheit in
den Bereichen Einzelhandel, Tourismus und
der Gastronomie. Nach dem Wegfall einer
erheblichen Zahl von Industriearbeitsplätzen
versuchte man den Strukturwandel zu befördern und setzte auf Dienstleistungen. So
wurde in Verbindung mit der Errichtung des
Einkaufszentrums ›Haven Höövt‹ der gesamte
Bereich am Vegesacker Hafen und der Uferpromenade bis zum Gewerbegebiet Bremer
Vulkan durch städtebauliche Maßnahmen für
den Tourismus und die Gastronomie aufgewertet (›Maritime Meile‹).
Einzelhandel
Mittlerweile zeigt sich allerdings, dass in dieser Hinsicht die Entwicklungsmöglichkeiten
des Standorts gut, aber begrenzt sind und
Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden dürfen. So hatte die Inbetriebnahme des
Einkaufszentrums Haven Höövt (18.000 qm
Verkaufsfläche) im Jahr 2003 schon frühzeitig
auch negative und im Grunde absehbare Auswirkungen auf die traditionellen Einzelhandelsgeschäfte in der Einkaufspassage. Mit der
Schwerpunktverlagerung des Einzelhandels
zum Haven Höövt gerieten der früher zentrale
Sedanplatz und ein Teil der Gerhard-RohlfsStraße in eine Randlage. Um Geschäftsleerstände und eine verringerte Attraktivität
traditioneller Einkaufslagen zu kompensieren,
wurden aufwendige investive Maßnahmen
durchgeführt – nicht immer mit dem erhofften Erfolg (Beispiele: ›Blaue Welle‹, Markthalle).
Im Frühjahr 2012 meldete der Betreiber des
Einkaufszentrums Haven Höövt Insolvenz an.
Laut Berichterstattung der Medien liefen die
Geschäfte seit sechs Jahren immer schlechter.
Zehn Prozent der Verkaufsfläche seien unvermietet. Wegen der schwierigen Lage im Nordbremer Einzelhandel müssten Zugeständnisse
bei den Mieten gemacht werden (Radio Bremen, 29.5.2012). Hinzu kommt, dass Einkaufszentren aufgrund ihrer baulichen Qualität
und Substanz eine relativ geringe ›Halbwertszeit‹ haben: Nach zehn bis 15 Jahren stehen sie
zur kostspieligen Runderneuerung an. Auch
wenn neue Einkaufszentren zunächst einen
Imagegewinn bedeuten können: Wenn Kaufkraft und Besucherzahlen überinterpretiert
werden, verkehrt sich dieser Effekt schnell ins
Gegenteil.
Tourismus
Zweifellos bietet Bremen-Nord ein touristisches
Potenzial für Bremen-Besucher. In den vergangenen Jahren stieg auch die Zahl der Übernachtungsgäste. Doch sollte man auch hier die
Bedeutung nicht überschätzen. Rund 67.000
Gästeübernachtungen jährlich stellen nur
rund vier Prozent aller Gästeübernachtungen
in der Stadt Bremen dar. Seit 2007 nahm die
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Gastronomie und im Hotelgewerbe immerhin von rund 400 auf 450 zu.
Dennoch scheinen die Erwartungen an den
Tages- und Städtetourismus bisher eher zu
hoch gewesen zu sein. Bereits Anfang Dezember 2011 musste die Bremer Bootsbau Vegesack
gGmbH Insolvenz anmelden, die als Beschäftigungsträger das ›Schaufenster Bootsbau‹ an
der sogenannten Maritimen Meile betrieb.
Damit endete ein Experiment, das unter anderem aus einem Bootsbauplatz, -hallen und
-lehrpfad sowie einer ›Kinderwerft‹ bestand.
Im März 2011 eröffnete in einem alten Speicher das Schiffbaumuseum Spicarium. Im Juni
2012 stellte sich auch seine Lage als kritisch
heraus. Das Museum war mit einer Zahl von
jährlich 30.000 Besuchern geplant, die im
ersten Betriebsjahr aber nicht erreicht wurde.
142
B ER IC H T ZU R L AGE 2013
Realistisch müsse nun von einem Drittel dieser
Zielgröße ausgegangen werden.
Wirtschaftssenator Martin Günthner verwies zu Recht in einem Pressegespräch darauf
hin, dass Bremen-Nord trotz aller Vorzüge und
Sehenswürdigkeiten für den Städtetourismus
ein ›Nischenprodukt‹ ist.
Es wäre gerade deswegen allerdings sinnvoll, in der Bremen-Werbung – stadtintern und
nach außen – kulturelle Events und andere
Angebote stärker als in der Vergangenheit in
den Mittelpunkt zu rücken. Zumal die Tourismus- und Kulturförderung zum Beispiel in
Bezug auf die Überseestadt konkurrierende
Strukturen aufgebaut hat und maritime
Erlebniswelten eher Bremerhaven zugeordnet
werden.
Einen wichtigen Baustein für das Tourismus-Konzept stellt die Öffnung des Bunkers
Valentin für die Öffentlichkeit und Schaffung
einer Dauerausstellung dar. Richtig erscheinen
auch Überlegungen, den Fahrradtourismus zu
fördern – der Weserradweg verläuft bisher auf
der niedersächsischen Seite der Weser, könnte
aber auch über das Blockland, an der Wümme
und Lesum bis nach Vegesack geführt werden.
Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹
Das Gewerbegebiet ›Bremer Vulkan‹ wurde im
vergangenen Jahrzehnt erfolgreich umstrukturiert, wobei sich auch neue Betriebe ansiedelten. Problematisch erscheint, dass mit der
Ansiedlung eines Unternehmens der Automobillogistik große Bereiche als Stellflächen
dienen, die für hochwertige Nutzungen nicht
mehr zur Verfügung stehen. Hier sollte nach
Möglichkeiten gesucht werden, den Flächenverbrauch zu reduzieren (zum Beispiel durch
den Bau von Parkhäusern).
BWK-Gelände
Seit die benachbarte Bremer Woll-Kämmerei
(BWK) nach über hundertjährigem Bestand
im Jahr 2009 den Betrieb einstellen musste,
müssen konkrete Vorstellungen zur zukünftigen Nutzung des 25 Hektar großen Geländes
entwickelt werden. Ein zunächst von der
Umwelt- und Baubehörde vorgelegter städtebaulicher Entwurf orientierte sich vornehmlich an gestalterischen Überlegungen. Die
Arbeitnehmerkammer Bremen hat in ihren
früheren Stellungnahmen angemahnt, ein
konkretes Nutzungskonzept voranzustellen,
was auf der Ebene der Bauleitplanung geschehen muss. Mittlerweile ist die Erschließung
des Geländes zu einem Drittel erfolgt, der Rest
ist in Planung. Die öffentliche Hand finanziert
diese Erschließung sowie die Ertüchtigung
vorhandener Infrastruktur und Gebäude mit
insgesamt 15 Millionen Euro. Beim Nutzungskonzept geht es allerdings um eine grundsätzliche Entscheidung: Das Gelände bietet für
die Ansiedlung von Gewerbe- und Industriebetrieben große Potenziale. Durch die Nähe zum
Gewerbegebiet Bremer Vulkan, das über keine
Erweiterungskapazitäten mehr verfügt, und
mit seiner Lage am Seeschifffahrtsweg Weser
ergeben sich hier hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für gewerbliche Nutzungen als auch Dienstleistungen. Das Gebiet
sollte daher nach den verschiedenen Nutzungsarten (Industrie, Gewerbebetriebe aller Art,
Geschäfts- und Bürogebäude) gegliedert entwickelt werden. Um den Vorteil der Lage am
Schifffahrtsweg Weser zu nutzen, sollten
die Infrastruktur modernisiert und Umschlaganlagen geschaffen werden.
143
SOZIALES STADTENTWICKLUNG
Das Gewerbeentwicklungsprogramm 2020
stuft das BWK-Gelände als prioritäres Projekt
mit dem Standortprofil ›produzierendes, insbesondere verarbeitendes Gewerbe sowie Dienstleistungen‹ ein, das besondere Perspektiven
für Ansiedlungen im Bereich der Windenergiebranche, des Maschinen- und Anlagenbaus,
Logistik sowie für Dienstleistungen bietet. Im
Rahmen der ›Integrierten Landesstrategie zur
Entwicklung der Innovationscluster Luft- und
Raumfahrt, Windenergie und Maritime Wirtschaft/Logistik‹ soll geprüft werden, ob das
Gebiet – auch wegen seiner unmittelbaren
Lage an der Weser – für die Ansiedlung von
Unternehmen und Zulieferern der Onshoreund Offshore-Windenergiebranche geeignet
ist. Aus Sicht der Arbeitnehmerkammer ist
eine bauliche und ansiedlungspolitische Profilierung des Gebietes zentral. Eine hauptsächlich auf emissionsintensive industrielle Nutzungen zielende Entwicklung erscheint wegen
einzuhaltender Grenzwerte – es schließen
Wohngebiete unmittelbar an das Gelände an –
schwierig. Zudem stehen hierfür im Bremer
Industriepark nicht weit vom BWK-Gelände
entfernt ebenfalls Flächen zur Verfügung.
Bremer Industriepark
Die Flächen des an Bremen-Nord angrenzenden Bremer Industrieparks ließen sich in den
Anfangsjahren nur sehr langsam vermarkten.
Grund dafür war auch das Überangebot an vermarktbaren Gewerbeflächen in zum Teil logistisch attraktiverer Lage, das durch eine extensive Gewerbeflächenpolitik bis 2007 entstanden
war. Erst in den vergangenen Jahren konnten
verstärkt Ansiedlungserfolge verbucht werden.
Untersuchungen gehen davon aus, dass sich
die Vermarktung der Gewerbeflächen mit der
Herstellung des Wesertunnels der A 281, der
für den Lückenschluss der Autobahnquerverbindung zwischen der A1 und A 27 sorgen
wird, entscheidend verbessern wird.
Farge West und Steindamm
Problematisch bleibt die Situation im Gewerbegebiet Farge-West, das erheblich durch Mängel
der Baustruktur und Leerstände geprägt ist.
Zu Recht erwartet die örtliche Politik eine
Konzeption zur städtebaulichen Aufwertung
und Maßnahmen zur besseren Vermarktung
der Flächen.
Richtig war die Entscheidung, auf die bislang geplante Erweiterung des Gewerbegebiets
Steindamm zu verzichten, das in den vergangenen Jahren nur wenig adäquate Nutzungen an
sich zog. Das Gewerbegebiet liegt im Übrigen
nur wenige Kilometer vom Bremer Industriepark entfernt, auf dem noch beträchtliche
Flächen für Ansiedlungen zur Verfügung
stehen. Zudem lag die Erweiterungsfläche im
Hochwasserschutzgebiet.
Lesum Park
Mit dem ›Lesum Park‹ (früher ›Gesundheitspark Friedehorst‹) sollen auf einem an das
Gelände der Stiftung Friedehorst angrenzenden, rund sieben Hektar großen Gebiet Nutzungen aus den Bereichen Gesundheitswirtschaft und Bildung im Vordergrund stehen.
Rund ein Drittel der Fläche wird für Wohnen
allgemein und betreutes Wohnen vorgehalten.
Nach seiner Fertigstellung sollen rund 400
Beschäftigte im ›Gesundheitspark‹ arbeiten.
Mit dem Bau soll 2013 begonnen werden.
Obwohl gerade die Gesundheitsbranche langfristig betrachtet Wachstumsmöglichkeiten
bietet, muss auch auf kritische Entwicklungen
hingewiesen werden. So geriet die Stiftung
Friedehorst im Herbst 2012 durch die problematische Situation des Berufsförderungswerks
in eine kritische wirtschaftliche Lage. Und
die Pflegebranche klagt über eine schlechte
Ertragssituation und Unterauslastung der stationären Einrichtungen. Dennoch erscheint
ein Dienstleistungsschwerpunkt ›Gesundheits-
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B ER IC H T ZU R L AGE 2013
wirtschaft‹ in Bremen-Nord – womöglich unter
Einbeziehung des Klinikums Bremen-Nord
und den entsprechenden Studiengängen an
der Universität Bremen – sinnvoll.
Innovations- und Technologieförderung
Mit dem ›Science Park‹ soll ein Technologieund Gründerzentrum in Nachbarschaft der
Jacobs University geschaffen werden, das mit
den Forschungseinrichtungen der Universität
kooperiert. Gefördert werden soll die Gründung von ›Spin-off-Unternehmen‹ durch Wissenschaftler der Universität, die Ergebnisse
ihrer Forschungen kommerziell verwerten
wollen.
Im ausgebauten Zustand soll der Science
Park 600 Beschäftigte haben. Doch die Umsetzung der bereits vor einem Jahrzehnt aufgenommenen Planung lässt auf sich warten. Die
Zernike Group, ein niederländisches Unternehmen, hatte die Fertigstellung ursprünglich
schon für das Jahr 2009 angekündigt. Befürchtungen, dass sich die Umsetzung des Projekts
Science Park noch weiter verzögert, werden
gegenwärtig dadurch verstärkt, dass die Jacobs
University in eine finanzielle Schieflage geraten ist, die von der Bremer Landesregierung
vorläufig abgefedert wurde.
Undeutlich blieb bis zum Jahreswechsel
auch immer noch, welches aussagefähige
inhaltliche Konzept dem Science Park zugrunde liegen soll. So ist unklar, welche technologischen und Branchenschwerpunkte den Technologiepark im Bremer Norden prägen sollen
beziehungsweise aus welchen Forschungsbereichen der Universität Unternehmensgründungen (›Spin-offs‹) beabsichtigt sind.
Forderungen, die nach dem Abspringen des
privaten Investors die öffentliche Hand in die
Pflicht nehmen wollen, sind aus Sicht der
Kammer mit Zurückhaltung zu behandeln. Ein
Abstellen des Science Parks auf den Erfolg und
die aktuellen Forschungsschwerpunkte der
Jacobs University ist zum jetzigen Zeitpunkt
gewagt. Zur Förderung von Innovationen und
von Forschungs-Transfer in Bremen-Nord sollten auch die Universität Bremen und die Hochschule in die Aktivitäten einbezogen werden.
Dabei muss es vorrangig darum gehen, örtlich
schon vorhandene Netzwerke von Hochschule
und Betrieb stärker zu fördern und auszubauen, die für die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts relevant sind. So besteht in der Fachrichtung Schiffbau und Meerestechnik der
Hochschule Bremen seit Langem ein Praxisverbund, in den auch die Unternehmen aus
Bremen-Nord eingebunden sind und eine wichtige Rolle spielen. Darauf aufbauend könnte
die Hochschule bei geeigneter Förderung
den Transfer von Forschungsergebnissen und
Praxisentwicklungen übernehmen. In den
Bereichen Schiffbau und Nautik gehört die
Hochschule Bremen zu den wichtigsten
Bildungseinrichtungen an der Nordsee. Auch
im Bereich der maritimen Fertigungstechnologien besteht eine Vielzahl von Arbeitszusammenhängen mit Unternehmen. Diese erstrecken sich auf die Koordination und Begleitung studentischer Praktika, die Durchführung anwendungsorientierter Forschungsprojekte, den Transfer von Forschungsergebnissen in Betriebe sowie umgekehrt auf die
Vermittlung aktueller Entwicklungen der Technologieanwendung im Studium.
Eine Kammer für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Land Bremen
B E R I C H T Z U R L AG E 2 013
❚ Die Arbeitnehmerkammer Bremen vertritt als Körperschaft
des öffentlichen Rechts die Interessen der Beschäftigten.
❚ Mitglieder der Arbeitnehmerkammer sind – so bestimmt es
das ›Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen‹
– alle im Bundesland Bremen abhängig Beschäftigten (mit
Ausnahme der Beamten). Zurzeit sind dies rund 291.000
im Land Bremen hatten, sind Mitglieder der Arbeitnehmerkammer.
❚ Neben einer umfassenden Rechtsberatung bietet die Arbeit-
nehmerkammer ihren Mitgliedern zahlreiche Informationen
zu den Themen Wirtschaft, Arbeit, Bildung und Kultur.
❚ Darüber hinaus berät sie Betriebs- und Personalräte sowie
die Politik und öffentliche Verwaltung im Land Bremen.
❚ Die berufliche Weiterbildung übernimmt die Wirtschafts-
und Sozialakademie (wisoak).
❚ Zusätzlichen Service und Vergünstigungen gibt es mit der
KammerCard, die jedes Mitglied auf Wunsch kostenlos erhält.
w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e
BERICHT 2013 // Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Land Bremen
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und knapp 70.500
Minijobber. Auch Arbeitslose, die zuletzt ihren Arbeitsplatz
Bericht zur Lage der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
im Land Bremen
w w w. a r b e i t n e h m e r k a m m e r. d e
Arbeitnehmerkammer
Bremen
Arbeitnehmerkammer
Bremen

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