Walther von der Vogelweide, muget ir schouwen waz dem meien

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Walther von der Vogelweide, muget ir schouwen waz dem meien
Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
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Jeden zweiten Mittwoch im Monat präsentiert Lyrikmail in Zusammenarbeit mit Dr. Martin
Schuhmann (Universität Frankfurt/Main) Texte aus dem Mittelalter in Original und Übersetzung.
Martin Schuhmann freut sich auf Ihr Feedback: [email protected];
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-----------------------------Lyrikmail Nr. 2425, 11.05.2011
-----------------------------Walther von der Vogelweide: „muget ir schouwen waz dem meien wunders ist beschert?“ – „Könnt
Ihr sehen, was dem Mai an Wundern beschert worden ist?“ (Übersetzung folgt nach dem Original)
(I)
Muget ir schouwen waz dem meien
wunders ist beschert?
seht an pfaffen, seht an leien,
wie daz allez vert.
grôz ist sîn gewalt:
ine weiz obe er zouber künne:
swar er vert in sîner wünne,
dân ist niemen alt.
(I)
Könnt Ihr sehen, was dem Mai
an Wundern beschert worden ist?
Seht die Geistlichen, seht die normalen Leute,
wie das [jetzt] alles herum zieht!
Groß ist seine Macht –
Ich weiß nicht, ob er zaubern kann:
Wohin er auch zieht in seiner Pracht,
dort ist niemand alt.
(II)
Uns wil schiere wol gelingen.
wir suln sîn gemeit,
tanzen, lachen unde singen,
âne dörperheit.
wê wer wære unfrô?
sît die vogele alsô schône
singent in ir besten dône,
tuon wir ouch alsô!
(II)
Bald wird es uns gut glücken!
Wir sollen fröhlich sein,
tanzen, lachen und singen,
ohne uns dabei schlecht zu benehmen.
Ach, wer wäre [denn da] traurig?
Da die Vögel so schön
in ihren besten Melodien singen
machen wir das auch genau so!
(III)
Wol dir, meie, wie dû scheidest
allez âne haz!
wie dû walt und ouwe kleidest,
und die heide baz!
diu hât varwe mê.
„dû bist kurzer, ich bin langer“,
alsô strîtents ûf dem anger,
bluomen unde klê.
(III)
Ein Hoch auf dich, Mai, wie du alles
in Wohlgefallen auflöst!
Wie du den Wald und das Flusstal [neu] kleidest
und erst recht die Wiese!
Die leuchtet noch mehr!
„Du bist kleiner als ich, ich bin länger!“,
so streiten sie sich auf der Weide,
die Blumen und der Klee.
(IV)
Rôter munt, wie dû dich swachest!
lâ dîn lachen sîn.
scham dich daz dû mich an lachest
nâch dem schaden mîn.
ist daz wol getân?
owê sô verlorner stunde,
sol von minneclîchem munde
solch unminne ergân!
(IV)
[Du,] Roter Mund – wie unhöfisch du handelst!
Lass Dein Lachen sein,
schäm Dich, dass Du mich anlachst,
um mir zu schaden.
Ist das gut gehandelt?
Geklagt sei die verlorne Stunde,
wenn aus lieblichem Mund
solch Dinge kommen, die mit Liebe nichts zu tun
haben!
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Mittelalterliche Texte in der Lyrikmail – (c) Dr. Martin Schuhmann, Frankfurt
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(V)
Daz mich, frouwe, an fröiden irret,
daz ist iuwer lîp.
an iu einer ez mir wirret,
ungenaedic wîp.
wâ nemt ir den muot?
ir sît doch genâden rîche:
tuot ir mir ungnaedeclîche,
sô sît ir niht guot.
(V)
Was mich, Herrin, von der Freude abbringt,
das seid Ihr.
Euretwegen allein bin ich in Not,
ungnädige Frau.
Woher habt Ihr das nur?
Ihr seid doch [sonst] so voll der Gnade.
Wenn Ihr mich nicht gnädig aufnehmt,
dann seid Ihr nicht edel.
(VI)
Scheidet, frouwe, mich von sorgen,
liebet mir die zît:
oder ich muoz an fröiden borgen.
daz ir sælic sît!
muget ir umbe sehen?
sich fröit al diu welt gemeine:
möhte mir von iu ein kleine
fröidelîn geschehen!
(VI)
Löse mich, Herrin, von den Sorgen,
versüße mir die Zeit:
Oder ich muss mir die Freude [woanders]
borgen. / Möge es Euch im Himmel gut ergehen!
Könnt ihr Euch umsehen?
Es freut sich die ganze Welt!
Könnte mir von Euch ein kleines
Freudelein geschehen!
-------------------------------------------------Der Text des Originals entspricht dem der schönen Minnesangausgabe (mit Übersetzungen und
Bildern der Manessischen Handschrift), herausgegeben von Max Wehrli, Deutsche Lyrik des
Mittelalters, Manesse Verlag, Zürich. Das Lied trägt die Nummer 91. Wissenschaftliche Notation
L[achmann] 51,13. Übersetzung: Martin Schuhmann.
------------------------------------------------------Wenn Minnesänger Jahreszeiten in ihre Lieder aufnehmen, dann geschieht das nie allein um der
jahreszeitlichen Stimmung willen – erst recht nicht, wenn der Minnesänger Walther von der
Vogelweide heißt und wir es damit mit den raffiniertesten deutschsprachigen Lyriker des Mittelalters
zu tun haben (angenommene Schaffenszeit ca. 1195 – 1240).
Tatsächlich sieht es zuerst so aus, als sei dieses Lied ein reines Freudenlied, das sich in der
Naturschilderung genügt: Alles ist durch den Mai neu, alle eifern den Vögeln nach und singen schöne,
glückliche Lieder. Das hält aber nur drei Strophen an. Strophe 4 ändert den Ton und erhebt eine
vorwurfsvolle Minneklage: Der Sänger werde nur angelacht, um unglücklich gemacht zu werden.
Strophe 5 erweitert den Vorwurf um Ungnädigkeit und Hartherzigkeit. Strophe 6 bittet dann noch
einmal direkt um Gnade – und diese Strophe schließt den Kreis und erklärt, wozu die Naturbilder
eigentlich da waren: Die Dame soll den Sänger so von Sorgen „scheiden“ (Strophe 6,1), wie es der
Mai mit allen Dingen tut (Strophe 3,1). Selig im Himmel kann sie ja werden (6,4); aber sie soll sich
hier in dieser Welt umsehen (6,5), wie schon in Strophe 1,1 gefordert - und erst jetzt versteht man,
dass dieses Lied von Anfang als Aufforderung an nur an eine Person verstanden werden sollte: An die
hartherzige Herrin, die sich ähnlich zauberisch (er-)lösend wie der Mai verhalten soll. Der Mai macht
alle glücklich; dem Dichter reichte es aber, wenn er von der Dame ein winzig kleine Freude bekäme...
Im romanisch beeinflussten Minnesang vor Walther rechnen es sich die Sänger meist als eigene
Schuld an, wenn sie nicht erhört werden; und eigentlich wollen sie auch nicht so recht erhört
werden, weil es den Wert der Dame schmälern würde, und dann würde es sich ja nicht mehr lohnen,
um die Dame zu werben. Walter dagegen führt in diesem Leid eine zwar existentielle, aber nichts
desto trotz heitere Klage, die weiter auf Erlösung hofft. Heiterkeit (auch heitere Klagen, wenn Sie
schon klagen müssen), und Hoffnung auf Erlösung – das wünschen wir auch Ihnen im Mai.
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