Zum Bubentraum bitte umsteigen!

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Zum Bubentraum bitte umsteigen!
thema
Zum Bubentraum
bitte umsteigen!
Zweitausbildung Ob zu Recht oder zu Unrecht, Lokführer gilt
noch immer als Traumberuf. Sicher ist, die Ausbildungsstellen
sind heiss begehrt. Vor allem bei Umsteigern.
Text Stephan Dietrich
Fotos Ramon Bachmann und Nicole Glaser
Hauptbahnhof Bern. 12.27 Uhr – eine Minute
später als im Fahrplan vorgesehen – setzt sich der
Schnellzug D 2234 Richtung Biel in Bewegung. Im
Führerstand Simone Häubi. Langsam schiebt sie den
Hebel nach vorn, der 360-Tonnen-Doppelstockzug
gewinnt an Fahrt, verlässt den Bahnhof und überquert
die Aarebrücke.
Mit im Führerstand ist Samuel Rudolf, Cheflokführer des Depots Bern, denn die junge Frau ist noch in
Ausbildung. Das Gefühl, vorne in der Lok zu stehen,
kennt sie allerdings von früher. Schon ihr Vater war
Lokführer und nahm sie schon zu Fahrten mit, heute
würden das die Vorschriften untersagen. Selbstverständlich gab es im Bähnlerelternhaus auch eine Modelleisenbahn, gespielt hat sie allerdings nicht damit. Ihr
Bruder hat es ihr verboten. Die Idee, selbst einmal Lokführerin zu werden, war kein Mädchentraum.
Zuerst hat Simone Stettler, wie sie vor der Heirat geheissen hat, eine Lehre als Mechanikerin gemacht,
später eine Zeit lang im Büro gearbeitet. Nach der Geburt
ihrer Tochter hat sie den bezahlten Beruf an den Nagel
gehängt und sich um Haushalt und Familie gekümmert.
Jetzt, wo ihre Kinder mit zehn und elf Jahren schon
grösser sind, wollte sie einen Neuanfang wagen. Familiär
bedingt hatte sie zur Eisenbahn schon immer eine enge
Beziehung, eher zufällig ist sie dann auf den Lokführerkurs gestossen.
Die traditionell von Männern dominierten SBB
wollen den Frauenanteil gezielt erhöhen, auch bei den
Lokführern, respektive Lokführerinnen. «Traumjob Lokführerin», heisst es auf der SBB-Homepage. «Familiäre
Pflichten und Freizeitgestaltung werden so flexibler und
vielfältiger», mit solchen Worten versucht das SBB-Personalmarketing die Vorteile der unregelmässigen
Arbeitszeit zu versüssen. Die familiären Pflichten werden zwar nicht flexibler, wenn man um vier Uhr früh zur
Arbeit muss oder erst nach Mitternacht nach Hause
zurück kommt, doch Simone Häubi hat Glück. Sie hat
mit ihrem Ehemann einen hundertprozentigen Rollen-
tausch vollzogen. Er bleibt zu Hause, während sie auf
Strecke geht.
Beim Homepagetext für angehende männliche
Lokführer fehlt übrigens der Hinweis auf die familiären
Pflichten. Die SBB gehen offenbar immer noch davon
aus, dass der Haushalt primär Frauensache ist.
Ihre Ausbildung absolviert Häubi zusammen mit elf
Männern. Für sie ist es kein Problem, sie fühlt sich von
ihren männlichen Kollegen akzeptiert. Um die Hemmschwelle für Frauen abzubauen, führen die SBB in
Biel aber einen speziellen Ausbildungskurs nur für
Frauen durch. Bis sie – rein von der Zahl her – aufgeholt
haben, dürfte es dauern. Unter den 2360 Lokführerinnen
und -führer sind gerade elf weiblichen Geschlechts.
Floristin, Pianist
oder Geschichtsprofessor
Nach einem längeren Unterbruch bilden die SBB seit
einigen Jahren wieder 60 bis 80 Lokführer jährlich aus.
900 haben sich letztes Jahr für den Traumjob beworben.
Grundbedingung ist eine abgeschlossene Berufslehre
oder die Matur. Maturanden hat es unter den Anwärtern
allerdings nur wenige. Lokführer ist eine Zweitausbildung, das Durchschnittsalter liegt bei knapp über 30
Jahren. Unter den Bewerbern finden sich vom Pianisten
über den Landschaftsgärtner, den Goldschmied, die
Floristin, den Piloten bis hin zum Geschichtsprofessor
die unterschiedlichsten Berufe. «Es hat immer noch
solche darunter, die sich ihren Bubentraum erfüllen,
aber sie bilden eher die Ausnahme», beobachtet Peter
Fankhauser, Leiter Zugführung der Filiale Bern.
Zu ihnen gehört Claudio Realini aus Muttenz. Dass
er an der «Neuen Bahnhofstrasse» wohnt, ist Zufall, doch
die Eisenbahn und der Lokführerberuf haben ihn schon
immer fasziniert. Doch früher war für die Ausbildung
zum Lokführer eine Lehre im technisch-mechanischen
Bereich Vorbedingung. Realini hatte mit seiner kaufmännischen Ausbildung keine Chance. Später hat er
bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet und hat
dann zur Swissair respektive Swiss gewechselt, wo er als
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Flight Attendant und Instruktor tätig war. Nach all den
Turbulenzen hatte er von der Luftfahrt genug und wollte
er seine Karriere auf sicheren Geleisen fortsetzen. Ein
Grounding ist hier nicht zu befürchten. Die neue Aufgabe
fasziniert ihn. «Am Anfang ist es wie beim Autofahren: Ich
habe mich gefragt, wie ich das alles koordinieren soll,
doch mit der Zeit geht es einem in Fleisch und Blut über»,
so schildert er die ersten Erfahrungen als Lokpilot.
Anstrengendes Theorieund Vorschriftenpauken
14 bis 16 Monate dauert die «Zweitausbildung erster
Klasse», noch vor wenigen Jahren waren es vier Jahre.
Hauptgrund für diese Verkürzung: Um bei Störungen
kleinere Reparaturen selbst ausführen zu können, musste
ein Lokführer früher das Innenleben seiner Maschine
genau kennen. Bevor sie die Lizenz zum Lenken erhielten,
mussten die Aspiranten monatelang in der Werkstatt
arbeiten. Doch diese Zeiten sind vorbei. Bei modernen
Loks übernimmt der Bordcomputer die Diagnose und
hilft, falls möglich, bei der Behebung der Störung.
Simone Häubis Lieblingslok ist die 8300 PS starke
Lok Re 460, Laien besser bekannt als Lok 2000. Der HighTech-Führerstand ist klimatisiert und der Sitz lässt sich
flexibler einstellen als bei älteren Loktypen. Bei ihrer
Grösse von 1,58 m ist das nicht ganz unwichtig. Das
Totmannpedal erreicht sie so ohne Probleme. Es muss
regelmässig gedrückt werden, sonst leitet die Lok selbsttätig eine Schnellbremsung ein.
Fahren und manövrieren zu lernen sei relativ einfach,
bremsen und am richtigen Ort ruckfrei anhalten schon
etwas schwieriger, erklärt die angehende Lokpilotin. Viel
anstrengender sei das Pauken der ganzen Theorie und
der unzähligen Vorschriften. Am Ende ihrer Ausbildung
darf Häubi auch Güterzüge fahren. Wie lange, ist allerdings ungewiss, denn der SBB-Rayon Bern, bei dem sie
arbeitet, bildet eine Ausnahme. Im Rahmen der Divisionalisierung will die SBB-Führung auch beim Lokpersonal den Güter- klar vom Personenverkehr trennen.
Nicht nur Neuling Simone Häubi, sondern gerade Berufskollegen mit langjähriger Erfahrung befürchten,
dass ihre Arbeit dadurch monotoner werden könnte.
Pünktlich um 12.53 Uhr kommt der Zug in Biel an.
14 Minuten später geht es mit der gleichen Kombination
zurück nach Bern. Auf der Rückfahrt steigen etwas mehr
Passagiere zu als auf dem Hinweg, besondere Ereignisse
sind keine zu verzeichnen. Maximal 125 km/h sind zwischen Bern und Biel erlaubt. Simone Häubi fährt zwar
auch gerne schnelle Non-Stop-Intercity-Züge, doch hohe
Geschwindigkeiten üben auf sie keinen besonderen Reiz
aus. Einmal im Führerstand eines TGV oder ICE mit
Am Stammtisch
für Lokführer
Bahnhof SBB in Basel, Osttrakt beim Stumpengeleise 1. «Restaurant Personenbahnhof managed
by SV» steht neben einer alten Tür. Im Treppenhaus
Schaukästen verschiedener Eisenbahner-Freizeitvereinigungen – von den Briefmarkensammlern
über die Amateurfotografen bis hin zu den Anhängern des Esperantos.
Das Restaurant im 1. Stock ist öffentlich, doch hier verpflegen sich neben Angestellten der Post vor allem Mitarbeitende der verschiedenen Bahnbetriebe. An der
Wand hängen Fotos und Drucke von Lokomotiven, von
der ersten Dampflok bis zur neusten Re 460. Über der
Selbstbedienungstheke starrt etwas deplatziert ein
ausgestopfter Hirschkopf auf die Kantine.
Theo Widmer hat sein Mittagessen gerade beendet.
Mit elegantem Hemd, Krawatte und gepflegtem Bart hat
der 56-Jährige nichts mit dem alten Klischeebild des
Lokführers im gestreiften «Übergwändli» gemeinsam.
Widmer ist Lokführer mit Leib und Seele. «Mich hat die
Eisenbahn schon im Vorschulalter fasziniert, diese
Kombination von Kraft, Eleganz und Technik», versucht
er die früh erwachte Leidenschaft zu beschreiben.
Zielgerichtet hat er seinen Bubentraum in die Tat umgesetzt. Zuerst hat er eine Lehre als Elektromechaniker,
anschliessend die Ausbildung als Lokführer absolviert.
Seit 34 Jahren ist er auf Schweizer Schienen unterwegs,
langweilig werde es ihm auch heute nicht. Am liebsten
fährt er weite Strecken, bis Genf oder über den Gotthard.
Im Vergleich zu früher sei der Dienst strenger geworden,
er müsse mehr am Wochenende arbeiten. Trotzdem:
Seinen Beruf gegen einen anderen eintauschen möchte
er auf keinen Fall.
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300 km/h über (ausländische) Geleise zu flitzen, ist nicht
ihr Traumziel.
Ganz anders Philippe Neuenschwander aus Basel. Er
freut sich schon heute darauf, einmal einen Zug mit
Tempo 200 auf der Neubaustrecke zwischen Rothrist
und Mattstetten zu pilotieren. Vorläufig geht es bei ihm
noch gemächlicher zu. Mit einer Rangierlokomotive hat
er eben seine erste selbständige Fahrt hinter sich. «Irgendwie ist es wunderbares Gefühl, alleine mit einer
solchen Lok zu fahren», berichtet er euphorisch. Ursprünglich hat Neuenschwander Krankenpfleger gelernt, doch schon mit 26 Jahren wollte er etwas Neues,
ganz anderes machen. «Ich wollte eher etwas Technisches
lernen. Es musste nicht unbedingt Lokführer sein, das
war nie mein Bubentraum.» Entsprechend locker ist er
an die Prüfungen gegangen. Er hat bestanden, musste
aber mehrmals miterleben, wie für gescheiterte Kandidaten beinahe eine Welt zusammengebrochen ist.
Eine Million Kilometer
bis zur Pensionierung
«Bei ihnen verfügt der Lokführer noch über ein ganz anderes Prestige.»
Prestige hin oder her. Der gute Lohn während der
Ausbildungszeit war für Neuenschwander mit ein
Grund, Lokführer zu lernen. Zwischen 48 000 und knapp
60 000 Franken gibt es während der Lehrzeit, gleich nach
der Ausbildung sind es je 9000 Franken mehr. Der Maximallohn liegt bei 91 300 Franken, dazu kommt, wie bei den
obigen Beträgen, eine Ortszulage.
Genau nach Fahrplan fährt Simone Häubi um 13.34
Uhr den D 2252 im Bahnhof Bern ein. Samuel Rudolf
hatte an der Fahrt seiner Aspirantin nichts auszusetzen
oder zu korrigieren. Er ist zuversichtlich, dass sie die
restlichen Prüfungen bestehen wird. Simone Häubi freut
sich schon heute, wenn sie im Februar zum ersten Mal
einen Zug alleine fahren darf. Bis zu ihrer Pensionierung wird sie vermutlich über eine Million Kilometer
zurücklegen. Angst, dass es ihr dabei langweilig wird,
hat sie keine. «Je nach Jahreszeit und Wetter sieht eine
Strecke immer wieder anders aus.» Sie hat nicht vor,
nochmals den Beruf zu wechseln.
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Sein Umfeld hat unterschiedlich auf seine zweite Berufswahl reagiert. Gleichaltrige Kollegen und Freunde haben
sich eher gewundert und den Kopf geschüttelt, Anerkennung gab es von Leuten aus der Generation seiner Eltern:
Links
http://mct.sbb.ch/mct/jobs/jobs-zweitausbildungen.htm
http://mypage.bluewin.ch/bruno.laemmli/Lokfuehrer/LFGeschichte.htm
Nicht anders ergeht es dem 59-jährigen Andreas Bader,
der in der Zwischenzeit ebenfalls Platz genommen hat.
Auf dem Tisch thront eine Modelldampflok, «Lokführerstammtisch» steht darunter. Das Zugpersonal in Uniform und das Rangierpersonal mit seinen orangen
Warnwesten hat sich in anderen Teilen der Kantine zu
Gruppen formiert.
Lokführer war auch für Bader schon ein Bubentraum. Angezogen von «diesem direkten Gefühl von
Energie und Kraft» hat er bei der ehemaligen Lokfabrik
SLM in Winterthur eine Lehre als Dreher gemacht. «Ich
konnte etliche Teile einer Lokomotive selber fertigen»,
erzählt er nicht ohne Stolz. Doch seine Laufbahn hat er
zunächst als Baumaschinenmechaniker fortgesetzt. «Ich
habe früh geheiratet, wir hatten Kinder und in der Baumaschinenbranche hat man mehr verdient als bei den
SBB.» Bader hat sich kaufmännisch weitergebildet, stieg
zum Abteilungsleiter auf. Doch als die SBB für die Zürcher S-Bahn dringend Lokführer suchten und deshalb das
Alterslimit anhoben, hat er seinen Bubentraum wahr
gemacht und ist mit 45 doch noch Lokführer geworden
– und bereut es trotz Lohneinbusse bis heute nicht.
Von der Re 4/4 bis zur Lok 460, das sei natürlich schon
ein Quantensprung gewesen. Die modernen Loks seien
viel angenehmer zum Fahren, aber man sei viel abhängiger von der Computertechnik, meint er. «Früher konnte ich Störungen selber in den Griff bekommen, heute
muss ich höchstens noch den Resetbutton drücken.»
Ausser der Faszination für die Technik geniesst
Andreas Bader auch die Autonomie zwei Meter über den
Geleisen. «Wenn ich meine Arbeit recht mache – und das
mache ich eigentlich immer –, redet mir niemand drein,
da bin ich mein eigener Chef.»
Einsam fühlen sich Bader und Widmer während
ihrer Arbeit nicht. Trotzdem oder gerade deshalb
schätzen sie den Stammtisch, wo man gegenseitig Erfahrungen austauschen könne. Dass man in Pausen oder
nach der Arbeit gemeinsam jasst oder kegelt, komme
heute kaum noch vor, bedauert Widmer. Dafür seien
Stephan Dietrich
die Einsatzpläne zu streng.
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