Chronik Neu-Isenburgs - Hugenotten

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Chronik Neu-Isenburgs - Hugenotten
Chronik Neu-Isenburgs
Die Hugenotten
Neu-Isenburgs Gründungsgeschichte steht in engem Zusammenhang mit den
Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten im Frankreich des 16. und
17. Jahrhunderts. Die französischen Protestanten, genannt Hugenotten, sind
Anhänger der Lehre des Reformators Johannes Calvin. 1562 tobt der erste
Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten, dem sieben weitere folgen. Die
Kriege sind nicht rein religiös motiviert; dynastische und machtpolitische Gründe
spielen eine große Rolle. König Heinrich IV. stellt 1598 mit dem Edikt von Nantes,
das den Hugenotten beschränkte religiöse Freiheiten und Sicherheitsplätze im
südlichen Frankreich einräumt, den Religionsfrieden vorläufig her. Ludwig XIV. hebt
diese Freiheit 1685 wieder auf und verbietet das reformierte Bekenntnis. Diejenigen
Hugenotten, die sich nicht dem mit Gewalt durchgesetzten Gebot „Ein König, ein
Glaube, ein Gesetz“ unterwerfen wollen, flüchten in protestantische Nachbarländer
oder sie gingen in den Untergrund.
Flucht ins Ausland
Der Fluchtweg vieler südfranzösischer Hugenotten führt zunächst in die Schweiz.
Das kleine Land ist dem Flüchtlingsstrom jedoch bald nicht mehr gewachsen und
wendet sich Hilfe suchend an andere protestantische Länder. David de Calmelz, ein
Vermittler der Hugenotten in der Schweiz, spricht bei Graf Johann Philipp zu
Ysenburg und Büdingen vor.
Aufnahme der Flüchtlinge
Der Graf, selbst Angehöriger des reformierten Bekenntnisses, ist interessiert, den
Flüchtlingen zu helfen und weist den Hugenotten ein Siedlungsgebiet in seinem
Land zu. Er hofft auf den Zuzug von Handwerkern und Kaufleuten, die seine
Grafschaft wirtschaftlich modernisieren. Den Hugenotten werden der freie
Gebrauch ihrer französischen Muttersprache und die freie Ausübung ihrer
Konfession sowie weitere Privilegien eingeräumt.
Gründung Neu-Isenburgs
Am 24. Juli 1699 leisten 34 französische Familien im Offenbacher Schloss dem
Landesherrn den Treueeid. Graf Johann Philipp zu Ysenburg und Büdingen hat
ihnen an der Grenze zur Stadt Frankfurt Land gegeben, das Baumeister Andreas
Loeber unter den Siedlern aufteilt. Die Verteilung des Landes wird mit einem eigens
dafür geschaffenen Maß, dem „Isenburger Fuß“ durchgeführt. Der Grundriss des
Ortes Neu-Isenburg ist nach dem barocken Ideal geometrisch-sternförmig angelegt.
„Herr, es ist schön…“
Die erste Predigt im „welschen Dorf“, wie Neu-Isenburg in den umliegenden
Gemeinden genannt wird, findet am 20. Mai 1700, dem Himmelfahrtstag, statt. Eine
Kirche („Temple“) gibt es noch nicht, so predigt Pfarrer Bermond aus Offenbach
unter Bäumen. Dem Predigttext liegt das Schriftwort zugrunde: „Herr, es ist schön,
dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier … Hütten bauen.“ (Matth. 17,4b).
Der Graf gewährt den Siedlern Unterstützung beim Aufbau des Dorfes: Er schenkt
Holz zum Hausbau und später das Baumaterial für alle öffentlichen Gebäude.
1702 wird mit dem Bau einer einfachen Holzkirche begonnen, die, wie das
Pfarrhaus, 1707 vollendet werden kann. 1773-75 ersetzt ein Steinbau die Holzkirche.
Eine Erweiterung erfolgt 1908-09. Im Zweiten Weltkrieg wird die Kirche zerstört und
später wieder aufgebaut.
Das 1702 errichtete Rathaus wird bis 1871 benutzt, 1876 wegen Baufälligkeit
abgebrochen.
1704 folgt der Bau der Schule, in der bis zum Jahr 1834 die Kinder in ihrer
französischen Muttersprache unterrichtet werden. Das Gebäude geht zunächst in
Privatbesitz über, bis es 2010 die Stadt erwirbt, saniert und dort das „Infocafé“, eine
Einrichtung für Jugendliche, einrichtet.
Strumpfwirker und Bauern
Die Hugenotten, die sich in Neu-Isenburg niederlassen, haben mit vielen
Schwierigkeiten zu kämpfen. Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarorten,
Auseinandersetzungen um Weiderechte und Manipulationen mit Grenzsteinen
entfachen jahrelange Prozesse. Das Weiderecht im Frankfurter Wald wird den NeuIsenburgern durch Entscheidung des Reichskammergerichts 1731 endgültig
verwehrt. Da die Bauern in Neu-Isenburg auf Dauer kein Auskommen finden,
entwickelt sich die Gemeinde zu einer Handwerkersiedlung. Das typisch
hugenottische Handwerk der Strumpfwirkerei bringt den Aufschwung.
Deutsch-Französische Beziehungen
Die von wegziehenden Französisch-Reformierten aufgegebenen Wohnungen
werden von zuziehenden deutsch-lutherischen Einwohnern übernommen. Trotz der
anfänglich kühlen und bisweilen feindlichen Beziehungen zu den Calvinisten wächst
allmählich der deutsch-lutherische Bevölkerungsanteil. 1761 bestimmt der Graf, dass
in der Kirche abwechselnd Deutsch und Französisch gepredigt werden. Diese
Anordnung ruft zunächst große Erbitterung bei den Französisch-Reformierten hervor.
Doch mit der Zeit entwickeln die Einwohner eine gemeinsame Identität als NeuIsenburger. Nach der Neuordnung Deutschlands im Wiener Kongress fällt NeuIsenburg 1816 an das Großherzogtum Hessen und bei Rhein. 1829 löst Deutsch das
Französische als offizielle Amts- und Gottesdienstsprache ab.
Der Aufschwung
Die Festigung der politischen Verhältnisse führt zu wirtschaftlichem Aufschwung. Zu
den noch im Jahre 1841 in Neu-Isenburg tätigen 44 Strumpf- und Seidenwirkern
kommen neue Handwerker, Hasenhaarschneider, Portefeuiller, Schuster und
Möbelschreiner. Seit 1860 stellt die Neu-Isenburger Metzgerei Müller Frankfurter
Würstchen her, die bald den Weltmarkt erobern. Die meisten der Neu-Isenburger
Berufstätigen des ausgehenden 19. Jahrhundert sind Arbeiter, die täglich nach
Frankfurt pendeln. Seit 1889 verkehrt die mit Dampflokomotiven betriebene
Waldbahn nach Frankfurt. Sie wird 1929 von der „Elektrischen“ abgelöst. Mit dieser
günstigen Verkehrsanbindung bietet sich Neu-Isenburg als Arbeiterwohnsiedlung an.
Vom Dorf zur Stadt
Am 21. August 1894 besucht Großherzog Ernst Ludwig Neu-Isenburg und verleiht
der Gemeinde die Stadtrechte. 1899 verleiht der Großherzog der Gemeinde zum
200. Jahrestag der Ortsgründung das Stadtwappen. 1898/1899 werden in
Neu-Isenburg ein Wasser- und ein Elektrizitätswerk gebaut. Sie versorgen die
Haushalte mit Wasser und Strom und treiben in vielen Werkstätten die Maschinen
an. Damit ist der Grundstein für die Entwicklung der jungen Stadt zum
Industriestandort gelegt. Im Süden der Gemeinde entsteht ein Industriegebiet. Auf
Gasanschluss und Kanalisation müssen die Einwohner noch bis 1913 warten.
Das 20. Jahrhundert: Erster Weltkrieg
Bei einem Luftangriff auf Frankfurt im Ersten Weltkrieg verursachen am 2. Oktober
1917 Granaten der Luftabwehr Sachschäden im Alten Ort, in der Karlstraße und der
Friedensallee. Über 300 Soldaten aus Neu-Isenburg lassen an der Front ihr Leben.
Nach Kriegsende beherrschen Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot
den Alltag. Unter den geschwächten Menschen bricht 1919 eine Ruhrepidemie aus.
Der politische Umbruch vom Kaiserreich in die Weimarer Republik verläuft friedlich.
Die Stadt liegt in einer entmilitarisierten Zone. Der Main-Neckar-Bahnhof ist
französisch besetzt. Während des Ruhrkampfes 1923 hält man die Verbindung nach
Frankfurt über einen Notbahnhof aufrecht.
Das 20. Jahrhundert: Zweiter Weltkrieg
Am 7. März 1933 übernimmt die NSDAP die Macht auch im Neu-Isenburger
Rathaus. Während des Novemberpogroms 1938 zerstören nationalsozialistische
Gewalttäter die Häuser und Geschäfte jüdischer Neu-Isenburger und setzen das
Haupthaus des Heims des Jüdischen Frauenbundes in Brand. Im Zweiten Weltkrieg
erleidet Neu-Isenburg das Schicksal vieler deutscher Städte. Am 20. Dezember
1943 zerstört ein amerikanischer Bombenangriff die Reformierte Kirche und viele
Häuser im Alten Ort. Durch den Lebens- und Aufbauwillen der Einwohner entsteht
nach dem Zweiten Weltkrieg ein stabiles Gemeinwesen.