Mono- oder Koedukation?

Transcrição

Mono- oder Koedukation?
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell.
Barbara Roth
Abstract
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell.
Mono- or Co-education? And an alternative and efficient Hybrid.
Das Bildungsniveau der Mädchen und Frauen in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten
sehr positiv entwickelt. Es gelingt den Frauen in Deutschland aber kaum, ihre Bildungserfolge in
eine tatsächliche Teilhabegerechtigkeit an den entscheidenden Kreisen der Gesellschaft umzusetzen.
Macht wird vor allem in den Führungsgremien der Wirtschaft, der Politik und den Medien ausgeübt,
dort sind Frauen kaum vertreten. Offensichtlich führt die schulische Leistung alleine nicht zu einer
verbesserten Teilhabe für Frauen. Gerechtigkeitt für beide Geschlechter erfordert über gute
Bildungsabschlüsse hinaus, für Frauen auch die Fähigkeit, sich entgegen den Erwartungen des
Umfelds zu verhalten. Untersuchungen zeigen, dass Bildung in geschlechterhomogenen Gruppen
dazu führt, dass Mädchen und Frauen mit gesteigertem Selbstvertrauen, mehr Partizipation und
gesteigerter Bereitschaft, Neues auszuprobieren, sowie mit einer höheren
Selbstwirksamkeitserwartung in besserer Stimmung und mit besseren Leistungen in MINT1Fächern die Schule verlassen. Und dadurch vielleicht in der Zukunft mehr Teilhabe an den
Entscheidungsgremien erzielen. Single-sex-settings bieten genauso auch vieflältige Chancen für
Jungen.
Keywords:
Koedukation, Monoedukation, Mädchenschulen, Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit,
single-sex-setting, co-education, mono-education, single-sex-classes, gender, education policy.
Im Folgenden werden einige Ergebnisse zur deutschen und internationalen single-sex education
zusammengefasst und auf „Fallstricke“ der Dramatisierung von Geschlecht in
geschlechterhomogenen Gruppen und Schulen hingewiesen. Ein „Hybridmodell“ aus Mono- und
Koedukation bietet praktikable und wertvolle Chancen für viele Bildungseinrichtungen. Diese
Chancen eines alternativen und effizienten Hybridmodells werden beleuchtet und mit einzelnen
Kommentaren aus der schulischen Praxis in einem Gymnasium abgerundet. Beachtet man einige
Hinweise, lässt sich der Erfolg der single-sex education steigern und für das „Hybridmodell“ sind
die schulischen Rahmenbedingungen (am Beispiel Bayern) so, dass einer Umsetzung wenig bis
nichts im Wege steht.
1 MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 1 von 12
Mono- oder Koedukation? Das alternative, effiziente Hybridmodell
Koedukation ist inzwischen in Deutschland der Normalfall und die reine Mädchen- oder
Bubenschule2 die Ausnahme. In Bayern - als einzigem Bundesland in Deutschland - existiert nach
wie vor ein größeres Angebot an Mädchenschulen und einige Bubenschulen. Schon 2003 hat der
Landtag in Bayern beschlossen, dass insbesondere der naturwissenschaftliche und technische
Unterricht für Mädchen auch an koedukativen Schulen in geschlechterhomogenen Gruppen
unterrichtet werden sollte. Die Intention des Beschlusses des bayerischen Landtags war dabei, die
Teilhabegerechtigkeit der Geschlechter herzustellen, die schulische Leistung zu fördern und
stereotype Fächer- und Berufspräferenzen aufzuweichen (Lt-Drs. 14/11501). Inwieweit der
Beschluss in den Schulen umgesetzt wird, ist schwer nachvollziehbar.
Insgesamt hat sich das Bildungsniveau der Mädchen und Frauen in Deutschland seit den 50er
Jahren des letzten Jahrhunderts sehr positiv entwickelt. Mitte der 1960er Jahre betrachtete man das
„katholische Mädchen vom Lande“ als Problemfall des Bildungssystems. Heute noch weisen
Frauen in Deutschland in den älteren Bevölkerungsgruppen einen deutlich niedrigeren
Bildungsstand auf. In der Altersgruppe der 30- bis unter 35-Jährigen besitzen mit 42 Prozent mehr
als doppelt so viele Frauen einen Hochschulabschluss als in der Altersgruppe der 60- bis unter 65Jährigen (20 Prozent). Inzwischen hingegen erwerben Frauen häufiger einen Hochschulabschluss
als Männer (Nationaler Bildungsbericht 2012), wenn auch meist in einem traditionell
frauentypischen Bereich wie Sprach-, Kommunikations- oder Geisteswissenschaften. Genauere
Analysen legen den intersektionalen Blickwinkel an und kommen zu dem Ergebnis, dass aktuell
„protestantische Frauen aus dem Selbständigen- bzw. Freiberufler-Millieu in Städten sogar zu über
90 Prozent mindestens die Fachhochschule erreichen“ (Corsten 2011: 65).
Insgesamt gelingt es den Frauen in Deutschland bisher aber kaum, ihre Bildungserfolge in eine
tatsächliche Teilhabegerechtigkeit an den entscheidenden Kreisen der Gesellschaft umzusetzen.
Macht wird auch in Deutschland in den Führungsgremien der Wirtschaft, der Politik und den
Medien gesammelt und ausgeübt. Bei den Top 100 Unternehmen der Wirtschaft Deutschlands lag
im Jahr 2011 bei den Vorständen und Aufsichtsräten der Frauenanteil bei 2,4 Prozent (Holst / Busch
/ Kröger 2012: 95). In der Politik haben wir zwar eine Bundeskanzlerin, aber zum Beispiel vertreten
nur 13 Prozent Frauen die CSU-Fraktion im Bundestag (Legislaturperiode 2009 - 2013). Bezüglich
des Frauenanteils in den Medien in Führungspositionen hat sich die Gruppe „Pro Quote“ etabliert,
die regelmäßig Zahlen über den Anteil von Frauen an der Spitze der 16 wichtigsten deutschen
2 in Bayern ist Bubenschule der traditionelle und übliche Begriff für männlich-monoedukative Schulen
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 2 von 12
Redaktionen veröffentlicht. Dieser bewegt sich zwischen 9 Prozent bei der Süddeutschen Zeitung
und 50 Prozent bei der taz, wobei nur zwei Chefredakteurinnen vertreten sind (Pro Quote 2012).
Offensichtlich führt die schulische Leistung alleine nicht zu einer verbesserten
Teilhabegerechtigkeit für Frauen. Diverse (internationale) Studien legen nahe, dass Unterricht in
geschlechterhomogenen Gruppen eine Chance für die Entwicklung von Kompetenzen über die
schulische Leistungen hinaus bietet. Vorausgesetzt, dass die Zielrichtung das Aufweichen von
Stereotypen ist und nicht eine biologistisch dramatisierende Mädchen- oder Jungenbildung.
Eine Expertise, die sich besonders dem Mathematikunterricht und Geschlecht widmet, kommt zu
dem Ergebnis: „Obwohl die Fähigkeiten und das Interesse von Jungen und Mädchen beim
Schuleintritt noch dicht beieinander liegen, halten Lehrkräfte, Eltern, aber auch die Kinder selbst,
Jungen häufig für mathematisch begabter als Mädchen. Dies führt oftmals bei den Jungen nicht nur
zu größerem Interesse an Zahlen und Formeln, sondern auch zu besserer Motivation, stärkerem
Selbstbewusstsein, stabilerem Selbstkonzept und letztlich höheren Kompetenzen. Diese
Geschlechterstereotype gilt es bei allen Beteiligten aufzubrechen, um einerseits mehr
Chancengleichheit im Mathematikunterricht zu erreichen und um andererseits Mädchen in der
Ausbildung ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabungen zu stärken.“ (Budde 2009:
79).
Teilhabegerechtigkeit für beide Geschlechter erfordert über gute Bildungsabschlüsse hinaus auch
die Fähigkeit sich entgegen der Erwartungen des Umfelds zu verhalten, sich für Fächer zu
begeistern, die bisher als eher dem anderen Geschlecht liegend betrachtet wurden, sich für einen
unüblichen Weg zu entscheiden und diesen konsequent zu verfolgen.
Untersuchungen zeigen auf, dass Bildung in geschlechterhomogen Gruppen dazu führt, dass
Mädchen und Frauen mit gesteigertem Selbstvertrauen, mehr Partizipation und gesteigerter
Bereitschaft Neues auszuprobieren , sowie mit einer höheren Selbstwirksamkeitserwartung in
besserer Stimmung und mit besseren Leistungen in MINT3-Fächern die Schule verlassen und
dadurch vielleicht in der Zukunft mehr Teilhabe an den Entscheidungsgremien erzielen (HerwartzEmden 2007, Herwartz-Emden/Schurt/ Waburg 2007, 2010, Chadwell 2010, Emer 2010).
3 MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 3 von 12
Single-Sex Education – ein Blick in die Forschung
Ergebnisse aus Deutschland
Mehrere Veröffentlichungen in Deutschland weisen auf Vorteile von geschlechterhomogen
Unterricht hin Cornelißen 2004, 2009 u.a.). Die Schwerpunkte der Betrachtungen variieren,
beziehen sich mal mehr auf die Beobachtungen im Physikunterricht (Kessels) oder im
Mathematikunterricht (Budde) oder auf die Schulleistung insgesamt (Cornelißen) sowie die
Wirkung auf das Selbstbewusstsein und andere personale Fähigkeiten (HerwartzEmden/Schurt/Waburg). Die Ergebnisse fallen unterschiedlich stark aus, aber mehrheitlich wurde
Monoedukation besonders hinsichtlich eines gesteigerten Selbstkonzepts für Mädchen positiv
beurteilt. Bemerkenswertes zeigte sich auch zufällig im Rahmen einer Untersuchung zum
Studienverlauf von Frauen in den 1980er Jahren an der Universität Dortmund. Es zeigte sich, dass
35,5 Prozent der Informatikstudentinnen und 36,1 Prozent der Chemiestudentinnen eine reine
Mädchenschule besucht hatten, was um so erstaunlicher war, weil zu der Zeit in NordrheinWestfalen der Anteil an monoedukativen weiterführenden Schulen bei 5 Prozent lag (HerwartsEmden/Schurt/Waburg 2007: 43). Trotzdem ist die Resonanz in den Medien nach wie vor eher
negativ, was vielleicht auch auf den Ängsten vor einer Wiedereinführung der
geschlechterstereotypisierenden (Religions-)schulen basiert, was jedenfalls für Deutschland aber
unbegründet ist. Bei der derzeitigen Bildungslandschaft in Deutschland ist der differenzierte Blick
gegen den veröffentlichten Trend nur schwer zu kommunizieren: „Wenn Koedukation die Norm ist
und den gesellschaftlichen Fortschritt verkörpert, dann ist Monoedukation die Ausnahme und
Vorteile der Monoedukation sind quasi systemkritisch zu nennen“ (Herwartz-Emden/Schurt/Waburg
2007: 101)
Ergebnisse aus anderen Ländern
Viele Beispiele aus anderen Ländern weisen ebenso auf positive Effekte des geschlechtergetrennten
Unterrichts hin. Eine langfristige Studie in Australien über 18 Jahre zeigte eindeutig höhere Erfolge
in der Schule und im Berufsleben sowohl für Mädchen und Jungen, auch nach Bereinigung der
Studie um Vor-Faktoren wie Bildungsstand und Einkommen der Eltern (Woodward/
Fergusson/Horwood 1999). Die Young Women´s Leadership School in East Harlem in New York
fördert Mädchen seit 1997 sehr erfolgreich. Die Schülerinnen stammen zu 85 Prozent aus sozial
schwachen Zusammenhängen, bisher haben alle erfolgreich graduiert (Demmers/Benett 2007). Eine
Studie in den USA verglich 6552 Abgängerinnen von Mädchenschulen mit 14684 Abgänger/innen
von koedukativen Schulen und weist eindeutige Vorteile für die Mädchensschulen aus (more
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 4 von 12
academically oriented, more intellectually confident, more political engaged, more confident in
mathematical and computer skills, more likely to become engineers (Sax 2009: 62 )). Die
Auswertungen der Beobachtungen an amerikanischen single-sex schools für Kinder mit
sozialschwachen- oder Minderheiten-Eltern zeigten, dass sich die Chancen der Buben und Mädchen
im Verhältnis zu vergleichbaren koedukativen Schulen deutlich verbesserten (Hubbard/Datnow
2005).
Eine Untersuchung der Wirkung von geschlechterhomogenen Schulen in Süd Korea (im folgenden
Korea) ist insofern besonders interessant, als die High-School-Plätze unabhängig von der
Qualifikation oder den Wünschen der Eltern - at random - vergeben und verlost werden. Die Kinder
besuchen also absolut zufällig eine mono- oder koedukative Schule. Damit fallen die oft
angeführten Einwände weg, dass weniger die geschlechtshomogene Gruppe per se wirkte, sondern
vielmehr die reflektierten Eltern mit hohem Bildungsstand ihre Töchter in Mädchenschulen senden
würden und die Mädchen nur aufgrund der Unterstützung im Elternhaus erfolgreicher seien. Die
Untersuchung in Korea ergibt, dass Schülerinnen von single-sex schools bei den üblichen
Aufnahmeprüfungen an der Universität erfolgreicher waren als die Schülerinnen von koedukativen
Schulen, zudem absolvierten sie herausfordernde Studien. Sowohl Jungen wie Mädchen von
monoedukativen Schulen schnitten in Koreanisch und Englisch besser ab (Hyunjoon / Behrman /
Choi 2012).
In der Zusammenschau vieler Ergebnisse zeigen manche Studien keine fachtheoretische
Leistungssteigerung im Vergleich von Monoedukation zur Koedukation, aber nie eine
Verschlechterung der Leistung, wobei insgesamt eine Tendenz zu mehreren Vorteilen für die
Schülerinnen aufscheint. Schülerinnen zeigen eine gesteigerte Partizipation und Bereitschaft, neue
Lernstrategien auszuprobieren, es treten weniger Disziplinprobleme auf als in Klassen mit Jungen,
die Schülerinnen haben eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung, zeigen gesteigertes Interesse,
erbringen bessere Leistungen, insbesonders in MINT-Fächern, und sie fühlen sich wohler in der
Schule. In Deutschland liegen noch nicht viele Ergebnisse für die Auswirkungen von
geschlechtshomogenen Gruppen auf Jungen in Schulen vor. Böhmann (2006) berichtet von
positiven Ergebnissen im Literaturunterricht, wie zum Beispiel über eine höhere (emotionale)
Beteiligung der Buben.
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 5 von 12
Risiken des geschlechtergetrennten Unterrichts
Die Trennung der Geschlechter in der Schule birgt auch Risiken. Eine Studie aus dem United
Kingdom (U.K.) kommt zu einer erhöhten Scheidungsrate für Männer, die eine Jungenschule
besucht hatten, im Vergleich mit Abgängern von koedukativen Schulen (Leonhard 2007). Die
Scheidungsquoten-Stichprobe betrachtet die Abgänger von öffentlichen single-Sex schools für
Jungen in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in U.K.. Die Auswertung fand im
Erwachsenenalter der Männer von 42 Jahren und älter statt. Allerdings beschränkt sich dieses
Ergebnis auf die wenigen Schüler, die in den 1950er Jahren in U.K. öffentliche single-sex schools
besuchten. Damals besuchten nur 11 Prozent aller Schüler eine öffentliche single-sex
comprehensive school und davon wurde nur ein Teil im Rahmen der Studie betrachtet. 78 Prozent
aller monoedukativ unterrichteten Schüler besuchten private single-sex-Schulen. Bei den
Abgängern der privaten single-sex Schulen zeigte sich kein Effekt bei den erwachsenen Männern
hinsichtlich der Scheidungsrate im weiteren Lebensverlauf im Vergleich mit Männern, die eine
koedukative Schule besucht hatten. Fraglich bleibt dabei, ob die betrachteten single-sexcomprehensive schools in der Nachkriegszeit in England nicht eher stereotype Verhaltensmuster
verfestigten anstatt auf eine Reflektion der Männerrolle in der Gesellschaft zu achten.
Ein geschlechtergetrennter Unterricht, der sich dadurch auszeichnet, die stereotypen Muster
methodisch-didaktisch, inhaltlich und auch auf der Beziehungsebene zu zelebrieren, verstärkt die
biologistische Zuweisung von Stereotypen. Die Intention der Monoedukation kann sich ins
Gegenteil verkehren, wenn zum Beispiel „Mathe für Mädchen“ oder „Französisch für Buben“ die
Konnotation mit sich bringt, dass diese Maßnahmen nur nötig sind, weil die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer in Fächern beschult werden für die sie angeblich „von Natur aus“ nicht geeignet sind.
So entsteht eine Verstärkung von Geschlechterstereotypen und die Konnotation der
Minderwertigkeit aufgrund eines Geschlechts bleibt. Wenn Chemie für Mädchen zum chemisch
analytischen Backkurs auf niedrigem Leistungssniveau degeneriert und Französisch für Jungs eine
mangelhafte Aussprache als geschlechtertypisches Defizit akzeptiert, wird die jeweilige Leistung
und das Selbstwertgefühl bezogen und auf das Fach abgewertet. Werden über die
Geschlechtertrennung dominant ausgeprägte maskuline und weibliche Rollen als Vorbereitung auf
die Rolle der traditionellen Frau oder des traditionellen Mannes in einer reaktionären Gesellschaft
gefördert, dient das nicht dem Lebenserfolg und steht Verfassungs- und Bildungszielen entgegen
(vgl. Smyth 2010: 52).
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 6 von 12
Weiterentwicklung von Mono- und Koedukation - Chancen des „Hybridmodells“
Seit einigen Jahren bewegt die veröffentlichte Bildungsdiskussion immer wieder die „Jungen als
Bildungsverlierer“, also Jungen, die die Schule ohne oder mit schlechterem Abschluss als Mädchen
verlassen. Eine Studie über die schwache Schulleistung von Buben in mehreren Commonwealth
Staaten kommt zu dem Ergebnis, dass wesentlich für die Leistungssteigerung von Jungen
Bildungsprozesse sind, die die Kooperation und den Respekt im Umgang miteinander fördern und
Geschlechterstereotype hinterfragen (Jyotsna / Kelleher 2006: 59). Auch in Australien weisen
Ergebnisse in diese Richtung (Gibb / Fergusson / Horwood 2008). Nur eine „technische Teilung“ in
Jungen- und Mädchengruppen bzw. -schulen brachte zwar in mehreren Schulen auch Vorteile für
die Jungen in einigen aber nicht.
Schulen in Deutschland sind entgegen der angeblichen „Jungenkatastrophe“ durchaus auch
jungengerecht, insbesondere für Jungen, von denen zumindest ein Elternteil schon eine
Fachhochschul- oder Hochschulreife besitzt (Cornelißen 2009). Die Bildungserfolge differieren
bezüglich der Hochschulzugangsberechtigung nicht so stark, wie von den Medien suggeriert. Im
Jahr 2010/2011 waren 48,1 Prozent der Abiturienten in Deutschland männlichen Geschlechts. Nach
wie vor werden Jungen öfter als hochbegabt identifiziert, gehören häufiger zu den
Klassenüberspringern und profitieren ausgeprägter von spezifischen Begabungsfördermaßnahmen
in Deutschland (Koch-Priewe et al. 2008: 21).
Deutlicher zu Ungunsten der Jungen ist der Unterschied bei den Schulabgängern ohne Abschluss.
Im Jahr 2012 verließen 7 Prozent des Jahrgangs eine allgemeinbildende Schule ohne einen Haupt(bzw. Mittelschul-) abschluss, dabei waren 5 Prozent Mädchen und 8 Prozent Jungen (destatis
2012).
Da internationale Studien darauf verweisen, dass insbesondere leistungsschwache oder
soziokulturell benachteiligte Jungen in der Schule von der Monoedukation profitieren, könnte
single-sex education speziell für Jungen dazu beitragen, dass mehr Jungen einen Aufstieg durch
Bildung meistern.
Aus Sicht der Frauenrechte geht es aber nicht nur um Schulerfolge bei Jungen, sondern es geht um
die gesellschaftliche Verbesserung der Lebenslagen von Frauen, die meist indirekt oder direkt mit
Männern mehr oder weniger eng zusammenhängen. Da immer noch jede vierte Frau in Deutschland
Gewalt in der Partnerschaft erlebt und in Europa zwischen 94 - 96 Prozent der Insassen im
Strafvollzug Männer sind, viele wegen Gewalttaten, gilt es auch deziedierte Jungenbildung unter
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 7 von 12
dem Blickwinkel der verbesserten Sozialkompetenz voranzubringen und in den Unterricht in
phasenweise geschlechterhomogenen Gruppen zu integrieren. Kanadische Forschungen zeigen
positive Ergebnisse, Unterrichtsinhalte wie „you don´t want to be that guy“ oder „The Fourth R“ 4
erwiesen sich in der wissenschaftlichen Begleitung als wirksam.
Einige kanadische Wissenschaftler sehen verbesserte Leistungen für beide Geschlechter bei
diversen monoedukativen Schulen, bei anderen weniger, und schlagen vor die Vorteile aus
koedukativen und monoedukativen Systemen in einem „Hybridmodell“ zu kombinieren. Es sollen
phasenweise single-sex-Klassen und gender-basierte Aktivitäten in eine koedukative Bildung
eingebettet werden. Bei diesem „Hybridmodell“ werden die Vorteile aus der Monoedukation mit
den Vorteilen der Koedukation verbunden und Synergien genutzt. Bei diesem Modell sollen Jungen
und Mädchen am meisten profitieren (Demers/Benett 2007). Hubbard und Datnov (2005) halten
drei interagierende Einflussgrößen für geschlechterhomogene Lerngruppen für besonders
förderlich, nämlich single-sex setting, financial support from the state and the presence of caring,
proactive teachers.
Das „Hybridmodell“ würde auch dem Wunsch von vielen Menschen in Deutschland nach
koedukativen Schulen entsprechen. Oft ist es zudem aus schulorganisatorischen oder regionalen
Gründen nicht möglich, ganze geschlechterhomogene Klassen oder Schulen einzurichten. Für diese
Rahmenbedingungen wären Hybridmodelle aus Koedukation und monoedukativen Phasen eine
Lösung, die Jungen und Mädchen in vielen Schulen Entwicklungschancen eröffnen könnte.
Betrachtet man die Ergebnisse der Studien genauer, sind die Ergebnisse von
geschlechterhomogenen Klassen oder Schulen dann besonders signifikant positiv, wenn die
Lehrerinnen und Lehrer, bzw. Pädagogen und Pädagoginnen in Bildungseinrichtungen
geschlechtersensibel ausgebildet sind. Genderkompetenz kann pädagogisches Personal genauso
erwerben wie andere Kompetenzen. Diese Kompetenz ist nach wie vor bei Männern und Frauen
gleich gering verbreitet, da sie noch kaum verpflichtend in der Ausbildungsphase enthalten ist und
nur wenige Fortbildungen dazu besucht werden (Stadler-Altmann/Schein 2013). Deswegen
empfiehlt es sich, die Einführung von geschlechterhomogenen Unterrichtsphasen parallel mit
Fortbildungen für Pädagogen und Pädagoginnen zu begleiten. Dabei sollte die Wissens-,
Wahrnehmungs-, Einstellungs- und Handlungsebene angesprochen werden. Grundlage bilden
Erkenntnisse aus der Frauen- und Geschlechterforschung bzw. Jungenforschung, bei Lehrern und
4 The Fourth R is an evaluated program. It has been listed on National Registries for effective (model) and promising
practices, including SAMHSA's National Registry of Evidence-Based Programs and Practices and Public Health
Agency of Canada's Best Practices Portal. http://www.youthrelationships.org/ ((2013.05.23)
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 8 von 12
Lehrerinnen speziell auch bezogen auf den eigenen Fachbereich. Darauf baut die
Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, Normen und Einstellungen zum eigenen Geschlecht
und der Rolle der Geschlechter in der Gesellschaft auf. Für die Umsetzung in
Kindertageseinrichtungen und Schulen braucht es Sensibilität, um die Wirkung der Kategorie
Geschlecht, der Geschlechterverhältnisse und die potenziellen wie realen
Diskriminierungsstrukturen zu erkennen, sodass Prozesse der Zuweisung von Stereotypen bzw.
Ungleichheitsstrukturen in der Schule, in Kindertageseinrichtungen und in der Gesellschaft
wahrgenommen werden können. Damit werden Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und
Pädagogen in die Lage versetzt, Geschlecht als Analysekategorie zu verwenden. Durch die
Reflektion von verbreiteten geschlechter-stereotypen Verhalten, den Geschlechter-Rollen, der
eigenen Haltung und Rolle und der Reflektion des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern in der
Gesellschaft wird die Grundlage gelegt. Ergänzt durch Wahrnehmungs- und Sensibilitätsschulung
wird Handlungskompetenz erworben, um die vorhandenen Begabungspotentiale jedes Kindes
unabhängig vom Geschlecht in voller Breite zu entwickeln.
Wissenschaftliche Begleitung von Gender-basierter Schulentwicklung ist in Bayern heute rar. So
kann ich bisher über das „Hybridmodell“ nur aus persönlichen Gesprächen und Interviews mit
Lehrerinnen und Lehrern in München berichten, die phasenweise in geschlechterhomogenen
Gruppen unterrichten. Eine Französischlehrerin berichtete, dass die Buben in der
geschlechterhomogenen Gruppe wesentlich mehr in der Fremdsprache sprechen und einzelne sich
sogar vor der Gruppe in der Fremdsprache vorstellten, was sie noch nie im gemischten Unterricht
erlebt hatte. Eine andere Lehrerin berichtet über überdurchschnittliche Leistungen von Schülerinnen
in Mathe im Abitur, die in einer geschlechterhomogenen Gruppe unterrichtet wurden
(Durchschnitte eine Notenstufe besser). Eine weitere Lehrerin hat über geschlechtergetrennten
Physikanfangsunterricht, den sie seit vielen Jahren schon an ihrem Gymnasium durchgesetzt hat,
mehrere Schülerinnen für ein Physikstudium begeistern können. Ein Chemielehrer erzählte erfreut,
dass seiner Meinung nach alle Buben, auch die gefährdeten, aufgrund der geschlechterhomogenen
Gruppe das Jahresziel in seinem Fach erreicht haben. Eine Informatik-Lehrerinnen hat zwei Jahre
lang die gleiche Mädchengruppe unterrichtet und berichtet lobend über die konzentrierte,
kooperative und erfolgreiche Arbeit der Mädchen. Alle Lehrkräfte waren sich darin einig, dass die
Schülerinnen und Schüler etwas Zeit brauchen, um die Chancen der geschlechterhomogenen
Gruppe für sich zu nutzen. Da Koedukation der Normalfall ist, müssen sich die Kinder und
Jugendlichen erst auf die neue Situation einstellen.
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 9 von 12
Förderlich für Unterricht in geschlechterhomogenen Gruppen
In vielen Fällen wirkt Unterricht in Mädchen- und Jungen- Gruppen schon aufgrund der
Intervention an und für sich. Die Ergebnisse können durch folgende Maßnahmen gesteigert werden:
•
Schulung des Personals in Genderkompetenz.
•
Wird erstmalig in geschlechterhomogenen Gruppen unterrichtet, kann eine
Einführungsmaßnahme für die Schülerinnen und Schüler die Umstellung fördern.
•
Die ersten geschlechterhomogenen Unterrichtsphasen sollten mindestens ein halbes Jahr
umfassen, sodass die Schülerinnen und Schüler, die veränderte Situation reflektieren und die
Vorteile für sich nutzen können.
•
Im alltäglichen Unterrichtsgeschehen sollten geschlechterstereotype Verhaltensweisen auch
mit Bezug auf das Fachgebiet reflektiert werden. Dadurch können auch die
Kooperationsfähigkeit mit und der Respekt für das jeweils andere Geschlecht entwickelt
werden.
Ausblick – am Beispiel der Umsetzungsmöglichkeiten an bayerischen Schulen
In Bayern existiert gemäß einer Veröffentlichung des Bayerischen Staatsministerium für Unterricht
und Kultus 2012 eine im Ländervergleich in Deutschland sehr günstigere Schüler-Lehrer-Relation
und ein vielfältiges Angebot. Dieses reichhaltige Unterrichtsangebot eröffne die Möglichkeit zur
Differenzierung, sodass in einzelnen Fächern die Klassen aufgeteilt werden und der Unterricht in
kleineren Gruppen stattfinden könne (Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2012:
30). Diese Gruppen könnten also auch ohne finanziellen Mehraufwand geschlechterhomogen
gebildet werden, um die vielen oben beschriebenen Vorteile von Lernen in geschlechterhomogenen
Gruppen zu nutzen.
Literatur:
•
Baumann, Thomas / Schneider, Christoph / Vollmar, Meike / Wolters, Miriam: Schulen auf
einen Blick. Destatis. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Wiesbaden 2012.
•
Bayerischer Landtag Beschluss: Naturwissenschaftliche und technische Berufe für junge
Frauen attraktiver machen. Dokumentenmappe. 14 Wahlperiode. Drucksache Nr. 14/11501
vom 29.01.2003.
•
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen:Häusliche
Gewalt gegen Frauen, http://www.blickdahinter.bayern.de/ (20.10.2012).
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 10 von 12
•
Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Reihe A. Bildungsstatistik Heft 56:
Schule und Bildung in Bayern 2012.
•
Budde, Jürgen: Mathematikunterricht und Geschlecht. Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) 2009.
•
Böhmann. In: Pädagogik 2006, 58 (1), S. 50-51.
•
Chadwell, David W: A Gendered Choice. Corwin California 2010.
•
Cornelißen, Waltraud. dji München. unveröffentlichter Vortrag beim Liesel Beckmann
Symposium 2009. TUM School of Education. 26. November 2009.
•
Cornelißen, Waltraud:.Bildung und Geschlechterordnung in Deutschland. Einige
Anmerkungen zur Debatte um die Benachteiligung von Jungen in der Schule. Aus:
http://www.dji.de/bibs/161_2150CornelissenLMU.pdf (15. Dezember 2010).
•
Corsten, Michael: Was ist eigentlich aus den katholischen Arbeitertöchtern vom Lande
geworden? In: Krüger, Dorothea (Hrsg.), Genderkompetenz und Schulwelten VS Verlag
2011.
•
European Commission Study: Benchmarking policy measures for gender equality in
science. Mapping the maze: Getting more women to the top in research, 2008.
•
Demers, S. / Benett, C. Single-Sex Classrooms in: What Works? Research into Practice. The
Literacy and Numeacy Secretariat. Ontario. Canada 2007.
•
Emer Smyth: Single-sex Education, What Does Resarch Tell Us? In: Revue francaise de
pédagogie, 171, avril-mai-juin 2010, p 47-55 http://ife.ens-lyon.fr/publications/editionelectronique/revue-francaise-de-pedagogie/RF171-5.pdf (abgerufen 30.06.2013).
•
Gibb, Sheree J. / Fergusson, David M. / Horwood, John: Effects of Single-Sex and
Coeducational Schooling on the Gender Gap. In Educational Achievement. Australian
Journal of Education. November 2008 vol. 52 no. 3, p. 301-317.
•
Holst, Elke / Busch, Anne / Kröger, Le: Führungskräfte-Monitor 2012. Politberatung
Kompakt 65. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. DIW Berlin.
•
Herwartz-Emden, Leonie (Hrsg.) Neues aus alten Schulen – empirische Studien in
Mädchenschulen. Opladen: Budrich 2007.
•
Herwartz-Emden, Leonie / Schurt, Verena / Waburg, Wiebke (Hrsg.): Mädchen in der
Schule. Empirische Studien zu Heterogenität in monoedukativen und koedukativen
Kontexten. Opladen: Budrich 2010.
•
Herwartz-Emden, Leonie / Schurt, Verena / Waburg, Wiebke: Geschlechtersegregierter
Unterricht in monoedukativen Schulen und Klassen – Forschungsstand und
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 11 von 12
Forschungsdesiderata. In: Neues aus alten Schulen – empirische Studien in
Mädchenschulen. Herwartz-Emden (Hrsg.).Verlag B. Budrich 2007.
•
Hubbard, Lea /Amanda Datnow: Do Single-Sex Schools Improve the Education of LowIncome and Minority Students? An Investigation of California´s Public Single-Gender
Academies. In: Anthopology and Educaional Quarterly, 2006, Vol. 36, No. 2, pp. 151-131.
•
Hyunjoon, Park / Behrman, Jere R. / Jaesung Choi, Jere R.: Causal Effects of Single-Sex
Schools on College Entrance Exams and College Attendance: Random Assignment in Seoul
High Schools. PSC Working Paper Series. PSC 10-01. 2012. Posted at ScholarlyCommons.
http://repository.upenn.edu/psc_working_papers/15 (abgerufen 12.06.2013).
•
Jha, Jyotsna and Kelleher, Fatima: Boys Underachievement in Education an exploratation in
selected Commonwealth Countries; Commonwealth of Learning, Canada, 2006, p. 59.
•
Kessels, Ulrike: Undoing gender in der Schule. Eine empirische Studie über Koedukation
und Geschlechtsidentität im Physikunterricht. Weinheim: Juventa 2002.
•
Koch-Priewe, Barbara / Niederbacher, Arne / Textor, Annette / Zimmermann, Peter (2009):
Jungen – Sorgenkinder oder Sieger? Ergebnisse einer quantitativen Studie und ihre
pädagogischen Implikationen. Wiesbaden. VS Verlag.
•
Leonhard, D. Single-sex and co-educational schooling – life course consequences? Full
research Report. ESRC End of Award Report, RES_000-22-1085, -swbubdib; ESRC
Oktober
2006.
Aus:
http://www.esrc.ac.uk/my-esrc/grants/RES-000-221085/outputs/read/1d3aa381-0474-41cf-9138-3ba6b566e99b (abgerufen 30.06.2013).
•
Nationaler Bildungungsbericht 2012 - Bildung in Deutschland und Stellungnahme der
Bundesregierung. Drucksache 17/11465. Deutscher Bundestag. 17. Wahlperiode.
09.11.2012.
•
Pro Quote http://www.pro-quote.de/statistiken/ (abgerufen 12.05.2013.).
•
Sax, Linda et al: Women Graduates of Single-Sex and Coeducationa High Schools:
Differences in their Characteristics an the Transition to College, UCLA California 2009.
•
Stadler-Altmann, Ulrike / Schein, Sebastian: Genderkompetenz als Thema in der Lehrerausund -weiterbildung. In: Stadler-Altmann, Ulrike (Hrsg.): Genderkompetenz in
pädagogischer Interaktion. Buderich 2013.
•
The Fourth R. http://www.youthrelationships.org/ (abgerufen 2013.05.23).
•
Woodward, Lianne J. / Fergusson, David M. /Horwood L. John: Effects of Single-Sex and
Coeducational Secondary Schooling on Children's Academic Achievement. In: Australian
Journal of Education August 1999 No 43. p. 142-156.
Mono- oder Koedukation? Und ein alternatives, effizientes Hybridmodell
2013
Seite 12 von 12

Documentos relacionados