06-15 Rund und gesund

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06-15 Rund und gesund
GESELLSCHAFT Rund und gesund
Rund, gesund un
Rund und gesund GESELLSCHAFT
d zufrieden
Frühling ist die Zeit der Diäten. Doch die von der
Modewelt diktierten Traumvorgaben 90-60-90
sind nicht nur von einer Mehrheit der Bevölkerung
nicht erreichbar, ihre Anpeilung mit regelmässigen
Monsterdiäten ist auch ungesund.
Text: Thomas Vogel
F
rühling für Frühling präsentiert
sich an der Modefront dasselbe
Bild. Jede Illustrierte, die man aufschlägt, gibt ihrer Leserschaft –
mehrheitlich sprechen sie dabei die Leserinnen an – tolle Tipps, um in wenigen
Tagen die angebliche Traumfigur zu erreichen. Ob es sich nun um eine Atkins-,
Bikini-, Wasser-, Salat-, Low-Carb-, Brigitte- oder sonstwie Diät handelt, immer
ist das Ziel dasselbe 90-60-90. Und allen
diesen im Frühjahr inflationär auftretenden «In-drei-Tagen-zur-Bikini-Figur»-Angeboten ist eines gemeinsam. Sie versprechen mehr, als sie halten, und sind in
den meisten Fällen gar überflüssig.
Genau aus diesem Grund wurde sie
auch von der Dessousfirma «Ulla» entdeckt. Diese Firma ist spezialisiert auf
Unterwäsche in Übergrössen. Das war
vor sieben Jahren. Inzwischen tingelt die
ehemalige Apothekerhelferin hauptberuflich als Mollig-Model über die Laufstege
in Paris, Berlin, Lyon oder Den Haag.
«Feste Frauen wollen die Kleider, die
sie tragen sollen, nicht an diesen dürren
Models sehen, sondern an Frauen wie
mir», weiss Tanja Bartsch.
Mutige Werbung gegen
Frauen-Stereotyp
Das weiss auch der Kosmetikkonzern
Unilever. Deshalb startete die Firma 2004
für ihre Kosmetiklinie Dove eine aussergewöhnliche Werbekampagne. Von Plakatwänden und aus Inseraten strahlten den
Betrachter nicht spindeldürre Supermodel sondern etwas fülligere Model, mit
durchschnittlich hübschen Gesichtern
an. Die jungen, lachenden Frauen mit
Kleidergrössen jenseits der 40 repräsentieren nämlich die durchschnittliche Frau
– deren Kleidergrösse liegt in der Schweiz
zwischen 40 und 44.
Das musste auch Tanja Bartsch aus Würzburg erfahren. Die 1,64 Meter grosse
Deutsche hat mehrere Diäten hinter sich.
Das typische Modelsyndrom, möchte
man fast sagen, denn Tanja Bartsch geht
für eine Dessousfirma über den Laufsteg. Dennoch besteht ihr Pausensnack
normalerweise nicht aus einer mageren
kleinen Karotte. Im Gegenteil: Sie langt
deftig zu und es können durchaus mal
zwei Leberwurstbrote sein. «Schliesslich
muss ich ja auf meine Figur achten»,
lacht die 28-Jährige. Sie wiegt 75 Kilogramm und quetscht sich entgegen dem
Modetrend nicht in die Konfektionsgrösse 36. Sie trägt stolz die Grösse 42
und bezeichnet sich selber als «etwas
griffiger» – bei einem Body-Mass-Index
von rund 28.
Fotos: zVg
Stolz auf den eigenen Körper
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GESELLSCHAFT Rund und gesund
«Mit den verschiedenen Kampagnen
tritt Dove bewusst gegen das stereotype
Schönheitsideal an und möchte damit
den Frauen Mut machen, ihre eigene,
individuelle Schönheit wahrzunehmen»,
erläutert Susanne Eigenheer, MarkenManagerin Dove Schweiz, die Beweggründe zu dieser Werbestrategie. Hintergrund dieser Aussage bildete eine weltweite Studie, die Unilever zusammen
mit der Harvard-Universität durchführte.
Dazu befragten sie auch in der Schweiz
600 Frauen im Alter von 15 bis 70 Jahren.
Schönheit ist Ansichtssache
Die Ergebnisse entsprechen zwar sicher
den Zielen von Unilever, ob sie jedoch
die tägliche Realität reflektieren, ist ungewiss. Denn das Selbstbewusstsein vieler
Frauen ist schwankend wie eine Wetterfahne, wenn es um die Begutachtung
des eigenen Körpers geht. Die Meinungsumfragen dazu fallen wechselhaft aus
wie der Wetterbericht. Die aktuelle
«Dove-Beauty-Studie» kommt zwar zu
dem Schluss, dass sich fast 95 Prozent
der befragten Schweizer Frauen schöner
oder so schön wie der Durchschnitt empfinden und mit sich zufrieden sind. Dasselbe gilt in fast demselben Ausmass
auch für Deutschland.
Nicht wirklich auf denselben Nenner
kam eine Erhebung durch das Deutsche
Institut für Ernährungsforschung. Sie
ergab, dass in Deutschland rund zwei
Drittel der Frauen gerne dünner wären.
Im europäischen Durchschnitt wollen von
den normalgewichtigen Frauen ganze 58
Prozent schlanker sein. Bei den normalgewichtigen Männern sind es nur 22 Prozent. Ganz schwer tun sich die Britinnen:
Eine Erhebung des Internet-Providers
AOL zeigte, dass 60 Prozent der britischen
Frauen ihren eigenen Anblick im Spiegel
nicht ertragen können. Die meisten hätten
lieber einen kleineren Bauch, gefolgt vom
Wunsch nach schlankeren Hüften und
Oberschenkeln.
Versteckte Kurven
unter Schlabberklamotten
Auch Tanja Bartsch trug ihre Rundungen
nicht immer mit diesem Selbstverständnis
zur Schau. Denn bis zu ihrem 19. Lebensjahr war sie schlank und wog gerade mal
50 Kilogramm. Sie betrieb Spitzensport
Rund und gesund GESELLSCHAFT
So dick ist nicht zu dick
Endgültig vorbei sind die Zeiten, als das
nierte Sportler haben eine höhere Muskel-
Idealgewicht mit der rudimentärst-Formel
masse und können daher einen höheren BMI
Körpergrösse in Zentimeter minus 100 minus
ausweisen. Doch Achtung: Wer einen BMI
zehn Prozent bei Männern respektive 15 Pro-
von über 30 hat, gilt gemäss Weltgesund-
zent bei Frauen berechnet wurde. Das Mass
heits-Organisation (WHO) als adipös oder zu
der Dinge in der Ernährungsmedizin ist heute
deutsch: krankhaft fettleibig. Eine nachge-
der Body-Mass-Index (BMI). Er errechnet
wiesene Gesundheitsgefahr besteht jedoch
sich wie folgt: Körpergewicht in Kilogramm,
erst ab BMI 40. Jedoch sind vor allem Kinder
geteilt durch die Körpergrösse in Meter im
oder Jugendliche mit einem BMI über 30
Quadrat. Beispiel: Sie sind 1,70 Meter gross
gefährdet. Denn: das verniedlicht mit Baby-
und wiegen 72 Kilogramm. Dann errechnet
oder Pubertätsspeck bezeichnete Über-
sich der BMI folgendermassen:
gewicht retten die Jugendlichen meist ins
72 : (1,7 x 1,7) = 24,9.
Erwachsenendasein (siehe auch «Natürlich»
Gemeinhin gilt ein BMI bis 25 als o.k. Das er-
10-2004) – und werden es nicht mehr los.
füllten etwa 40 Prozent der Schweizer Bevöl-
Die Folge kann neben Herzproblemen und
kerung. Ab BMI 25 gilt man als übergewich-
jugendlicher Diabetes auch eine schnellere
tig. Also gelten offiziell rund 60 Prozent der
Abnützung der Gelenke sein.
Bevölkerung als nicht o.k. oder anders aus-
Alter in Jahren
BMI-Normalgewicht
gedrückt als zu dick. Doch dieser als Schall-
19–24
19–24
grenze zur Übergewichtigkeit angesehene
25–34
20–25
Wert gilt unter Fachleuten seit längerem als
35–44
21–26
zu starr. Einen grossen Einfluss auf das so
45–54
22–27
genannte Normalgewicht hat das Alter, aber
55–64
23–28
auch die sportliche Konstitution. Gut trai-
64
24–29
und war sowohl bayrische wie auch süddeutsche Meisterin im Kajakfahren. Wegen der Ausbildung zur Apothekenhelferin musste sie mit dem Leistungssport aufhören. «Mein Gewicht schnellte rapide
hoch», sagt sie. Erst bei über 90 Kilogramm pendelte es sich ein. In der ersten
Phase versteckte die Bayerin ihre Kurven
unter weiten Schlabberkleidern und versuchte abzunehmen – ohne Erfolg.
Der Wechsel in der Einstellung zu
ihrem Körper kam mit dem Modeln.
«Heute bin ich stolz auf meinen Busen und
meine weiblichen Formen», sagt sie selbstbewusst. Dennoch nahm sie letztes Jahr
rund 20 Kilogramm ab. «Aber nicht weil
es irgendjemand wollte», wie sie betont
haben will. «Ich wollte es.» Den Anschub
gab ihr Rücken. Er hatte mit der üppigen
Körbchengrösse 85G etwas zu schaffen.
Und ihr Kommentar: «Ich bin absolut zufrieden mit meinem Körper.»
thv
zierliche. So gilt Marilyn Monroe hierzulande immer noch als Sexgöttin, trotz
oder gerade wegen der üppigen Rundungen und Kleidergrösse 42. Auch Sophia
Loren oder Gina Lollobrigida vermoch-
ten sich nie in eine Hose der Grösse 36 zu
zwängen (siehe Kasten Seite 10).
80 Prozent der Männer geht das
Gejammer der Frauen um ihre Figur
sowieso ziemlich auf den Keks, diese
Erkenntnis stammt vom Meinungsforschungsinstitut Gewis und wird von
Partnern von üppigen Frauen bestätigt.
«Mein Mann mag es weich und kuschelig», schreibt zum Beispiel die Bochumerin Monja Korthaus. Sie wiegt 93 Kilogramm bei 1,57 Meter Körpergrösse. Aber
erst mit dem richtigen Mann, der «mir das
Gefühl gab, schön und begehrenswert zu
sein», konnte die Rubensfrau auch zu
ihren Rundungen stehen. «Davor machte
ich 20 Jahre Dauerdiät – gebracht haben
sie allesamt nichts», sagt sie.
Seit die 38-jährige Monja Korthaus
ihren «Diätenwahnsinn» hinter sich gebracht habe, sei sie gesünder, glücklicher
und halte ihr Gewicht. Eine Feststellung,
die auch von Fachleuten bestätigt wird.
Viele Studien belegen inzwischen, dass
sich der Diätenwahn negativ auf die Gesundheit auswirkt. Und: «Wir wissen
schlicht nicht, ob eine Person, die zehn
Kilo abspeckt, ebenso gesund ist wie eine
Person, die schon immer zehn Kilo leich-
Frauen setzen sich selber
unter Druck
Seltsamerweise fühlen sich Frauen eher
durch die Schlankheitskonkurrenz anderer Frauen unter Druck gesetzt als
durch die vermeintlichen Erwartungen
der Männer, auch das zeigen Studien.
Männer erzählen zumindest in Umfragen immer wieder, dass sie kurvigere
Frauen hübscher finden als schmale und
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Infobox
GESELLSCHAFT Rund und gesund
Internet
• www.rundnaund.ch
• www.medizinfo.de/ernaehrung/
abnehmen/gesund2.htm
• www.cdc.gov/nchs/nhanes.htm
• www.diaeten-sind-doof.de/
ter war», schreiben die amerikanischen
Ärzte Angell und Kassirer.
Gesund, ungesund, na und
Wer sich schon einer Diät unterzogen
hat, machte wahrscheinlich Bekanntschaft mit dem so genannten Jo-Jo-Effekt.
Die verlorenen Pfunde sind schnell wieder da oder noch schlimmer: Nach einer
Abspeck-Kur ist man in der Regel noch
dicker als vor der Kur. Die britische DiätVereinigung verkündete zum Beispiel,
dass vier von zehn Teilnehmern einer
Schlankheitskur rückfällig werden und
nachher noch dicker sind als vor der Diät.
Dieser Jo-Jo-Effekt könnte gefährlicher sein als das Übergewicht und es
gibt Hinweise darauf, dass er das Risiko
für Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöht.
Eine Abspeck-Kur kann jemanden auch
seelisch stressen. «Man ist während und
nach einer Diät immer auch frustriert. So
wenig Essen macht müde und nervös»,
schreibt dazu der Arzt Thomas Walser.
Man habe während einer Diät auch immer zu wenig Antrieb.
Das weiss inzwischen auch Daniela
Hochuli aus Kölliken AG. Die 30-Jährige
machte Diäten über Diäten. «Ich habe
dazumal mit meiner Gesundheit gespielt
und es ging mir sehr schlecht, sodass
ich mich selber nicht mehr leiden
konnte», schildert sie den Weg zur Erkenntnis. Heute ist sie mit sich selber
zufrieden – trotz ihren Pfunden. Sie wiegt
bei 1,57 Meter Grösse 88 Kilogramm und
sagt selber: «Ich sehe das heute nicht
mehr so eng und wenn es eben mal etwas
mehr ist, dann ist es eben so.» Aber sie
behält ihr Gewicht in etwa konstant. Sie
tut vermutlich gut daran.
Von Gallensteinen zu Gicht
Amerikanische Forscher sagen nämlich:
Mässig Dicksein ist in Ordnung. Sie fragen sich sogar, ob es sinnvoll ist abzunehmen? Es gibt tatsächlich einige
Gründe, die gegen das Abspecken sprechen: Wie nämlich der Arzt Nicolai
Worm in seinem Buch «Diätlos glücklich» schreibt, fördert eine Abmagerungskur die Bildung von Gallensteinen
ebenso wie sie die Knochen entkalkt und
damit Osteoporose Vorschub leistet.
Dank dem dass eine drastische Gewichtsreduktion auch die Harnsäurewerte im
Blut erhöht, kann einem genau in dem
Zeitpunkt, wenn man dabei ist, so richtig
schlank und gesund zu werden, ein
Gichtanfall heimsuchen.
Es wird noch drastischer: «Ein bisschen Leberfunktionsstörungen, eine kleine
Literatur
• Balters: «Nur Engel dürfen dick sein – Von
Schönheitswahn und wahrer Schönheit»,
Verlag Gerth Medien GmbH 2005,
ISBN: 3-86591-038-6, Fr. 16.90
• Beil: «Mein Kind ist zu dick – was tun!»,
Goldmann Verlag 2004,
ISBN: 3-442-16671-3, Fr. 12.90
• Fehrmann: «Die Psyche isst mit – Wie sich
Ernährung und Psyche beeinflussen»,
Foitzick Verlag 2002,
ISBN: 3-929338-16-5, Fr. 29.40
• McKeith: «Du bist, was du isst», Goldmann
Verlag 2005, ISBN: 3-442-16756-6, Fr. 16.50
• Worm / Harjes: «Diätlos glücklich –
Abnehmen macht dick und krank»,
Systemed Verlag 2003,
ISBN: 3-927372-25-0, Fr. 34.90
Krise im Wasser- und Elektrolythaushalt
und das bisschen Verlust an Muskelmasse
an Körper und Herz – das ist doch alles zu
verkraften und wird schliesslich weit übertroffen von den gesundheitlichen Vorteilen, wenn man endlich von dem lästigen
Übergewicht herunterkommt», schreibt
Worm sarkastisch. Er ist beileibe nicht der
Einzige, der vor dem rigorosen Abnehmen
warnt, Genuss dafür umso intensiver empfiehlt.
Foto: Irisblende.de
Schönheit im Wandel der Zeit
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Was gestern noch als schön angesehen
das Korsett leistete, musste von da an am
wurde, ist heute dick, was wir heute als schön
Körper selber abgespeckt werden. Schlank
ansehen, war vor 1000 Jahren kaum über-
war angesagt. In den 1920er-Jahren schnitten
lebensfähig. So ändern sich Schönheitsideale
sich die Frauen die Haare ab, um damit auch
in jeder Epoche.
ihre in den Kriegsjahren gewonnene Selbst-
In der Steinzeit werteten unsere Keulen
ständigkeit zu unterstreichen. Eine schlanke,
schwingenden Vorfahren Frauen mit grossen
androgyne Figur herrschte vor.
Brüsten, breiten Becken und üppigen Fett-
Erst Mitte der 1960er-Jahre änderte sich das
reserven als schön. Sie galten als Garant,
Frauenbild radikal. Ein dürres Zweiglein (eng-
dass die Brut erfolgreich das Erwachsenen-
lisch: twig) mit Namen Lesley Hornby eroberte
alter erreichte.
unter dem Pseudonym Twiggy die Laufstege
In der Renaissance bis zum Barock galten
der Welt und wurde zum ersten Supermodel.
üppige Formen als sinnlich und verlockend.
Seither sind magersüchtige, langbeinige und
Erst gegen Ende des Barock so um 1700
grossbusige Models nicht mehr von den
rum zwängten sich Frauen in Korsetts. Eine
Plakatwänden und Illustriertentiteln wegzu-
Wespentaille war gefragt.
denken. Sie versorgen die Fitnesszenter
Grundlegend änderte sich das Schönheits-
ebenso mit Kundschaft wie die plastischen
ideal erst im 20. Jahrhundert. Was bis dahin
Chirurgen oder Diätzentren.
thv
Rund und gesund GESELLSCHAFT
Foto: Avenue Images
Gefahr droht vom Bauchfett
Das Taille-zu-Hüfte-Verhältnis (WHR =
Waist to Hip Ratio) gibt Auskunft über
die Verteilung des Fettes im Körper.
Während bei etwa 85 Prozent der
Frauen dieses Fett meist in der so
genannten Birnenform auftritt – also
im Bereich Gesäss, Hüften und Oberschenkel – schlägt es sich bei rund
80 Prozent der Männer in der Apfelform nieder – also in einem Bauchansatz. Männer mit einem WHR
von mehr als 1,0 haben ein erhöhtes
Risiko an einem Herzinfarkt oder einem
Schlaganfall zu sterben. Bei Frauen liegt
der kritische WHR oberhalb 0,85.
Die gute Nachricht für Frauen: Das in Birnenform angesammelte Fett beeinträchtigt die
Gesundheit nicht. Die schlechte Nachricht: Diesen
Polstern ist fast nicht beizukommen.
Bei Diäten schützt sie der Körper sogar speziell.
Die gute Nachricht für Männer: Der Bauchspeck ist mit
einer Umstellung der Ernährung und etwas Bewegung
Die Allmacht des BMI
Die Jagd nach dem richtigen Gewicht,
gemessen mit dem BMI, bescherte uns
der Belgier Adolphe Quetelet (siehe
Kasten auf Seite 9). Auf der Suche nach
dem Durchschnittsmenschen hat der
Statistiker im 19. Jahrhundert den grössenunabhängigen Index erfunden. Inzwischen entwickelte sich der BMI mit Hilfe
der WHO zu einem Mantra für Normversessene. Die Grenzen der so genannten Norm zog die WHO jedoch in den
1990er-Jahren willkürlich in einprägsamen Fünferschritten. Sie berücksichtigte dabei weder den Körperbau noch
das Alter.
«Die WHO hat die Grenzen viel zu
eng gesetzt», kritisiert die Fachjournalistin Elke Achtner-Theiss in der Zeitschrift «Schrot&Korn». Auf diese Weise
würden viele Millionen gesunder Menschen zu Kranken erklärt und unnötigerweise zu Diäten gedrängt, die dank des
Jojo-Effekts Übergewicht langfristig eher
fördern.
Kritiker dieser Drei-Buchstaben-Formel werden immer lauter und zahlreicher
und Fachleute zweifeln immer mehr an
der gesundheitlichen Aussagekraft des
relativ einfach loszuwerden. Denn was immer man abnimmt, etwa 30 Prozent stammen jeweils vom Bauch.
Die schlechte Nachricht für Männer: Der Bauchansatz
zeigt eine Neigung zur Stammfettsucht. Das ist problematisch, da diese Bauchfettzellen Adiponectin abgeben,
einen hormonähnlichen Stoff. Das ist zwar ein guter
Stoff: Er erhöht die Wirksamkeit des Insulins und beugt
so Diabetes vor. Die Krux jedoch ist: Je mehr Bauchfett
sich ansammelt, je mehr sinkt die Produktion des Adiponectin. Diese Fettzellen können auch nicht abgesaugt
werden, da es sich dabei um innere Fettzellen handelt.
Ein weiterer Stopper ist der eigentliche Bauchumfang.
Bei Männern sollte der Bauchumfang nicht über
102 Zentimetern liegen; bei Frauen liegt die Grenze bereits bei 88 Zentimetern. Darüber drohen Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Diabetes.
So berechnet man den WHR:
Taillenumfang : Hüftumfang = WHR.
Beispiel: Sie haben einen Taillenumfang von 74 Zentimetern und einen Hüftumfang von 98 Zentimetern:
74 : 98 = 0,75.
thv
BMI. Neuste Forschungen belegen nämlich, dass vor allem das Verhältnis vom
Bauch- zum Hüftumfang einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit hat (siehe
Kasten). So ist Fett um den Bauch schlimmer als Fett um das Gesäss oder um
die Oberschenkel.
Salim Yusuf von der McMasterUniversität im kanadischen Hamilton
erhob gemäss einem Bericht in der Zeitschrift «Tabula» Daten von rund 27 000
Menschen in 52 Ländern. «Zusammengefasst», erklärt der Wissenschaftler,
«zeigen unsere Resultate, dass die Bedeutung der Fettleibigkeit bei HerzKreislauf-Erkrankungen neu bewertet
werden muss.» Konkret: Der BMI lag
bei über 12 461 beobachteten Personen
mit einem Herzinfarkt nur geringfügig
höher als bei 14 637 Personen, die keinen Herzinfarkt hatten. Daraus schliesst
Yusuf, dass der BMI kein taugliches
Instrument ist, um die gesundheitlichen
Risiken zu bewerten. Doch fand er heraus, dass das Verhältnis von Bauch zu
Hüftumfang einen deutlichen Hinweis
auf ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko gibt.
Das gilt sowohl für Frauen wie auch
für Männer.
Länger leben
mit Übergewicht
Tatsächlich senkt leichtes Übergewicht
sogar das Sterberisiko. Das schliessen
Wissenschaftler aus den Daten des National Health and Nutrition Examination
Surveys (NHANES). Danach besteht
kein Unterschied, ob jemand einen BMI
von 20 hat oder einen BMI von 29. Es
liesse sich nur bei einem BMI unter 18,5
und über 30 eine erhöhte Sterblichkeit
nachweisen.
Der amerikanische Präventiv-Mediziner Ramon Durazo-Arvizu von der
Universität in Illinois hat im April 2002
im «American Journal of Epidemiology»
ähnliche Resultate bestätigt. Er fand heraus, dass sich innerhalb einer Spannbreite
von neun BMI-Punkten die Sterbewahrscheinlichkeit nur geringfügig erhöht. Mit
einbezogen in dieser Studie waren über
13 000 Personen. Weiter lassen die Resultate vermuten, dass der optimale BMI nicht
am unteren Ende der Skala liegt, wie man
dies bisher angenommen hat.
Auch eine Studie des Londoner Professors Gerald Shaper im «British Medical
Journal» kommt zum Schluss: Personen
mit einem BMI zwischen 20 und 27 leben
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gleich lang. Und: der gesündeste BMI, auch
bezogen auf Herz-Krankheiten, Diabetes
und Schlaganfall, ist schlicht unbekannt.
Gemäss Professor Gerd Assmann aus
Münster sind Dicke auch nicht anfälliger
für einen Herzinfarkt: «Wer einen BMI
von über 30 hat, aber sonst keine Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten,
wie Bluthochdruck, Typ-II-Diabetes, vermehrte Insulinproduktion oder Fettstoffwechsel-Störungen, hat kein erhöhtes
Risiko für einen Herzinfarkt.» Aus der
Sicht des Herzspezialisten ist es deshalb
nicht angezeigt, jeden stark Übergewichtigen automatisch mal auf eine strenge
Diät zu setzen. Ausschlaggebend sei vielmehr, wie das Fett im Körper verteilt ist
(siehe Kasten Seite 13).
Mehr Pfunde, mehr Stress
Natürlich sagt die Sterblichkeit nichts
aus über die Lebensqualität. Beschwerden an den Gelenken sind zum Beispiel
bei stark übergewichtigen Menschen
keine Seltenheit. «Meine Knie leiden
unter meinem Gewicht und Ausdauer
habe ich keine», sagt dazu die 25-jährige
Susanne Köhl. Sie bringt bei 1,72 Meter
Grösse 110 Kilogramm auf die Waage.
Doch die meisten Dicken nehmen nicht
nur der Gesundheit zuliebe ab. Zusätzlich
kommt noch der psychische Stress.
Dickere Menschen werden öfters angepöbelt und müssen sich mehr beweisen.
Das schafft Frust, was vielfach wieder in
einer Fressattacke endet. «Jedes Mal wenn
ich in der Schule einen blöden Spruch
zu hören bekam, ging ich zu Hause direkt
an den Kühlschrank», so Köhl. Heute
könne sie mit den spitzen Bemerkungen
umgehen und sich den Gang zum Kühlschrank verkneifen. «Ich lasse den Alltagsfrust lieber an den Fitnessgeräten im Trainingszentrum aus.»
So ähnlich erlebte auch die Köllikerin
Daniela Hochuli ihre Kindheit. «In der
Schule wurde ich von den anderen Kindern gehänselt und gar verprügelt», gesteht sie. «Zu Hause getraute ich mich
jedoch nicht etwas zu sagen – ich schämte
mich so dafür.» Als besonders frustrierend
ist der Aargauerin der Turnunterricht in
Erinnerung. «Da musst du dich noch
mehr anstrengen als andere, um allen
zu beweisen, dass man nicht faul ist und
sich bewegen kann.» Denn mit diesem
Vorurteil kämpfen viele Dicke. So auch
Rund und gesund GESELLSCHAFT
Monja Korthaus: «Vor Jahren jobbte ich
in einem kleinen Lokal als Kellnerin. Als
die Mutter des Wirts mich sah, fragte sie
ihren Sohn entsetzt, wie er denn so eine
einstellen könne.» Sie war der Meinung,
Dicke könnten sich weder flink zwischen
den Tischen hindurch bewegen noch
hätten sie Ausdauer. «Dass dem nicht so
war, musste sie am selben Abend noch
einsehen», lacht Korthaus.
Vorurteile en masse
Zusätzlich zum Vorurteil der Behäbigkeit kämpfen Dicke auch gegen die vorgefasste Meinung, dass sie schneller
schwitzen und immer schlecht riechen
würden. Allgemein sagt man ihnen
eine gewisse Schmuddligkeit nach. Dem
begegnen im Zeitalter des Internets immer mehr wohlbeleibte Frauen und
Männer, indem sie sich leicht bekleidet
in erotischer Pose fotografieren lassen
und diese Fotos zum Gegenbeweis ins
Netz stellen. www.rundnaund.ch ist
eine solche Seite, auf der sich Dicke in
allen Lebenslagen tummeln und Gedanken austauschen.
Wahrscheinlich liessen sich die meisten der Vorurteile widerlegen. Denn
wie es Monja Korthaus so schön formuliert: «Wir Dicken sind nicht anders
als Schlanke – nur eben etwas mehr.» ■
Alle Bilder zeigen
das Mollig-Model Tanja Bartsch
www.tanja77.de
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