von Gaetano Donizetti - Kunstuniversität Graz

Transcrição

von Gaetano Donizetti - Kunstuniversität Graz
„Il dolce suono“ oder Kunst des Belcanto
am Beispiel der Oper „Lucia di Lammermoor“
von Gaetano Donizetti
Künstlerische Masterarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts (MA)
An der Kunstuniversität Graz
vorgelegt von
Katsiaryna Melnikava
Künstlerische Betreuer: Univ.Prof. Mag.art.Joanna Borowska-Isser
Wissenschaftliche Betreuer: Ao.Univ.Prof. Dr.phil. Renate Bozic
Graz, 2015
Inhaltverzeichnis
Vorwort …………………………………………………………………………………1
Einleitung ……………………………………………………………………………….2
1. Der Begriff „Belcanto“……………………………………………………………….….3
2. Claudio Monteverdi ………………………………………………………………….….4
3. Neapolitanische Schule ………………………………………………………………....5
4. Die Belcantoopern im 19. Jhd. …………………………………………………….……9
5. Meister der italienischen Oper
5.1. Gioachino Rossini ……………………………………………………………..…….10
5.2. Vincenzo Bellini …………………………………………………………………..…11
5.3. Gaetano Donizetti ………………………………………………………………..…..12
6. „Lucia di Lammermoor“………………………………………………………………....13
7. Die Wahnsinnsszena der Lucia aus dem 3. Akt „Il dolce suono… Argon gl’incensi …“15
Literaturverzeichnis und Notennachweis…………………………………………………..21
Bildverzeichnis …………………………………………………………………………….23
Vorwort
„Belcanto ist eine Kunst! Eine Gesangskunst. In Italien meint man mit Belcanto zunächst
einmal, schön zu singen! Es geht aber natürlich nicht nur um Stimmtechnik und Schönheit,
sondern auch um Stil beim Belcanto, denn es gibt ja verschiedene Arten des Belcanto.
Dennoch, ganz allgemein gesprochen, bleibe ich dabei: Belcanto meint vor allem und in
erster Linie schön zu singen!“: so lautet das das Zitat von Renata Scotto aus dem Buch
„Mythos Primadonna“ von Dieter David Scholz.
Was ist aber Belcanto und wie hat es sich entwickelt? Um geeignete Antworten zu finden,
habe ich mich entschieden, meine Masterarbeit diesem Thema zu widmen und anhand von
Gaetano Donizetti „Lucia di Lammermoor“ zu untersuchen.
Ich danke Ao.Univ.Prof. Dr.phil. Renate Bozic für die aufgezeichnete Betreuung der
Arbeit und Univ.Prof. Mag.art.Joanna Borowska-Isser für die gesangstechnischen
Erläuterungen diverser Fachbegriffe.
1
Einleitung
Der Titel „ „Il dolce suono“ oder Kunst des Belcanto am Beispiel der Oper „Lucia
di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti“ beschreibt das Thema
vorliegender Masterarbeit. Um eine Oper der Belcanto-Zeit heute so interpretieren zu
können, wie es sich der Komponist vielleicht vorgestellt hatte, wurde das Thema von „der
Begriffsdarstellung des Belcanto“ bis zum „Meister der italienischen Oper“ chronologisch
dargestellt.
Im Rahmen dieser Chronologie wurden Komponisten wie Claudio Monteverdi, Nicola
Porpora, Antonio Vivaldi, Alessandro Scarlatti und drei große Meister des
italienischen Belcantostils - Gioachino Rossini, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti dargestellt und ihr Verdienst in der Entwicklung des Belcantostils erforscht.
Im Kapitel „Neapolitanische Schule“ werden nicht nur die Konservatorien des 17.Jhds in
Neapel erwähnt, sondern auch Ausbildungssystem und Phänomen der Kastraten
beschrieben.
Als Kern der Arbeit wird die berühmte Wahnsinnsszene der Lucia aus der Oper „Lucia
di Lammermoor“ als Inbegriff der Gattungsgeschichte erläutert.
2
1. Der Begriff Belcanto.
Belcanto [italien. “schöner Gesang“], Bezeichnung für den vor allem in Italien gepflegten
virtuosen Gesangsstil des 17.-19. Jhs. bei dem Wert auf vollkommende Tongebung,
Klangschönheit und Ausgeglichenheit der Stimme gelegt wurde.1
Das Wort Belcanto hatte in der Musikgeschichte verschiedene Bedeutungen. Zunächst
bezeichnete man den Italienischen Gesangsstil des 18. und Beginn 19. Jhs. In der Folge
verwendete man den Begriff hauptsächlich für die Ausprägung des Gesangsstils der
großen romantischen Oper von Bellini bis Verdi. In der Blütezeit des Belcanto war der
Begriff selbst als Terminus nicht bekannt. "War von bel canto die Rede, so meinte dies
lediglich „schöner Gesang“ ohne Bezug auf ein bestimmte, gesangstechnische,
kompositorische und ästhetische Aspekte umfassendes Konzept kunstvollen Singens." 2
Der Terminus selbst findet sich erstmalig in den 1820er Jahren in Giovanni Pacinis 3
Unterrichtsprogramm für seine Gesangsstudenten in Lucca. Als weiteres Beispiel der
Begriffsentwicklung ist auf ein Gespräch Rossinis im Rahmen einer Gesellschaft zu
verweisen, in dem er sich Gedanken über den Verfall der Gesangskunst im Allgemeinen
machte.
Überliefert ist sein Ausruf " Ahi, noi!perduto il bel canto della patria!“4
Rossini definierte den Begriff Belcanto anhand dreier Stilmerkmale: "das Instrument, die
Stimme also; die Technik; die Mittel sich ihrer zu bedienen; der Stil, der aus Geschmack
und Empfindung resultiert" 5
Rossini nahm damit die drei wesentlichen Elemente der Italienischen Gesangsschule
vorweg. Darunter versteht man im Wesentlichen die Formung der Stimme, die Erarbeitung
der Technik sowie Interpretation und Gestaltung. Letztgenannte Begriffe bestimmen im
Wesentlichen den Belcanto Stil im heutigen Sinne so wie die individuelle
Rollengestaltung unterschiedlicher Künstler.
1
F.A.Brockhaus GmbH «Der Brockhaus.Musik“, Neue Stalling GmbH, Oldenburg 2001, S.77
Allgemeine Enzyklopädie der Musik „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Ludwig
Finscher; Sachteil 1; Bärenreiter ; S.1347
3
Giovanni Pacini (1796 – 1867): italienischer Komponist, der im Gegenzug zu Verdi oder Rossini kein
Opernerneuerer war, konnte aber alte und neue Stilmittel der Opernkonzeption kunstvoll verbinden.
Besonders die Gestaltung der Ensembles ist beachtlich. Darüber hinaus gründete er eine private
Musikschule und widmete sich der Dramaturgie und Musiktheorie.
4
MGG. S.1347
5
Ebda. S.1347
2
3
Immer bedeutender wurde die Technik und die gesangstechnischen Darstellungsmittel zum
Beispiel portamento, die unterschiedlichen Arten der agilita (Geläufigkeit), Arpeggien,
chromatische Läufe, gehaltene Töne, die messa di voce. Von besonderer Wichtigkeit wird
zunehmend die vollkommene Beherrschung der Technik. Der Vortragstil war im Laufe der
Geschichte immer wieder von diversen "Moden" geprägt. (Interpretationsänderungen im
Laufe der Zeiten).
Der Vortragstil lag somit hauptsächlich in den Händen der Gesangspädagogen und
Solisten. Als Beginn der Belcantoära betrachten einige Forscher den Italienischen
Sologesang des frühen 17.Jhs., die Venezianische Oper oder das Oratorium um zirka 1660,
so wie die Glanzzeit der Kastraten mit ihrer stupenden Technik und unerreichten
Vortragskunst.
2. Claudio Monteverdi (1567-1643)6
Der Italiener Claudio Monteverdi (Claudio Giovanni
Antonio Monteverdi) ist einer der bedeutendsten
Komponisten des 17 Jhs., den man zu den Begründern der
Gattung Oper zählt. Seine szenischen und
kompositorischen Neuerungen gelten als revolutionär und
begründeten die Charakteristik der Oper als szenische und
musikalische Einheit.
1.ClaudioMonteverdi
Er war der erste, der das Potenzial der Oper als Gesamtkunstwerk mit Gesang, Tanz und
handlungsunterstreichender Instrumentation begriffen hat. Monteverdi nimmt die
Errungenschaften der „Camerata Fiorentina“ und Jacopo Peris 7 auf. Durch die
Entwicklung des Dramas in Musik erfindet er eine neue Klangform. Er verwandelte
Rezitative in eine flexible, reine Melodie mit langen Linien und nutzte die Ausdruckskraft
des Wortes für die Imitation menschlicher Empfindungen.
Monteverdi verwendet Rhythmus, Dissonanz und instrumentale Farbe für die
6
7
Vgl.Rodolfo Celletti „Geschichte des Belcanto“, Bärenreiter Kassel, Basel 1989
Jakopo Peri (1561-1633) italienischer Komponist, der 1598 seine erste Oper „Dafne“ geschrieben hat.
4
Realisierung der dramatischen Handlung. Er hat den verzierten Gesang entsprechend
bestimmter Emotion oder szenischer Gegebenheiten eingesetzt. Keiner seiner Vorgänger
und Zeitgenossen konnten Stimmung und Emotionen in der Musik so farbig darstellen.
Monteverdi hat auch neue Techniken der Instrumentation, besonders für
Streichinstrumente, wie pizzicato und Tremolo entdeckt, um die notwendige Spannung,
Leidenschaft und emotionale Intensität zu schaffen.
Monteverdi hat als erster die Rolle des Orchesters in der Oper ausgeprägt. Durch ihn
erhielt jedes Instrument einen bestimmten Charakter: Bläser und Percussion erzeugen
militärische Stimmung, Schäferszenen werden von der Flöte charakterisiert, Bratsche und
Laute zeichnen sentimentale Episoden.
Betreffend Gesang nimmt der Belcanto Monteverdis eine Schlüsselfunktion ein: für die
Menschen verwendet er einfachen, unverzierten Gesang „parlar cantando“ und für die
Götterwelt hingegen das „cantar parlando“.8
„Monteverdi kodifiziert damit das Prinzip, dass sich die Figur aus Mythos und Fabelwelt
von der des gewöhnlich Sterblichen unterscheiden muss durch eine idealisierte, das heißt,
nicht alltägliche und realistische Vokalsprache. Als dann die Librettisten und Komponisten
(auch Monteverdi) außer den Göttern noch historische Persönlichkeiten aus der griechischrömischen Welt auf die Bühne brachten, behandelten sie diese, indem sie ihnen eine
allegorische und idealisierte Sprache gaben, wie die antiken Gottheiten.“ 9
3. Neapolitanische Schule.
Die Neapolitanische Opernschule entstand etwas nach der römischen und venezianischen.
Das Teatro di San Carlo wurde hier erst viel später in den 1660er Jahren gebaut. Es war ein
prächtiges Gebäude, wo die besten Plätze (Mezzanine und Logen) für den Adel und das
Parterre für städtische Öffentlichkeit bestimmt waren. Am Anfang wurden dort
florentinische, römische und venezianische Opern aufgeführt. Doch bald darauf bildete
sich in Neapel eine eigene Schule.
8
9
Rodolfo Celletti „Geschichte des Belcanto“, Bärenreiter Kassel, Basel 1989, S.33
Ebda. S 13
5
Eine sehr große Rolle in der Entwicklung der Neapolitanischen Schule haben so genannte
Konservatorien gespielt. Die Entstehung stand in Zusammenhang mit der großen Armut im
16 Jh.. Das gemeinsame Ziel war nicht nur verwaiste oder obdachlose Kinder zu betreuen,
sondern ihnen Ausbildung und religiöse Erziehung zu ermöglichen. Im 17 Jh. entwickelte
sich das Musikleben in Italien merklich, was sich in der Gründung etlicher Konservatorien
widerspiegelte.
Auch die Kirche profitierte von den Studierenden: daher nahm die Musikausbildung in den
Konservatorien in der Praxis eine wichtige Rolle ein. Es waren die Konservatorien "Santa
Maria di Loreto", wo Nicola Porpora und Domenico Cimarosa ausgebildet wurden,
"Pietà dei Turchini", "Sant'Onofrio a Capuana" und "Poveri di Gesù Cristo", wo
Giovanni Battista Pergolesi und Domenico Scarlatti ausgebildet wurden. Im Laufe des
17. Jhs. wurden auch in Venedig so genannte Ospedali bedeutsam, die sich von
Krankenhäusern zu musikalischen Konservatorien entwickelten. Durch Lehrer wie Nicola
Porpora, Domenico Cimarosa, Bonaventura Furlanetto, Johann Adolf Hasse und andere
wurden virtuose Sängerinnen und Instrumentalistinnen ausgebildet. Auch Antonio Vivaldi
(1678-1741), venezianischer Komponist und Violinist der Barockzeit, betreute das
Orchester in Ospedale della Pietá und schrieb dafür seine zahlreichen Violinkonzerte und
Sonaten.
Trotz der schlechten Lebensbedingungen der Schüler waren die Anforderungen ihrer
Ausbildung sehr hoch. Sie spielten verschiedene Instrumente und die talentiertesten
erhielten Kompositionsunterricht. Die besten Studenten des Studienabschlusses wurden
Lehrer ihrer jüngeren Kollegen.
Schüler von Konservatorien kannten besonders gut die Geheimnisse der Gesangskunst.
Schon im Kindesalter sangen sie im Kirchenchor und manchmal auch solistisch. Unter den
Schülern befand sich die besondere Gruppe der Kastraten.
Kastration galt als ehrenvoll und Chance für eine große Gesangskarriere. Sollte sich die
Stimme nicht entsprechend entwickelt haben, gab es noch die Möglichkeit, sich zum
Priester oder Instrumentalisten ausbilden zu lassen.
Junge Kastraten genossen eine fundierte Ausbildung in Konservatorien und wurden nach
katholischen Traditionen erzogen. Ursprünglich war das Ausbildungssystem auf Erziehung
6
neuer Sänger für die Kathedralen ausgerichtet. Aber auch die Oper profitierte zunehmend
und genoss wachsende Popularität. Somit vollzog sich auch der Wandel zur
Verweltlichung.
Sechs oder sogar zehn Jahre brauchten junge Kastraten für ihre Stimmausbildung.
Heute kann man sich schwer vorstellen, wie diese faszinierenden Kastratenstimmen
geklungen haben. Obwohl es eine einzige Aufnahme von einem der letzten Kastraten,
Alessandro Moreschi, gibt, die zwischen 1902 und 1904 gemacht wurde, lassen nur
Aussagen von Zeitgenossen erahnen, wie Caffarelli, Francischiello, Pacchiarotti oder
Farinelli geklungen haben mögen.
Neapel war um 1650 die größte Stadt Italiens. Deshalb fand
auch hier die Oper schnell große Beachtung. Neben
Francesco Provenzale – einem lokalen Opernkomponisten –
war vor allem Alessandro Scarlatti (1660 – 1725) für die
Entwicklung der Neapolitanischen Schule für ein halbes Jhd.
bedeutend. In der Musikgeschichte etwas vernachlässigt, ist
die weitere Entwicklung des Belcanto ohne ihn undenkbar.
Scarlatti komponierte eine Unzahl von Vokalwerken. Mehr
2. Alessandro Scarlatti
als 64 Opern sind noch handschriftlich erhalten.
Das Besondere in Scarlattis Opern ist die Einführung einer 3sätzigen Sinfonie „schnelllangsam-schnell“. Diese Form der Sinfonie wurde bald zur Norm und trug zur Entstehung
der Klassischen Sinfonie bei. Anders als bei seinen Zeitgenossen konnte Scarlatti erstmals
menschliche Leidenschaften und Gefühle in Musik ausdrücken. Dies findet sich in der
Melodie, in der reichhaltigen Harmonie mit Dissonanzen und Modulationen sowie
spannungsgeladenen Gesangslinien. Scarlatti stärkt die Rolle der Rezitative, in dem er den
Text plastisch ausformt und wichtige Worte mit bildhaften Koloraturen versieht.
In seinen Opern findet die Da capo Arie ihre erste große Ausprägung. Diese Da capo Arien
bilden abwechselnd mit Rezitativen die musikalische Struktur der Oper. Auch Kretzschmar
charakterisiert die Merkmale der Scarlattischen Opern folgendermaßen: „ Der Welt
Scarlattischer Opern liegt in der Individualität des Künstlers, der dahinter steht.
Gleichwohl ist er für die neapolitanische Schule einflussreich geworden und kann als ihr
7
Gründer bezeichnet werden. Die Bevorzugung der Da capo Arie geht auf ihn zurück.
Zweitens aber ist er der Vater eines leidenschaftlichen Stiles, der mit den Neapolitanern
zum ersten Male im Musikdrama auftritt. Es ist ein anderer als der Monteverdische. Dieser
stützt sich auf dissonante Harmonie und auf rasche, rhythmische Bewegung, der
Scarlattische ruht auf breiten, imposanten Rhythmen und auf dem Gebrauch großer
Intervalle in dem Themen.“10
Ein weiteres Hauptmerkmal der neapolitanischen Schule ist vor allem die virtuose
Gestaltung der Gesangslinien. Zur Gesangsstimme kommt nicht selten auch ein
Soloinstrument hinzu, zum Beispiel die Trompete. „ Die volle künstlerische Kraft wird der
Ausbildung der Gesangmelodie gewidmet, sie soll bedeutend, eigen sein, fesselnd, wenn
nicht durch inneren Gehalt, so durch äußere Reize. Und diesen Reiz fand man im
Figurenwerk, in der Koloratur.“11
Ein weiterer wichtiger Vertreter der neapolitanischen Schule, der die Kunst des Gesanges
zu virtuoser Ausprägung brachte, war Nicola Porpora (1686-1768). Seine
Musikausbildung machte Porpora in Neapel (1696 bis 1706) im Conservatorio dei Poveri
di Gesù Cristo. Er galt als der beste Gesangsmeister in Italien und hat am Conservatorio
Sant’Onofrio (Neapel) unterrichtet. Sein Verdienst war die Ausbildung auch solch
berühmter Schüler wie die Kastraten Farinelli (Carlo Broschi), Antonio Uberti (der wurde
als Porporino bekannt) und Caffarelli (Gaetano Majorano).
Als Komponist trat er mit der Opera Seria, wodurch er
vor allem interessante technische Motive der Singstimme
mit interessanten Orchestereffekten verband. Porporas
Spezialität war die Aria di bravura, die er zum
Entwicklungshöhepunkt brachte. Auch die Aria cantabile
in Porporas Opern ist bedeutend: er verband graziöse
Melodik mit volkstümlichen Anklängen. Die Handlung in
seinen Opern findet in den Rezitativen statt, während die
Virtuosität die Musik hauptsächlich auf die Gesangslinie
3. Nicola Porpora
10
11
konzentriert ist.
Hermann Kretzschmar „Geschichte der Oper“, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1919; S.167
Ebda, S.173
8
5. Die Belcantoopern im 19. Jhd..
Zu Beginn des 19. Jhds. ist die Opera seria nach der Form Metastasios12 noch immer
dominierend. Die wichtigste Veränderung auf der Bühne vollzieht sich aber durch das
Verschwinden der Kastraten. Dadurch standen die Komponisten vor neuen
Herausforderungen. In Italien zentrierte sich die Opernszene eher im Norden, wurde
jedoch auch im Süden nachgeahmt. Das Bedürfnis an neuen Opern – auch für das
Publikum aus niederen Sozialschichten – nahm im ganzen Land zu. Die Oper verließ
höfische Kreise und wurde zu einer Kunst für einen immer größeren Teil der Bevölkerung.
Da die Oper zunächst keinem festen dramaturgischen Konzept folgte, kam es lediglich zur
Abfolge austauschbarer Musik-Nummern. Daher konnten Teile verschiedener Opern auch
willkürlich ausgetauscht werden, sodass Sänger zu ihren Auftritten mit so genannten
"Koffer Arien" anreisten. Darunter versteht man Arien, die speziell und effektvoll für ihre
individuelle Stimme passend waren. Diese Arien konnten also in jede der gerade gespielten
Opern aufgenommen werden. Die Werke wurden auf Grund dieses Virtuosentums immer
beliebiger und entfernten sich vom Original.
Der erste Komponist, der dieser musikalischen Beliebigkeit ein Ende setzte, war
Gioacchino Rossini.
12
Pietro Metastasio (1698-1782) italienischer Dichter und Librettist.
9
6. Meister der italienischen Oper
6.1. Gioachino Rossini (1792-1868)13
Trotz mehr oder weniger erfolgreicher
Versuche seiner Zeitgenossen gelang
Gioacchino Rossini die bedeutendste
Opernreform seiner Zeit. Der Durchbruch
erfolgte 1813 vor allem mit seinem dramma
eroico "Tancredi". Rossini fand hier nämlich
neue Lösungen zur Konzeption der
Italienischen Oper. Bisher waren die
Schemen in ihrem konventionellen Aufbau
sehr ähnlich. Neu waren etwa die
Verwendung neuer Opernstoffe, die
4. Gioachino Rossini
Vorstellung neuer Libretti mit bisher
unbekannten Charakteren oder die
Schilderung von dramatischen Situationen. Wie Dichter die Sprache verwenden, um
Emotionen und Inhalte zu beschreiben, gelang dies Rossini mit Noten, indem er Emotionen
nun auch musikalisch entsprechend erlebbar macht: Verstärkt durch entsprechenden
Orchestereinsatz zeigt Rossini Perfektion in der Balance zwischen Dramatik, Lyrik und
musikalischer Gestaltung.
Rossini hat auch den formalen Aufbau der einzelnen Nummern erneuert. Eine Beliebigkeit
der Gesangsnummern wich der Virtuosität des Szenenaufbaus mit Rossinis typischen
Steigerungen. Vokale Akrobatik wurde zwar auf die Spitze getrieben, wie zum Beispiel im
Finale 1 (Sextett) der „ Italienerin in Algier“ oder „La cenerentola“ (2. Akt, Sextett)
„questo e un nodo affil luppato“, folgte aber erstmals einer von ihm festgelegten Ordnung.
Rossinis wichtigste Erfindung war die 4 teilige „soloscena“: darunter versteht man einen
einleitenden Abschnitt, eine kunstvolle Arie im langsamen Tempo, gefolgt von einem
Übergang und die Cabaletta. In den Duetten, die ähnlich wie Arien konzipert sind, konnte
der lyrische Mittelteil auch weggelassen werden.
Vgl.: The New Grove: „Meister der italienischen Oper“, aus den Englischen von Anette Holoch, Verlag
J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar 1993; Hermann Kretzschmar „Geschichte der Oper“, Breitkopf & Härtel,
Leipzig 1919; Rodolfo Celletti „Geschichte des Belcanto“, Bärenreiter Kassel, Basel 1989
13
10
Auch die Instrumentierung seiner Partituren gestaltete Rossini mit neuartigen
Klangwechseln und farbreicher Harmonik. Das Orchester erlangte eine neue Rolle über
reine Begleitung hinaus und unterstützte auch den Handlungsablauf.
Obwohl seine Musiksprache einfacher ist als später bei Verdi oder Puccini, so ist es der
„affetto“, also die Emotion des Moments, der seine Arien unverwechselbar macht. Umso
mehr ist jetzt der Ausdruck des Sängers gefragt, jenseits von reinen Koloraturpassagen.
Rossini ergänzt also Noten mit Ausdruck und Stimmung und gibt dem Interpreten somit
Freiheit, seine Persönlichkeit zu zeigen. Anstatt simpler Wiederholungen von
Arienpassagen werden Kadenzen und Variationen eingeführt, in denen der Sänger seine
Stimmmöglichkeiten zeigen kann.
6.2. Vincenzo Bellini (1801-1835)
Verdi berichtet über Bellini: „Er ist reich an Gefühl und einer
Melancholie von eigenem, individuellem Zuschnitt. Auch in
seinen weniger bekannten Opern, in La Straniera, in Il
Pirata, gibt es lange, lange Melodien, wie sie vor ihm noch
keiner erfunden hat.“14
Ähnlich eine Äußerung Wagners, der eines Abends Themen
aus Opern Bellinis spielte und meinte: „Das ist wirkliche
Passion und Gefühl, und es soll nur die richtige Sängerin
sich hinstellen und es singen, und es reißt hin.“15
5.Vincenzo Bellini
Hier noch ein Zitat von Ulrich Schreiber, der in diesem Zusammenhang feststellt: „Man
kann diesen Tribut an den Melodiker Bellini sogar so deuten, dass der Ältere dem Jüngeren
den Weg gewiesen hat. Dann würde Normas Entschluss, aufs Schafott zu steigen, Isoldes
Liebestod vorwegnehmen.“16
Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene: „Die Geschichte des Musiktheaters“, Bärenreiter,
Kassel 2002, S.235
15
Ebda. S.234
16
Ebda. S.234
14
11
Was war nun neu im Werk Bellinis? 1801 in Catania geboren, gilt er als Erfinder des
„Melodramma tragico“, der romantischen Italienischen Oper. Gemeinsam mit seinem
Librettisten Felice Romani (der sich an der schon eingangs erwähnten Opera seria des
Metastasio orientierte) erarbeitete Bellini einen „neuen Stil“, der sich von jenem
Gioacchino Rossinis unterscheiden sollte. Als Gegensatz zu dessen verzierten,
koloraturgespickten Vokallinien fand Bellini eine ruhige, syllabische Melodik mit
Textbezug („jede Silbe ein Ton“), um den Textvorlagen Romanis gerecht zu werden.
Bellinis Opern verschwanden im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr von den
Spielplänen, ehe sie dank einzelner Wiederbelebungsinitiativen wieder in die Spielpläne
Einzug hielten. Zur den noch regelmäßig gespielten Opern gehört La Sonnambula („Die
Nachtwandlerin“). Norma, Bellinis meistgespielte Oper, ist vor allem durch „einfache“
Melodik und romantische Empfindsamkeit geprägt.
In Bellinis I Puritani, entstanden 1835 im Théatre-Italien, knüpfte der Komponist
stilistisch bei Norma an, in welcher er die bis dahin übliche Folge einzelner Nummern und
Arien aufgegeben hatte. So bereitet er den Auftritt Arturos im ersten Akt mit romantischen
Hörnerklängen vor, lässt aber wider Erwarten keine Arie folgen. Vielmehr werden
Szenenblöcke konstruiert, die auf einen Höhepunkt zusteuern: So hat Verdi
in Rigoletto (Quartett, Bella figlia dell’amore) das gleiche Verfahren angewendet wie
zuvor Bellini in der Tenorszene A te, o cara („Zu dir, Geliebte“) in Puritani. Bellinitypische „melodie lunghe, lunghe, lunghe“, wie Verdi sie nannte, prägen auch Elviras
Arie Qui la voce sua soave – Vien, diletto, in welcher sie die Liebe zu Arturo und ein
glückliches Ende herbeisehnt.
G. Donizetti (1797-1848)17
Als Donizettis Karriere begann, beherrschte noch Rossini vollständig die italienische
Opernszene. Auf Grund seines Status und seines formelhaften und reich verzierten Stils,
mussten die meisten Opernkomponisten dieser Zeit im Rossini Stil komponieren. Auch
Donizetti passte sich diesem Stil an, auch wenn er durch geschickte Reformen einer
neuartigen Dramaturgie der Soloszenen Individualität zeigen konnte. Vor allem in seinen
Vgl.: The New Grove: „Meister der italienischen Oper“, aus den Englischen von Anette Holoch, Verlag
J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar 1993; Hermann Kretzschmar „Geschichte der Oper“, Breitkopf & Härtel,
Leipzig 1919
17
12
Komödien wurde sein Rang nie im Frage gestellt, während er im tragischen Genre auf
Grund der Vielzahl seiner Opern selten revolutionär Neues erfand.
Donizetti gelang es aber, durch eine größere Vielfalt der
Ausdrucksmittel und durch intensiv ausgeprägte
Gefühlsdarstellungen, etwa in großen Soloszenen und Ensembles,
die Belcanto Oper bedeutend weiter zu entwickeln.
In Donizettis Instrumentation kommen neu solistische Passagen
für Blasinstrumente zum Einsatz. Konzertante und obligat
6. Gaetano Donizetti
geführte Instrumente leiten eine Szene ein, verdeutlichen die
Stimmung und Atmosphäre der Handlung. Auch wenn die
Orchesterbehandlung teilweise etwas trivial wirkt, umso meisterhafter gestaltete Donizetti
den Ausdruck der Singstimme. Im Gegensatz zu Bellini waren Donizettis
Gesangspassagen meist individuell auf die Qualitäten der vorgesehenen Sänger
abgestimmt. Zum Beispiel konnte Giuditta Pasta oder Ronzi de Begni in den
ausdrucksvollen Finali von „Anna Bolena“, „Maria Stuarda“ oder „Roberto Devereux“
brillieren.
7. „Lucia di Lammermoor“
Am 26. September 1835 im Theatro San Carlo, Neapel, wurde die Oper "Lucia di
Lammermoor" mit Fanny Tacchinardi-Persiani als Lucia, Gilbert-Louis Duprez als
Edgardo und Domenico Cosselli als Arturo uraufgeführt. Es war ein riesiger Erfolg oder
sogar ein Triumph. Ein Chronist berichtete: „Die Menschen waren wie rasend […] man
hörte das Schluchzen der Menge“.18 Und so berichtete Donizetti selber in einem Brief
über die Premiere: „ Lucia ist über die Bühne gegangen und gestatte, dass ich so schamlos
bin und dir die Wahrheit sage. Sie hat gefallen, sogar sehr, wenn ich dem Applaus und den
Komplimenten, die ich erhalten habe, Glauben schenken darf. Ich wurde viele Male vor
den Vorhang gerufen, und die Sänger ebenso.“19
Auf der Grundlage einer Erzählung "The Bride of Lammermoor" von Walter Scott
18
19
Wilhelm Zentner: „Lucia von Lammermoor“, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1960, S.6
Olaf Matthias Roth „Donizetti. Lucia di Lammermoor“, Henschel Bärenreiter, Leipzig 2014, S.89
13
(1771-1832) wurde Donizettis "Lucia di Lammermoor" komponiert. Am Anfang des 19.
Jhds hat kein anderer Schriftsteller so großen Erfolg gehabt wie er. Durch ihn erlangte die
so genannte "Schauerromantik" ihre größte Ausprägung. Scott gilt außerdem als Erfinder
der historischen Romane und die wichtigsten Kennzeichen seines Schreibstils sind das
Fantastische, abenteuerliche Handlungen, Naturschilderungen, wie zum Beispiel die
schottische Landschaft mit ihren Bergen, Wäldern und Seen. Auch einige Opern dieser Zeit
greifen Scotts erzählerisches Werk auf. In seinem Roman „The Bride of Lammermoor“
schildert er das historische Kolorit des 17 Jhds. nicht, aber im Mittelpunkt stehen
erfundene Figuren mit ihren Charakteren und psychologischen Beziehungen. Das war
natürlich ein Vorteil für einen Textdichter wie Salvatore Cammarano (1801-1852), der
Scotts Roman bearbeitete und damit eines seiner wirkungsvollen Libretti schuf. Er schrieb
Libretti auch für solche Komponisten wie Saverio Mercadante (1795-1870), Giovanni
Pacini (1796-1867), Giuseppe Verdi (1813-1901). Die bekanntesten Opernlibretti aus
seiner Feder sind unter anderen die Opern "Luisa Miller" oder " Il trovatore". Diese Opern
und " Lucia di Lammermoor" sind nach dem gleichen dramaturgischen Schema gebaut und
weisen eine starke Verwandtschaft der dramatischen Situationen auf.
Aus Scotts Braut Lucy wurde Lucia. Im Italienischen ist der Vorname Lucia etymologisch
mit dem Licht "luce" verbunden. Donizetti war sich dessen bewusst: Lucia ist in der
Dunkelheit einer religiös dominierten Gesellschaft eine Lichtgestalt, die den Menschen
einen Weg aus ihrer Verwirrung weist: „Das Licht, das sie bringt, ist nicht von dieser Welt.
Und deshalb muss die Lichtbringerin in dieser Welt auch nicht für gleichberechtigt
genommen werden“20
Das besondere an Cammarano ist, dass der Schlüssel zum Verständnis des Werkes nicht die
große Wannsinnszene ist, sondern das letzte Bild als Symbol für den ganzen Untergang
einer Epoche. Entgegen dem Prinzip der Finalarie der Sopranistin ist der Schluss der Oper
dem "primo uomo" vorbehalten.
Die Geschichte erzählt von einer schottischen Gräfin, die durch Familienstreitigkeiten und
das politisch motivierte Vorhaben ihres Bruders von ihrem Geliebten getrennt und einem
anderen Mann anvertraut wird, diesen in der Hochzeitsnacht umbringt und deswegen den
Verstand verliert.
20
Werner Ohlmann: „Oper in vier Jahrhunderten“, Bärenreiter Stuttgart/Zürich, S.293
14
8. Die Wahnsinnsszene der Lucia aus dem 3. Akt
„Il dolce suono… Argon gl’incensi …“.
Ein dramatischer und musikalischer Höhepunkt in Donizettis Meisterwerk ist die
Wahnsinnsarie der Lucia aus dem 3. Akt.
Lucia steht allein, da sie merkt, dass sie nicht nur von ihrem Bruder, von ihren Vertrauten
hintergegangen, manipuliert und als politisches Mittel benutzt wurde, sondern auch von
ihrem Geliebten Edgardo, der knapp nach dem unterschriebenen Vertrag kommt und sie
verflucht. In dem Moment verliert sie den Boden unter den Füßen. Sie hat ein ganz
empfindliches Nervenkostüm. Die Gefühle, die sie empfindet, sind sehr extrem. Sie ist
seelisch gefährdet. Wenn man an einen so gefährlichen Endpunkt kommt, dann kann der
Wahnsinn ausbrechen und bei ihr kommt es in einer gewaltsamen Form.
Donizetti bereitet ihre Arie geschickt vor: der Auftritt Raimondos unterbricht das
Hochzeitsfest mit der schrecklichen Nachricht über den Mord an Arturo im Brautgemach.
Dann erscheint Lucia in einem blutigen Nachthemd in Wahnsinn verfallen.
Dieser schockierende Auftritt verstärkt den dramatischen Klang der Musik dieser Szene.
Jetzt wird allen bei dem Fest Anwesenden klar, dass sie Arturo umgebracht hat. Schon die
ersten Akkorde verdeutlichen die düstere Stimmung der Szene in c-moll. Dann fängt Lucia
ihren Gesang in kleinen chromatischen Schritten auf Il dolce suono mi colpi di sua voce
(der süße Ton seiner Stimme hat mich berührt) an:
15
Statt einer bravuorösen Arie werden einzelne Arienteile im Laufe der Scene zu einer
dramatisch ausgestalteten Nummer verbunden. Diese ungleiche Form deutet auf ihren
gespaltenen und zerrissenen innerlichen Zustand. Im Wahnsinn ist Lucia ganz
unberechenbar wie die Abfolge der Musik. Die Arie ist in ihrem Ausdruck quasi ein
unrealer Dialog zwischen Lucia und Edgardo. Es folgt ein Rezitativ mit einer Melodie der
Soloflöte. Die Streicher verdeutlichen mit dem Tremolo die angespannte Situation. Die
kleinen und verminderten Terzen in Lucias Gesangslinie äußern ihre Furcht und
Unsicherheit:
Das Rezitativ entwickelt sich zu einem Dialog zwischen Lucia und der Flöte, ihrem
imaginären Gesprächspartner.
In der Urfassung der Oper war anstatt der Flöte eine Glasharmonika21 vorgesehen,
was noch stärker das überirdische Element „Un’armonia celeste“ verdeutlicht. Glas
wirkt sehr fragil und unreal. Vor der Uraufführung hat Donizetti aus praktischen
Gründen wieder die Flöte eingesetzt.
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Glasharmonika, ist ein Reibeinstrument, das von Benjamin Franklin 1761 aus den Glasspiel entwickelt
wurde. Besteht aus verschiedenen ineinandergeschobenen Glasglocken, die auf einer gemeinsamen Achse
lagern und durch das Berühren der Glockenränder mit einem feuchten Finger durch ein Pedal gespielt wird.
Bekannt ist auch eine Glasharfe, die aus mehreren Trinkgläsern besteht und durch kreisende Bewegungen
mit dem nassen Finger am Rand gespielt werden.
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Es folgt eine langgezogene Passage, verziert mit vielen Gesangsvariationen:
Dann beginnt die eigentliche Arie „ Ardon gl’incensi… „ im 6/8 Takt in Tempo Largetto.
Lucia fühlt sich schon befreit, glaubt in der Kirche zu sein und sieht die Fackel der
Priester. Sie träumt vom gemeinsamen Leben mit Edgardo und sieht die
Hochzeitzeremonie vor ihrem inneren Auge. Es folgt ein langes Duett mit der Flöte und
wirkungsvollen Echos. Es entsteht eine enorme Wirkung zwischen Gesangsstimme und
Instrument. Noch nie zuvor wurde Wahnsinn so einzigartig komponiert.
An dieser Stelle entsteht die Möglichkeit für eine umfangreiche Kadenz. Bekannt dafür ist
heute eine aus den von vier herausgegebenen Heften von Luigi Ricci (1893-1981), die den
Titel „Variazioni-cadenze-tradizioni“ tragen. Diese Bände enthalten verschiedenste
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Kadenzen, Ornamente und Variationen der Belcantoära, zusammengestellt nicht nur aus
Ornamenten, die Sängerinnen wie Giuditta Pasta, Regina Pacini oder Maria Malibran
verwendeten, sondern auch Kadenzen und Variazionen, die von Komponisten selber
stammen. Die am häufigsten gesungene Kadenz hören wir in der Interpretation von Maria
Callas oder auch von Edita Gruberova:
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Joan Sutherland oder Ada Sari benutzen hingegen stark individualisierte Formen wie
folgende Kadenz:
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Es gibt auch die Version von Adelina Patti, berühmte Interpretin des 19. Jhds, aus Riccis
Heft:
Enrico tritt hinzu und bemerkt Lucias Wahnsinnszustand. Es folgt Lucias Cabaletta als
Moderato im Dreivierteltakt „Spargi d`amaro pianto il mio terreste velo“ (Vergieße
bittere Tränen über meine sterblichen Reste, ich werde im Himmel für dich beten). Es
klingt froh. Auch die Musik, die man hört in Es Dur, ist gar nicht dramatisch. Alles ist von
ihr abgefallen.
Bis zum Ende der Cabaletta folgen mehrere mit Triller verzierte Passagen mit
chromatischen aufsteigenden und fallenden Melodien, die in Triolen-Bewegung sich
entwickeln. Das zeigt die befreite und erlöste Seele der Lucia. Nach dem Mord gibt es
keine andere Alternative als Selbstmord. Die Cabaletta wirkt durch ihren tänzerischen
Rhythmus wie Lucias Abschied von dieser Welt. Lucia beendet ihre Szene mit einem
Spitzenton, meistens dem hohen es (je nach Fassung). Obwohl Donizetti die
wirkungsvollste Wahnsinnszene komponiert hat, gab es bereits vor ihm ähnliche
Wahnsinnsvertonungen, zum Beispiel Elvira in „ Il Puritani“ von Vincenzo Bellini oder
Azzur in Rossinis „Semiramide“.
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Literaturverzeichnis und Notennachweis:
1. Peter Berne, ein praktisches Lehrbuch für Sänger, Dirigenten und Korrepetitoren:
„Belcanto“, Wernersche Verlagsgesellschaft, Neustadt/Weinstraße 2008
2. Olaf Matthias Roth: „Donizetti. Lucia di Lammermoor“, Seeman Henschel GmbH&Co.
KG, Leipzig 2014
3. F.A.Brockhaus GmbH «Der Brockhaus.Musik“, Neue Stalling GmbH, Oldenburg 2001
4. Allgemeine Enzyklopädie der Musik „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“,
herausgegeben von Ludwig Finscher; Sachteil 1; Bärenreiter
5. Rodolfo Celletti „Geschichte des Belcanto“, Bärenreiter Kassel, Basel 1989
6. Hermann Kretzschmar „Geschichte der Oper“, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1919
7. Wilhelm Zentner „Lucia von Lammermoor“, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1960
8. Werner Ohlmann „Oper in vier Jahrhunderten“, Bärenreiter, Stuttgart/Zürich 1984
9. W.H. Riehl: „Zur Geschichte der romantischen Oper“, Weltgeist-Bücher VerlagsGsellscheft m. b. H., Berlin 1928
10. Augus Heriot: „The castrati in Opera“, Calderbooks, London 1960
11. Erna Brand-Seltei: “Belcanto”: Heinrichshofen´s Verlag, Ansterdam 1972
12. Ellen Taller: „Gaetano Donizetti – Moment und Prozess“, Peter Lang, Bern 2005
13. Patrick Barbier: „Histoire des Castrats“, Bernard Grasset, Paris 1989
14. The New Grove: „Meister der italienischen Oper“, aus den Englischen von Anette
Holoch, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar 1993
15. Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene: „Die Geschichte des
Musiktheaters“, Bärenreiter, Kassel 2002
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16. Carolyn Abbate, Roger Parker: „Eine Geschichte der Oper. Die letzte 400 Jahre“, aus
den Engl. Von Karl Heinz Siener und Nikolaus de Palezieux, Vlg. C.H. Beck oHG,
München 2012
17. „Illustrierte Geschichte der Oper“, herausgegeben von Roger Parker, aus den Engl.
Von Ute Becker, Dieter Fuchs und Dorothee Göbel, Verlag J.B. Metzer, Stuttgart, Weimar
1998
Notennachweis:
18. Luigi Ricci „Variazioni–cadenze-tradizioni” Vol.1, Ricordi, Milano 1937
19. Gaetano Donizetti “Lucia di Lammermoor” Klavierauszug, Ricordi, Milano 1960
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Bildverzeichnis:
1. de.wikipedia.org/wiki/Claudio_Monteverdi#/media/File:Bernardo_Strozzi__Claudio_Monteverdi_%28c.1630%29.jpg , 04.10.2015
2. simple.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Scarlatti#/media/File:Alessandro_Scarlatti.jpg,
04.10.2015
3. de.wikipedia.org/wiki/Nicola_AntonioPorpora#/media/File:Nicola_Antonio_Porpora.jpg,
04.10.2015
4.www.memo.fr/Media/Rossini.jpg, 04.10.2015
5. stiftung-rosenkreuz.org/text/casta-diva-bellini-callas-bartoli-gottin/, 04.10.2015
6.www.google.at/search?q=donizetti&biw=1412&bih=751&noj=1&source=lnms&tbm=isch&sa=X
&ved=0CAcQ_AUoAWoVChMI8eO_g-SDyAIVxrQaCh2mvQkf#imgrc=fJ4ZzaBWZWChZM%3A,
04.10.2015
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