Susanne Tatje

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Susanne Tatje
Susanne Tatje: „Kommunale Herausforderung: Demographischer Wandel“
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Forum 7 der XV.Tagung für angewandte Soziologie
am 06.06.09 in Hamburg,
Impulsreferat von Susanne Tatje
Demographiebeauftragte der Stadt Bielefeld zum Thema
„Kommunale Herausforderung: Demographischer Wandel“
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Veranstalter haben mich gebeten, einen Überblick über meine
Arbeit als Demographiebeauftragte der Stadt Bielefeld zu geben.
Doch zuvor noch einige grundsätzliche Sätze zum Thema Demographische Entwicklungsplanung in der Kommune.
1.
Die Demographiedebatte war lange durch Horrorvisionen von entvölkerten und vergreisten Städten bestimmt. Diese Schreckensbilder werden immer wieder bemüht, wenn neue aktuelle Zahlen
vom Statistischen Bundesamt oder anddren wissenschaftlichen
Instituten veröffentlicht werden.
Ich will die Herausforderungen, die durch die demographische
Entwicklung auf unsere Städte und Gemeinden zukommen, keinesfalls „schönreden“, denn in der Tat stellt die veränderte Altersstruktur unser Land und jede einzelne Stadt vor eine schwierige
Aufgabe. Aber es ist falsch, jede gesellschaftspolitische Problemlage automatisch auf den demographischen Wandel zurückzuführen wird. Bei der Demographiepolitik geht es immer um Fragen im
Zusammenhang mit
2
1.
2.
3.
der abnehmenden Zahl der Geburten in unserer Bevölkerung
der Steigerung der Lebenserwartung
den Wanderungsbewegungen der Bevölkerung
und wie sich das Zusammenwirken dieser drei Prozesse vollzieht.
Außerdem handelt es sich um generationenübergreifende Zeiträume, und eine Generation wird von den Bevölkerungswissenschaftlern mit ca. 25 bis 30 Jahren angegeben. Auf diese wissenschaftliche Definition beziehe ich mich bei meiner Arbeit.
Manche Politiker tun sich immer noch schwer mit der Erkenntnis,
dass selbst unter günstigen demographischen Voraussetzungen
die Bevölkerung schrumpft und altert - wenngleich es zwischen
den Regionen, Städten und Gemeinden erhebliche Unterschiede
gibt. Aber für alle gilt, dass die Gesamt-Entwicklung nicht aufgehalten werden kann. Selbst ein sofortiger starker Anstieg der
Geburtenraten und/oder eine verstärkte Zuwanderung würde in
Deutschland während der nächsten 30 Jahre allenfalls den Bevölkerungsrückgang verlangsame- n nicht umkehren..
2.
Die Folgen einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung für unsere Städte sind in ihrer Vielfalt und Tragweite noch gar
nicht vollständig abzuschätzen, aber inzwischen ist klar geworden,
dass sie jeden kommunalen Bereich treffen werden: Die Finanzen
ebenso wie Verkehr, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Ausbildung oder Altenhilfe und Pflege.
Die Kommunalpolitik hat angesichts dieser Entwicklung nur eine
Chance: Sie muss sich überlegen, welche Maßnahmen zu treffen
sind, um die demographische Entwicklung zu gestalten. Langfristige und strategische Ziele für kommunales Handeln sind allerdings
immer noch eher selten, und das nicht ohne Grund. Denn wenn
wir uns mit den Folgen des demographischen Wandels befassen,
müssen wir weit reichende Perspektiven in den Blick nehmen, die
Susanne Tatje: „Kommunale Herausforderung: Demographischer Wandel“
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sich nicht mit den Legislaturperioden von Politikern decken. Außerdem geht es um Prognosen für die Zukunft, und längst nicht
immer lässt sich eindeutig sagen, was das richtige für die Zukunft
ist.
3.
Der Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld hat angesichts der erkennbaren demographischen Entwicklung bereits 2004 gehandelt
und den Themenkomplex „Demographische Entwicklung“ hochrangig in der Verwaltung verankert. Damit war Bielefeld die erst
Stadt in Deutschland, die eine solche Stelle eingerichtet hat. Es
handelt sich um eine klassische Stabsstelle im Dezernat des Oberbürgermeisters mit Querschnittsfunktion für die Gesamtverwaltung. Aufgaben und Kompetenzen sind in einer Organisationsverfügung festgelegt worden:
Zu den Kompetenzen gehört ein Mitzeichnungsrecht bei allen Planungsvorhaben der Verwaltung. Meine Aufgabe als Demographiebeauftragte ist es, konzeptionelle Vorschläge zu entwickeln,
wie der demographische Wandel gestaltet werden kann.
Hauptaufgabe war zunächst, ein kommunales Handlungskonzept
für Bielefeld zu entwickeln. Mit Hilfe des Konzeptes sollte sicher
gestellt werden, dass der Faktor Demographie künftig bei allen
städtischen Planungen berücksichtigt wird. Das Handlungskonzept
„Demographischer Wandel als Chance?“ ist 2006 nach einem intensiven Diskussionsprozess in Verwaltung und Politik im Rat der
Stadt Bielefeld einstimmig beschlossen worden. Es ging nicht darum, konkrete Projekte oder Maßnahmen vorzuschlagen, das ist
nicht Aufgabe der Demographiebeauftragten sondern Aufgabe der
Fachdezernate. Meine Aufgabe liegt darin, strategische Überlegungen für Bielefeld zu entwickeln. Die konkreten Projekte und
Maßnahmen werden jetzt nach dem Ratsbeschluss in der Umsetzungsphase erarbeitet – also nachdem sich die Stadt Bielefeld
über die Ziele verständigt hat.
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Für das Demographiekonzept ist eine systematische Herangehensweise gewählt worden: Zunächst werden zunächst Ergebnisse demographischer Forschungen skizziert und - daraus abgeleitet - Fragen formuliert, die für die kommunale Praxis und damit
auch für Bielefeld wichtig sind. Das Thema sollte in einen theoretischen Bezug gestellt werden, aus dem sich Konzept und somit
das praktische Handeln ableiten. Weiterhin sind sechs demographiepolitische Ziele (und damit zukünftige Handlungsschwerpunkte) für Bielefeld zu den Themen Integration, Wirtschaft, Stadtentwicklung, Gesundheit, Bildung und Familie entwickelt worden. Das
Demographiekonzept sieht darüber hinaus auch eine Erfolgskontrolle vor, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen. Für
die komplexen Demographiethemen ist ein langfristig angelegtes
strategisches Managementkonzept mit einem funktionierenden
Steuerungs- und Controllingprozess notwendig 1.
4.
Der demographische Wandel und seine Auswirkungen sind äußert
vielschichtig und komplex. Entsprechend muss eine demographische Entwicklungsplanung unterschiedliche Wirkungszusammenhänge berücksichtigen und fachbereichsübergreifend angelegt
sein. Anhand des Beispiels Stadtentwicklung (Wohnen) soll dies
im Folgenden verdeutlicht werden:
Eines der sechs demographiepolitischen Ziele lautet: „Wir wohnen
zukunftsfähig!“ Aktuelle Szenarien der Bevölkerungsentwicklung
prognostizieren für die Bundesrepublik einen Rückgang vor allem
in den Städten, hier werden künftig auch mehr alte Menschen leben, während der Anteil von Kindern und Jugendlichen sinkt. In
„schrumpfenden Städten“ können wir schon heute eine zunehmende Segregation beobachten und von dieser Entwicklung, so
die Expertenmeinung, werden zukünftig in den Städten einzelne
Stadtteile unterschiedlich betroffen sein. In den ärmeren Stadtge1
Tatje, Susanne: „Demographischer Wandel als Chance?“ – Das Bielefelder Konzept;
in: „Zukunft Stadt“, Heft 3, Hrsg.: Stadt Bielefeld, Bielefeld 2006
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bieten oder Quartieren leben die meisten Kinder, dort tritt die soziale Benachteiligung, Armut und Arbeitslosigkeit besonders gehäuft
auf belegt auch der aktuelle Bericht über die soziale Situation der
Bielefelder Bevölkerung. Dort sind die Folgen des demographischen Wandels bereits deutlicher zu spüren als in anderen: Der
Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt, und diese
Entwicklung ist mit einer starken Fluktuation der Bewohner durch
Zu- und Wegzug verbunden, die gut situierte Mittelschicht zieht
weg (s.g. „Durchgangsquartiere“). Andere Stadtteile in Bielefeld
verändern sich in eine andere Richtung, hier leben zum Beispiel
überproportional viele alte Menschen.
Für die kommunale Planung stellt sich deshalb die Frage: Wie sollen zukünftig die einzelnen Stadtgebiete entwickelt werden? Hier
geht es unter dem Stichwort: „Segregation verhindern“ darum, eine weitere Aufspaltung des städtischen Gefüges zu verhindern.
Genauso müssen aber auch städtebauliche Dimensionen bedacht
werden, wenn die Bevölkerung abnimmt oder sich deren Zusammensetzung verändert. Es stellen sich Fragen wie



Wie gehen wir mit den sichtbaren Leerständen und den
Folgen für die Infrastruktur um?
Sollen die Hochbauten abgerissen oder umgebaut werden,
z. B. in Zwei- oder Mehr–Familienhäuser? Oder ist es sinnvoller, mehr urbane Lebensqualität durch das Vergrößern
von Grünflächen zu schaffen?
Sollen künftig überhaupt noch neue Siedlungsflächen ausgewiesen werden?
Politik und Städteplanung muss dabei in Rechnung stellen, dass
sich diese Entscheidungen auch auf weitere infrastrukturelle Bereiche auswirken wie den Bau von KiTas und Schulen, aber auch
es geht auch um Verkehrsanbindung oder die leitungsgebundene
Versorgung mit Gas, Wasser oder Strom oder die Entsorgung
durch Abwasserkläranlagen.
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Um hier Wege aufzuzeigen, habe ich bereits im Jahr 2005 das
Projekt „Räume der Zukunft“ angestoßen 2: Unterschiedliche Gruppen, städtische Planer und Planerinnen genauso wie Vertreter der
Wohnungswirtschaft, des Einzelhandels, der Universität, der
Jugendhilfe und des Stadtmarketings, haben Instrumente für ein
„Frühwarnsystem“ entwickelt, mit dem Stadtteile untersucht und
für die Zukunft gestaltet werden können. Die Vorschläge sollen –
quasi als Werkzeugkasten – auch für andere Stadtteile als Anregung und Leitfaden dienen.
In dem Projekt wurde deutlich, dass durch den demographischen
Wandel neue Stadtteilkonzepte nötig sind. Gleichzeitig darf die
Entwicklung eines Stadtteils auch nicht losgelöst werden von der
Entwicklung der Gesamtstadt betrachtet werden und muss mit der
Gesamtstrategie verknüpft werden.
In Bielefeld ist dies in ersten Schritten gelungen: Stadtteilfragen
werden inzwischen in allen kommunalen Planungsvorhaben berücksicht, zum Beispiel beim Masterplan Wohnen, der auf dieser
Grundlage Leitlinien und Qualitätskriterien für städtische Planungen wie Bauvorhaben entwickelt hat.
5.
Aus den demographischen Veränderungen erwachsen erhebliche
Anforderungen an Politik und Verwaltung: Wir alle brauchen stärker einen „demographischen Blick“ auf Themen, um passgenaue
Konzepte und Projekte zu entwickeln. Aus diesem Grund habe ich
von Anfang an konkrete übergreifende Projekte in Angriff genommen, an denen Lokale Akteure und Bürgerinnen und Bürger beteilgt waren 3.
2
Tatje, Susanne: „Räume der Zukunft“; in „Zukunft Stadt“, Heft 2, Hrsg.: Stadt Bielefeld, Bielefeld 2006
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Tatje, Susanne: „Zukunft findet Stadt – Stadt findet Zukunft“; in: Zukunft Stadt, Heft
4, Hrsg.: Stadt Bielefeld, Bielefeld 2007
Tatje, Susanne: „Wie wollen wir leben?“; in: „Zukunft Stadt, Heft 1, Hrsg. Stadt Bielefeld. Bielefeld 2004
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Erst ein intelligenter „policy-mix“ aus verschiedenen Aktivitäten
kann dazu beitragen, die Chancen der demographischen Veränderungen zu nutzen und Bürgerinnen und Bürger motivieren, sich
an der Diskussion über die Zukunft ihrer Stadt zu beteiligen und
für notwendige Veränderungen zu gewinnen.
7.
Ist die Demographische Planung eine neue Aufgabe für Soziologen?
Der demographische Wandel mit seinen vielschichtigen Auswirkungen erfordert eine interdisziplinäre Sichtweise. Es geht nicht
um isolierte Einzelfragen sondern darum, Zusammenhänge zu erkennen, vernetzt zu denken und Gesamtstrategien zu entwickeln.
Soziologen bringen entscheidende Voraussetzungen mit, um in
diesem Themenfeld zu arbeiten. Denn gerade Soziologen wissen,
wie Einzelfragen in einen übergreifenden bzw. übergeordneten
Zusammenhang gestellt und Lösungen erarbeitet werden können,
die über Teillösungen hinausgehen. Manchmal hilft mir auch heute
noch ein Blick in die Schriften von Niklas Luhmann, der erstaunlich
aktuell über Verwaltung geschrieben hat.
Mein Fazit: Bei der Demographischen Planung ist theoretisches
Wissen unverzichtbar. Und da sich Städte dringend auf eine „demographieorientierte Kommunalpolitik“ einstellen müssen, brauchen wir für diese wichtige Aufgabe nicht nur Statistiker, sondern
auch Soziologen, die über Zahlen, Bevölkerungspyramiden und
Prognosen hinaus Perspektiven entwickeln, wie der demographische Wandel sinnvoll gestaltet werden kann.
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Susanne Tatje
Studium an der Universität Bielefeld, Abschluss als Diplom-Soziologin.
Berufstätigkeit in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern wie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt der Universität Bielefeld zur einphasigen Juristenausbildung, Leiterin des Fachbereiches „Politik und
Gesellschaft“ einer großstädtischen Volkshochschule, Referatsleiterin im
Ministerium „Gleichstellung von Frau und Mann“ des Landes NRW, Leiterin des Fachdienstes Jugend, Soziales und Wohnen der Stadt Bielefeld.
Seit 2004 Leiterin des Projektes „Demographische Entwicklungsplanung“ im Dezernat des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld.
In diesem Rahmen Mitglied in der Steuerungsgruppe „Demographischer
Wandel“ bei der KGSt, Mitglied in der AG „Integration vor Ort“ für den
Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung. Innovationspreis des
Landes NRW für das Bielefelder Demographiekonzept „Demographischer Wandel als Chance?“ Diverse Veröffentlichungen zum Demographischen Wandel.
Kontakt: [email protected]
Weitere Informationen: www.bielefeld.de
http://www.bielefeld.de/de/rv/ds_stadtverwaltung/demo/

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