Talbots OFFENE TÜR

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Talbots OFFENE TÜR
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50 FOTOS
DIE MAN KENNEN SOLLTE
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50 FOTOS
DIE MAN KENNEN SOLLTE
Brad Finger
Prestel
München · London · New York
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Umschlagvorderseite: Buzz Aldrin nach der erfolgreichen Landung auf dem Mond, 20. Juli 1969, vgl. S. 86
Frontispiz: Prinz William, Duke of Cambridge, und Catherine, Duchess of Cambridge, nach ihrer Vermählung in Westminster Abbey
am 29. April 2011 in London
Seite 10/11: Westberliner drängen sich vor der geöffneten Berliner Mauer am Morgen des 11. November 1989
© Prestel Verlag, München · London · New York, 2012
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Blick auf den Boulevard du Temple, Paris
Talbots Offene Tür
Porträt von Gioachino Rossini
Der Kristallpalast
Die Ruinen des Großen Redan
Beatos Taj Mahal
Der letzte Tasmanische Wolf
Die Nähstube
Frühe Flugversuche
Machu Picchu
Scotts Antarktisreise
Schützengräben im Ersten Weltkrieg
Die Russische Revolution:
Demonstrationen in Moskau
Steichens Greta Garbo
Henri Cartier-Bresson in Madrid
Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin
Der Herzog und die Herzogin von Windsor
Lee Miller, Pablo Picasso
Die Katastrophe der Hindenburg
Die Farm in der Dust Bowl
Der Canyon de Chelly
Die Landung in der Normandie
Der Kuss zum Kriegsende
Das zerstörte Hiroshima
Gandhi
Tenzing Norgay auf dem Mount Everest
Kalter Krieg im Weltall
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Die Bürgerrechtsbewegung
Fans der Rolling Stones
Warhols Silver Factory
Brasilien gegen die UDSSR
Nelson Mandela auf Robben Island
Hinrichtung in Saigon
Die Kulturrevolution
Die Iranische Revolution
Tschernobyl
Die Exxon Valdez
Der Fall der Berliner Mauer
Der Bosnienkrieg
Blutgerinnsel
Andreas Gursky und
die digitale Fotokunst
11. September
Die Marsoberfläche
Der Hurrikan Katrina
Der Drei-Schluchten-Damm
Der verschwindende Aralsee
Die letzten Tage von Osama bin Laden
Das Tohoku-Erdbeben und der Tsunami
Die ägyptische Revolution
Königliche Hochzeiten
157 Bildnachweis
Register
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1762 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes
1773 Boston Tea Party
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1765
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Louis-Jacques-Mandé Daguerre, Blick auf den Boulevard du Temple, Paris, 1839
1775
1789–99 Französische Revolution
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1804 Napoleon Bonaparte krönt
sich zum Kaiser
1848 Französische Revolution
(Februarrevolution)
1821 Charles-Pierre Baudelaire wird geboren
1808 Goethe, Faust
1815 Napoleon wird vor Waterloo geschlagen
1805
1810
1815
1820
1825
1855 Courbets RealismusAusstellung
1830 Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk
1830
1835
1840
1845
1850
1855
BLICK AUF DEN Boulevard du Temple, Paris
Louis Daguerre hat die Fotografie zwar nicht erfunden, aber seine Innovationen und sein PR-Talent machten sie
zu einem weltweiten Phänomen. Erstmals wurden Fotos international verbreitet und boten dem Menschen eine neue
Sichtweise auf die Welt.
Louis-Jacques-Mandé Daguerre (1787–1851) arbeitete
zunächst als Künstler, Schausteller und Bühnenbildmaler.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war er an der Entwicklung
des Dioramas beteiligt. Diese transportablen, halbkreisförmigen Schaukästen funktionierten mit detaillierter
Trompe-l’œil-Malerei auf Leinen und einer ausgeklügelten
Beleuchtungstechnik, sodass die Illusion entstand, eine
dreidimensionale Naturansicht zu betrachten. In den
1820er-Jahren begann Daguerre, mit Verfahrensweisen zu
experimentieren, die die Natur schneller und effektiver
»reproduzieren« konnten als die arbeitsaufwendigen
Gemälde.
Daguerre ging eine Partnerschaft mit Joseph Nicéphore
Niépce ein, ein wohlhabender Erfinder, der die Technik der
Heliografie oder »Sonnenzeichnung« entwickelt hatte.
Dabei wurde eine Zinnplatte mit einer klebrigen Substanz
namens Bitumen Judaicum beschichtet, um dann das Bild
eines Gegenstandes oder einer Szenerie in einer Camera
obscura auf die Platte zu projizieren. Die beschichtete Platte
wurde mehrere Stunden lang belichtet und schließlich mit
einer Mixtur abgewaschen, die Lavendelöl enthielt. Nach
einer gewissen Zeit erschien das Bild, das die Camera obscura auf die Platte geworfen hatte, und blieb permanent erhalten, wenn auch etwas unscharf. Daguerre muss dies wie
Zauberei erschienen sein. Die Camera obscura war schon
seit Langem von Malern als Hilfsmittel eingesetzt worden.
Doch von nun an konnte man mit ihr Bilder herstellen, die
Natur und Zeit stillstehen ließen. Daguerre begann, Niépces
Technik der Sonnenzeichnung zu verbessern. Er stellte bald
fest, dass er mit anderen Materialien – etwa mit Silberjodid
beschichteten Kupferplatten – Bilder von erstaunlichem
Detailreichtum erzeugen konnte. Der Hersteller von Dioramen hatte eine neue »Leinwand« gefunden, auf der sich
seine Bilder festhalten ließen.
Daguerres frühe Versuche mit dieser Technik waren
allerdings noch etwas zaghaft. Seine erste bekannte Fotografie, Stillleben (1837), hat die Anmutung eines herkömmlichen Gemäldes. Sie zeigt eine sorgfältig arrangierte Gruppe
von Gipsabgüssen und anderen »künstlerischen« Objekten
– eine Szenerie, die an die Stillleben des 17. Jahrhunderts
erinnert. Bald erprobte Daguerre spontanere Aufnahmen.
Zu Beginn des Jahres 1839 richtete er die Kamera aus dem
Fenster seiner Pariser Wohnung am belebten Boulevard du
Temple und ließ sie einfach aufnehmen, was sie »sah«. Das
Ergebnis war eine Stadtansicht in bislang ungekanntem
Detailreichtum, die allerdings auf unheimliche Weise menschenleer war. Die Platte musste mehrere Minuten lang
belichtet werden und das machte es unmöglich, die sich
bewegenden Passanten und Gegenstände einzufangen. Ein
Mann verharrte jedoch während der gesamten Belichtungszeit beinahe bewegungslos: Er ließ sich seine Stiefel putzen.
Seine unvollständige, schattenhafte Gestalt stellt eines der
ersten fotografischen »Porträts« dar.
Im selben Jahr, in dem Blick auf den Boulevard du Temple
entstand, gewann Daguerre die Unterstützung von François
Arago, um seine Erfindung publik zu machen. Arago war
nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein geschickter
Politiker und er half, bei der Académie des Sciences und der
Regierung für das Daguerrotypie-Verfahren zu werben. Als
Daguerres Bilder schließlich am 16. August 1839 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, galten sie sofort als Sensation.
Beinahe über Nacht nahmen Daguerrotypisten in ganz
Europa und Nordamerika ihre Geschäfte auf. Gerahmte
Familienporträt-Daguerrotypien begannen die Werke von
Malern zu verdrängen und zwangen die Künstler, den Sinn
der Malerei an sich zu überdenken. Die »nichtrealistischen«
Experimente der Impressionisten und späterer Bewegungen
verdankten ihre Inspiration teilweise der Erfindung von
Niépce und Daguerre.
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Louis-Jacques-Mandé Daguerre, Stillleben (Ecke in Daguerres Atelier), Paris, 1837
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1826 Erste Fotografie von
Joseph Nicéphore Nièpce
1805 Schlacht von Trafalgar und Schlacht
bei Austerlitz
1790
1795
1800
William Henry Fox Talbot, Die offene Tür, April 1844
1805
1810
1815
1830 Julirevolution in
Frankreich
1820
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1840
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1893 Edvard Munch,
Der Schrei
1853–70 Georges-Eugène Haussmanns
Umgestaltung von Paris
1845
1850
1855
1860
1865
1887–89 Bau des Eiffelturms in Paris
1870 Beginn des Deutsch-Französischen
Krieges
1861–65 Amerikanischer
Bürgerkrieg
1870
1875
1880
1895 Erste
Biennale in
Venedig
1885
1890
1895
Talbots OFFENE TÜR
Wenn sich William Henry Fox Talbot über Darstellungen wie Die offene Tür (1844) äußerte, sprach er über seine
Versuche, mit dem Blick des Malers dort Schönheit zu finden, »wo gewöhnliche Menschen nichts Bemerkenswertes
sehen«. Talbots stille, ruhig komponierte Szenen stehen oft im Gegensatz zu dem revolutionären Charakter seiner
Erfindungen auf dem Gebiet der Fotografie.
Im Januar 1839 widmete sich der englische Erfinder William
Henry Fox Talbot (1800–1877) der Übersetzung eines
Sitzungsberichts der französischen Académie des Sciences.
Zu seinem Schrecken las er darin von einem neuen Verfahren seines Erfinderkollegen Louis Daguerre, bei dem mittels
einer Camera obscura Abbilder der Natur dauerhaft festgehalten werden konnten. Talbot war erstaunt, weil er selbst
bereits ein ähnliches Verfahren entwickelt hatte. In den
folgenden Jahren arbeitete Talbot unermüdlich daran, für
seine eigenen Beiträge zur Fotografie zu werben und sie zu
verbessern.
Henry Fox Talbot beschäftigte sich intensiv mit diversen
wissenschaftlichen Disziplinen, darunter Mathematik und
Physik. Anfang der 1830er-Jahre begann er, optische Versuche mit einer Camera obscura durchzuführen. Später sollte
Talbot diese Experimente als Folge seiner unzulänglichen
Versuche erklären, präzise wissenschaftliche Zeichnungen
zu entwerfen. »Ich erfreute mich an den herrlichen Gestaden
des Comer Sees in Italien und fertigte Zeichnungen an ...
Ich sollte wohl vielmehr sagen, ich bemühte mich darum,
dies zu tun, denn es geschah mit denkbar geringem Erfolg ...
Ich dachte dann an das erneute Ausprobieren einer Methode, die ich bereits vor vielen Jahren entwickelt hatte. Diese
Methode bestand darin, eine Camera obscura zu verwenden
und sie den von ihr abgebildeten Gegenstand auf ein Blatt
Papier werfen zu lassen – feenhafte Bilder, Werke des
Augenblicks und dazu verurteilt, wieder zu verblassen. In
diesem Zusammenhang kam mir die Idee, wie wunderbar es
doch wäre, wenn man diese natürlichen Bilder dazu bringen
könnte, dauerhaft erhalten und auf dem Papier fixiert zu
bleiben.« Im Jahr 1834 fand Talbot solch eine »Fixier«Methode, indem er Papier in Natriumchlorid und Silbernitrat
tränkte. Legte man dieses Papier in eine Camera obscura
und setzte es dem Sonnenlicht aus, hielt es Talbots »natürliche Bilder« auf überraschende Weise fest. Die dunklen
Bereiche des Bildes erschienen hell und die hellen Bereiche
dunkel. Talbot wusch das Papier daraufhin in einer Salzlösung aus, die verhinderte, dass das Bild verschwand, wenn
es weiterhin unter Lichteinfluss stand. Er fand außerdem
heraus, dass diese »Zeichnung als Gegenstand einer zweiten Zeichnung dienen konnte, bei der Hell und Dunkel sich
wieder umkehren«. Fox Talbot hatte das fotografische
Negativ erfunden.
Einige Jahre lang verfolgte er seine ursprünglichen
Versuche mit »fotogenen« Verfahren nicht weiter. Doch die
Nachricht von Daguerres Entdeckung 1839 zwang ihn, seine
früheren Ergebnisse eilig der Londoner Royal Society vorzustellen. In den nächsten zwei Jahren verfeinerte er seine
Methode und ließ sie 1841 unter dem Namen »Kalotypie«
patentieren. Zwei Jahre zuvor hatte Daguerre in Großbritannien ein Patent auf seine eigene Erfindung angemeldet.
Allerdings erreichten Talbots Kalotypien nie den beeindruckenden Kontrast von Hell und Dunkel, die visuelle Klarheit
der Daguerrotypien. Oftmals zeigten die Bilder ein verblasstes, körniges Aussehen, insbesondere frühe Aufnahmen wie
Die offene Tür. Durch diesen Nachteil ließ sich Talbots im
Gegensatz zu Daguerres Verfahren von Anfang an weniger
gut vermarkten. Im Lauf der Zeit trugen die technischen
Neuerungen der Kalotypie – vor allem die Möglichkeit, von
einem einzigen Negativ mehrere Kopien herzustellen –
jedoch dazu bei, die Entwicklung der modernen Fotografie
zu beflügeln. Aporopos: Der Begriff »Fotografie« wurde von
dem englischen Wissenschaftler John Herschel geprägt, ein
Freund und Mitarbeiter Talbots.
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1848–49 Revolutionen in zahlreichen
europäischen Ländern
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1812 Napoleon marschiert in Russland ein
1837 Louis Daguerre erfindet
die Daguerreotypie
1819 Théodore Géricault,
Das Floß der Medusa
1815
1820
1825
1830
1835
1840
1845
1855 Courbets Realismus-Ausstellung
1850
1855
1860
links
Félix Nadar, Porträt Gioachino
Rossini, 1856
rechte Seite
Félix Nadar, Luftaufnahme von
Paris, 1858
1865
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1904 Entente cordiale zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich
1871 Zerschlagung der Pariser Commune
1870
1875
1880
1886 Die amerikanische Freiheitsstatue wird im Hafen
von New York errichtet
1885
1890
1895
1917 Oktoberrevolution
in Russland
1900 Erste Linie der französischen Métro
wird eröffnet
1900
1905
1910
1915
1920
Porträt von Gioachino Rossini
1859 war der vitale Komponist Gioachino Rossini ein Gesellschaftslöwe in der Kulturszene von Paris. Er schrieb keine
berühmten Opern mehr, sondern hatte sich zur Ruhe gesetzt und lebte ein ausschweifendes Leben. Er liebte Wein und gutes
Essen und war mit zahlreichen Künstlern und Schriftstellern befreundet. Weiterentwicklungen in der Fotografie machten
es Félix Nadar möglich, die Persönlichkeit Rossinis einzufangen, die Gelassenheit und Anziehungskraft ausstrahlte.
Wie Louis Daguerre war auch Félix Nadar (1820–1910) ein
guter Selbstdarsteller. Er kam als Gaspard-Félix Tournachon
zur Welt, nahm aber ein Pseudonym an, das auf humorvolle
Weise seine frühere Laufbahn als Karikaturist widerspiegelt.
»Nadar« ist die verkürzte Form eines Ausdrucks und
bezeichnet »jemanden, der sticht«. Nadar war eine überschwängliche Persönlichkeit und hatte viele Freunde unter
den wichtigsten Kulturschaffenden Frankreichs, wie den
Künstler Honoré Daumier und die Schauspielerin Sarah
Bernhardt. Bald brachte er seine künstlerischen und sozialen Fähigkeiten mit seiner Begabung zur Fotografie in Einklang. Mitte der 1850er-Jahre war Nadars Atelier berühmt
für seine fotografischen Porträts.
Nadar profitierte davon, dass die Fotografie seit den
Tagen von Daguerre und Fox Talbot große technische Fortschritte gemacht hatte. Seit 1851 verwendeten Fotografen
Nassplatten aus Glas, die mit einer schnell trocknenden
Substanz namens Kollodium beschichtet wurden. Dieses
Verfahren verringerte die Belichtungszeit beträchtlich und
produzierte qualitativ hochwertige Negative. Bei der
Daguerrotypie mussten die Porträtierten mehrere Minuten
lang bewegungslos verharren, was alles andere als natürliche Gesichtsausdrücke zur Folge hatte. Nun dauerte die
Aufnahme nur noch wenige Sekunden und die Modelle
konnten entspannter vor der Kamera posieren. Nadars Kunden kam außerdem zugute, dass sie es mit einem Künstler
zu tun hatten, der ein großes Verständnis für Komposition
und Beleuchtung an den Tag legte. Seine fotografischen
Porträts weisen oft dieselbe Lebendigkeit und Ausdruckskraft auf, wie sie den besten gemalten Porträts zu eigen
sind. Es liegt auf der Hand, dass viele von Nadars bekanntesten Bildern befreundete Künstler zeigen. In seinem Rossini-Porträt von 1856 beispielsweise ist es ihm besonders gut
gelungen, den heiteren Charakter des italienischen Komponisten einzufangen. Wir sehen einen älteren Mann, der
einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hat, die
Früchte des frühen Erfolgs seiner Opern zu genießen. Wie
bei vielen anderen Bildern von Nadar scheint der Porträtier-
te mit dem Betrachter zu kommunizieren – eine starke
emotionale Bindung entsteht. Aus solchen Darstellungen
erwuchs die moderne Polit- und Promikultur.
Nadar erforschte auch andere Wege, mit der Kamera
das alltägliche Leben publik zu machen. 1858 erstellte er von
einem Heißluftballon aus die weltweit ersten Luftaufnahmen von Paris. Diese Bilder zeigen ein Stadtzentrum, das
von den großen Boulevards und öffentlichen Plätzen, die
Baron Haussmann entworfen hatte, verändert wurde. Doch
Nadar fotografierte seine Stadt auch von unten: Von ihm
stammen bemerkenswerte Aufnahmen der Pariser Kanalisation. Mithilfe einer neuartigen Methode, die mit elektrischer
Beleuchtung arbeitete, enthüllte Nadar eine unterirdische,
höhlenartige Welt aus Gewölben und Tunneln – eine Welt,
die das glitzernde kulturelle Leben von Rossinis Paris zwar
erst möglich machte, aber auch in einem deutlichen Gegensatz dazu stand.
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1833 Das Britische Parlament verabschiedet
den Slavery Abolition Act
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1837 Victoria I. wird Königin
von Großbritannien
1809 Charles Darwin wird geboren
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1873 Claude Monet, Impression, Sonnenaufgang
1851 Erste Weltausstellung in London
1857 Gustave Flaubert,
Madame Bovary
1855
1860
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1874 Erste Ausstellung der
Impressionisten in Paris
1865
1870
1875
1880
1894 Eröffnung der Tower
Bridge in London
1887–89 Bau des Eiffelturms in Paris
1885
1890
1900 Boxeraufstand
in China
1895
1900
1905
der Kristallpalast
Der Kristallpalast war ein perfekter Bildgegenstand für die frühe Fotografie. Den Fotografen gefiel es, die riesigen Wände
aus Glas und Stahl aufzunehmen und das ausgedehnte, labyrinthartige Innere. Die entstandenen Bilder schienen den Geist
des Industriezeitalters zu verkörpern und dienten den neuen Strömungen in der modernen Architektur als Anregung.
Die Weltausstellung von 1851 war die erste internationale
Schau der industriellen Revolution. Sie wurde offiziell als
Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations
bezeichnet und fand im Hyde Park in London statt. Die Ausstellung zeigte all die Wunder der modernen Technik und
die Früchte des britischen Kolonialismus. Für den Eintrittspreis von einem Shilling konnte man Mikroskope, Maschinen zur Stahlerzeugung, öffentliche Toiletten, die neuesten
Küchengeräte und eine mechanische Erntemaschine bewundern. Sogar der größte Diamant der Welt, der Koh-i-Noor,
wurde gezeigt. Er war erst ein Jahr zuvor Königin Victoria
überreicht worden, als äußerst öffentlichkeitswirksame
Trophäe aus dem Ersten Sikh-Krieg, der zu Englands Jahrzehnte dauernder Eroberung des indischen Kontinents im
19. Jahrhundert gehörte. Victorias Ehemann, Prinz Albert,
war ein engagierter Unterstützer der Ausstellung. So war es
nicht überraschend, dass man den Koh-i-Noor im Sommer
1851 im Hyde Park bestaunen konnte.
All diese Wunderdinge begeisterten Millionen von
Besuchern, die in die Ausstellung strömten. Doch der vielleicht bemerkenswerteste Aspekt der Schau war deren
Hauptgebäude, der Kristallpalast. Das gigantische Bauwerk
aus Glas und Stahl ging auf einen Entwurf von Joseph Paxton zurück und erinnerte an die Gewächshäuser, für die der
Architekt berühmt war. Die Größe und Ausmaße des Gebäudes, die mäandernde Beschaffenheit seines Inneren und die
technischen Neuheiten, die zu seiner Erbauung nötig waren,
machten den Palast zu einem ersten, bahnbrechenden Werk
der modernen Architektur. Dem amerikanischen Kunsthistoriker Vincent Scully zufolge bot der Palast etwas, das sich
grundlegend von den geordneten, schutzspendenden
Gebäuden der europäischen Städte unterschied: »Seine
Skelettstruktur aus dünnen Eisenstreben«, schrieb Scully,
»wurde von ... den Zeitgenossen als bezauberndes Labyrinth wahrgenommen. Es war ein Ort, an dem man spazieren konnte, endlos und kontinuierlich, mit Begrenzungen,
die nur aus Glas bestanden und mit festen Bestandteilen,
die in komplizierte Netze zerlegt worden waren.«
Der Kristallpalast war auch eines der ersten Bauwerke, das
ausgiebig fotografiert wurde. Das neue Bildmedium stellte
die »endlose Kontinuität« des Gebäudeinneren perfekt
dar. Nach dem Ende der Ausstellung wurde der Palast aus
dem Hyde Park entfernt und in erweiterter Form in Sydenham im südlichen London neu errichtet. Die meisten erhalten gebliebenen Fotos zeigen diese Version des Gebäudes.
Auf einigen ist sogar der Wiederaufbau zu sehen, der von
1852 bis 1854 dauerte. Aufnahmen des halb fertiggestellten
Querschiffs besitzen eine ausdrucksstarke, beinahe musikalische Qualität: eine Symphonie aus Licht, Schatten und
Stahl. Auf anderen Bildern des Wiederaufbaus sieht man
Besucher, die wie gut gekleidete Spielzeugfiguren wirken,
bei der Erforschung einer fremdartigen Welt aus riesigen
Bögen und freiem Raum. Diese Aufnahmen beeinflussten die
Architekten zahlreicher Weltausstellungen und hochtechnisierter Olympischer Dörfer. Auch nahmen sie die Landschaften aus Glas und Stahl vorweg, die die Städte des
20. und 21. Jahrhunderts prägen.
Philip Henry Delamotte, Die Große Galerie des Kristallpalasts, Sydenham, 1856
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Philip Henry Delamotte, Der Kristallpalast, London, 1853
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1848 Krimkrieg
1830 Pfad der Tränen
1805
1810
1815
1820
James Robertson, Ansicht des zerstörten Großen Redan, 1855/56
1825
1830
1835
1848–49 Beginn des Kalifornischen Goldrauschs
1840
1845
1850
1855

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