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magazin neues deutschland Nr. 11 Sep 2007 Bild: photocase.de Greetings from... SaccoundVanzettigibtesjetztauch imInternet.MiteinemeigenenProfil beimyspace.com. Einfachmyspace.com/saccoundvanzettieingeben undschontrefftIhraufdasaktuelleMagazinund seineVorgänger.MusikalischeUntermalunginklusive. OderIhrtreffteineganzeReiheunsererFreunde,die genausovielzähligwieunterschiedlichsind,einfach bunteben–wieauchdieThemenunddasneue DesignvonSundV.VomAttaciüberPunkrocker, Fußballfans,schrägeBandsundweiseLiedermacher, vondereinfachenLeserinhinzumeinfachenPromi –siealleunterstützenSaccoundVanzetti.Weilsie dieInhaltemögen,dieSprache,unsereOptik.Weil sieunsinteressantfindenodereinfachnurGlück wünschenwollenbeiunseremVorhaben,mitwachem VerstandundoffenenSinnendurchsLebenzugehen, KritikwürdigeszukritisierenundGenießenswerteszu genießen. WieauchwiederinderaktuellenAusgabe,inder wirunsdemLebenjungerBehinderterwidmenund inverschiedenenFacettenvorstellen.Achja,die Popkommtobtalljährlichwieder,diesmalauch durchunserHeft,nebenmigrantischenBoxernund Lifestylesportlern.EineGruppejungerMenschenaus FrankfurtprobtdieGegenwirklichkeit,unserDichter erlebtsieindenJobcenterndieserRepublik. WennIhrEuchvonunsangesprochenfühlt,uns unterstützen,Glückwünschenoderüberdieneueste Ausgabeabkotzenwollt,dannschautdochmalbei myspacevorbei.DortkönntIhrauchgleichunserem exklusivenFreundeskreisbeitreten.OderIhrlasst esundlestunseinfachweiterhin,verfolgtunsere Entwicklung,legtdieHändeindenSchoß,wartetund stelltplötzlichfest,dassIhrbeginnt,sozutickenwie SaccoundVanzettiundseineRedaktion.Daswär’ dochschonmaleinAnfang. MartinSchirdewan »Ifyoucan´twait,takeataxi.« WirempfehlenjedochroteDoppelstock-Busse. von Andreas Voland von Who the fuck did it? Bild: photocase.de London, Hauptstadt von Großbritannien, eine Weltstadt, auf jeden Fall die meist überwachte Stadt in Europa. Mein erster Eindruck: Keine Ecke, keine Straße, die nicht von kleinen Kameras bewacht wird. MeinzweiterLondonerEindruck: London ist multikulturell. Die ersten Worte, mit denen ich begrüßt werde, sind spanische Anweisungen von den Platzanweisern und Fahrkartenverkäufern des Busunternehmens, das mich vom Flughafen Stansted, dem beliebten Zielpunkt von Billigfluggesellschaften, eine Stunde Fahrzeit außerhalb von London, zur Bushaltestelle Westminster fahren soll. MeindritterEindruckvonLondon: Schlagfertige Busfahrer. Nicht nur Touristen rotten sich an der innenstadtnahen Haltestelle Westminster zusammen, auch behinderte Londoner steigen meist in Westminster um — es ist die einzige barrierefreie Station in der Innenstadt. Wir haben einen witzigen Busfahrer, der die einsteigenden und uns aussteigende Touristen gut im Griff hat. Er lässt die Vordertür geschlossen bis sich vor dem Bus eine Rampe entfaltet, die eine Rollstuhlfahrerin auf die Straße bringen soll. Die Touristen vor dem Bus akzeptierten die Handzeichen des Busfahrers aber nicht, sind ungeduldig und hämmern gegen die Tür. Der Busfahrer greift zum Mikrofon und ruft ihnen zu: »If you can’t wait, take a taxi.« MeinvierterEindruckvonLondon: Londoner sind stark im Feiern und im Betrunken-Sein und sehr zahlreich am Start... 7,5 Millionen Einwohner, laut der letzten Zählung. Da kommt mir mein Berlin wie eine kleine, entspannte Provinzstadt vor — nur das Servicepersonal der Verkehrsbetriebe ist ähnlich rotzig. Von der Haltestelle Westminster fahre ich zum Bahnhof Victoria Station und mache mich zu Fuß auf zur Kings Road, nur ein paar Straßen weiter — denke ich mir und laufe los, an der Themse entlang, durch dunkle Gassen. Irgendwann erklärt mir ein netter Partygänger, dass die Kings Road ganz in der Nähe sei... ach, ich wolle nach Chiswick? Nein, da würde ich mich irren. Wahrscheinlich meine ich eher die Kings Street! Das wären dann noch acht Meilen. Zu Fuß? Ich sei verrückt, lieber mit dem Bus, oder mit dem Taxi, für 30 Pfund. Ich laufe. Mein Problem, ich habe kein Geld getauscht – und das in der drittteuersten Stadt der Welt – Taxi fällt also fl ach. Ich laufe. Irgendwann siegt Erschöpfung über geilen Geiz und ich versuche es mit S.4&5-Behindertwerdenwiralle AusdenAugen–ausdemSinn.Weilsieetwasganz Besonderessind,dürfenbehinderteKinderinunserer RepublikSonderschulenbesuchen.Ausgrenzungwirdbei unsföderalorganisiert. S.6-Killermückengreifenan UnserAutorhatsichindiePotsdamerTrattoriaVilla Apostoligewagt–inBegleitung.DerWeinfließt,dasBlut pulsiertundfürdieanderenGästederTrattoriabeginnt dasgroßeFressen. S.7-ReclaimyourHeimat WirwollenunsereHeimatwieder.Nichtalskrude MixturausNationundIdyll,nichtalsMügelnAbziehbild,sondernehrlich,zivilcouragiertunddeshalb tolerant,offenundfriedlich.DieLeutevonanspruch. gegenwirklichkeitwollendasauch. S.8-ImRingbistDuallein ArthurAbrahamlässtsichimRingdenKieferdoppelt zertrümmernundsiegt.EristeinervonvielenBoxern mitMigrationshintergrund.WieAfroamerikaneram beliebtestensind,wennsieihrHeimatlandprestigeträchtigzuMedaillenspiegelanführernmachen,genießen MigrantendannRespekt,wennsiefürdeutscheBoxställe ausländischeWeltklasseboxeraufdieBretterschicken. SiekämpfenumRespekt. S.9-FastwiebeiSaccoundVanzetti TäglichöffnetdasBundesinnenministeriumseineScheunentoreundentlässteineneueSauinsDorf.Wirsind mittlerweilenichtnurExport-,sondernauchAbhörweltmeister.UndwirsindWeltklasse,wennesdarumgeht, missliebigEngagierteeinzuschüchtern. S.10&11-InBerlinspieltdieMusik PaulvanDyksprichtvonderMusikalsZukunftsbranche. Besserersprichtvonihr,alsdassersiemacht.Obwohl unsauchdasaufderdiesjährigenPopkommnichterspart bleibenwird–sowieRammsteinoderdieewigFantastischenVier. dem Bus. Der Busfahrer will mich ohne Ticket nicht mitnehmen, verständlich, würde wohl niemand. Glücklicherweise ist ein Mann bereit, Euro gegen Pfund zu tauschen. Dankbar zücke ich meinen Geldbeutel. MeinfünfterEindruck: Nett, die Londoner. Wirklich ausgesprochen nett und gastfreundlich! Ichlerne: London erlebt der nicht ganz so zahlungskräftige, dafür aber abenteuerlustige Tourist am besten nach dem Kauf einer ÖPNV-Tagesfahrkarte in einem der bekannten, roten Busse. Mit denen einfach ins Blaue hineinfahren und aussteigen, wo auch immer die innere Stimme oder das Aufmerksamkeitsbarometer »HIER!« ruft. Mein erster Stopp ist die Oxford Street, ein überdimensionales Einkaufszentrum mit Massen von Schäppchenjägern und dem dazugehörigen Massenangebot an Waren, Sonderangeboten, Wühltischen voll mit Billigwaren minderer Qualität. Mehr kaufen, als brauchen... Hier gibt es nichts zu holen, außer vier zum Preis von drei – also weiter mit dem Bus zum Trafalgar Square. Von hier aus entdecke ich London Eye, das Parliament House, inklusive demonstrativ aufgestelltem Zeltlager und Transpa- renten: »Iran should be free«... Nicht weit davon entfernt: Kriegsdenkmäler und das britische Verteidigungsministerium, bewacht von Soldaten in roter Uniform, mit Säbeln, überhohen Kniestiefeln und schwarzen Plüschhelmen. Um sie herum wuseln Touristen, lassen sich fotografieren, machen Scherze, staunen oder laufen einfach vorbei. Einer der Soldaten zittert schon am ganzen Körper, aber er hält durch, wofür auch immer... X-ter(märchenhafter)EindruckvonderWeltstadtmit Herz: Etwas weiter in Richtung Campden Town schlägt uns ein riesiger Trödelmarkt in seinen Bann. Ja, wir sind die richtige Zielgruppe. Alternatives Leben, Batiktücher, Musikläden, Räucherstäbchen, Steine, Möbel, Klamotten... wir kommen! Und ich fi nde meine Schamanentrommel. Ich will den Kauf durch die Botschaft des Windes bekräftigen lassen. Wie auch sonst? »Ich zähle bis zehn. Legt sich der Wind, gehört die Trommel mir.« Der Wind bestätigt. Die Fahne hängt bei sieben für einen kurzen Augenblick wie leblos am Mast. Die Trommel tritt mit mir die Rückreise nach Berlin an. London – eine zauberhafte Stadt... S.12&13-OrganisiertesGebrechen KanneinEinbeinigerlänger?EineberechtigteFrage, schließlichgibteseinBeinweniger,dasBlutinAnspruch nimmt.DasBehindertenmagazinMondkalbgibtdie Antwort–behauptetzumindesteinMondkalb-Redakteur inunseremInterview. S.14-DieWürdedesMenschenistangreifbar.GreifenSiezu! WolfHungertreibtsichaufdengrauenGängender bundesdeutschenArbeitsagenturenherumundsehnt sichalsTransferleistungsbeantragendernacheinem Bolzenschussgerät. S.15-VonwegenSpiesser Underdog-Erfolgsgeschichten sind besonders herzerwärmend – wie die vom ostdeutschen Schülerblättchen Spiesser, das demnächst mit einer Aufl age von 1000000 Exemplaren bundesweit zu haben ist. 4 Im Fokus: Junge Behinderte von Ruth Steinhof Vor Behinderungen jeglicher Art kann niemand sicher sein. Weder jung noch alt, egal, ob kerngesund oder hypochondrisch. Aber ebenso kann auch jeder seinen Beitrag dazu leisten in die oft isolierte Welt von Behinderten ein Stück Normalität zu bringen. Ich bin gesund. Meine Beine tragen mich, wohin ich möchte. Doch was wäre, wenn ich morgen beim Abbiegen mit dem Fahrrad von einem Auto erfasst werde? Was dann? Von einem auf den anderen Tag wäre ich einer der ca. 1200 vollzeitlich pflegebedürftigen jungen Menschen in Deutschland. Wäre querschnittsgelähmt oder anders behindert und bedürfte vollstationärer Pflege. Bis ich gelernt hätte, mich selbst medizinisch zu versorgen und den Alltag allein zu bewältigen. Wahrscheinlich wäre ein Aufenthalt in einem Heim notwendig. Wenn ich überhaupt einen Platz bekäme. In Deutschland gibt es längst nicht genug Pflegeeinrichtungen, die sich auf die Pflege junger Menschen spezialisiert haben. Das »House of Life« (HoL) im Berliner Bezirk Kreuzberg ist eines der wenigen. Dort wird es 20- bis 50-jährigen Patienten ermöglicht, die nötige Vollpflege zu bekommen und dennoch so normal wie möglich zu wohnen. Das ist für viele Bewohner ausschlaggebend. Denn ins HoL darf man zum Beispiel seinen Hund oder seine Katze mitnehmen. Und auch sonst ist Heimleiterin Romy Arnhold sehr darauf bedacht, den Kontakt ihrer Patienten zur Welt außerhalb der Heimmauern nicht abbrechen zu lassen. Während die meisten Pflegeheime darauf ausgerichtet sind, alten Menschen den Lebensabend zu erleichtern, ist es das oberste Ziel des HoL, seinen Schützlingen den Weg wieder zurück in die Gesellschaft, in ein eigenständiges Leben zu ermöglichen und Lebensfreude zu schaffen. Es werden Feste veranstaltet, Tiershows ins Haus geholt und immer ein offenes Ohr und ein freundliches Wort parat gehalten. Behilflich dabei sind so genannte Zeitschenker. Privatmenschen, darunter zum Teil auch frühere Patienten, unterstützen die Einrichtung, besuchen Patienten, reden, trinken mit ihnen Kaffee, lesen ihnen vor, gehen mit ihnen spazieren oder hören einfach nur zu. Ein Extraservice, der weder von Krankenkassen, noch von anderer Stelle bezahlt wird. Allein durch Privatspenden ist dieser Luxus, der das Leben erst lebenswert macht, finanzierbar. Mit der Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt und der Krankenkassen sei sie zufrieden, meint Romy Arnhold. Allerdings müsse das alles noch ausgeweitet werden. Mit der Personalbesetzung stoße man oft an Grenzen, Mangel bestehe immer, viele seien der Herausforderung nicht gewachsen. Wichtig sei es, die Menschen schon während der Ausbildung auf die harten Anforderungen vorzubereiten. Auch »eine Aufwandsentschädigung für die Zeitschenker oder ein Bus für Ausflüge wäre toll«, schwärmt sie. Und schließlich könne man nie genug Menschen haben, die Zeit schenken. .. von Dr. Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag Lernende mit Behinderungen sehen die Regelschule, auf die ihre Freunde und Nachbarn gehen, meist nur von Außen. Gerade mal 14 Prozent der knapp 484000 Lernenden mit Behinderungen lernen gemeinsam mit sogenannten normalen Schülern und Schülerinnen. Damit ist Deutschland trauriges Schlusslicht in Europa. Die anderen werden in Sonderschulen untergebracht. Sicherlich, die meisten Sonderpädagogen leisten sehr gute Arbeit, wenn sie auf ihre Schützlinge sensibel eingehen und sie individuell fördern. Aber warum sollte das nicht für alle Lernenden ermöglicht werden? Damit die Sonderschulen abgeschafft werden können, und das sollten sie, müssen auch die Regelschulen komplett verändert werden. Sowohl was die pädagogische Ausrichtung betrifft als auch ganz einfach die baulichen/ räumlichen Bedingungen angeht. Kann es sein, dass ein Kind, das sich im Rollstuhl bewegt und ansonsten keinen Förderschwerpunkt assistiert bekommt, in die Sonderschule gehen muss, nur weil Barrieren es hindern, in das Gebäude zu gelangen? Mit der Anfrage der LINKEN zu »Lernende mit Behinderungen in Deutschland« (Drucksache 16/5838) wurde offenbar: Die Bundesregierung verschließt mit der Ausrede fehlender Daten und Erkenntnisse sowie der Nichtzuständigkeit die Augen vor dem Anachronismus des Sonderschulunwesens. Sie weiß, wie wichtig Inklusion in Regelschulen statt Aussperrung in Sondereinrichtungen wäre, aber sie handelt nicht. Sie weiß, dass Artikel 3 des Grundgesetzes, die Behindertengleichstellungsgesetze und alles Gerede von der Teil- habe von Menschen mit Behinderungen leeres Geschwätz bleiben, wenn sie schon in den ersten Lebensjahren ausgesondert werden. Es ist ein Skandal, dass die Regierungen in Bund und Ländern immer noch die Rechte von Kindern mit Beeinträchtigungen missachten. Hier stehen Menschenrechtsfragen zur Debatte und nicht Mäzenatentum. Wir müssen das System der Sonderschulen überwinden. Es geht nicht darum, hier und da einen Förderlehrer mehr einzustellen. Wir müssen dieses System konsequent umbauen: Fähigkeiten erkennen und fördern, muss die Aufgabe lauten. Dabei müssen wir mit den Betroffenen so behutsam wie möglich umgehen. In einer Schule für alle würden alle Lernenden vom gemeinsamen Unterricht profitieren, das zeigen sowohl Erfahrungen aus der Praxis als auch wissenschaftliche Studien. Gleiches gilt auch für Studierende und Auszubildende mit Behinderung. Dass so ein Umbau nicht von heute auf morgen geht, ist klar. Aber wir müssen endlich damit anfangen. Wer sich in die Tasche lügt, betrügt. Opfer sind in erster Linie diejenigen Kinder und Jugendlichen, die sich am wenigsten wehren können. 5 von Karsten Schmidt Niemand, so steht es seit 1994 im Grundgesetz, darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden. Aber die dafür erforderliche Integration in sämtlichen Lebensbereichen kommt hierzulande nur schleppend voran. Gerade im deutschen Schulsystem, wo Integration längst zum Alltag gehören müsste, ist die Ausgrenzung Behinderter an der Tagesordnung. Vor zwei Jahren habe ich in der Grundschule im kleinen, südlich von Berlin gelegenen Rangsdorf meinen Zivildienst geleistet. Ich betreute dort den elfjährigen Jonas, der wie jeder andere Schüler seines Alters in die fünfte Klasse ging. Und der sich doch, weil er das Down-Syndrom hat, von jedem anderen Schüler unterschied. Berührungsängste hatte ich – selbst Bruder einer kleinen Schwester mit Down-Syndrom – keine. Aber ein Kind mit Trisomie 21, so der wissenschaftliche Ausdruck, integriert in eine Regelschule – diese Erfahrung war für mich neu. Was ich in diesem einen Jahr beobachten konnte: nüchterne Normalität. Zwar blieb Jonas der Exot der Schule, wurde mehrmals die Woche von einer Sonderpädagogin unterrichtet und sein Zivi musste ihm hier und dort helfen, aber im Klassenverband war er allgemein akzeptiert. Er wurde von seinen Mitschülern weder schlechter noch besser behandelt. Seine sechsjährige Grundschulzeit, die er in diesem Jahr abgeschlossen hat, ist nach all den anfänglichen Strapazen, die Jonas‘ Eltern mit Schulleitung und Gemeindewesen hatten, eine kleine Erfolgsgeschichte der Integration. Es gibt noch andere, ähnliche Erfolgsgeschichten, wie etwa Schulen, in denen Integrationsklassen zum Alltag gehören. Doch sie sind in der deutschen Bildungslandschaft noch immer spärlich gesät. Bei nur 12 % liegt unsere Integrationsquote. Seit Jahren ist diese Zahl unverändert. Das bedeutet: Noch immer besucht die große Mehrheit aller Kinder mit einer Behinderung eine Sonderschule. Vor allem außerhalb von Städten sind dadurch Fahrtzeiten von mehr als zwei oder drei Stunden täglich keine Seltenheit, um die Kinder aus den verschiedenen, weit verstreuten Ortschaften einzusammeln und in die jeweiligen Sonderschulen der Landkreise zu bringen. Ihre Mitschüler sehen sie damit nur im Unterricht, nicht aber an Nachmittagen in ihrer Freizeit, nicht in ihrem Wohnort. Es bedeutet schließlich, dass eine Teilhabe an ihrer unmittelbaren Umgebung für die meisten behinderten Kinder gar nicht möglich ist. Sie sind praktisch isoliert. Im Mai 1994 hat die Kultusministerkonferenz einstimmig die Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Demnach müssten eigentlich alle Sonderpädagogen längst in Regelschulen arbeiten. Müsste damit nicht Integration schon lange flächendeckend stattfinden? Nun, das Problem ist zunächst das Wörtchen Empfehlung und die Tatsache, dass die deutsche Bildungspolitik föderativ organisiert ist und auf Länderebene jeweils ganz verschieden mit dieser Empfehlung umgegangen wird. Nicht mal in den Landkreisen und einzelnen Orten ein und desselben Bundeslandes liegen einheitliche Pläne zur Integration vor. So gibt es etwa in Berlin, das mit seiner Integrationspolitik zu den fortschrittlichsten Bundesländern gehört, die kleine, aber entscheidende Ergänzung der Senatsverwaltung, dass bei fehlenden »personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten« ein behindertes Kind auf eine Sonderschule verwiesen werden kann. Mit anderen Worten, wenn das Geld nicht da ist, darf auch gegen das im Gesetz festgeschriebene Wunschrecht der Eltern auf eine wohnortnahe Beschulung ihres Kindes entschieden werden. Es stellt sich die Frage, warum die Möglichkeiten dafür nicht geschaffen werden? Vielfach wurde belegt, dass ein flächendeckend umgesetztes integratives System, wie in den skandinavischen Ländern oder den Niederlanden, nicht teuerer ist als das bisherige System der getrennten Sonder- und Regelschule. Das tatsächliche Problem aber, so muss man vermuten, ist nicht juristischer oder finanzieller Art, sondern ein Problem der Wahrnehmung: Es gibt gar kein richtiges öffentliches Bewusstsein für das, was Behinderung bedeutet. Behindert ist man nicht, behindert wird man. Der Theologe und Pädagoge Alfred Sander formuliert es so: »Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist.« Wichtig ist, dass nicht nur behinderte Menschen und ihre Angehörigen erkennen, dass das System der Sonderkindergärten, Sonderschulen oder Sonderwerkstätten ein System der Ausgrenzung und Diskriminierung ist. Das Resultat ist die fehlende alltägliche Begegnung von Behinderten und Nichtbehinderten. Und wenn wir uns nicht begegnen, nie miteinander in Berührung kommen, dann werden Unsicherheiten, Ängste, Vorurteile oder Mitleid, das keinem weiterhilft und das niemand will, nicht aus unseren Köpfen verschwinden. Integration kann nur dort beginnen, wo Menschen noch unbefangen aufeinander zugehen und voneinander lernen: im Kindergarten und in der Schule. Integration, konsequent flächendeckend umgesetzt, ist eine Bereicherung – für jeden einzelnen von uns. Sie lehrt die Akzeptanz von Vielfalt. Sie lehrt überhaupt Toleranz. Noch aber werden wir alle bei der Teilhabe an einer toleranteren Gesellschaft behindert. 6 frissoderstirb: Italienisches Blutbad WieeinEsseninangenehmerBegleitung durchdenKlimawandeltorpediert wurdeundzwangsweiseimSuffenden musste. Keine Frage, es war trotzdem ein guter Abend. Trotz der Mückenschwärme, die meine Begleitung und mich traktierten und unser Blut soffen wie wir den Wein, den uns die offenkundig italienischstämmige Bedienung der Potsdamer Trattoria Villa Apostoli auf den Tisch gestellt hatte. Es war der Abend der Provinz. Eine spontane Fluchtbewegung raus aus der Hauptstadt in die nahe gelegene Provinz und ein damit verbundenes unverhofftes Wiedersehen hatte das gemeinsame Abendessen erst ermöglicht. Gesehen, erkannt, gefreut, verabredet. Und nun das: Hübsch karierte Tischdecken in weiß-rot schmückten die Tische des Restaurants, ein Blätterwald von Efeu erstreckte sich über die gut besuchte Terrasse. Ein wirklich schönes Ambiente, das zum Leidwesen der zahlreichen Gäste ganze Armeen von Mücken zum Abendessen lud. An diesem Abend konnten wir den Klimawandel einmal mehr am eigenen Leib erleben, der von den lustig vor sich hin summenden und brummenden Parasiten auf seine Nahrhaftigkeit untersucht wurde. Um die Nervosität zu überspielen, die einem solchen Treffen innewohnt, orderten wir zunächst einen sich im Laufe des Abends als passabel herausstellenden Roséhauswein (0,5-Liter-Karaffe: 6,50 Euro). Bacchus sprang ein, das Gespräch nahm einen eigenständigen, unverkrampften Verlauf, während wir auf lecker Fressi warteten. Das Entrée wurde serviert. Schon während wir uns ein Carpaccio Manzo (9,50 Euro) teilten, das irgendwie unbelebt und uninspiriert schmeckte, aber auch den kulinarische Höhepunkt des Abends darstellen sollte, fragte meine Begleitung die Bedienung Hilfe suchend nach Autan. Wohl auch in der Hoffnung, zumindest das Insektenspray würde den Gaumen kitzeln. Das Carpaccio war überstanden, die Hauptgänge harrten ihrer Bestimmung. Und es kam, wie es an diesem Abend in der Provinz zu kommen hatte. Meine Geschmacksnerven oder meine Sinne mögen mich getäuscht haben, aber: Viva la microwave! Die Cannelloni Regina (7,50 Euro), die inzwischen den Weg zu uns gefunden hatten, schwammen in einer durchaus schmackhaften Tomaten-Mozzarella-Soße. Gefüllt mit einer Masse, die laut Ankündigung an Spinat erinnern sollte, aber eher den Eindruck von Pesto Genovese hinterließ, schuf man sich – bei tapferer Nachwürzung mit ausreichend Pfeffer – zumindest die Grundlage für die zweite Karaffe des sehr trinkbaren Rosés. Meine zunehmend von den Mücken zerstochene Begleiterin hatte sich für Pasta mit Trüffeln entschieden (16,50 Euro) und war in ihrer Kritik wesentlich zurückhaltender, schien mit der Qualität der Speise sogar ganz zufrieden. Vielleicht lag es daran, dass sich mein Glas an diesem Abend häufi ger als halbleer erwies, das ihre jedoch als halbvoll. Mit den halbgefüllten Gläsern und halbgeleerten Tellern traten wir bald die Flucht vor den Blutsaugern in das Innere der Trattoria an, setzten uns an einen Ecktisch und wurden selbst dort noch von Mücken heimgesucht. So erwiesen sich die Stunden in der Trattoria Villa Apostoli als Heimsuchung, bei der jeder Gast, ob gebeten oder ungebeten, mit Beinen oder mit Flügeln ausgestattet, ausreichend Nahrung vorfand. Manchmal zählt einfach die Quantität. .. vonCarlBernhardt Wir löhnten, nachdem wir den Abend schon mit unserem eigenen Blut bezahlen mussten und zogen in Richtung Kneipe weiter. Auf den Rosé ließ sich spielend aufbauen. Trattoria Villa Apostoli, Sellostraße 19, 14471 Potsdam ANZEIGE S&V-Gewinnspiel mit Ryanair Mit Ryanair nach Stockholm 1 x 2 Flugtickets von Berlin-Schönefeld nach Stockholm Ryanair fliegt ab den 10. Oktober einmal täglich von Berlin Schönefeld nach Stockholm (Skavsta) – Der Buchungszeitraum für die Tickets gilt bis zum 11. Oktober 2007. Der Reisezeitraum für die Tickets gilt vom 20. Oktober bis zum 15. Dezember 2007. – Gültige Reisetage sind Montag bis Donnerstag und Samstag. Feiertage sowie Reisen über Ferienzeiten sind ausgeschlossen. – Es gilt der o.g. Reisezeitraum – Falls der Wunschtermin nicht erfüllt werden kann, wird Ryanair dem Gewinner einen alternativen Reisetermin anbieten. Die Anzahl der Sitzplätze pro Flug für diese Promotion ist begrenzt. An bestimmten Daten, vor allem an Wochenenden kann die Verfügbarkeit begrenzt sein. – Eine Auszahlung des Fluggutscheins ist nicht möglich. – Namens- oder Datumsänderungen sind nach der Buchung nicht möglich. – Alle Passagiere müssen am Check-In einen gültigen Reisepass oder einen Lichtbildausweis vorweisen. – Ryanair empfiehlt allen Passagieren, ihre Flüge vor dem Abflugtermin rückbestätigen zu lassen. Eine Rückbestätigung erfolgt über die Buchungszentrale : 0900-116 1500 EUR (0.62 pro Minute) – Für die Beförderung von aufgegebenem Gepäck wird pro Gepäckstück eine Gebühr erhoben. Die Gepäckgebühr kann im voraus zum aktuellen ermäßigten Preis von 6,00 € pro Fluggast/pro ein fachen Flug bei der Buchung entrichtet werden. Wird die Gepäckgebühr nach der Buchung entweder am Flughafen oder bei einer Ryanair-Buchungszentrale entrichtet, wird der volle Preis von 12,00 € pro Fluggast/pro einfachen Flug fällig. Kinderwagen, Rollstühle, Elektrorollstühle und Gehhilfen werden kostenlos transportiert. – Es ist lediglich ein kleines Stück Handgepäck (z. B. Handtasche oder Aktentasche) von nicht mehr Stockholm ist die Stadt der Kontraste. Mit ihren mittelalterlichen, kopfsteingepflasterten Gassen in der Altstadt und der Modernität einer Metropole. Mit ihren knackigen Wintern und den hellen, lebhaften Sommern, wenn die Sonne fast gar nicht mehr hinter dem Horizont verschwindet. Erbaut auf 14 Inseln zwischen der Ostsee und dem Mälarsee ist es nirgends in Stockholm weit bis zum Wasser. Und auch nicht zu den Grünflächen, die gemeinsam mit dem Wasser die prägenden Elemente der Stadt sind. Insgesamt 57 Brücken verbinden die Inseln, die jede für sich ihren ganz eigenen Charakter bewahrt hat. Vielleicht tragen ja gerade sie dazu bei, dass man Stockholm auch als die große Stadt mit dem Charme einer beschaulichen Kleinstadt bezeichnet. In Schwedens Hauptstadt gibt es viel zu entdecken - und das meiste ist bequem zu Fuß zu erreichen. So ist es nur ein kurzer Spaziergang von der historischen Altstadt Gamla Stan bis zum pulsierenden Großstadtleben in der City. Wechseln Sie doch einfach einmal ein paar Worte mit den Stockholmern. Die meisten sprechen mehrere Sprachen und erzählen nur zu gern und voller Stolz von ihrer Stadt - von den Bauwerken und Museen, aber auch von ihrem Lieblingscafé oder der Stammkneipe um die Ecke. Wenn es Abend wird, erwacht in Stockholm ein buntes Nachtleben. Viele Clubs haben bis in die frühen Morgenstunden geöffnet. In Stockholm gibt es immer wieder etwas Neues. Zu jeder Jahreszeit bieten sich fantastische Möglichkeiten, eine der schönsten Hauptstädte der Welt zu erkunden - seien es die Geschichte oder das weltberühmte schwedische Design, seien es gutes Essen, Unterhaltung oder Shopping. Herzlich Willkommen! Mit Ryanair kann man auch von Berlin Schönefeld aus nach London(STN), Dublin(DUB) und East Midlands(EMA) fliegen. Für mehr Information klicken sie einfach auf www.ryanair.de. Einfach folgende Frage beantworten: In welchem Jahr erschien die erste Ausgabe von Sacco & Vanzetti? (kleiner Tipp: www.myspace.com/saccoundvanzetti) Eure Antworten an: Neues Deutschland, Sacco & Vanzetti, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin oder [email protected] Einsendeschluss: 21.09.07 (Datum Poststempel). Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Um den Jungfernflug zu feiern, verlost Ryanair ein mal zwei Flugtickets inklusiv von Steuern und Gebühren. Werwirsind: anspruch.gegenwirklichkeit „Wir stehen gerade an der Bushaltestelle Dresdner Platz in Frankfurt/Oder, als sich uns zwei junge Männer nähern und uns anpöbeln: Ob wir uns denn für unsere Großeltern schämen? Studenten seien wir? Na, die liegen dem Staat sowieso nur auf der Tasche. Ob wir nicht gleich eins auf die Fresse haben wollen? Ein Auto kommt angefahren. Bevor sie einsteigen, zeigen beide den Hitlergruß. Ich solle gefälligst nicht so jüdisch gucken! Eine neue Zeit werde kommen, an der wir beide jedoch nicht teilhaben würden.“ [Zwei Studentinnen der Viadrina, Dezember 2006] Wir leben in einer Gesellschaft, die für sich Werte wie Toleranz, Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit und soziales Engagement reklamiert. Doch Selbstbild und Wirklichkeit klaffen meist weit auseinander. Wir von der Gruppe [anspruch.gegenwirklichkeit] wollen für diesen Widerspruch sensibilisieren. Es ist unser Anspruch, bei der Schaffung einer Gegenöffentlichkeit mitzuwirken, die die Augen nicht vor den Problemen unserer Gesellschaft verschließt. Wir wollen dokumentieren und durch Aktionen und Projekte immer wieder auf Themen aufmerksam machen, die in der Mitte der Gesellschaft nicht genug wahrgenommen werden. Durch die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit wollen wir zu Veränderungen anregen bzw. gegen die bestehenden Verhältnisse vorgehen. Am 27. Januar diesen Jahres, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, marschierte die NPD in Frankfurt (Oder) auf. Im Zuge dessen setzen sich zahlreiche Initiativen, Gruppen und Parteien damit auseinander, wie man einen möglichst breiten und effektiven Protest gegen die Neofaschisten organisieren könnte. In unserem Freundeskreis wurde auch darüber diskutiert. Wir sahen uns mit dem Problem konfrontiert, dass die Studenten der EuropaUniversität Viadrina nicht ausreichend für die Gefahren des alltäglichen Rechtsextremismus sensibilisiert zu sein schienen. Eine Vielzahl Studierender wohnt im nahen Berlin, hat ihren Lebensmittelpunkt außerhalb der Oder-Stadt und so kaum Bezug zu deren Problemen. Um auf die Dimension der Problematik aufmerksam zu machen, begannen wir, Erlebnisberichte von Personen aus unserem unmittelbaren Umfeld zu sammeln, die rechte Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung zum Thema haben: „Zu Beginn des letzten Semesters hielt ich mich in der Pause zwischen zwei Seminaren im Eingansbereich des Sprachenzentrums auf. Ich war gerade dabei, die Aushänge zu lesen, als ich eine Gruppe von jungen Menschen wahrnahm, die das Gebäude vom Hintereingang aus betraten. Als sie ungefähr in der Mitte zwischen den zwei Eingangstüren waren, riefen sie laut: »Ausländer raus! Keine Ausländer in Frankfurt!« und liefen daraufhin schnell davon.“ [Studentin der Viadrina, Oktober 2006] Diese Schilderungen wurden in einen Aufruf zu Protesten gegen die NPD-Demonstration integriert. Auf diese Weise beabsichtigten wir, zu verdeutlichen, dass Rechtsextremismus kein Problem ist, das vor den Toren der Universität halt macht oder dem man sich als Teil einer Hochschule verschließen dürfte, die das Attribut international für sich beansprucht und damit wirbt, Studierende und Wissenschaftler aus 80 Nationen zu beherbergen. Die Gruppe ist aus einem Bekanntenkreis von Studierenden der Viadrina entstanden. Wir sehen es als unsere besondere Aufgabe, die Studierendenschaft zu erreichen und zwischen der Stadt und der Universität eine Brücke zu schlagen. Wir wollen unsere Tätigkeit also nicht auf die Viadrina beschränken, wenngleich hier ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt. Des Weiteren wollen wir dazu beitragen, linke Strukturen in Frankfurt (Oder) zu stärken, zu vernetzen und neu aufzubauen. Es gilt, Freiräume zu schaffen, in denen sich eine Subkultur entwickeln kann, die für eine andere Wirklichkeit einsteht. Aus der Idee, die Konfrontation mit Rechtsradikalismus zur Mobilisierung gegen die NPD zu nutzen, entstand in der Folge ein Projekt, dessen Ziel es ist, weitere Berichte dieser Art zusammenzutragen und öffentlich zugänglich zu machen. Auf der Internetpräsentation von [anspruch. gegenwirklichkeit] ist es jedem möglich, dies anonym zu tun und so zu einer umfangreichen und verbesserten Dokumentation beizutragen, die zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will, sich aber als ernstzunehmende Ergänzung versteht. Im kommenden Herbst soll in Zusammenarbeit mit einem breiten Bündnis verschiedenster Gruppen der Stadt eine Ausstellung mit ersten gesammelten Berichten im Studentenklub :grotte eröffnet werden. Durch einen vielfältig ausgestalteten Abend mit Informationsmöglichkeiten und Konzert wollen wir zeigen, dass es in Frankfurt (Oder) viele gibt, die Freiräume gegen Rechts zu schaffen, zu gestalten und zu stärken bereit sind. Uns eint der Wille, eine Welt möglich zu machen, in der mensch sich frei und selbst bestimmt entfalten kann: fern von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und kapitalistischer Verwertungslogik. Kontakt: http://gegenwirklichkeit.tk [email protected] 7 8 Zoom in: Blut, Schweiß und Schlamm von Marc Schreiber Zwei Runden sind bereits geboxt. Die Gegner sind beide zehn Jahre alt und machen ihren ersten Kampf. In der blauen Ecke spricht der Trainer auf seinen kleinen Kämpfer ein, der stark weint und nicht mehr so aussieht, als wolle er in den Ring zurückkehren. Der Trainer wischt ihm die Tränen ab, als das Signal für die Kämpfer erfolgt, wieder in die Ringmitte zu kommen. Der Anteil deutscher Sportler liegt bei 20%. Der Verein trägt den bekanntesten nationalen Nachwuchswettkampf aus und kann auf eine beachtliche Anzahl von Meistertiteln im Kinder- und Jugendbereich verweisen. Ganz auf der Linie des Bundesministeriums des Inneren, das den Sport als Integrationsstütze betrachtet, versucht Lange den Verein als gewaltpräventives Instrument im Stadtbezirk zu integrieren. Boxen statt Gewalt ist der Slogan der Initiative. Viele Boxvereine haben sich ihre Integrationsfähigkeit vom Berliner Landessportamt attestieren lassen. Harald Lange scheint aber die wahre Problematik hinter der Integration zu erkennen, wenn er jährlich zehn jungen Boxern Ausbildungsplätze in seiner eigenen Firma oder in den anderen Sponsorenfirmen des Vereins vermittelt. Die Attraktivität des Boxens in Deutschland ist seit den 20er Jahren ungebrochen. An boxerischem Nachwuchs mangelt es nicht. Boxen ist gesellschaftsfähig. Boxen ist chic. Bei jedem medienwirksamen Kampf zieht es Prominenz in die Hallen und Zuschauer vor den Fernseher. Zogen vor einigen Jahren Namen wie Henry Maske, Axel Schulz und Sven Ottke, sind es heute Deutsche, deren Wurzeln vor allem in anderen Ländern gewachsen sind: Luan Krasniqi, Felix Sturm, der gebürtig Adnan Catic heißt, Arthur Abraham, Oktay Urkal und natürlich die baumlangen Klitschkos. Denn die wahren Hindernisse auf dem Weg zur Integration sind nach wie vor Arbeitslosigkeit und insbesondere Perspektivlosigkeit. Sie betreffen natürlich viele junge Leute in Deutschland, vor allem aus unteren Einkommensschichten. Prozentual besonders hoch betroffen sind aber Jungen und Mädchen, die keinen deutschen Namen tragen. Sport und damit auch Boxen bieten eine Möglichkeit, etwas zu erreichen. Dabei scheint es in erster Linie nicht um Boxen als Verdienstmöglichkeit zu gehen, sondern darum, sich beweisen, sich Anerkennung und Respekt verschaffen zu können. Gerade der öffentlichkeitswirksame Kampfsport Boxen scheint prädestiniert zu sein, sich Ruhm und Ehre zu verdienen. Angesichts des rasanten Wachstums im Frauen- und Mädchenboxen kann vom Boxring nicht unbedingt als Laufsteg männlichen Imponiergehabes gesprochen werden. Auf Wettkämpfen im Amateur- und Jugendbereich ist der Anteil derer, die gemeinhin als Ausländer, Asylanten oder Migranten bezeichnet werden, überproportional hoch. Michael Unger, Jugendtrainer vom Berliner Boxclub SV Blau-Gelb, bestätigt, dass diese Beobachtung auf Boxveranstaltungen in ganz Deutschland gemacht werden kann, selbst im tiefsten Osten, in den angeblich national befreiten Zonen. Einer der Vereine mit der besten Nachwuchsarbeit deutschlandweit befindet sich in Hellersdorf mit einer zweiten Halle in Marzahn – Boxring Eintracht. Aufgebaut wurde der Verein von dem ehemaligen DDR-Boxer Harald Lange. Momentan trainieren dort 150 Jugendliche, von denen circa die Hälfte eingewanderte Rußlanddeutsche sind. Im Ring geht es dabei auch nicht ausschließlich um Sieg und Niederlage, wie der Kleine aus der anfangs beschriebenen Szene beweist, denn er steht die letzte Runde durch und verliert den Kampf, aber grinst breit, als der Trainer ihm die Handschuhe auszieht. Vielleicht geht es eigentlich darum: die Herausforderung annehmen und sein Bestes geben - im Ring, aber vor allem außerhalb des Rings. von Anne Kirchberg Während des Hochsommers konnte man sich vielleicht noch mit einem »viel zu heiß« vor sportlichen Betätigungen drücken – doch damit ist jetzt Schluss! Bei den Sport-Trends 2007 ist für jeden etwas dabei, egal ob Fitness-Fanatiker oder Couch-Potato. Da Bewegung hoch im Kurs steht, kann man schon mit gewöhnlichen Strandsportarten wie Beach-Volleyball oder Badminton absolut trendy sein. Wie in den vergangenen Jahren ist zudem mit Mountainbiking, Rollerblading und Nordic Walking auch Ausdauersport sehr beliebt. Wem es dafür im September an manchen Tagen doch noch zu heiß ist, der kann den Rückzug ins kühle Nass antreten, denn Windsurfen, Wellenreiten, Wakeboarden und alle sonstigen auf einem Brett im Wasser ausführbaren Leibesertüchtigungen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Bevor es im Herbst zu kühl wird, können sich Menschen mit sehr gutem Gleichgewichtssinn auch auf das ausgefallene Fortbewegungsmittel Aquaskipper wagen, das durch rhythmisch koordinierte Bewegungen an der Wasseroberfläche gehalten werden muss (www.aquaskipper.de). Wer es richtig abgedreht mag, kann auch an Land jede Menge Spaß haben und beispielsweise auf die 2004 patentierten Sprungschuhe Poweriser zurückgreifen, mit denen jeder Schritt zum großen Erlebnis wird (www. poweriserszene.de). Ungewöhnlich fühlt sich zu Beginn auch das Disc-Golfen an (www.discgolf.de), bei dem kein Ball, sondern Frisbee-Scheiben in einem Parcours eingelocht werden müssen. Auspowern kann man sich zudem bei Sepak Takraw (www.sepaktakraw-berlin. info), einer 500 Jahre alten thailändischen Sportart, die übersetzt so viel wie Kick den Rattan heißt. Die Regeln ähneln denen beim Volleyball, aber der Ball darf bei Sepak Takraw ausschließlich mit den Füßen gespielt werden. Das Sport Stacking zielt hingegen auf ein Training der Auge-Hand-Koordination: Eine bestimmte Anzahl an Plastikbechern muss in einer festgelegten Art und Weise schnellstmöglich gestapelt werden (www.sportstacker.de, www.getspeedstacks.de). Ein echter Trend 2007, das Parkour-Laufen (www.pawa.de; www.myparkour.com), bei dem man sich mit elegant aussehenden Bewegungen auf spektakuläre Art und Weise durch die Stadt oder die Natur bewegt. Aber Achtung: Diese vom Franzosen David Belle erfundene Art der Fortbewegung erfordert jede Menge Kraft, Ausdauer und Balance sowie stabile Gelenke! Die benötigt man auch beim Schlammfußball, das vor allem in Skandinavien und England seit vielen Jahren sehr beliebt ist (www.schlammfreunde-niedersachsen-05.de, www.swampsoccer.co.uk). Im knietiefen Matsch Fußball zu spielen ist selbst für durchtrainierte Sportlerbeine eine echte Herausforderung. Swamp Soccer ist mittlerweile so populär, dass an der diesjährigen Weltmeisterschaft in Finnland mehr als 250 internationale Teams teilgenommen haben. International: Terror und Repression 9 RepressionengegenlinkeStrukturengibtesinganzEuropa– allerdingsbleibtderderzeitigeTerrorismus-Hypein Deutschlandunübertroffen. vonSusanneGötze »Sind wir nicht alle ein bisschen 129a?«, hieß es während des letzten G8-Gipfels in Heiligendamm. Voraus gegangen war den Protesten eine Welle von Haus- und Wohnungsdurchsuchungen, bei denen wahllos Computer und Material der linken Szene beschlagnahmt wurden. Der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung nach dem Lieblingsparagraphen 129a von Innenminister Wolfgang Schäuble hatte Hochkonjunktur. Wie unhaltbar die Vorwürfe waren, musste die Regierung schon bald eingestehen, denn die »Bildung einer terroristischen Vereinigung zur Verhinderung des G8-Gipfels« entstammte schlicht der Phantasie der Behörden. Auch in anderen Ländern schlottern den Staatsdienern die Knie, wenn sich linke Chaoten ankündigen. So berichtete das schottische Dissent-Netzwerk vor den G8-Protesten in Gleneagles 2005 von massiven Einschüchterungs- und Repressionsmaßnahmen. Erste Adresse für derartige Razzien waren Kulturzentren und besetzte Häuser. Tragisch ist nur, dass damals 10 000 Polizisten mit den zumeist friedlich demonstrierenden Demonstranten und deren Camps beschäftigt waren, während in London vier Bomben explodierten. Nach Heiligendamm ebbte der Hype um linke Terroristen nicht ab. Der Paranoia vor einer neuen RAF- Generation wird derzeit durch die brennenden Autos in Berlin Nahrung gegeben – für den sensationssüchtigen Normalbürger unter: www.brennende-autos.de mitzuverfolgen. Drei der selbst ernannten Retter des Klimas, die vorrangig Autos mit hohem Benzinverbrauch und neuerdings auch Fahrzeuge des Energiekonzerns E.on angezündet haben sollen, sind gefasst und sitzen — wen wundert’s – wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung in U-Haft. Doch spätestens seit die Verhaftung des Wissenschaftlers Andrej H. bekannt wurde, der mittlerweile wenigstens vorübergehend auf freiem Fuß ist, ist die Empörung in linken und studentischen Kreisen ähnlich groß wie vor dem G8-Gipfel. Besonders delikat ist die Begründung, Andrej H. sei intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen Flugblätter der Auto-Pyromanen zu schreiben. Brennende Autos und linker Ungehorsam sind ebenso wie polizeiliche Repression weder hier noch in anderen Ländern Europas eine wirkliche Neuigkeit. In Berlin fackeln im Jahr durchschnittlich bis zu 37 Autos ab, in Paris waren es vor zwei Jahren bedeutend mehr. Die französischen Brandstifter hinterließen jedoch keine intellektuellen Botschaften zur Rettung der Welt, sondern schlicht ihren Frust über ihre sozialen Verhältnisse. Eine wirkliche militante Gruppe habe es aber seit der Action directe — einer RAF-ähnlichen Terrorgruppe, die sich Ende der 80er Jahre auflöste — nicht gegeben, meint Bernhard Schmid, Publizist und freier Journalist in Paris. Dafür werde relativ schonungslos mit sogenanntem Unruhepotenzial umgegangen, wie bei den OberschülerStreiks im März und April 2005 und der Anti-CPEBewegung – den Protesten gegen die neuen französischen Arbeitsgesetze – im März 2006. Beim CPE-Protest habe es bis zu 3000 Verhaftungen gegeben — meist bei abendlichen Zusammenstößen mit der Polizei. In Italien erreichte der linke Ungehorsam vor und nach den G8-Protesten in Genua 2001 seinen Zenit. Im Anschluss an die Proteste formierte sich eine Massenbewegung gegen den Krieg im Irak, die jedoch gewaltfrei agierte. »Man hat in Italien Ende der 90er Jahre versucht, die Gewalt zu zivilisieren, das heißt Protest zu üben, ohne die Polizei anzugreifen«, erklärt der italienische Politikwissenschaftler Sandro Mezzadra. Eine Welle der polizeilichen Repression hätte es im Herbst 2002 – Nachwehen des G8-Gipfels ein Jahr zuvor – gegeben. Dort seien ähnlich wie hier in Deutschland soziale Zentren und Mitglieder der Bewegung durchsucht und oftmals haltlos angeklagt worden. Dennoch gebe es in Italien immer noch radikale Linke, die die Tradition der Roten Brigaden – eine Terrorgruppe, die seit den 70er Jahren für zahlreiche Morde, Entführungen und Attentate verantwortlich ist – wieder aufnehmen wolle. In den letzen Jahren sind durch derartige Aktionen der Gruppe zwei Menschen ums Leben gekommen. Erst Anfang des Jahres seien 20 Leute verhaftet worden, darunter auch Gewerkschafter und Mitarbeiter von sozialen Zentren, die den Roten Brigaden nahe stehen sollen, so Mezzadra. Bis heute habe ihnen aber nichts nachgewiesen werden können. Trotz EU-Bürokratie hat jedes Land seinen eigenen Schäuble und seine Defi nition von Links-Terrorismus und zivilem Ungehorsam. Deshalb existieren auch keine europaweiten Zahlen zu links-motivierten Straftaten, teilte Eurostat auf Anfrage mit. Allerdings wolle der europäische Datenservice demnächst eine Arbeitsgruppe Linksextremismus einrichten. In Zeiten ständiger Terrorpanik und verschärfter Sicherheitsgesetze wird die Gratwanderung zwischen sozialer Bewegung und radikaleren Aktionsformen zu einem Tanz auf dem Vulkan, bei dem nicht nur einzelne Personen in die Mühle der Kriminalisierung geraten, sondern unter dem Vorwand der Sicherheit auch ganze Teile linker Bewegungen kaltgestellt werden können. Begonnen hat die EU weite Beobachtung spätestens mit einem Übereinkommen aus dem Jahr 2005, in dem sich Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich und Spanien auf grenzüberschreitende Bekämpfung des Terrorismus, der Kriminalität und der illegalen Migration einigten. Erst Anfang des Jahres bekundeten diese Länder, ihre Zusammenarbeit zu vertiefen. IstjetztallesTerrorismus? DiepolitischeDimensiondes§129a Informationsveranstaltung zum aktuellen § 129a-Verfahren in Berlin und zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Sonntag, 30. September 2007, 10.30 - 13.00 Uhr 10 Culture Clash: Van Dyk nur mit Gerstensaft Was haben Kommunikation, Politik und Wirtschaft gemeinsam? Außer, dass man über sie streiten kann, bis einem die Luft ausgeht, bilden sie die drei thematischen Säulen der diesjährigen Popkomm. Einst als Insidertreff der Musikszene aus der Taufe gehoben, öffnet die 19. Popkomm vom 19. bis zum 21. September ihre Pforten nun auch für Politik und Wirtschaft. von Nadine Langner Als Journalistin, die zufällig mit dem PR-Betreuer der diesjährigen Popkomm befreundet ist, wurde ich mal eben wie automatisch für die Pressekonferenz akkreditiert. Von diesem Glück erfuhr ich zwar erst am selben Tag per Handy. Aber hey, ich war grad in der Nähe des Roten Salons der Volkbühne, wo die Veranstaltung in weniger als einer Stunde stattfinden sollte und Lust auf ein kühles Feierabend-Bier hatte ich auch. Abgehetzt erreichte ich die Volksbühne, sicherte mir sofort einen von noch insgesamt zwei freien Plätzen an der Bar und bestellte mir einen Gerstensaft. Nachdem ich wieder etwas geregelter atmen konnte und zufrieden mit meiner Flasche Pils den Rednern lauschte, überkam mich ein kleiner Zweifel, ob ich in meinem Enthusiasmus tatsächlich die richtige Veranstaltung getroffen hatte: Themen, wie Bruttoinlandsprodukt, Automotive oder Wirtschaftsfaktor fielen am laufenden Band. Und sogar Gastredner Paul van Dyk, seines Zeichens DJ und Produzent, hauchte ungewohnt schlau klingende Worte ins Mikro. Sollte die Popkultur sich tatsächlich zu mehr als einer spontanen Momentaufnahme von Kreativität und Zeitgeist entwickelt haben? Statt mit den Hauptverkaufsargumenten unserer Spaßgesellschaft Fun und gute Laune zu werben, sollen in diesem Jahr Kommunikation, Politik und Wirtschaft die Besucher auf den Musik-Kongress locken. »Der kreative Sektor ist längst zu einem Wirtschaftssektor mit unverkennbarer Bedeutung avanciert.« kommentiert Bundeswirtschaftminister Michael Glos seine Zusage, die diesjährige Popkomm offiziell zu eröffnen. Topaktuelle Fragestellungen rund um Künstler und Konzerte, Labels, Verlage und Verwertungsgesellschaften, die politischen Rahmenbedingen, neue Kommunikationsformen und innovative Vertriebswege sollen diskutiert werden. V or allem aber soll in diesem Zusammenhang über die Zukunft der Branche spekuliert werden. Made in Germany – ein Klassiker unter den Slogans. Und gerade jetzt ein Jahr nach der WM im Land der Ideen immer noch aktuell. Das 21. Jahrhundert ist online, digital und virtuell. Die einstige Kulturwirtschaft wurde zur heutigen Creative Industries und soll nicht nur international und innovativ klingen, sondern dies auch sein: Die neue Aufgabe dieser neu entdeckten Branche besteht darin, die klassischen Kulturfelder wie Musik, Theater, Film und Literatur mit den vergleichsweise jungen Bereichen wie Werbung, Software und Computerspielen zu verbinden. Endlich kommen die Redner zu den musikalischen Punkten dieses Abends: Acts aus Island bis Südafrika werden angekündigt. Deutschland zeigt sich mit international bekannten Künstlern wie Einstürzende Neubauten, Kraftwerk oder Rammstein. Aber auch die Jungs von Tokio Hotel werden Deutschland repräsentieren. Und für den etwas anderen Geschmack gibt es die Popkomm classics: Drei große Klassik-Events finden im Ambiente des Berliner Spreeufers statt. Von Bach über Vivaldi bis zu Mozart – durch außergewöhnliche Locations sollen vor allem junge Menschen angesprochen werden. Bei mir hat es anscheinend funktioniert: Da mich die Künstler aus der Popszene nicht gerade vom Hocker reißen, werde ich einen besinnlichen klassischen Abend und hoffentlich eine einigermaßen milde Nacht an der Spree genießen. Vielleicht bringt es Berlin im Popbusiness zu einem herausstechenden Wirtschaftssektor? Jede größere Stadt kann man mit mindestens einem industriellen Schwerpunkt in Verbindung bringen: München steht für Verlagswesen und IT, in Frankfurt sitzt die Finanzwirtschaft, Köln kennt man als TV-Standort und Hamburg beheimatet die wichtigsten Designlabels und Zeitschriftenverlage. Aber wofür genau steht Berlin? Mit Unterstützung aus Politik und Wirtschaft wird aus Berlin vielleicht eine Hauptstadt des Entertainment – Popkomm, Berlinale und Echo sind schon ein Anfang. Culture: Culture Clash .. HalloKurt,DubistGitarristbeiderBandBlackmail,hast eineZweitbandScumbucketundbistauchProduzentim hauseigenenTonstudio45,woDuBandsaufnimmstund produzierst.Sagmal,schläfstDuauchmanchmal? Ja... schon, deswegen bin ich auch meist erst gegen zwölf Uhr im Studio. Ich brauche mindestens acht Stunden Schlaf. Gut, die letzten Monate waren es etwas weniger, aber ich habe dieses Jahr auch schon fünf Platten produziert. Mit Blackmail und Scumbucket werden wir dieses Jahr auch noch je eine Platte aufnehmen, da bin ich schon etwas müde… Okay,wasbedeutetMusikinDeinemLeben?Warum machstDuMusik? Es war einfach immer schon mein Ding, mein Traum. Ich habe mit 14 oder 15 angefangen, Musik zu machen und bin darauf irgendwie hängen geblieben. Ich kann ja auch gar nichts anderes...(lacht) WoliegenDeinemusikalischenWurzeln? Das waren die 60er Jahre Schallplatten, Beatles, Rolling Stones. Wir saßen vor dem Plattenspieler meiner Eltern und haben die Platten von meinem Vater rauf- und runtergespielt. Da kam dann auch irgendwann die Idee, eigene Musik zu machen. Heute hängt die Pappscheibe, in Glas gerahmt, an der Wand des Friedrichshainer Sinnbus-Büros. An einem großen Schreibtisch, auf dem sich CDs, Kamera und Handy, Kopfhörer, Locher, Stempel und Papiere stapeln, sitzt Uwe und hackt auf seinen Laptop ein. Ein MasterTape muss heute noch raus, und der Computer spielt nicht mit. Aber Uwe bleibt entspannt. Es hat schon so vieles geklappt, was kaum einer für möglich hielt. Er und ein paar seiner Freunde haben aus dem Band- spielen.DugreifstmitderlinkenHanddieAkkordevon oben.Wiekamesdenndazu? Durch eine Sehnenscheidenentzündung. Da gibt es dieses Spiel auf der Playstation: Man muss die ganze Zeit die Tasten durchdrücken, ganz schnell bewegen. Nach einer Nacht Spiel und Spaß war es dann passiert. Ein paar Tage später wollten wir auf Tour gehen und ich spielte einfach auf meine Weise, weil ich merkte, dass meine Sehnen und Muskeln nicht so beansprucht werden und auch die Akkorde besser klingen. WelcheMusikliegtaktuellinDeinemPlayer? Mhm...das ist, glaube ich, die Best of... von Guided By Voices. WaswirdesinZukunftimHauseKurtEbelhäusergeben? Musikalisch will ich weiter neue Horizonte entdecken, immer neue Arten, wie man Songs schreiben kann, neue Sounds. Das ist alles sehr spannend. Über die Jahre gab es sicher auch mal ein kreatives Loch, aber dann gab es neuen Schwung und wieder einen anderen Blick, wie man neue Songs schreiben kann. Einfach immer weiter, das Ziel erreichen, ohne zu wissen, was das Ziel eigentlich ist... WelcheMusikmagstDuheute? Ich mag ehrliche Musik. Auf sowas stehe ich total. Handgemacht und aus dem Herzen kommend, z.B. die neue Trail Of Dead ist sehr gut! Okay,abschließendnochdieFrage:IneinemLookALike Contest,mitwemwürdestDuDichvergleichen? Ich werde immer mit den Typen von Star Trek verglichen, wie heißen die doch gleich...genau mit den Klingonen.(lacht) Duhasteineganzbestimmte,eigeneArtDeineGitarrezu Kurt Ebelhäuser wurde abgecheckt von Andreas Voland DasBerlinerLabelSinnbusRecordslässtvonsichhören Ein Pappteller ist die Geburtsurkunde des Berliner IndieLabels Sinnbus Records, das vor sieben Jahren geboren wurde und von Beginn an mächtig für Lärm gesorgt hat. Damals, im Sommer 2000, gründeten 30 leidenschaftliche Musiker aus dem Umkreis eines Proberaum-Zentrums in Berlin-Karlshorst eine Bandgemeinschaft. Von ihrer Zusammenarbeit versprachen sie sich größeren Spielraum: eigene Platten herausbringen, Konzerte organisieren – alles schien möglich. Nur einen Namen hatte das Kind noch nicht. Ideen wurden gesammelt, jemand kritzelte sie auf besagten Teller. Am besten gefiel Sinnbus. Das Wort klang gut und hatte keine zementierte Bedeutung – mehr wollte man gar nicht. 11 Netzwerk ein ausgewachsenes Label gemacht, das mit inzwischen 25 Releases und etlichen Events immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dank enthusiastischer, zunehmend professioneller Arbeit und der Koproduktion mit engagierten Vertriebsfi rmen kann man Sinnbus-Musik mittlerweile sogar in Japan hören. Egal, welcher Bandname auf den liebevoll gebastelten Covern steht – Bodi Bill oder Monotekktoni, Beach oder SDNMT – die Klänge, die dahinter stecken, reißen mit. »Wir machen nur, was uns gefällt«, sagt Uwe und man glaubt es ihm aufs Wort. Von jeder ihrer CDs und Vinyls sind alle fünf Sinnbus-Mitarbeiter voll überzeugt. Was ihre Bands verbindet, ist schwer zu benennen. Ein bestimmter Stil ist es nicht: Von hartem Elektro-Rock über anspruchsvolle Gitarrenexperimente bis hin zu beschwingtem Pop ist hier einiges zu hören. Spürbare Begeisterung für gute Musik ist das, was das gesamte Sinnbus-Musikrepertoire vibrieren lässt. Ohne Begeisterung würde ein Projekt wie Sinnbus nicht funktionieren. Den größten Teil ihrer Zeit stecken die fünf Endzwanziger in ihr Label. Alle arbeiten nebenher in .. von Martin Hatzius verschiedenen Jobs, denn leben können sie von Sinnbus nicht. Noch nicht. »Trotzdem ist aus dem Hobby längst Ernst geworden«, sagt Uwe, »und es geht weiter bergauf«. Nachdem die ersten Platten längst gepresst waren, gab Sinnbus sich im 2004 die Rechtsform einer GbR. Ein gutes Jahr später fand man, nach monatelanger Suche, die geeigneten – und bezahlbaren – Räumlichkeiten für ein Büro. Heute ist dieses Büro tagsüber fast lückenlos zu erreichen. Das Telefon klingelt immer öfter: Nicht nur Bands (monatlich gehen rund 20 Demo-Tapes bei Sinnbus ein), sondern auch Radiostationen, Journalisten, Agenturen suchen den Kontakt. Dass nichts wichtiger ist als der Draht zu Gleichgesinnten, haben die Sinnbus-Leute schnell gelernt. Man trifft sie auf Indie-Messen, wie der PopUp in Leipzig, auch auf Kongressen, vor allem aber immer wieder bei Konzerten. Auf der Business-Messe Popkomm aber haben sie keinen Stand gemietet. Stattdessen veranstalten sie zeitgleich (20. bis 22.9.) das Klang.Klang.Klang-Festival. In Clubs, wie dem Schokoladen, dem Rosis und dem NBI, umgeben von ihrer Musik, fühlen sie sich eben am wohlsten. www.sinnbus.de 12 SundVfeat.: Karsten Krampitz von Mondkalb EinGesprächmitKarstenKrampitz,RedakteurderBehindertenzeitschriftMondkalb. InDeinerZeitungMondkalbschreibenBehinderte überBehinderte,überihreAlltagsprobleme,ethischeFragen.SexscheinteinbesonderswichtigesThemazusein. Weil Sex mit Behinderung sonst nie thematisiert wird. Behindert sein heißt nicht nur, dass du die Treppe nicht hochkommst mit deinem Rollstuhl. Diese Hürde kannst du nehmen. Die eigentliche Behinderung besteht in der Vereinsamung. Es gibt viele behinderte Menschen, die wissen spätestens mit der Pubertät, sie entsprechen nicht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal. Sie werden zum Teil nie eine eigene Sexualität haben. Für die Zeitung ist von Vorteil, dass wir alle schon in anderen Zusammenhängen etwas gemacht haben. Jeder hat somit noch andere Themen: ich soziale Armut, Matthias Vernaldi zum Beispiel beschäftigt sich mit philosophischen Fragen. WasistderAnspruchvonMondkalb? Remmidemmi. Wir wollen für Unruhe sorgen, in der Gesellschaft und unter Behinderten selbst. Behinderte gelten als Opfer, auch in der Linken, obwohl es gar keine richtigen Täter gibt. Es gibt Leute, die meinen, sie sprechen für Behinderte. Aber wir fühlen uns von denen nicht vertreten. UndwasvertretenBehinderteinWahrheit? Das ist es ja: Es gibt gar keine Behindertenartikulation. Es gibt überhaupt keine soziale Bewegung. Die soziale Basis fehlt. Woranliegtdas?OftschließtAusgrenzungdieeigenen Reihen-unddiskriminiertwerdenBehindertegenug. Ich war jahrelang an einer Behindertenschule in BerlinLichtenberg. Als einziger aus meiner Klasse werde ich demnächst einen Hochschulabschluss haben. Die Regel ist, dass Behinderte schlechte Schulabschlüsse haben und in irgendwelchen Werkstätten für einen Euro die Stunde arbeiten. Die kriegen ihren Arsch nicht hoch. kens. Die Leute defi nieren sich darüber, was sie erreicht haben, wie viel Geld sie verdienen. Wer in diesem Rennen zurückbleibt, ist ein Nichts. Viele Behinderte meinen nun, dass sie nur existieren, aber in diesem Sinne nichts geleistet haben. Denen wollen wir zeigen: Es gibt andere Ansätze, und dafür braucht ihr niemanden, der für euch spricht! Die Zeitung ist euer Medium. – Irgendwann wird es für diese Menschen dann auch wichtig sein, dass sie in ihrer Identität nicht nur behindert sind, sondern auch Frauen und Männer, Schwule oder Heteros, Junge oder Alte, Arbeitslose oder Workaholics. Und einige sind sogar richtig liebenswürdige Personen. So ist es eine Form von Selbstironie. Es gibt auch wunderbare jiddische Witze, die gar nicht antisemitisch sind. IhrwolltüberdasZeitungsprojektdieBehindertenbewegungwiederbeleben? Wir schreiben sie herbei. Wir sind das Szeneblatt einer Szene, die es nicht gibt, die aber hoffentlich im Entstehen ist, das Organisierte Gebrechen eben. IchdarfdenWitznichtmachen,aberdarüberlachen? Du darfst ihn auch machen. In der aktuellen Ausgabe beschäftigen wir uns mit der Frage, ob Männer mit Holzbein die bessere Erektion haben. Das überschüssige Blut muss ja irgendwohin... Diese Zote habe ich eigenhändig bei der Literaturchefi n der Berliner Zeitung abgeschrieben. Will sagen: Wenn der Witz gut ist, klauen wir ihn sogar. - Es kommt immer auf den Kontext an. Wenn das nicht alles ist, was Sie zu bieten haben, wenn noch ein Gegengewicht da ist, dann ist das okay. Die Balance muss stimmen. Im Witz steckt oft etwas emanzipatorisches, er hat mit der Suche nach Identität zu tun. Noch einmal: Auch unter Behinderten muss mit dieser Mitleidstour gebrochen werden. Natürlich ist das Leben scheiße. Aber Jammern hilft nicht weiter. Das Gespräch führte Ines Wallrodt. WiewarendenndieReaktionenaufdieerstenbeiden Ausgaben? Aufgeregt haben sich nicht die Behinderten. Wir sind zum Beispiel kritisiert worden, hinter linke Standards zurückgefallen zu sein, weil wir das große I nicht benutzen. IneinerKolumnemachtsichdieZeitungüberLeutelustig, dienacheinernicht-diskriminierendenSprachesuchen. DiezumBeispielvonGehandicaptensprechen.Ihrschlagt danneinerollstuhlfahrerneutraleSprachevor,statt»mir Stecktdarinnichtauchetwasvon:WirreißendenWitz, bevorihrihnreißenkönnt?Ihrkönntmichnichtverletzen, weilichesvoreuchselbsttue? Nein, nicht wirklich. Man muss über sich selber lachen können. Das Leben von Behinderten ist extremer. Damit ist auch die Selbstironie von einigen ein bisschen extremer. AberdarfichalsNicht-Behindertedarüberlachen? Klar, dafür ist es ja gemacht. AberdarfichalsNicht-Behinderte darüberlachen? Siesindselberschuld,dassihreInteressennichtvertreten werden? Nein, von »selber schuld« darf man nicht reden. Eine körperliche Behinderung führt bisweilen auch zu seelischer Verkümmerung. Viele Behinderte sind vereinsamt. Das Ziel der Zeitung ist es auch, diese Isolation aufzubrechen. Eine Veränderung kriegst du nur über politische Mehrheiten, die du aber nicht gewinnst, wenn du einfach nur jammerst. Wir halten nichts von Opferkult. Wir wollen gerade mehr Täter sein. Aktiv. Wir haben lange nach einem identitätsstiftenden Wort gesucht, wie die Schwulenbewegung, die das Wort schwul positiv besetzt hat. Krüppel konnten wir nicht nehmen. Die alte Krüppelbewegung ist tot und Krüppel ist immer noch ein Schimpfwort. Wir nennen uns jetzt Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen. geht‘ssolala«,»mirfährt‘ssolala«zusagenoderstatt »einengutenVerlauf«,»einengutenVerroll«zuwünschen. IhrgebtEuchgroßeMühe,geradenichtpolitischkorrektzu sein. Wer die Sprache hat, hat die Macht. Besser, die Sprache gehört keinem. Ich lass mir doch von niemandem sagen, wie ich zu schreiben und zu sprechen habe. Denen geht es nicht um Antidiskriminierung, sondern um Herrschaft. Diese Leute wollen mir sagen, wie ich zu denken habe. Abgesehen davon habe ich auch einen gewissen literarischen Anspruch. Wenn ich mir dieses Linkssprech anschaue, diese people-fi rst-language und das Gegenderte, dann fühle ich mich ästhetisch abgestoßen. Diese Sprache transportiert eine Zukunft, die auf so viel Schönes verzichtet. In dieser Sprache kannst du keine Satire, keine Reportage schreiben. Keine Poesie. GibtesvielleichtauchdeshalbkeineBehindertenbewegung,weilBehindertegeradekeineBetroffenenpolitik machenwollen?WeilsieabgesehenvonihrerBehinderung nichtsverbindetundsielinks,rechts,unpolitischoder sonstwassind? Das glaube ich nicht. Die meisten Behinderten sind nur Gefangene des gesamtgesellschaftlichen Leistungsden- AllesanMondkalbistnichtkorrekt.EineRubrikheißt KrüppelausdemSack.IhrbeantwortetdieFrageeines fiktivenLesers:»KannmanmitAnuspraeterAnalverkehr haben?«BeimletztenMallageinSpielfeldfürRollopoly bei,»dennetwasSpasmussein«.BeiNicht-Behinderten würdemanvonBehindertenfeindlichkeitsprechen.Wo liegtderUnterschied? Rubrik: Interview Karsten Krampitz, 37, geboren in Rüdersdorf bei Berlin, gelernter Statistiker und staatlich geprüfter Betriebswirt, nach der Wende Abi nachgeholt, Geschichtsstudium an der Humboldt-Uni begonnen, sechs Bücher veröffentlicht, für Obdachlose engagiert. Zurzeit schreibt er an seiner Magisterarbeit über Kirche in der DDR. Er ist knochenkrank, hat sich 20 Mal operieren lassen, zuletzt Mitte August. Die Zeitschrift mondkalb (möchten ohne not durch kleine aufmerksamkeiten liebe bekommen) erscheint etwa alle drei Monate und liegt u.a. in Kneipen, Unis und Arztpraxen aus. Derzeit hat die Redaktion vier Mitglieder in Berlin und je eines in Bremen und Marburg. Alle arbeiten ehrenamtlich: »Wir leben für Mondkalb, aber nicht von Mondkalb«, sagt Karsten Krampitz. Voraussetzung fürs Mitmachen: Man muss behindert sein. www.mondkalb. net.tc Als Mondkalb wurden im 16. Jahrhundert fehlgebildete Kälber bezeichnet, deren Fehlbildungen man auf einen schädlichen Einfluss des Mondes zurückführte. Heute ist es ein Schimpfwort. 13 14 PoetrySlam: Würde grabschen .. EineFortsetzungsgeschichte,dritterundletzterTeil. DieerstenbeidenerschieneninderMärz-undder August-Ausgabe. vonWolfHunger Illustration: Florian Bielfeld Laßt Mit dem Schreiben Geld zu verdienen, dauert. Gibt Abkürzungen, die euch das heißen Vater oder Mutter Schauspieler, eins Schriftsteller oder alternativ beste Bevorzugsweise auf hohem, sagen: ziehungen, fi nanziell abgesichertem Niveau. Auch hilfreich: Wunderkind, keinesfalls älter als 25. Nicht zu vergessen: besonders Schreckliches erlebt, der Nährboden medienwirksam bereitet vom Boulevard und dann ernten, ernten, ernten. Der Dichter hat derlei nicht zu bieten, die Hauptstadt mit Kulturfürst Wowi dem Ersten keine anständige Künstlerförderung und aus Karlsruhe kräht das Verfassungsgericht: Schluß mit der vielen, unnötigen Kultur! Bleibt nur der Gang zum Topf, aus dem die dünne Suppe gelöffelt wird, die der Kapitalismus gerade so übrig hat für die Unnützen, die Aufdertascheliegenden, die nicht mehr Ausbeutbaren. Also auch für mich. Erstmal rankommen an die Almosen des Staates. In Berlin haben sie sich die gefühlt längste Telefonnummer der Welt geben lassen: 01801-00259303807. Hmh, bin ich der Einzige, der bei diesem Endloswurm an ultrateure Sex-Hotlines denkt? Aha, hier ist ein Sternchen hinter der Nummer. Wird mir bestimmt verraten, was mich ein Anruf kosten wird. Im Kleingedruckten verraten sie´s: Entgelt entsprechend der Preisliste Ihres Teilnehmernetz-Betreibers. Willkommen in Absurdistan! Jetzt nur nicht vertippen bei den vielen Zahlen. Geschafft! Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine freundliche Stimme mit frechem märkischem Akzent: Antrag? Schicken wir Ihnen sofort zu. Danke. Fünf Tage später ist er da, mit Datum einen Tag nach meinem Anruf. Ach so, private Post, billiger wohl. Frist bleibt jedoch die gleiche. Fülle Zeile für Zeile gewissenhaft aus, nur keinen Fehler machen. Hosen runter, hilft ja nichts. Und ja nicht den Postweg gehen, lieber persönlich vorstellig werden. Wann mag die Schlange vor dem Club der Verlierer nicht bis zum Mond reichen? Ich entscheide mich für Dienstag Vormittag. Nachmittags werden generell keine Audienzen vergeben. Haben sie sich vom Papst abgeguckt oder so. Es ist Sommer in Berlin, 27°. Mitte ist groß, mit Wedding dazu noch größer und irgendwo am Ende vom Ganzen hat sich das JobCenter angesiedelt. Monströs. Fahrtkosten? Nun machen sie mal keinen Aufstand! Schließlich sind wir das größte JobCenter Deutschlands, jawoll!! Könnse auch mal ein bisschen stolz drauf sein und bitteschön ohne Murren bis zur nächsten Straßenecke anstehen. Nach ner halben Stunde in der sengenden Sonne verfluche ich nicht nur den Staat, sondern auch den Sommer. Irgendwann bin ich drin, am Ende eines abgesteckten Parcours, der sich durch den stickigen Empfangsbereich windet, wo ein Konzentrat aus allen nur denkbaren menschlichen Ausdünstungen wie eine Wand steht. Schlangestehen, sehr anschaulich vermittelt. Woran erinnert mich das bloß? Auschwitz, nein, zu hart, vergast werden die Vergessenen selbst im reanimierten Manchester-Kapitalismus dann doch nicht. Viehgatter sind´s! Selektion der Reihe nach, kein Ausbrechen möglich, stoisch und brav anstehen wie ein Schaf. Scheren, melken, Schnauze halten! Die meisten Schafe halten still, nur nicht unangenehm auffallen, könnte ja negativ ausgelegt werden. Geht überhaupt schnell hier mit der Einschüchterung. Auch ich füge mich dem Lämmerzug, schaue mich um, ob da nicht irgendwo Kameras lauern. Andere, offensichtlich Stammkunden, fühlen sich fast wie zu Hause. Über alle Abgrenzungen hinweg wird sich lautstark begrüßt, abgeklatscht, palavert. Oft in Sprachen, die ich nicht verstehe. Zwei, drei bedürftige Schafe vor mir dämmert eine käsebleiche, furchterregend abgemagerte Gestalt vor sich hin, und man ist schon ganz bange, dass dieses sich offensichtlich im Endstadium einer unheilbaren Krankheit befi ndliche Knochengerüst einfach zusammenfällt. Gerade musste er vom Hintermann angestubst werden, als unerwartet Leben in ihn fährt. Am Ende des Trecks hat er einen Typen entdeckt, der ebenfalls nicht übermäßig gesund ausschaut, aber stramm an seiner Bierfl asche festhält. Über die Gatter fliegen ein paar Wortfetzen hin und her, und schon wechseln zehn Euro und eine Zehnerpackung Tabletten die Besitzer. Scheint niemanden zu stören. Nach anderhalb Stunden stehe ich vor einem dickbäuchigen Einweiser, der überraschenderweise kein Bolzenschussgerät parat hat. Er winkt nur zum nächsten freien Platz durch. Frau hinter Schalter sieben: Alle Unterlagen dabei? Ja, alle. Gut, gehen Sie über den Hof zum Wartebereich für Erstantragsteller. Den Hof fi nde ich prompt, aber der ist verdammt groß und plötzlich ohne viehtriebartige Einzäunungen. Hinweise, Schilder? Abwesend. Da hinten, rechts von mir, ist reges Treiben, also hin da. Irrsinn, die ganzen Gänge. Hier und da computerausgedruckte Hinweise, versprengte Wartende, auf den Boden starrende Schafsgesichter, furchtvoll dem Schlachten durch einen übelgelaunten Sachbearbeiter entgegensehend. Kinder, die aus diesem Gefängnis davonlaufen wollen, Mütter, die sie tadelnd wieder einfangen. Bin ich hier richtig? Da geht eine Tür im kafkaesken Gang auf, sieht aus wie ein Sachbearbeiter. Entschuldigung, bin ich hier richtig? Kurzer Blick auf meinen Warteschein. Knappe Antwort: Steht doch drauf, werden aufgerufen. Die Grundformen menschlichen Miteinanders scheinen hier außer Kraft gesetzt. Türen schlagen, ein vollzähliger Familienclan wandert in eine rein, kommt kurze Zeit später wieder raus, alle schimpfen, gestikulieren, unschöne Worte fallen. Höre so was wie erneut falsche Unterlagen, kein Geld und überprüfe fi x noch mal meine Unterlagen. Komplett? Ja, weiß nicht, hoffentlich. Immer wieder diese Türen, aus denen Namen gebellt werden. Meiner, nein, neben mir steht ein älterer Mann auf, den ich schon für eine Skulptur hielt. Wie naiv, Kunst ist hier ebenso fern wie Menschlichkeit. Endlich bin ich dran. Im Zimmer sitzen zwei Figuren, die sich von denen auf dem Gang in nichts unterscheiden. Guter Mensch, der ich bin, denke ich, die waren vielleicht auch mal und haben jetzt wieder Arbeit. Figur links bietet mir einen durchgefurzten Stuhl an. Rechte Figur studiert eine Akte und rülpst herzhaft. Mahlzeit, sage ich. Nichts regt sich an ihm, keine Antwort, kein Lächeln. Doch ein Bronzeabguß des alltäglichen Wahnsinns? Figur links geht gemächlich meine Unterlagen durch, goutiert sie und verspricht baldige Bearbeitung. Das sieht dann so aus: drei Wochen später ein Schreiben. Tonfall: Sie werden aufgefordert....haben eine Mitwirkungspflicht.... sonst keine Leistungen. Und bitteschön die Frist einhalten! Unterlagen fehlen! Als wenn´s Hitler und die DDR nie gegeben hat. Wieder hin, diesmal Freitag. Selber Viehtrieb, Stunde ausharren. Alle Unterlagen dabei, voller Hass, bereit zu allem, Kafka grüßt aus dem Grau der Gänge, Kinderkreischen, dann mein Name. Und – oho – sowas wie eine Erklärung. Da ist wohl was falsch gelaufen. Und meine Miete? Nächste Woche ist der Bescheid da, versprochen. Geld kam nächste Woche tatsächlich. Und dann drei Bescheide im Zwei-TageRythmus. Das System spielt verrückt, ein einziger Fehler. So wie wir einer sind, der sich erdreistet, den Sozialstaat in Anspruch zu nehmen. Und der Preis dafür? Unsere Würde. Für ein bisschen Geld, das die Erfi nder dieser großartigen Reform trotz Rauswurf ausm Amt, und rechtmäßiger Verurteilung immer noch minütlich im Schlaf verdienen, wenn sie ihre gut genährten Körper im Designer-Bett umdrehen. Vielleicht sollten wir auch mal ganz ungeniert zugreifen, wenn es um unsere im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte geht. In einem der reichsten Länder der Welt, wohlgemerkt. Könnte ja sein, dass nicht nur das Geld ungerecht verteilt ist, sondern auch die Würde. Medien: Spiesser DieostdeutscheJugendzeitschriftSpiesserverdreifachtihreAuflageaufeineMillion. JetztgibtesdasMagazinauchimWesten.Kostenloswieimmer,inhaltlichfür TeenagermitAnspruch,stilistischinnovativ. Von Jan Freitag Schwuchtel ist das liebste Hasswort an deutschen Schulen. Schwuchtel steht für alles Schwache, Unbeliebte, Andere, für Außenseiter. Und es steht in schwarzen Lettern auf der Titelseite einer Jugendzeitschrift, ein durchgestrichenes Gesicht darüber, abschätzig gemustert von Gleichaltrigen im Hintergrund. So ist Spiesser: neu, unerwartet, stets bereit zum Tabubruch. Ab September wird ihn das Magazin für die Zielgruppe 14 bis 22 bundesweit wagen und das ist in doppelter Hinsicht eine Erfolgsgeschichte: Eine des Ostens. Und eine mit Niveau. Spiesser, die kostenlose Zeitung für den Teenager mit Niveau, expandiert von Dresden in die ganze Republik und löst nebenbei die Bravo als Marktführer ab. Hoffentlich auch inhaltlich. Überschrift im ersten gesamtdeutschen Heft: Ich bin anders. Es könnte das Motto der Zeitschrift selbst sein. Im neuen Heft, das am 10. September erscheint, geht es nicht um Boygroupgezanke, Einkaufstipps und Kuschelratgeber, sondern um schlaffeindlichen Schulbeginn, jugendliche Haushaltsetats und ein lesbisches Coming-out. Themen zum Mitdenken also, nicht zum Kreischen. Damit das alle im Land mitkriegen, steigt die Aufl age auf eine Million Stück – mehr als Bravo, YAM! und Popcorn zusammen. Dabei war das dürre Heft aus Altpapier vor 14 Jahren als bessere Schülerzeitung dreier Dresdener Schüler fürs direkte Umfeld gestartet. Doch bald eroberte Spiesser ein neues Bundesland nach dem anderen und verteilte zuletzt 300.000 Exemplare an Schulen zwischen Rostock, Zwickau, Magdeburg und Cottbus. Nicht nur deshalb schrieb der Spiegel mal von einer »Bravo des Ostens«. Dass jetzt der Schritt über die alte Grenze folgt, erklärt Chefredakteur Peter Stawowy mit »wirtschaftlichen Aspekten«. Die Zeit sei eben reif. Klingt nicht sehr heißblütig, doch es steckt noch mehr dahinter: Die Interessen und Einstellungen der Zielgruppe in Ost und West, aufgewachsen in einem – zumindest geografi sch – ungeteilten Land, seien »bis auf kleine Nuancen inzwischen identisch«, glaubt der jung gebliebene 15 Journalist von 35 mit der hippen Brille. Seine zwölf Jahre jüngere Geschäftsführerin Stephanie Schroth sieht es ein bisschen jugendlicher: »Wir machen’s halt einfach«, sagt sie mit sächsischem Akzent, »wie wir immer alles halt einfach so machen«. Klingt fl apsiger als das Magazin tatsächlich gemacht ist und lockerer als das Projekt eigentlich zulässt. Denn die Redaktion wurde um ein paar hauptamtliche Journalisten erweitert und umfasst jetzt einschließlich Praktikanten und freien Mitarbeitern jeden Alters unter 30 rund 20 Personen. Außerdem ist die Ausweitung ein echter Kraftakt, der etwas sonderbare Werbekunden, wie die Bundeswehr, mit sich bringt. Die Anzeigenpreise der fünf Mal im Jahr erscheinenden Zeitschrift liegen mit 42.000 Euro pro Seite zudem deutlich über dem des Hochglanzprodukts Bravo. Dank Millionenumsätzen gerät der kleine Eigenverlag zu einem echten Wirtschaftsfaktor. Und vor allem: Auf die Einkaufsliste großer Herausgeber. Doch davon will man in Dresden nichts wissen. Ebenso wenig wie von Schlipsträgern im Blatt. Deshalb bleibt der Ausflug von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in die Starstunde eine Ausnahme. Im neuen Heft gibt also Komiker Bully Herbig einer zehnten Klasse aus München Unterricht in Sachen Staat und Macht. Eine der vielen kreativen Rubriken des Spiesser. So wie das Rentner Kompetenz-Team zum Schluss, zwei Seniorinnen, die sich diesmal zu Rechtsradikalen äußern. Noch so ein Thema, das andere Jugendmagazine eher meiden. Zu heikel, zu spaßfeindlich, zu anspruchsvoll. Wie man das, was junge Leute interessiert, witzig und einfallsreich, aber ohne Klamauk und erhobenen Zeigefi nger, also ganz spießig, bearbeitet – davon könnten die anderen noch was lernen. Themenschwerpunkt: Bild: photocase.de impressum Sacco und Vanzetti hat nichts gegen Unterstützung, schließlich soll S&V ein interaktives Medium sein. Hier fi ndet Ihr Platz, Euch und Eure Projekte vorzustellen, Geschichte(n) zu schreiben, Euch zu politischen Themen zu äußern. Darum sendet Eure Beiträge an: redaktion@ sacco-vanzetti.net. Oder besucht uns auf www.myspace.com/saccoundvanzetti. Die Redaktion übernimmt für den Abdruck der eingesandten Manuskripte und Bilder keine Gewähr. Sie verspricht aber, wirklich jeden Beitrag wohlwollend zu prüfen. Chefredaktion: Martin Schirdewan (V.i.S.d.P.), Thomas Feske AutorendieserAusgabe: Ines Wallrodt, Ina Beyer, Susanne Götze, Ruth Steinhof, Karsten Schmidt, David Jünger, Nico Zerbian, Anne Kirchberg, Heiko Langner, Wolf Hunger unter Mitarbeit von: Kevin Stützel, Andreas Voland, Alexander Beuge Graphische Gestaltung: Stephan König, Martin Deffner, genausoundanders.com Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH Projektmanagement: Christoph Nitz Internet: myspace.com/saccoundvanzetti Ein neuer Leser für uns – ein iPod shuffle für dich. ss kein ber musein. r e W r t De onnen ND-Ab Ich möchte keine Ausgabe von Sacco & Vanzetti verpassen und abonniere das ND. Ich habe eine/n neue/n Abonnentin/en geworben! 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