magazin neues deutschland

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magazin neues deutschland
magazin neues deutschland
Nr. 11 Sep 2007
Bild: photocase.de
Greetings from...
SaccoundVanzettigibtesjetztauch
imInternet.MiteinemeigenenProfil
beimyspace.com.
Einfachmyspace.com/saccoundvanzettieingeben
undschontrefftIhraufdasaktuelleMagazinund
seineVorgänger.MusikalischeUntermalunginklusive.
OderIhrtreffteineganzeReiheunsererFreunde,die
genausovielzähligwieunterschiedlichsind,einfach
bunteben–wieauchdieThemenunddasneue
DesignvonSundV.VomAttaciüberPunkrocker,
Fußballfans,schrägeBandsundweiseLiedermacher,
vondereinfachenLeserinhinzumeinfachenPromi
–siealleunterstützenSaccoundVanzetti.Weilsie
dieInhaltemögen,dieSprache,unsereOptik.Weil
sieunsinteressantfindenodereinfachnurGlück
wünschenwollenbeiunseremVorhaben,mitwachem
VerstandundoffenenSinnendurchsLebenzugehen,
KritikwürdigeszukritisierenundGenießenswerteszu
genießen.
WieauchwiederinderaktuellenAusgabe,inder
wirunsdemLebenjungerBehinderterwidmenund
inverschiedenenFacettenvorstellen.Achja,die
Popkommtobtalljährlichwieder,diesmalauch
durchunserHeft,nebenmigrantischenBoxernund
Lifestylesportlern.EineGruppejungerMenschenaus
FrankfurtprobtdieGegenwirklichkeit,unserDichter
erlebtsieindenJobcenterndieserRepublik.
WennIhrEuchvonunsangesprochenfühlt,uns
unterstützen,Glückwünschenoderüberdieneueste
Ausgabeabkotzenwollt,dannschautdochmalbei
myspacevorbei.DortkönntIhrauchgleichunserem
exklusivenFreundeskreisbeitreten.OderIhrlasst
esundlestunseinfachweiterhin,verfolgtunsere
Entwicklung,legtdieHändeindenSchoß,wartetund
stelltplötzlichfest,dassIhrbeginnt,sozutickenwie
SaccoundVanzettiundseineRedaktion.Daswär’
dochschonmaleinAnfang.
MartinSchirdewan
»Ifyoucan´twait,takeataxi.«
WirempfehlenjedochroteDoppelstock-Busse.
von Andreas Voland
von Who the fuck did it?
Bild: photocase.de
London, Hauptstadt von Großbritannien, eine Weltstadt,
auf jeden Fall die meist überwachte Stadt in Europa. Mein
erster Eindruck: Keine Ecke, keine Straße, die nicht von
kleinen Kameras bewacht wird.
MeinzweiterLondonerEindruck: London ist multikulturell. Die ersten Worte, mit denen ich begrüßt werde, sind
spanische Anweisungen von den Platzanweisern und
Fahrkartenverkäufern des Busunternehmens, das mich
vom Flughafen Stansted, dem beliebten Zielpunkt von Billigfluggesellschaften, eine Stunde Fahrzeit außerhalb von
London, zur Bushaltestelle Westminster fahren soll.
MeindritterEindruckvonLondon: Schlagfertige Busfahrer.
Nicht nur Touristen rotten sich an der innenstadtnahen
Haltestelle Westminster zusammen, auch behinderte
Londoner steigen meist in Westminster um — es ist die
einzige barrierefreie Station in der Innenstadt. Wir haben
einen witzigen Busfahrer, der die einsteigenden und uns
aussteigende Touristen gut im Griff hat. Er lässt die Vordertür geschlossen bis sich vor dem Bus eine Rampe entfaltet,
die eine Rollstuhlfahrerin auf die Straße bringen soll. Die
Touristen vor dem Bus akzeptierten die Handzeichen des
Busfahrers aber nicht, sind ungeduldig und hämmern
gegen die Tür. Der Busfahrer greift zum Mikrofon und ruft
ihnen zu: »If you can’t wait, take a taxi.«
MeinvierterEindruckvonLondon: Londoner sind stark
im Feiern und im Betrunken-Sein und sehr zahlreich am
Start... 7,5 Millionen Einwohner, laut der letzten Zählung.
Da kommt mir mein Berlin wie eine kleine, entspannte
Provinzstadt vor — nur das Servicepersonal der Verkehrsbetriebe ist ähnlich rotzig.
Von der Haltestelle Westminster fahre ich zum Bahnhof
Victoria Station und mache mich zu Fuß auf zur Kings
Road, nur ein paar Straßen weiter — denke ich mir und
laufe los, an der Themse entlang, durch dunkle Gassen.
Irgendwann erklärt mir ein netter Partygänger, dass die
Kings Road ganz in der Nähe sei... ach, ich wolle nach
Chiswick? Nein, da würde ich mich irren. Wahrscheinlich
meine ich eher die Kings Street! Das wären dann noch acht
Meilen. Zu Fuß? Ich sei verrückt, lieber mit dem Bus, oder
mit dem Taxi, für 30 Pfund. Ich laufe. Mein Problem, ich
habe kein Geld getauscht – und das in der drittteuersten
Stadt der Welt – Taxi fällt also fl ach. Ich laufe. Irgendwann
siegt Erschöpfung über geilen Geiz und ich versuche es mit
S.4&5-Behindertwerdenwiralle
AusdenAugen–ausdemSinn.Weilsieetwasganz
Besonderessind,dürfenbehinderteKinderinunserer
RepublikSonderschulenbesuchen.Ausgrenzungwirdbei
unsföderalorganisiert.
S.6-Killermückengreifenan
UnserAutorhatsichindiePotsdamerTrattoriaVilla
Apostoligewagt–inBegleitung.DerWeinfließt,dasBlut
pulsiertundfürdieanderenGästederTrattoriabeginnt
dasgroßeFressen.
S.7-ReclaimyourHeimat
WirwollenunsereHeimatwieder.Nichtalskrude
MixturausNationundIdyll,nichtalsMügelnAbziehbild,sondernehrlich,zivilcouragiertunddeshalb
tolerant,offenundfriedlich.DieLeutevonanspruch.
gegenwirklichkeitwollendasauch.
S.8-ImRingbistDuallein
ArthurAbrahamlässtsichimRingdenKieferdoppelt
zertrümmernundsiegt.EristeinervonvielenBoxern
mitMigrationshintergrund.WieAfroamerikaneram
beliebtestensind,wennsieihrHeimatlandprestigeträchtigzuMedaillenspiegelanführernmachen,genießen
MigrantendannRespekt,wennsiefürdeutscheBoxställe
ausländischeWeltklasseboxeraufdieBretterschicken.
SiekämpfenumRespekt.
S.9-FastwiebeiSaccoundVanzetti
TäglichöffnetdasBundesinnenministeriumseineScheunentoreundentlässteineneueSauinsDorf.Wirsind
mittlerweilenichtnurExport-,sondernauchAbhörweltmeister.UndwirsindWeltklasse,wennesdarumgeht,
missliebigEngagierteeinzuschüchtern.
S.10&11-InBerlinspieltdieMusik
PaulvanDyksprichtvonderMusikalsZukunftsbranche.
Besserersprichtvonihr,alsdassersiemacht.Obwohl
unsauchdasaufderdiesjährigenPopkommnichterspart
bleibenwird–sowieRammsteinoderdieewigFantastischenVier.
dem Bus. Der Busfahrer will mich ohne Ticket nicht mitnehmen, verständlich, würde wohl niemand. Glücklicherweise ist ein Mann bereit, Euro gegen Pfund zu tauschen.
Dankbar zücke ich meinen Geldbeutel.
MeinfünfterEindruck: Nett, die Londoner. Wirklich ausgesprochen nett und gastfreundlich!
Ichlerne: London erlebt der nicht ganz so zahlungskräftige,
dafür aber abenteuerlustige Tourist am besten nach dem
Kauf einer ÖPNV-Tagesfahrkarte in einem der bekannten,
roten Busse. Mit denen einfach ins Blaue hineinfahren und
aussteigen, wo auch immer die innere Stimme oder das
Aufmerksamkeitsbarometer »HIER!« ruft.
Mein erster Stopp ist die Oxford Street, ein überdimensionales Einkaufszentrum mit Massen von Schäppchenjägern
und dem dazugehörigen Massenangebot an Waren, Sonderangeboten, Wühltischen voll mit Billigwaren minderer
Qualität. Mehr kaufen, als brauchen...
Hier gibt es nichts zu holen, außer vier zum Preis von drei
– also weiter mit dem Bus zum Trafalgar Square. Von hier
aus entdecke ich London Eye, das Parliament House, inklusive demonstrativ aufgestelltem Zeltlager und Transpa-
renten: »Iran should be free«... Nicht weit davon entfernt:
Kriegsdenkmäler und das britische Verteidigungsministerium, bewacht von Soldaten in roter Uniform, mit Säbeln,
überhohen Kniestiefeln und schwarzen Plüschhelmen.
Um sie herum wuseln Touristen, lassen sich fotografieren,
machen Scherze, staunen oder laufen einfach vorbei. Einer
der Soldaten zittert schon am ganzen Körper, aber er hält
durch, wofür auch immer...
X-ter(märchenhafter)EindruckvonderWeltstadtmit
Herz: Etwas weiter in Richtung Campden Town schlägt
uns ein riesiger Trödelmarkt in seinen Bann. Ja, wir sind
die richtige Zielgruppe. Alternatives Leben, Batiktücher,
Musikläden, Räucherstäbchen, Steine, Möbel, Klamotten...
wir kommen! Und ich fi nde meine Schamanentrommel. Ich
will den Kauf durch die Botschaft des Windes bekräftigen
lassen. Wie auch sonst? »Ich zähle bis zehn. Legt sich der
Wind, gehört die Trommel mir.« Der Wind bestätigt. Die
Fahne hängt bei sieben für einen kurzen Augenblick wie
leblos am Mast. Die Trommel tritt mit mir die Rückreise
nach Berlin an. London – eine zauberhafte Stadt...
S.12&13-OrganisiertesGebrechen
KanneinEinbeinigerlänger?EineberechtigteFrage,
schließlichgibteseinBeinweniger,dasBlutinAnspruch
nimmt.DasBehindertenmagazinMondkalbgibtdie
Antwort–behauptetzumindesteinMondkalb-Redakteur
inunseremInterview.
S.14-DieWürdedesMenschenistangreifbar.GreifenSiezu!
WolfHungertreibtsichaufdengrauenGängender
bundesdeutschenArbeitsagenturenherumundsehnt
sichalsTransferleistungsbeantragendernacheinem
Bolzenschussgerät.
S.15-VonwegenSpiesser
Underdog-Erfolgsgeschichten sind besonders herzerwärmend – wie die vom ostdeutschen Schülerblättchen
Spiesser, das demnächst mit einer Aufl age von 1000000
Exemplaren bundesweit zu haben ist.
4
Im Fokus: Junge Behinderte
von Ruth Steinhof
Vor Behinderungen jeglicher Art kann niemand sicher sein. Weder jung noch alt, egal, ob kerngesund oder hypochondrisch.
Aber ebenso kann auch jeder seinen Beitrag dazu leisten in die oft isolierte Welt von Behinderten ein Stück Normalität zu
bringen.
Ich bin gesund. Meine Beine tragen mich, wohin ich möchte. Doch was wäre, wenn ich
morgen beim Abbiegen mit dem Fahrrad von einem Auto erfasst werde? Was dann?
Von einem auf den anderen Tag wäre ich einer der ca. 1200 vollzeitlich pflegebedürftigen jungen Menschen in Deutschland. Wäre querschnittsgelähmt oder anders behindert
und bedürfte vollstationärer Pflege. Bis ich gelernt hätte, mich selbst medizinisch zu
versorgen und den Alltag allein zu bewältigen. Wahrscheinlich wäre ein Aufenthalt
in einem Heim notwendig. Wenn ich überhaupt einen Platz bekäme. In Deutschland
gibt es längst nicht genug Pflegeeinrichtungen, die sich auf die Pflege junger Menschen
spezialisiert haben. Das »House of Life« (HoL) im Berliner Bezirk Kreuzberg ist eines der
wenigen. Dort wird es 20- bis 50-jährigen Patienten ermöglicht, die nötige Vollpflege
zu bekommen und dennoch so normal wie möglich zu wohnen. Das ist für viele
Bewohner ausschlaggebend. Denn ins HoL darf man zum Beispiel seinen Hund oder
seine Katze mitnehmen. Und auch sonst ist Heimleiterin Romy Arnhold sehr darauf
bedacht, den Kontakt ihrer Patienten zur Welt außerhalb der Heimmauern nicht
abbrechen zu lassen. Während die meisten Pflegeheime darauf ausgerichtet sind, alten
Menschen den Lebensabend zu erleichtern, ist es das oberste Ziel des HoL, seinen
Schützlingen den Weg wieder zurück in die Gesellschaft, in ein eigenständiges Leben
zu ermöglichen und Lebensfreude zu schaffen. Es werden Feste veranstaltet, Tiershows
ins Haus geholt und immer ein offenes Ohr und ein freundliches Wort parat gehalten.
Behilflich dabei sind so genannte Zeitschenker. Privatmenschen, darunter zum Teil auch
frühere Patienten, unterstützen die Einrichtung, besuchen Patienten, reden, trinken
mit ihnen Kaffee, lesen ihnen vor, gehen mit ihnen spazieren oder hören einfach nur
zu. Ein Extraservice, der weder von Krankenkassen, noch von anderer Stelle bezahlt
wird. Allein durch Privatspenden ist dieser Luxus, der das Leben erst lebenswert macht,
finanzierbar. Mit der Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt und der Krankenkassen
sei sie zufrieden, meint Romy Arnhold. Allerdings müsse das alles noch ausgeweitet
werden. Mit der Personalbesetzung stoße man oft an Grenzen, Mangel bestehe immer,
viele seien der Herausforderung nicht gewachsen. Wichtig sei es, die Menschen schon
während der Ausbildung auf die harten Anforderungen vorzubereiten. Auch »eine
Aufwandsentschädigung für die Zeitschenker oder ein Bus für Ausflüge wäre toll«,
schwärmt sie. Und schließlich könne man nie genug Menschen haben, die Zeit schenken.
..
von Dr. Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag
Lernende mit Behinderungen sehen die Regelschule, auf die ihre Freunde und
Nachbarn gehen, meist nur von Außen. Gerade mal 14 Prozent der knapp 484000
Lernenden mit Behinderungen lernen gemeinsam mit sogenannten normalen Schülern und Schülerinnen. Damit ist Deutschland trauriges Schlusslicht in Europa. Die
anderen werden in Sonderschulen untergebracht.
Sicherlich, die meisten Sonderpädagogen leisten sehr gute
Arbeit, wenn sie auf ihre Schützlinge sensibel eingehen
und sie individuell fördern. Aber warum sollte das nicht
für alle Lernenden ermöglicht werden? Damit die Sonderschulen abgeschafft werden können, und das sollten sie,
müssen auch die Regelschulen komplett verändert werden.
Sowohl was die pädagogische Ausrichtung betrifft als
auch ganz einfach die baulichen/ räumlichen Bedingungen
angeht. Kann es sein, dass ein Kind, das sich im Rollstuhl
bewegt und ansonsten keinen Förderschwerpunkt assistiert bekommt, in die Sonderschule gehen muss, nur weil
Barrieren es hindern, in das Gebäude zu gelangen?
Mit der Anfrage der LINKEN zu »Lernende mit Behinderungen in Deutschland« (Drucksache 16/5838) wurde
offenbar:
Die Bundesregierung verschließt mit der Ausrede fehlender
Daten und Erkenntnisse sowie der Nichtzuständigkeit die
Augen vor dem Anachronismus des Sonderschulunwesens.
Sie weiß, wie wichtig Inklusion in Regelschulen statt Aussperrung in Sondereinrichtungen wäre, aber sie handelt
nicht.
Sie weiß, dass Artikel 3 des Grundgesetzes, die Behindertengleichstellungsgesetze und alles Gerede von der Teil-
habe von Menschen mit Behinderungen leeres Geschwätz
bleiben, wenn sie schon in den ersten Lebensjahren
ausgesondert werden.
Es ist ein Skandal, dass die Regierungen in Bund und Ländern immer noch die Rechte von Kindern mit Beeinträchtigungen missachten. Hier stehen Menschenrechtsfragen zur
Debatte und nicht Mäzenatentum.
Wir müssen das System der Sonderschulen überwinden.
Es geht nicht darum, hier und da einen Förderlehrer mehr
einzustellen. Wir müssen dieses System konsequent
umbauen: Fähigkeiten erkennen und fördern, muss die
Aufgabe lauten. Dabei müssen wir mit den Betroffenen so
behutsam wie möglich umgehen.
In einer Schule für alle würden alle Lernenden vom
gemeinsamen Unterricht profitieren, das zeigen sowohl
Erfahrungen aus der Praxis als auch wissenschaftliche
Studien. Gleiches gilt auch für Studierende und Auszubildende mit Behinderung.
Dass so ein Umbau nicht von heute auf morgen geht,
ist klar. Aber wir müssen endlich damit anfangen. Wer
sich in die Tasche lügt, betrügt. Opfer sind in erster Linie
diejenigen Kinder und Jugendlichen, die sich am wenigsten
wehren können.
5
von Karsten Schmidt
Niemand, so steht es seit 1994 im Grundgesetz, darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden. Aber die dafür erforderliche Integration in sämtlichen Lebensbereichen kommt hierzulande nur schleppend voran. Gerade im deutschen
Schulsystem, wo Integration längst zum Alltag gehören müsste, ist die Ausgrenzung Behinderter an der Tagesordnung.
Vor zwei Jahren habe ich in der Grundschule im kleinen,
südlich von Berlin gelegenen Rangsdorf meinen Zivildienst
geleistet. Ich betreute dort den elfjährigen Jonas, der wie
jeder andere Schüler seines Alters in die fünfte Klasse
ging. Und der sich doch, weil er das Down-Syndrom hat,
von jedem anderen Schüler unterschied. Berührungsängste
hatte ich – selbst Bruder einer kleinen Schwester mit
Down-Syndrom – keine. Aber ein Kind mit Trisomie 21,
so der wissenschaftliche Ausdruck, integriert in eine
Regelschule – diese Erfahrung war für mich neu.
Was ich in diesem einen Jahr beobachten konnte:
nüchterne Normalität. Zwar blieb Jonas der Exot
der Schule, wurde mehrmals die Woche von einer
Sonderpädagogin unterrichtet und sein Zivi musste
ihm hier und dort helfen, aber im Klassenverband
war er allgemein akzeptiert. Er wurde von seinen
Mitschülern weder schlechter noch besser behandelt.
Seine sechsjährige Grundschulzeit, die er in diesem
Jahr abgeschlossen hat, ist nach all den anfänglichen
Strapazen, die Jonas‘ Eltern mit Schulleitung und
Gemeindewesen hatten, eine kleine Erfolgsgeschichte der
Integration.
Es gibt noch andere, ähnliche Erfolgsgeschichten, wie etwa
Schulen, in denen Integrationsklassen zum Alltag gehören.
Doch sie sind in der deutschen Bildungslandschaft
noch immer spärlich gesät. Bei nur 12 % liegt unsere
Integrationsquote. Seit Jahren ist diese Zahl unverändert.
Das bedeutet: Noch immer besucht die große Mehrheit
aller Kinder mit einer Behinderung eine Sonderschule. Vor
allem außerhalb von Städten sind dadurch Fahrtzeiten
von mehr als zwei oder drei Stunden täglich keine
Seltenheit, um die Kinder aus den verschiedenen, weit
verstreuten Ortschaften einzusammeln und in die
jeweiligen Sonderschulen der Landkreise zu bringen. Ihre
Mitschüler sehen sie damit nur im Unterricht, nicht aber
an Nachmittagen in ihrer Freizeit, nicht in ihrem Wohnort.
Es bedeutet schließlich, dass eine Teilhabe an ihrer
unmittelbaren Umgebung für die meisten behinderten
Kinder gar nicht möglich ist. Sie sind praktisch isoliert.
Im Mai 1994 hat die Kultusministerkonferenz einstimmig
die Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung
in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland
verabschiedet. Demnach müssten eigentlich alle
Sonderpädagogen längst in Regelschulen arbeiten. Müsste
damit nicht Integration schon lange flächendeckend
stattfinden?
Nun, das Problem ist zunächst das Wörtchen Empfehlung
und die Tatsache, dass die deutsche Bildungspolitik
föderativ organisiert ist und auf Länderebene jeweils
ganz verschieden mit dieser Empfehlung umgegangen
wird. Nicht mal in den Landkreisen und einzelnen Orten
ein und desselben Bundeslandes liegen einheitliche
Pläne zur Integration vor. So gibt es etwa in Berlin, das
mit seiner Integrationspolitik zu den fortschrittlichsten
Bundesländern gehört, die kleine, aber entscheidende
Ergänzung der Senatsverwaltung, dass bei fehlenden
»personellen, sächlichen und organisatorischen
Möglichkeiten« ein behindertes Kind auf eine
Sonderschule verwiesen werden kann. Mit anderen
Worten, wenn das Geld nicht da ist, darf auch gegen das
im Gesetz festgeschriebene Wunschrecht der Eltern auf
eine wohnortnahe Beschulung ihres Kindes entschieden
werden.
Es stellt sich die Frage, warum die Möglichkeiten dafür
nicht geschaffen werden? Vielfach wurde belegt, dass ein
flächendeckend umgesetztes integratives System, wie in
den skandinavischen Ländern oder den Niederlanden,
nicht teuerer ist als das bisherige System der getrennten
Sonder- und Regelschule.
Das tatsächliche Problem aber, so muss man vermuten,
ist nicht juristischer oder finanzieller Art, sondern ein
Problem der Wahrnehmung: Es gibt gar kein richtiges
öffentliches Bewusstsein für das, was Behinderung
bedeutet.
Behindert ist man nicht, behindert wird man. Der
Theologe und Pädagoge Alfred Sander formuliert es
so: »Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer
Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend
in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System
integriert ist.« Wichtig ist, dass nicht nur behinderte
Menschen und ihre Angehörigen erkennen, dass
das System der Sonderkindergärten, Sonderschulen
oder Sonderwerkstätten ein System der Ausgrenzung
und Diskriminierung ist. Das Resultat ist die
fehlende alltägliche Begegnung von Behinderten und
Nichtbehinderten. Und wenn wir uns nicht begegnen,
nie miteinander in Berührung kommen, dann werden
Unsicherheiten, Ängste, Vorurteile oder Mitleid, das
keinem weiterhilft und das niemand will, nicht aus
unseren Köpfen verschwinden.
Integration kann nur dort beginnen, wo Menschen noch
unbefangen aufeinander zugehen und voneinander lernen:
im Kindergarten und in der Schule. Integration, konsequent
flächendeckend umgesetzt, ist eine Bereicherung – für
jeden einzelnen von uns. Sie lehrt die Akzeptanz von
Vielfalt. Sie lehrt überhaupt Toleranz. Noch aber werden
wir alle bei der Teilhabe an einer toleranteren Gesellschaft
behindert.
6
frissoderstirb: Italienisches Blutbad
WieeinEsseninangenehmerBegleitung
durchdenKlimawandeltorpediert
wurdeundzwangsweiseimSuffenden
musste.
Keine Frage, es war trotzdem ein guter Abend. Trotz der
Mückenschwärme, die meine Begleitung und mich traktierten und unser Blut soffen wie wir den Wein, den uns
die offenkundig italienischstämmige Bedienung der Potsdamer Trattoria Villa Apostoli auf den Tisch gestellt hatte.
Es war der Abend der Provinz. Eine spontane Fluchtbewegung raus aus der Hauptstadt in die nahe gelegene Provinz
und ein damit verbundenes unverhofftes Wiedersehen hatte das gemeinsame Abendessen erst ermöglicht. Gesehen,
erkannt, gefreut, verabredet. Und nun das: Hübsch karierte
Tischdecken in weiß-rot schmückten die Tische des Restaurants, ein Blätterwald von Efeu erstreckte sich über die
gut besuchte Terrasse. Ein wirklich schönes Ambiente, das
zum Leidwesen der zahlreichen Gäste ganze Armeen von
Mücken zum Abendessen lud.
An diesem Abend konnten wir den Klimawandel einmal
mehr am eigenen Leib erleben, der von den lustig vor sich
hin summenden und brummenden Parasiten auf seine
Nahrhaftigkeit untersucht wurde.
Um die Nervosität zu überspielen, die einem solchen Treffen innewohnt, orderten wir zunächst einen sich im Laufe
des Abends als passabel herausstellenden Roséhauswein
(0,5-Liter-Karaffe: 6,50 Euro). Bacchus sprang ein, das
Gespräch nahm einen eigenständigen, unverkrampften
Verlauf, während wir auf lecker Fressi warteten.
Das Entrée wurde serviert. Schon während wir uns
ein Carpaccio Manzo (9,50 Euro) teilten, das irgendwie
unbelebt und uninspiriert schmeckte, aber auch den kulinarische Höhepunkt des Abends darstellen sollte, fragte
meine Begleitung die Bedienung Hilfe suchend nach Autan.
Wohl auch in der Hoffnung, zumindest das Insektenspray
würde den Gaumen kitzeln.
Das Carpaccio war überstanden, die Hauptgänge harrten
ihrer Bestimmung. Und es kam, wie es an diesem Abend
in der Provinz zu kommen
hatte. Meine Geschmacksnerven oder meine Sinne
mögen mich getäuscht
haben, aber: Viva la
microwave! Die Cannelloni
Regina (7,50 Euro), die
inzwischen den Weg zu
uns gefunden hatten,
schwammen in einer
durchaus schmackhaften
Tomaten-Mozzarella-Soße.
Gefüllt mit einer Masse,
die laut Ankündigung an
Spinat erinnern sollte,
aber eher den Eindruck
von Pesto Genovese hinterließ, schuf man
sich – bei tapferer Nachwürzung mit ausreichend Pfeffer
– zumindest die Grundlage für die zweite Karaffe des sehr
trinkbaren Rosés.
Meine zunehmend von den Mücken zerstochene Begleiterin hatte sich für Pasta mit Trüffeln entschieden (16,50
Euro) und war in ihrer Kritik wesentlich zurückhaltender,
schien mit der Qualität der Speise sogar ganz zufrieden.
Vielleicht lag es daran, dass sich mein Glas an diesem
Abend häufi ger als halbleer erwies, das ihre jedoch als
halbvoll. Mit den halbgefüllten Gläsern und halbgeleerten
Tellern traten wir bald die Flucht vor den Blutsaugern in
das Innere der Trattoria an, setzten uns an einen Ecktisch
und wurden selbst dort noch von Mücken heimgesucht.
So erwiesen sich die Stunden in der Trattoria Villa
Apostoli als Heimsuchung, bei der jeder Gast, ob gebeten
oder ungebeten, mit Beinen oder mit Flügeln ausgestattet,
ausreichend Nahrung vorfand. Manchmal zählt einfach
die Quantität.
..
vonCarlBernhardt
Wir löhnten, nachdem wir den Abend schon mit unserem
eigenen Blut bezahlen mussten und zogen in Richtung
Kneipe weiter. Auf den Rosé ließ sich spielend aufbauen.
Trattoria Villa Apostoli, Sellostraße 19, 14471 Potsdam
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Gassen in der Altstadt und der Modernität einer Metropole. Mit ihren knackigen Wintern
und den hellen, lebhaften Sommern, wenn die Sonne fast gar nicht mehr hinter dem Horizont verschwindet.
Erbaut auf 14 Inseln zwischen der Ostsee und dem Mälarsee ist es nirgends in Stockholm
weit bis zum Wasser. Und auch nicht zu den Grünflächen, die gemeinsam mit dem Wasser
die prägenden Elemente der Stadt sind. Insgesamt 57 Brücken verbinden die Inseln, die
jede für sich ihren ganz eigenen Charakter bewahrt hat. Vielleicht tragen ja gerade sie dazu
bei, dass man Stockholm auch als die große Stadt mit dem Charme einer beschaulichen
Kleinstadt bezeichnet.
In Schwedens Hauptstadt gibt es viel zu entdecken - und das meiste ist bequem zu Fuß zu
erreichen. So ist es nur ein kurzer Spaziergang von der historischen Altstadt Gamla Stan
bis zum pulsierenden Großstadtleben in der City.
Wechseln Sie doch einfach einmal ein paar Worte mit den Stockholmern. Die meisten sprechen mehrere Sprachen und erzählen nur zu gern und voller Stolz von ihrer Stadt - von den
Bauwerken und Museen, aber auch von ihrem Lieblingscafé oder der Stammkneipe um die
Ecke. Wenn es Abend wird, erwacht in Stockholm ein buntes Nachtleben. Viele Clubs haben
bis in die frühen Morgenstunden geöffnet.
In Stockholm gibt es immer wieder etwas Neues. Zu jeder Jahreszeit bieten sich fantastische Möglichkeiten, eine der schönsten Hauptstädte der Welt zu erkunden - seien es die
Geschichte oder das weltberühmte schwedische Design, seien es gutes Essen, Unterhaltung
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Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Um den Jungfernflug zu feiern, verlost Ryanair ein mal zwei Flugtickets inklusiv von Steuern und Gebühren.
Werwirsind: anspruch.gegenwirklichkeit
„Wir stehen gerade an der Bushaltestelle Dresdner Platz in
Frankfurt/Oder, als sich uns zwei junge Männer nähern
und uns anpöbeln: Ob wir uns denn für unsere Großeltern
schämen? Studenten seien wir? Na, die liegen dem Staat
sowieso nur auf der Tasche. Ob wir nicht gleich eins auf
die Fresse haben wollen? Ein Auto kommt angefahren.
Bevor sie einsteigen, zeigen beide den Hitlergruß. Ich solle
gefälligst nicht so jüdisch gucken! Eine neue Zeit werde
kommen, an der wir beide jedoch nicht teilhaben würden.“
[Zwei Studentinnen der Viadrina, Dezember 2006]
Wir leben in einer Gesellschaft, die für sich Werte wie
Toleranz, Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit und soziales Engagement reklamiert. Doch Selbstbild und Wirklichkeit klaffen
meist weit auseinander.
Wir von der Gruppe [anspruch.gegenwirklichkeit] wollen
für diesen Widerspruch sensibilisieren. Es ist unser
Anspruch, bei der Schaffung einer Gegenöffentlichkeit mitzuwirken, die die Augen nicht vor den Problemen unserer
Gesellschaft verschließt. Wir wollen dokumentieren und
durch Aktionen und Projekte immer wieder auf Themen
aufmerksam machen, die in der Mitte der Gesellschaft
nicht genug wahrgenommen werden. Durch die Schaffung
einer Gegenöffentlichkeit wollen wir zu Veränderungen
anregen bzw. gegen die bestehenden Verhältnisse vorgehen.
Am 27. Januar diesen Jahres, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, marschierte die NPD in Frankfurt (Oder)
auf. Im Zuge dessen setzen sich zahlreiche Initiativen,
Gruppen und Parteien damit auseinander, wie man einen
möglichst breiten und effektiven Protest gegen die Neofaschisten organisieren könnte. In unserem Freundeskreis
wurde auch darüber diskutiert. Wir sahen uns mit dem
Problem konfrontiert, dass die Studenten der EuropaUniversität Viadrina nicht ausreichend für die Gefahren
des alltäglichen Rechtsextremismus sensibilisiert zu sein
schienen.
Eine Vielzahl Studierender wohnt im nahen Berlin, hat
ihren Lebensmittelpunkt außerhalb der Oder-Stadt und so
kaum Bezug zu deren Problemen. Um auf die Dimension
der Problematik aufmerksam zu machen, begannen wir,
Erlebnisberichte von Personen aus unserem unmittelbaren
Umfeld zu sammeln, die rechte Gewalt, Diskriminierung
und Ausgrenzung zum Thema haben:
„Zu Beginn des letzten Semesters hielt ich mich in der
Pause zwischen zwei Seminaren im Eingansbereich des
Sprachenzentrums auf. Ich war gerade dabei, die Aushänge
zu lesen, als ich eine Gruppe von jungen Menschen wahrnahm, die das Gebäude vom Hintereingang aus betraten.
Als sie ungefähr in der Mitte zwischen den zwei Eingangstüren waren, riefen sie laut: »Ausländer raus! Keine
Ausländer in Frankfurt!« und liefen daraufhin schnell
davon.“
[Studentin der Viadrina, Oktober 2006]
Diese Schilderungen wurden in einen Aufruf zu Protesten
gegen die NPD-Demonstration integriert. Auf diese Weise
beabsichtigten wir, zu verdeutlichen, dass Rechtsextremismus kein Problem ist, das vor den Toren der Universität
halt macht oder dem man sich als Teil einer Hochschule
verschließen dürfte, die das Attribut international für sich
beansprucht und damit wirbt, Studierende und Wissenschaftler aus 80 Nationen zu beherbergen.
Die Gruppe ist aus einem Bekanntenkreis von Studierenden der Viadrina entstanden. Wir sehen es als unsere
besondere Aufgabe, die Studierendenschaft zu erreichen
und zwischen der Stadt und der Universität eine Brücke
zu schlagen. Wir wollen unsere Tätigkeit also nicht auf
die Viadrina beschränken, wenngleich hier ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt. Des Weiteren wollen wir dazu
beitragen, linke Strukturen in Frankfurt (Oder) zu stärken,
zu vernetzen und neu aufzubauen. Es gilt, Freiräume zu
schaffen, in denen sich eine Subkultur entwickeln kann,
die für eine andere Wirklichkeit einsteht.
Aus der Idee, die Konfrontation mit Rechtsradikalismus
zur Mobilisierung gegen die NPD zu nutzen, entstand in
der Folge ein Projekt, dessen Ziel es ist, weitere Berichte
dieser Art zusammenzutragen und öffentlich zugänglich
zu machen. Auf der Internetpräsentation von [anspruch.
gegenwirklichkeit] ist es jedem möglich, dies anonym
zu tun und so zu einer umfangreichen und verbesserten
Dokumentation beizutragen, die zwar keinen Anspruch
auf Vollständigkeit erheben kann und will, sich aber als
ernstzunehmende Ergänzung versteht.
Im kommenden Herbst soll in Zusammenarbeit mit einem
breiten Bündnis verschiedenster Gruppen der Stadt eine
Ausstellung mit ersten gesammelten Berichten im Studentenklub :grotte eröffnet werden. Durch einen vielfältig
ausgestalteten Abend mit Informationsmöglichkeiten und
Konzert wollen wir zeigen, dass es in Frankfurt (Oder)
viele gibt, die Freiräume gegen Rechts zu schaffen, zu
gestalten und zu stärken bereit sind.
Uns eint der Wille, eine Welt möglich zu machen, in der
mensch sich frei und selbst bestimmt entfalten kann: fern
von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und kapitalistischer Verwertungslogik.
Kontakt:
http://gegenwirklichkeit.tk
[email protected]
7
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Zoom in: Blut, Schweiß und Schlamm
von Marc Schreiber
Zwei Runden sind bereits geboxt. Die
Gegner sind beide zehn Jahre alt und
machen ihren ersten Kampf. In der blauen Ecke spricht der Trainer auf seinen
kleinen Kämpfer ein, der stark weint
und nicht mehr so aussieht, als wolle er
in den Ring zurückkehren. Der Trainer
wischt ihm die Tränen ab, als das Signal
für die Kämpfer erfolgt, wieder in die
Ringmitte zu kommen.
Der Anteil deutscher Sportler liegt bei 20%. Der Verein
trägt den bekanntesten nationalen Nachwuchswettkampf
aus und kann auf eine beachtliche Anzahl von Meistertiteln im Kinder- und Jugendbereich verweisen. Ganz auf
der Linie des Bundesministeriums des Inneren, das den
Sport als Integrationsstütze betrachtet, versucht Lange den
Verein als gewaltpräventives Instrument im Stadtbezirk zu
integrieren. Boxen statt Gewalt ist der Slogan der Initiative.
Viele Boxvereine haben sich ihre Integrationsfähigkeit vom
Berliner Landessportamt attestieren lassen. Harald Lange
scheint aber die wahre Problematik hinter der Integration
zu erkennen, wenn er jährlich zehn jungen Boxern Ausbildungsplätze in seiner eigenen Firma oder in den anderen
Sponsorenfirmen des Vereins vermittelt.
Die Attraktivität des Boxens in Deutschland ist seit den
20er Jahren ungebrochen. An boxerischem Nachwuchs
mangelt es nicht. Boxen ist gesellschaftsfähig. Boxen ist
chic. Bei jedem medienwirksamen Kampf zieht es Prominenz in die Hallen und Zuschauer vor den Fernseher.
Zogen vor einigen Jahren Namen wie Henry Maske, Axel
Schulz und Sven Ottke, sind es heute Deutsche, deren
Wurzeln vor allem in anderen Ländern gewachsen sind:
Luan Krasniqi, Felix Sturm, der gebürtig Adnan Catic
heißt, Arthur Abraham, Oktay Urkal und natürlich die
baumlangen Klitschkos.
Denn die wahren Hindernisse auf dem Weg zur Integration sind nach wie vor Arbeitslosigkeit und insbesondere
Perspektivlosigkeit. Sie betreffen natürlich viele junge
Leute in Deutschland, vor allem aus unteren Einkommensschichten. Prozentual besonders hoch betroffen sind aber
Jungen und Mädchen, die keinen deutschen Namen tragen.
Sport und damit auch Boxen bieten eine Möglichkeit, etwas
zu erreichen. Dabei scheint es in erster Linie nicht um
Boxen als Verdienstmöglichkeit zu gehen, sondern darum,
sich beweisen, sich Anerkennung und Respekt verschaffen
zu können. Gerade der öffentlichkeitswirksame Kampfsport Boxen scheint prädestiniert zu sein, sich Ruhm und
Ehre zu verdienen. Angesichts des rasanten Wachstums
im Frauen- und Mädchenboxen kann vom Boxring nicht
unbedingt als Laufsteg männlichen Imponiergehabes
gesprochen werden.
Auf Wettkämpfen im Amateur- und Jugendbereich ist der
Anteil derer, die gemeinhin als Ausländer, Asylanten oder
Migranten bezeichnet werden, überproportional hoch.
Michael Unger, Jugendtrainer vom Berliner Boxclub SV
Blau-Gelb, bestätigt, dass diese Beobachtung auf Boxveranstaltungen in ganz Deutschland gemacht werden
kann, selbst im tiefsten Osten, in den angeblich national
befreiten Zonen.
Einer der Vereine mit der besten Nachwuchsarbeit
deutschlandweit befindet sich in Hellersdorf mit einer
zweiten Halle in Marzahn – Boxring Eintracht. Aufgebaut
wurde der Verein von dem ehemaligen DDR-Boxer Harald
Lange. Momentan trainieren dort 150 Jugendliche, von denen circa die Hälfte eingewanderte Rußlanddeutsche sind.
Im Ring geht es dabei auch nicht ausschließlich um Sieg
und Niederlage, wie der Kleine aus der anfangs beschriebenen Szene beweist, denn er steht die letzte Runde durch
und verliert den Kampf, aber grinst breit, als der Trainer
ihm die Handschuhe auszieht.
Vielleicht geht es eigentlich darum: die Herausforderung
annehmen und sein Bestes geben - im Ring, aber vor allem
außerhalb des Rings.
von Anne Kirchberg
Während des Hochsommers konnte
man sich vielleicht noch mit einem »viel
zu heiß« vor sportlichen Betätigungen
drücken – doch damit ist jetzt Schluss!
Bei den Sport-Trends 2007 ist für jeden
etwas dabei, egal ob Fitness-Fanatiker
oder Couch-Potato.
Da Bewegung hoch im Kurs steht, kann man schon mit
gewöhnlichen Strandsportarten wie Beach-Volleyball oder
Badminton absolut trendy sein. Wie in den vergangenen
Jahren ist zudem mit Mountainbiking, Rollerblading und
Nordic Walking auch Ausdauersport sehr beliebt. Wem
es dafür im September an manchen Tagen doch noch zu
heiß ist, der kann den Rückzug ins kühle Nass antreten,
denn Windsurfen, Wellenreiten, Wakeboarden und
alle sonstigen auf einem Brett im Wasser ausführbaren
Leibesertüchtigungen erfreuen sich immer größerer
Beliebtheit. Bevor es im Herbst zu kühl wird, können sich
Menschen mit sehr gutem Gleichgewichtssinn auch auf das
ausgefallene Fortbewegungsmittel Aquaskipper wagen,
das durch rhythmisch koordinierte Bewegungen an der
Wasseroberfläche gehalten werden muss (www.aquaskipper.de).
Wer es richtig abgedreht mag, kann auch an Land jede
Menge Spaß haben und beispielsweise auf die 2004
patentierten Sprungschuhe Poweriser zurückgreifen, mit
denen jeder Schritt zum großen Erlebnis wird (www.
poweriserszene.de). Ungewöhnlich fühlt sich zu Beginn
auch das Disc-Golfen an (www.discgolf.de), bei dem
kein Ball, sondern Frisbee-Scheiben in einem Parcours
eingelocht werden müssen. Auspowern kann man sich
zudem bei Sepak Takraw (www.sepaktakraw-berlin.
info), einer 500 Jahre alten thailändischen Sportart, die
übersetzt so viel wie Kick den Rattan heißt. Die Regeln
ähneln denen beim Volleyball, aber der Ball darf bei Sepak
Takraw ausschließlich mit den Füßen gespielt werden.
Das Sport Stacking zielt hingegen auf ein Training der
Auge-Hand-Koordination: Eine bestimmte Anzahl an
Plastikbechern muss in einer festgelegten Art und Weise
schnellstmöglich gestapelt werden (www.sportstacker.de,
www.getspeedstacks.de).
Ein echter Trend 2007, das Parkour-Laufen (www.pawa.de;
www.myparkour.com), bei dem man sich mit elegant
aussehenden Bewegungen auf spektakuläre Art und Weise
durch die Stadt oder die Natur bewegt. Aber Achtung:
Diese vom Franzosen David Belle erfundene Art der
Fortbewegung erfordert jede Menge Kraft, Ausdauer und
Balance sowie stabile Gelenke!
Die benötigt man auch beim Schlammfußball, das vor
allem in Skandinavien und England seit vielen Jahren sehr
beliebt ist (www.schlammfreunde-niedersachsen-05.de,
www.swampsoccer.co.uk). Im knietiefen Matsch Fußball
zu spielen ist selbst für durchtrainierte Sportlerbeine eine
echte Herausforderung. Swamp Soccer ist mittlerweile so
populär, dass an der diesjährigen Weltmeisterschaft in
Finnland mehr als 250 internationale Teams teilgenommen
haben.
International: Terror und Repression
9
RepressionengegenlinkeStrukturengibtesinganzEuropa–
allerdingsbleibtderderzeitigeTerrorismus-Hypein
Deutschlandunübertroffen.
vonSusanneGötze
»Sind wir nicht alle ein bisschen 129a?«, hieß es
während des letzten G8-Gipfels in Heiligendamm. Voraus
gegangen war den Protesten eine Welle von Haus- und
Wohnungsdurchsuchungen, bei denen wahllos Computer
und Material der linken Szene beschlagnahmt wurden.
Der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung
nach dem Lieblingsparagraphen 129a von Innenminister
Wolfgang Schäuble hatte Hochkonjunktur. Wie unhaltbar
die Vorwürfe waren, musste die Regierung schon bald
eingestehen, denn die »Bildung einer terroristischen
Vereinigung zur Verhinderung des G8-Gipfels« entstammte
schlicht der Phantasie der Behörden.
Auch in anderen Ländern schlottern den Staatsdienern die
Knie, wenn sich linke Chaoten ankündigen. So berichtete
das schottische Dissent-Netzwerk vor den G8-Protesten
in Gleneagles 2005 von massiven Einschüchterungs- und
Repressionsmaßnahmen. Erste Adresse für derartige
Razzien waren Kulturzentren und besetzte Häuser.
Tragisch ist nur, dass damals 10 000 Polizisten mit den
zumeist friedlich demonstrierenden Demonstranten und
deren Camps beschäftigt waren, während in London vier
Bomben explodierten.
Nach Heiligendamm ebbte der Hype um linke Terroristen
nicht ab. Der Paranoia vor einer neuen RAF- Generation
wird derzeit durch die brennenden Autos in Berlin
Nahrung gegeben – für den sensationssüchtigen Normalbürger unter: www.brennende-autos.de mitzuverfolgen.
Drei der selbst ernannten Retter des Klimas, die vorrangig
Autos mit hohem Benzinverbrauch und neuerdings auch
Fahrzeuge des Energiekonzerns E.on angezündet haben
sollen, sind gefasst und sitzen — wen wundert’s – wegen
Bildung einer terroristischen Vereinigung in U-Haft. Doch
spätestens seit die Verhaftung des Wissenschaftlers
Andrej H. bekannt wurde, der mittlerweile wenigstens
vorübergehend auf freiem Fuß ist, ist die Empörung in
linken und studentischen Kreisen ähnlich groß wie vor
dem G8-Gipfel. Besonders delikat ist die Begründung,
Andrej H. sei intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen
Flugblätter der Auto-Pyromanen zu schreiben.
Brennende Autos und linker Ungehorsam sind ebenso
wie polizeiliche Repression weder hier noch in anderen
Ländern Europas eine wirkliche Neuigkeit. In Berlin
fackeln im Jahr durchschnittlich bis zu 37 Autos ab, in
Paris waren es vor zwei Jahren bedeutend mehr. Die
französischen Brandstifter hinterließen jedoch keine
intellektuellen Botschaften zur Rettung der Welt, sondern
schlicht ihren Frust über ihre sozialen Verhältnisse.
Eine wirkliche militante Gruppe habe es aber seit der
Action directe — einer RAF-ähnlichen Terrorgruppe, die
sich Ende der 80er Jahre auflöste — nicht gegeben, meint
Bernhard Schmid, Publizist und freier Journalist in Paris.
Dafür werde relativ schonungslos mit sogenanntem
Unruhepotenzial umgegangen, wie bei den OberschülerStreiks im März und April 2005 und der Anti-CPEBewegung – den Protesten gegen die neuen französischen
Arbeitsgesetze – im März 2006. Beim CPE-Protest habe es
bis zu 3000 Verhaftungen gegeben — meist bei abendlichen
Zusammenstößen mit der Polizei.
In Italien erreichte der linke Ungehorsam vor und nach
den G8-Protesten in Genua 2001 seinen Zenit. Im Anschluss
an die Proteste formierte sich eine Massenbewegung
gegen den Krieg im Irak, die jedoch gewaltfrei agierte.
»Man hat in Italien Ende der 90er Jahre versucht,
die Gewalt zu zivilisieren, das heißt Protest zu üben,
ohne die Polizei anzugreifen«, erklärt der italienische
Politikwissenschaftler Sandro Mezzadra. Eine Welle
der polizeilichen Repression hätte es im Herbst 2002
– Nachwehen des G8-Gipfels ein Jahr zuvor – gegeben. Dort
seien ähnlich wie hier in Deutschland soziale Zentren und
Mitglieder der Bewegung durchsucht und oftmals haltlos
angeklagt worden.
Dennoch gebe es in Italien immer noch radikale Linke, die
die Tradition der Roten Brigaden – eine Terrorgruppe, die
seit den 70er Jahren für zahlreiche Morde, Entführungen
und Attentate verantwortlich ist – wieder aufnehmen
wolle. In den letzen Jahren sind durch derartige Aktionen
der Gruppe zwei Menschen ums Leben gekommen. Erst
Anfang des Jahres seien 20 Leute verhaftet worden,
darunter auch Gewerkschafter und Mitarbeiter von
sozialen Zentren, die den Roten Brigaden nahe stehen
sollen, so Mezzadra. Bis heute habe ihnen aber nichts
nachgewiesen werden können.
Trotz EU-Bürokratie hat jedes Land seinen eigenen
Schäuble und seine Defi nition von Links-Terrorismus
und zivilem Ungehorsam. Deshalb existieren auch keine
europaweiten Zahlen zu links-motivierten Straftaten,
teilte Eurostat auf Anfrage mit. Allerdings wolle der
europäische Datenservice demnächst eine Arbeitsgruppe
Linksextremismus einrichten.
In Zeiten ständiger Terrorpanik und verschärfter
Sicherheitsgesetze wird die Gratwanderung zwischen
sozialer Bewegung und radikaleren Aktionsformen zu
einem Tanz auf dem Vulkan, bei dem nicht nur einzelne
Personen in die Mühle der Kriminalisierung geraten,
sondern unter dem Vorwand der Sicherheit auch ganze
Teile linker Bewegungen kaltgestellt werden können.
Begonnen hat die EU weite Beobachtung spätestens
mit einem Übereinkommen aus dem Jahr 2005,
in dem sich Deutschland, Belgien, Frankreich,
Luxemburg, Niederlande, Österreich und Spanien auf
grenzüberschreitende Bekämpfung des Terrorismus,
der Kriminalität und der illegalen Migration einigten.
Erst Anfang des Jahres bekundeten diese Länder, ihre
Zusammenarbeit zu vertiefen.
IstjetztallesTerrorismus?
DiepolitischeDimensiondes§129a
Informationsveranstaltung zum aktuellen § 129a-Verfahren
in Berlin und zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Sonntag, 30. September 2007, 10.30 - 13.00 Uhr
10
Culture Clash: Van Dyk nur mit Gerstensaft
Was haben Kommunikation, Politik
und Wirtschaft gemeinsam? Außer,
dass man über sie streiten kann, bis
einem die Luft ausgeht, bilden sie die
drei thematischen Säulen der diesjährigen Popkomm. Einst als Insidertreff der Musikszene aus der Taufe
gehoben, öffnet die 19. Popkomm vom
19. bis zum 21. September ihre Pforten
nun auch für Politik und Wirtschaft.
von Nadine Langner
Als Journalistin, die zufällig mit dem PR-Betreuer der
diesjährigen Popkomm befreundet ist, wurde ich mal eben
wie automatisch für die Pressekonferenz akkreditiert.
Von diesem Glück erfuhr ich zwar erst am selben Tag
per Handy. Aber hey, ich war grad in der Nähe des Roten
Salons der Volkbühne, wo die Veranstaltung in weniger
als einer Stunde stattfinden sollte und Lust auf ein kühles
Feierabend-Bier hatte ich auch.
Abgehetzt erreichte ich die Volksbühne, sicherte mir sofort
einen von noch insgesamt zwei freien Plätzen an der Bar
und bestellte mir einen Gerstensaft.
Nachdem ich wieder etwas geregelter atmen konnte und
zufrieden mit meiner Flasche Pils den Rednern lauschte,
überkam mich ein kleiner Zweifel, ob ich in meinem
Enthusiasmus tatsächlich die richtige Veranstaltung
getroffen hatte: Themen, wie Bruttoinlandsprodukt,
Automotive oder Wirtschaftsfaktor fielen am laufenden
Band. Und sogar Gastredner Paul van Dyk, seines Zeichens
DJ und Produzent, hauchte ungewohnt schlau klingende
Worte ins Mikro.
Sollte die Popkultur sich tatsächlich zu mehr als einer
spontanen Momentaufnahme von Kreativität und Zeitgeist
entwickelt haben? Statt mit den Hauptverkaufsargumenten
unserer Spaßgesellschaft Fun und gute Laune zu werben,
sollen in diesem Jahr Kommunikation, Politik und
Wirtschaft die Besucher auf den Musik-Kongress locken.
»Der kreative Sektor ist längst zu einem Wirtschaftssektor
mit unverkennbarer Bedeutung avanciert.« kommentiert
Bundeswirtschaftminister Michael Glos seine Zusage, die
diesjährige Popkomm offiziell zu eröffnen. Topaktuelle
Fragestellungen rund um Künstler und Konzerte, Labels,
Verlage und Verwertungsgesellschaften, die politischen
Rahmenbedingen, neue Kommunikationsformen und
innovative Vertriebswege sollen diskutiert werden.
V or allem aber soll in diesem Zusammenhang über die
Zukunft der Branche spekuliert werden. Made in Germany
– ein Klassiker unter den Slogans. Und gerade jetzt ein
Jahr nach der WM im Land der Ideen immer noch aktuell.
Das 21. Jahrhundert ist online, digital und virtuell. Die
einstige Kulturwirtschaft wurde zur heutigen Creative
Industries und soll nicht nur international und innovativ
klingen, sondern dies auch sein: Die neue Aufgabe dieser
neu entdeckten Branche besteht darin, die klassischen
Kulturfelder wie Musik, Theater, Film und Literatur mit den
vergleichsweise jungen Bereichen wie Werbung, Software
und Computerspielen zu verbinden.
Endlich kommen die Redner zu den musikalischen
Punkten dieses Abends: Acts aus Island bis Südafrika
werden angekündigt. Deutschland zeigt sich mit
international bekannten Künstlern wie Einstürzende
Neubauten, Kraftwerk oder Rammstein. Aber auch die
Jungs von Tokio Hotel werden Deutschland repräsentieren.
Und für den etwas anderen Geschmack gibt es die
Popkomm classics: Drei große Klassik-Events finden im
Ambiente des Berliner Spreeufers statt. Von Bach über
Vivaldi bis zu Mozart – durch außergewöhnliche Locations
sollen vor allem junge Menschen angesprochen werden.
Bei mir hat es anscheinend funktioniert: Da mich die
Künstler aus der Popszene nicht gerade vom Hocker reißen,
werde ich einen besinnlichen klassischen Abend und
hoffentlich eine einigermaßen milde Nacht an der Spree
genießen.
Vielleicht bringt es Berlin im Popbusiness zu einem
herausstechenden Wirtschaftssektor? Jede größere
Stadt kann man mit mindestens einem industriellen
Schwerpunkt in Verbindung bringen: München
steht für Verlagswesen und IT, in Frankfurt sitzt die
Finanzwirtschaft, Köln kennt man als TV-Standort und
Hamburg beheimatet die wichtigsten Designlabels und
Zeitschriftenverlage. Aber wofür genau steht Berlin? Mit
Unterstützung aus Politik und Wirtschaft wird aus Berlin
vielleicht eine Hauptstadt des Entertainment – Popkomm,
Berlinale und Echo sind schon ein Anfang.
Culture: Culture Clash
..
HalloKurt,DubistGitarristbeiderBandBlackmail,hast
eineZweitbandScumbucketundbistauchProduzentim
hauseigenenTonstudio45,woDuBandsaufnimmstund
produzierst.Sagmal,schläfstDuauchmanchmal?
Ja... schon, deswegen bin ich auch meist erst gegen zwölf
Uhr im Studio. Ich brauche mindestens acht Stunden
Schlaf. Gut, die letzten Monate waren es etwas weniger,
aber ich habe dieses Jahr auch schon fünf Platten
produziert. Mit Blackmail und Scumbucket werden wir
dieses Jahr auch noch je eine Platte aufnehmen, da bin ich
schon etwas müde…
Okay,wasbedeutetMusikinDeinemLeben?Warum
machstDuMusik?
Es war einfach immer schon mein Ding, mein Traum. Ich
habe mit 14 oder 15 angefangen, Musik zu machen und bin
darauf irgendwie hängen geblieben. Ich kann ja auch gar
nichts anderes...(lacht)
WoliegenDeinemusikalischenWurzeln?
Das waren die 60er Jahre Schallplatten, Beatles, Rolling
Stones. Wir saßen vor dem Plattenspieler meiner Eltern
und haben die Platten von meinem Vater rauf- und
runtergespielt. Da kam dann auch irgendwann die Idee,
eigene Musik zu machen.
Heute hängt die Pappscheibe, in Glas gerahmt, an der
Wand des Friedrichshainer Sinnbus-Büros. An einem
großen Schreibtisch, auf dem sich CDs, Kamera und
Handy, Kopfhörer, Locher, Stempel und Papiere stapeln,
sitzt Uwe und hackt auf seinen Laptop ein. Ein MasterTape muss heute noch raus, und der Computer spielt
nicht mit. Aber Uwe bleibt entspannt. Es hat schon so
vieles geklappt, was kaum einer für möglich hielt. Er
und ein paar seiner Freunde haben aus dem Band-
spielen.DugreifstmitderlinkenHanddieAkkordevon
oben.Wiekamesdenndazu?
Durch eine Sehnenscheidenentzündung. Da gibt es dieses
Spiel auf der Playstation: Man muss die ganze Zeit die
Tasten durchdrücken, ganz schnell bewegen. Nach einer
Nacht Spiel und Spaß war es dann passiert. Ein paar Tage
später wollten wir auf Tour gehen und ich spielte einfach
auf meine Weise, weil ich merkte, dass meine Sehnen
und Muskeln nicht so beansprucht werden und auch die
Akkorde besser klingen.
WelcheMusikliegtaktuellinDeinemPlayer?
Mhm...das ist, glaube ich, die Best of... von Guided By
Voices.
WaswirdesinZukunftimHauseKurtEbelhäusergeben?
Musikalisch will ich weiter neue Horizonte entdecken,
immer neue Arten, wie man Songs schreiben kann, neue
Sounds. Das ist alles sehr spannend. Über die Jahre gab
es sicher auch mal ein kreatives Loch, aber dann gab es
neuen Schwung und wieder einen anderen Blick, wie man
neue Songs schreiben kann. Einfach immer weiter, das
Ziel erreichen, ohne zu wissen, was das Ziel eigentlich
ist...
WelcheMusikmagstDuheute?
Ich mag ehrliche Musik. Auf sowas stehe ich total.
Handgemacht und aus dem Herzen kommend, z.B. die
neue Trail Of Dead ist sehr gut!
Okay,abschließendnochdieFrage:IneinemLookALike
Contest,mitwemwürdestDuDichvergleichen?
Ich werde immer mit den Typen von Star Trek
verglichen, wie heißen die doch gleich...genau mit den
Klingonen.(lacht)
Duhasteineganzbestimmte,eigeneArtDeineGitarrezu
Kurt Ebelhäuser wurde abgecheckt von Andreas Voland
DasBerlinerLabelSinnbusRecordslässtvonsichhören
Ein Pappteller ist die Geburtsurkunde des Berliner IndieLabels Sinnbus Records, das vor sieben Jahren geboren
wurde und von Beginn an mächtig für Lärm gesorgt hat.
Damals, im Sommer 2000, gründeten 30 leidenschaftliche
Musiker aus dem Umkreis eines Proberaum-Zentrums
in Berlin-Karlshorst eine Bandgemeinschaft. Von ihrer
Zusammenarbeit versprachen sie sich größeren Spielraum:
eigene Platten herausbringen, Konzerte organisieren – alles
schien möglich. Nur einen Namen hatte das Kind noch
nicht. Ideen wurden gesammelt, jemand kritzelte sie auf
besagten Teller. Am besten gefiel Sinnbus. Das Wort klang
gut und hatte keine zementierte Bedeutung – mehr wollte
man gar nicht.
11
Netzwerk ein ausgewachsenes Label gemacht, das mit
inzwischen 25 Releases und etlichen Events immer mehr
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dank enthusiastischer,
zunehmend professioneller Arbeit und der Koproduktion
mit engagierten Vertriebsfi rmen kann man Sinnbus-Musik
mittlerweile sogar in Japan hören.
Egal, welcher Bandname auf den liebevoll gebastelten
Covern steht – Bodi Bill oder Monotekktoni, Beach oder
SDNMT – die Klänge, die dahinter stecken, reißen mit. »Wir
machen nur, was uns gefällt«, sagt Uwe und man glaubt
es ihm aufs Wort. Von jeder ihrer CDs und Vinyls sind alle
fünf Sinnbus-Mitarbeiter voll überzeugt. Was ihre Bands
verbindet, ist schwer zu benennen. Ein bestimmter Stil ist
es nicht: Von hartem Elektro-Rock über anspruchsvolle
Gitarrenexperimente bis hin zu beschwingtem Pop ist hier
einiges zu hören. Spürbare Begeisterung für gute Musik ist
das, was das gesamte Sinnbus-Musikrepertoire vibrieren
lässt.
Ohne Begeisterung würde ein Projekt wie Sinnbus nicht
funktionieren. Den größten Teil ihrer Zeit stecken die fünf
Endzwanziger in ihr Label. Alle arbeiten nebenher in
..
von Martin Hatzius
verschiedenen Jobs, denn leben können sie von Sinnbus
nicht. Noch nicht. »Trotzdem ist aus dem Hobby längst
Ernst geworden«, sagt Uwe, »und es geht weiter bergauf«.
Nachdem die ersten Platten längst gepresst waren, gab
Sinnbus sich im 2004 die Rechtsform einer GbR. Ein
gutes Jahr später fand man, nach monatelanger Suche,
die geeigneten – und bezahlbaren – Räumlichkeiten für
ein Büro. Heute ist dieses Büro tagsüber fast lückenlos
zu erreichen. Das Telefon klingelt immer öfter: Nicht
nur Bands (monatlich gehen rund 20 Demo-Tapes bei
Sinnbus ein), sondern auch Radiostationen, Journalisten,
Agenturen suchen den Kontakt.
Dass nichts wichtiger ist als der Draht zu Gleichgesinnten,
haben die Sinnbus-Leute schnell gelernt. Man trifft sie
auf Indie-Messen, wie der PopUp in Leipzig, auch auf
Kongressen, vor allem aber immer wieder bei Konzerten.
Auf der Business-Messe Popkomm aber haben sie keinen
Stand gemietet. Stattdessen veranstalten sie zeitgleich (20.
bis 22.9.) das Klang.Klang.Klang-Festival. In Clubs, wie
dem Schokoladen, dem Rosis und dem NBI, umgeben von
ihrer Musik, fühlen sie sich eben am wohlsten.
www.sinnbus.de
12
SundVfeat.: Karsten Krampitz von Mondkalb
EinGesprächmitKarstenKrampitz,RedakteurderBehindertenzeitschriftMondkalb.
InDeinerZeitungMondkalbschreibenBehinderte
überBehinderte,überihreAlltagsprobleme,ethischeFragen.SexscheinteinbesonderswichtigesThemazusein.
Weil Sex mit Behinderung sonst nie thematisiert wird.
Behindert sein heißt nicht nur, dass du die Treppe nicht
hochkommst mit deinem Rollstuhl. Diese Hürde kannst
du nehmen. Die eigentliche Behinderung besteht in der
Vereinsamung. Es gibt viele behinderte Menschen, die
wissen spätestens mit der Pubertät, sie entsprechen nicht
dem gesellschaftlichen Schönheitsideal. Sie werden zum
Teil nie eine eigene Sexualität haben. Für die Zeitung ist
von Vorteil, dass wir alle schon in anderen Zusammenhängen etwas gemacht haben. Jeder hat somit noch andere
Themen: ich soziale Armut, Matthias Vernaldi zum Beispiel
beschäftigt sich mit philosophischen Fragen.
WasistderAnspruchvonMondkalb?
Remmidemmi. Wir wollen für Unruhe sorgen, in der
Gesellschaft und unter Behinderten selbst. Behinderte
gelten als Opfer, auch in der Linken, obwohl es gar keine
richtigen Täter gibt. Es gibt Leute, die meinen, sie sprechen für Behinderte. Aber wir fühlen uns von denen nicht
vertreten.
UndwasvertretenBehinderteinWahrheit?
Das ist es ja: Es gibt gar keine Behindertenartikulation. Es
gibt überhaupt keine soziale Bewegung. Die soziale Basis
fehlt.
Woranliegtdas?OftschließtAusgrenzungdieeigenen
Reihen-unddiskriminiertwerdenBehindertegenug.
Ich war jahrelang an einer Behindertenschule in BerlinLichtenberg. Als einziger aus meiner Klasse werde ich
demnächst einen Hochschulabschluss haben. Die Regel
ist, dass Behinderte schlechte Schulabschlüsse haben und
in irgendwelchen Werkstätten für einen Euro die Stunde
arbeiten. Die kriegen ihren Arsch nicht hoch.
kens. Die Leute defi nieren sich darüber, was sie erreicht
haben, wie viel Geld sie verdienen. Wer in diesem Rennen
zurückbleibt, ist ein Nichts. Viele Behinderte meinen
nun, dass sie nur existieren, aber in diesem Sinne nichts
geleistet haben. Denen wollen wir zeigen: Es gibt andere
Ansätze, und dafür braucht ihr niemanden, der für euch
spricht! Die Zeitung ist euer Medium. – Irgendwann wird
es für diese Menschen dann auch wichtig sein, dass sie
in ihrer Identität nicht nur behindert sind, sondern auch
Frauen und Männer, Schwule oder Heteros, Junge oder
Alte, Arbeitslose oder Workaholics. Und einige sind sogar
richtig liebenswürdige Personen.
So ist es eine Form von Selbstironie. Es gibt auch wunderbare jiddische Witze, die gar nicht antisemitisch sind.
IhrwolltüberdasZeitungsprojektdieBehindertenbewegungwiederbeleben?
Wir schreiben sie herbei. Wir sind das Szeneblatt einer
Szene, die es nicht gibt, die aber hoffentlich im Entstehen
ist, das Organisierte Gebrechen eben.
IchdarfdenWitznichtmachen,aberdarüberlachen?
Du darfst ihn auch machen. In der aktuellen Ausgabe beschäftigen wir uns mit der Frage, ob Männer mit Holzbein
die bessere Erektion haben. Das überschüssige Blut muss
ja irgendwohin... Diese Zote habe ich eigenhändig bei der
Literaturchefi n der Berliner Zeitung abgeschrieben. Will
sagen: Wenn der Witz gut ist, klauen wir ihn sogar. - Es
kommt immer auf den Kontext an. Wenn das nicht alles
ist, was Sie zu bieten haben, wenn noch ein Gegengewicht
da ist, dann ist das okay. Die Balance muss stimmen. Im
Witz steckt oft etwas emanzipatorisches, er hat mit der
Suche nach Identität zu tun. Noch einmal: Auch unter Behinderten muss mit dieser Mitleidstour gebrochen werden.
Natürlich ist das Leben scheiße. Aber Jammern hilft nicht
weiter.
Das Gespräch führte Ines Wallrodt.
WiewarendenndieReaktionenaufdieerstenbeiden
Ausgaben?
Aufgeregt haben sich nicht die Behinderten. Wir sind zum
Beispiel kritisiert worden, hinter linke Standards zurückgefallen zu sein, weil wir das große I nicht benutzen.
IneinerKolumnemachtsichdieZeitungüberLeutelustig,
dienacheinernicht-diskriminierendenSprachesuchen.
DiezumBeispielvonGehandicaptensprechen.Ihrschlagt
danneinerollstuhlfahrerneutraleSprachevor,statt»mir
Stecktdarinnichtauchetwasvon:WirreißendenWitz,
bevorihrihnreißenkönnt?Ihrkönntmichnichtverletzen,
weilichesvoreuchselbsttue?
Nein, nicht wirklich. Man muss über sich selber lachen
können. Das Leben von Behinderten ist extremer. Damit ist
auch die Selbstironie von einigen ein bisschen extremer.
AberdarfichalsNicht-Behindertedarüberlachen?
Klar, dafür ist es ja gemacht.
AberdarfichalsNicht-Behinderte
darüberlachen?
Siesindselberschuld,dassihreInteressennichtvertreten
werden?
Nein, von »selber schuld« darf man nicht reden. Eine körperliche Behinderung führt bisweilen auch zu seelischer
Verkümmerung. Viele Behinderte sind vereinsamt. Das Ziel
der Zeitung ist es auch, diese Isolation aufzubrechen. Eine
Veränderung kriegst du nur über politische Mehrheiten,
die du aber nicht gewinnst, wenn du einfach nur jammerst. Wir halten nichts von Opferkult. Wir wollen gerade
mehr Täter sein. Aktiv. Wir haben lange nach einem identitätsstiftenden Wort gesucht, wie die Schwulenbewegung,
die das Wort schwul positiv besetzt hat. Krüppel konnten
wir nicht nehmen. Die alte Krüppelbewegung ist tot und
Krüppel ist immer noch ein Schimpfwort. Wir nennen uns
jetzt Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen.
geht‘ssolala«,»mirfährt‘ssolala«zusagenoderstatt
»einengutenVerlauf«,»einengutenVerroll«zuwünschen.
IhrgebtEuchgroßeMühe,geradenichtpolitischkorrektzu
sein.
Wer die Sprache hat, hat die Macht. Besser, die Sprache
gehört keinem. Ich lass mir doch von niemandem sagen,
wie ich zu schreiben und zu sprechen habe. Denen geht
es nicht um Antidiskriminierung, sondern um Herrschaft.
Diese Leute wollen mir sagen, wie ich zu denken habe. Abgesehen davon habe ich auch einen gewissen literarischen
Anspruch. Wenn ich mir dieses Linkssprech anschaue,
diese people-fi rst-language und das Gegenderte, dann fühle
ich mich ästhetisch abgestoßen. Diese Sprache transportiert eine Zukunft, die auf so viel Schönes verzichtet. In
dieser Sprache kannst du keine Satire, keine Reportage
schreiben. Keine Poesie.
GibtesvielleichtauchdeshalbkeineBehindertenbewegung,weilBehindertegeradekeineBetroffenenpolitik
machenwollen?WeilsieabgesehenvonihrerBehinderung
nichtsverbindetundsielinks,rechts,unpolitischoder
sonstwassind?
Das glaube ich nicht. Die meisten Behinderten sind nur
Gefangene des gesamtgesellschaftlichen Leistungsden-
AllesanMondkalbistnichtkorrekt.EineRubrikheißt
KrüppelausdemSack.IhrbeantwortetdieFrageeines
fiktivenLesers:»KannmanmitAnuspraeterAnalverkehr
haben?«BeimletztenMallageinSpielfeldfürRollopoly
bei,»dennetwasSpasmussein«.BeiNicht-Behinderten
würdemanvonBehindertenfeindlichkeitsprechen.Wo
liegtderUnterschied?
Rubrik: Interview
Karsten Krampitz, 37, geboren in Rüdersdorf bei Berlin,
gelernter Statistiker und staatlich geprüfter Betriebswirt,
nach der Wende Abi nachgeholt, Geschichtsstudium an der
Humboldt-Uni begonnen, sechs Bücher veröffentlicht, für
Obdachlose engagiert. Zurzeit schreibt er an seiner Magisterarbeit über Kirche in der DDR. Er ist knochenkrank, hat
sich 20 Mal operieren lassen, zuletzt Mitte August.
Die Zeitschrift mondkalb (möchten ohne not durch kleine
aufmerksamkeiten liebe bekommen) erscheint etwa alle
drei Monate und liegt u.a. in Kneipen, Unis und Arztpraxen aus. Derzeit hat die Redaktion vier Mitglieder in
Berlin und je eines in Bremen und Marburg. Alle arbeiten
ehrenamtlich: »Wir leben für Mondkalb, aber nicht von
Mondkalb«, sagt Karsten Krampitz. Voraussetzung fürs
Mitmachen: Man muss behindert sein. www.mondkalb.
net.tc
Als Mondkalb wurden im 16. Jahrhundert fehlgebildete
Kälber bezeichnet, deren Fehlbildungen man auf einen
schädlichen Einfluss des Mondes zurückführte. Heute ist
es ein Schimpfwort.
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PoetrySlam: Würde grabschen
..
EineFortsetzungsgeschichte,dritterundletzterTeil.
DieerstenbeidenerschieneninderMärz-undder
August-Ausgabe.
vonWolfHunger
Illustration: Florian Bielfeld
Laßt Mit dem Schreiben Geld zu verdienen,
dauert. Gibt Abkürzungen, die
euch das
heißen Vater oder Mutter Schauspieler,
eins Schriftsteller oder alternativ beste Bevorzugsweise auf hohem,
sagen: ziehungen,
fi nanziell abgesichertem Niveau. Auch
hilfreich: Wunderkind, keinesfalls älter als 25. Nicht zu
vergessen: besonders Schreckliches erlebt, der Nährboden
medienwirksam bereitet vom Boulevard und dann ernten,
ernten, ernten.
Der Dichter hat derlei nicht zu bieten, die Hauptstadt mit
Kulturfürst Wowi dem Ersten keine anständige Künstlerförderung und aus Karlsruhe kräht das Verfassungsgericht: Schluß mit der vielen, unnötigen Kultur! Bleibt nur
der Gang zum Topf, aus dem die dünne Suppe gelöffelt
wird, die der Kapitalismus gerade so übrig hat für die
Unnützen, die Aufdertascheliegenden, die nicht mehr
Ausbeutbaren. Also auch für mich. Erstmal rankommen
an die Almosen des Staates. In Berlin haben sie sich die
gefühlt längste Telefonnummer der Welt geben lassen:
01801-00259303807. Hmh, bin ich der Einzige, der bei
diesem Endloswurm an ultrateure Sex-Hotlines denkt?
Aha, hier ist ein Sternchen hinter der Nummer. Wird mir
bestimmt verraten, was mich ein Anruf kosten wird. Im
Kleingedruckten verraten sie´s: Entgelt entsprechend der
Preisliste Ihres Teilnehmernetz-Betreibers. Willkommen in
Absurdistan!
Jetzt nur nicht vertippen bei den vielen Zahlen. Geschafft!
Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine freundliche Stimme mit frechem märkischem Akzent: Antrag?
Schicken wir Ihnen sofort zu. Danke. Fünf Tage später ist
er da, mit Datum einen Tag nach meinem Anruf. Ach so,
private Post, billiger wohl. Frist bleibt jedoch die gleiche.
Fülle Zeile für Zeile gewissenhaft aus, nur keinen Fehler
machen. Hosen runter, hilft ja nichts. Und ja nicht den
Postweg gehen, lieber persönlich vorstellig werden. Wann
mag die Schlange vor dem Club der Verlierer nicht bis
zum Mond reichen? Ich entscheide mich für Dienstag
Vormittag. Nachmittags werden generell keine Audienzen
vergeben. Haben sie sich vom Papst abgeguckt oder so.
Es ist Sommer in Berlin, 27°. Mitte ist groß, mit Wedding
dazu noch größer und irgendwo am Ende vom Ganzen hat
sich das JobCenter angesiedelt. Monströs. Fahrtkosten?
Nun machen sie mal keinen Aufstand! Schließlich sind
wir das größte JobCenter Deutschlands, jawoll!! Könnse
auch mal ein bisschen stolz drauf sein und bitteschön
ohne Murren bis zur nächsten Straßenecke anstehen. Nach
ner halben Stunde in der sengenden Sonne verfluche ich
nicht nur den Staat, sondern auch den Sommer. Irgendwann bin ich drin, am Ende eines abgesteckten Parcours,
der sich durch den stickigen Empfangsbereich windet,
wo ein Konzentrat aus allen nur denkbaren menschlichen
Ausdünstungen wie eine Wand steht. Schlangestehen, sehr
anschaulich vermittelt. Woran erinnert mich das bloß?
Auschwitz, nein, zu hart, vergast werden die Vergessenen
selbst im reanimierten Manchester-Kapitalismus dann
doch nicht. Viehgatter sind´s! Selektion der Reihe nach,
kein Ausbrechen möglich, stoisch und brav anstehen wie
ein Schaf. Scheren, melken, Schnauze halten!
Die meisten Schafe halten still, nur nicht unangenehm auffallen, könnte ja negativ ausgelegt werden. Geht überhaupt
schnell hier mit der Einschüchterung. Auch ich füge mich
dem Lämmerzug, schaue mich um, ob da nicht irgendwo
Kameras lauern. Andere, offensichtlich Stammkunden,
fühlen sich fast wie zu Hause. Über alle Abgrenzungen
hinweg wird sich lautstark begrüßt, abgeklatscht, palavert.
Oft in Sprachen, die ich nicht verstehe. Zwei, drei bedürftige Schafe vor mir dämmert eine käsebleiche, furchterregend abgemagerte Gestalt vor sich hin, und man ist schon
ganz bange, dass dieses sich offensichtlich im Endstadium
einer unheilbaren Krankheit befi ndliche Knochengerüst
einfach zusammenfällt. Gerade musste er vom Hintermann
angestubst werden, als unerwartet Leben in ihn fährt. Am
Ende des Trecks hat er einen Typen entdeckt, der ebenfalls nicht übermäßig gesund ausschaut, aber stramm an
seiner Bierfl asche festhält. Über die Gatter fliegen ein paar
Wortfetzen hin und her, und schon wechseln zehn Euro
und eine Zehnerpackung Tabletten die Besitzer. Scheint
niemanden zu stören.
Nach anderhalb Stunden stehe ich vor einem dickbäuchigen Einweiser, der überraschenderweise kein Bolzenschussgerät parat hat. Er winkt nur zum nächsten freien
Platz durch. Frau hinter Schalter sieben: Alle Unterlagen
dabei? Ja, alle. Gut, gehen Sie über den Hof zum Wartebereich für Erstantragsteller. Den Hof fi nde ich prompt, aber
der ist verdammt groß und plötzlich ohne viehtriebartige
Einzäunungen. Hinweise, Schilder? Abwesend. Da hinten,
rechts von mir, ist reges Treiben, also hin da. Irrsinn,
die ganzen Gänge. Hier und da computerausgedruckte
Hinweise, versprengte Wartende, auf den Boden starrende
Schafsgesichter, furchtvoll dem Schlachten durch einen
übelgelaunten Sachbearbeiter entgegensehend. Kinder, die
aus diesem Gefängnis davonlaufen wollen, Mütter, die sie
tadelnd wieder einfangen.
Bin ich hier richtig? Da geht eine Tür im kafkaesken Gang
auf, sieht aus wie ein Sachbearbeiter. Entschuldigung,
bin ich hier richtig? Kurzer Blick auf meinen Warteschein.
Knappe Antwort: Steht doch drauf, werden aufgerufen.
Die Grundformen menschlichen Miteinanders scheinen
hier außer Kraft gesetzt. Türen schlagen, ein vollzähliger
Familienclan wandert in eine rein, kommt kurze Zeit später wieder raus, alle schimpfen, gestikulieren, unschöne
Worte fallen. Höre so was wie erneut falsche Unterlagen,
kein Geld und überprüfe fi x noch mal meine Unterlagen.
Komplett? Ja, weiß nicht, hoffentlich. Immer wieder diese
Türen, aus denen Namen gebellt werden. Meiner, nein,
neben mir steht ein älterer Mann auf, den ich schon für
eine Skulptur hielt. Wie naiv, Kunst ist hier ebenso fern
wie Menschlichkeit. Endlich bin ich dran. Im Zimmer
sitzen zwei Figuren, die sich von denen auf dem Gang in
nichts unterscheiden. Guter Mensch, der ich bin, denke
ich, die waren vielleicht auch mal und haben jetzt wieder
Arbeit. Figur links bietet mir einen durchgefurzten Stuhl
an. Rechte Figur studiert eine Akte und rülpst herzhaft.
Mahlzeit, sage ich. Nichts regt sich an ihm, keine Antwort,
kein Lächeln. Doch ein Bronzeabguß des alltäglichen
Wahnsinns?
Figur links geht gemächlich meine Unterlagen durch, goutiert sie und verspricht baldige Bearbeitung. Das sieht dann
so aus: drei Wochen später ein Schreiben. Tonfall: Sie
werden aufgefordert....haben eine Mitwirkungspflicht....
sonst keine Leistungen. Und bitteschön die Frist einhalten! Unterlagen fehlen! Als wenn´s Hitler und die DDR nie
gegeben hat.
Wieder hin, diesmal Freitag. Selber Viehtrieb, Stunde ausharren. Alle Unterlagen dabei, voller Hass, bereit zu allem,
Kafka grüßt aus dem Grau der Gänge, Kinderkreischen,
dann mein Name. Und – oho – sowas wie eine Erklärung.
Da ist wohl was falsch gelaufen. Und meine Miete? Nächste
Woche ist der Bescheid da, versprochen. Geld kam nächste
Woche tatsächlich. Und dann drei Bescheide im Zwei-TageRythmus. Das System spielt verrückt, ein einziger Fehler.
So wie wir einer sind, der sich erdreistet, den Sozialstaat
in Anspruch zu nehmen. Und der Preis dafür? Unsere Würde. Für ein bisschen Geld, das die Erfi nder dieser großartigen Reform trotz Rauswurf ausm Amt, und rechtmäßiger
Verurteilung immer noch minütlich im Schlaf verdienen,
wenn sie ihre gut genährten Körper im Designer-Bett
umdrehen. Vielleicht sollten wir auch mal ganz ungeniert
zugreifen, wenn es um unsere im Grundgesetz verbrieften
Menschenrechte geht. In einem der reichsten Länder der
Welt, wohlgemerkt. Könnte ja sein, dass nicht nur das Geld
ungerecht verteilt ist, sondern auch die Würde.
Medien: Spiesser
DieostdeutscheJugendzeitschriftSpiesserverdreifachtihreAuflageaufeineMillion.
JetztgibtesdasMagazinauchimWesten.Kostenloswieimmer,inhaltlichfür
TeenagermitAnspruch,stilistischinnovativ.
Von Jan Freitag
Schwuchtel ist das liebste Hasswort an deutschen Schulen.
Schwuchtel steht für alles Schwache, Unbeliebte, Andere,
für Außenseiter. Und es steht in schwarzen Lettern auf der
Titelseite einer Jugendzeitschrift, ein durchgestrichenes
Gesicht darüber, abschätzig gemustert von Gleichaltrigen
im Hintergrund. So ist Spiesser: neu, unerwartet, stets
bereit zum Tabubruch. Ab September wird ihn das
Magazin für die Zielgruppe 14 bis 22 bundesweit wagen
und das ist in doppelter Hinsicht eine Erfolgsgeschichte:
Eine des Ostens. Und eine mit Niveau. Spiesser, die
kostenlose Zeitung für den Teenager mit Niveau,
expandiert von Dresden in die ganze Republik und löst
nebenbei die Bravo als Marktführer ab. Hoffentlich auch
inhaltlich.
Überschrift im ersten gesamtdeutschen Heft: Ich bin
anders. Es könnte das Motto der Zeitschrift selbst sein. Im
neuen Heft, das am 10. September erscheint, geht es nicht
um Boygroupgezanke, Einkaufstipps und Kuschelratgeber,
sondern um schlaffeindlichen Schulbeginn, jugendliche
Haushaltsetats und ein lesbisches Coming-out. Themen
zum Mitdenken also, nicht zum Kreischen.
Damit das alle im Land mitkriegen, steigt die Aufl age auf
eine Million Stück – mehr als Bravo, YAM! und Popcorn
zusammen. Dabei war das dürre Heft aus Altpapier vor 14
Jahren als bessere Schülerzeitung dreier Dresdener Schüler
fürs direkte Umfeld gestartet. Doch bald eroberte Spiesser
ein neues Bundesland nach dem anderen und verteilte
zuletzt 300.000 Exemplare an Schulen zwischen Rostock,
Zwickau, Magdeburg und Cottbus. Nicht nur deshalb
schrieb der Spiegel mal von einer »Bravo des Ostens«.
Dass jetzt der Schritt über die alte Grenze folgt, erklärt
Chefredakteur Peter Stawowy mit »wirtschaftlichen
Aspekten«. Die Zeit sei eben reif. Klingt nicht sehr
heißblütig, doch es steckt noch mehr dahinter: Die
Interessen und Einstellungen der Zielgruppe in Ost und
West, aufgewachsen in einem – zumindest geografi sch
– ungeteilten Land, seien »bis auf kleine Nuancen
inzwischen identisch«, glaubt der jung gebliebene
15
Journalist von 35 mit der hippen Brille. Seine zwölf Jahre
jüngere Geschäftsführerin Stephanie Schroth sieht es ein
bisschen jugendlicher: »Wir machen’s halt einfach«, sagt
sie mit sächsischem Akzent, »wie wir immer alles halt
einfach so machen«.
Klingt fl apsiger als das Magazin tatsächlich gemacht
ist und lockerer als das Projekt eigentlich zulässt.
Denn die Redaktion wurde um ein paar hauptamtliche
Journalisten erweitert und umfasst jetzt einschließlich
Praktikanten und freien Mitarbeitern jeden Alters unter
30 rund 20 Personen. Außerdem ist die Ausweitung ein
echter Kraftakt, der etwas sonderbare Werbekunden,
wie die Bundeswehr, mit sich bringt. Die Anzeigenpreise
der fünf Mal im Jahr erscheinenden Zeitschrift liegen
mit 42.000 Euro pro Seite zudem deutlich über dem des
Hochglanzprodukts Bravo. Dank Millionenumsätzen gerät
der kleine Eigenverlag zu einem echten Wirtschaftsfaktor.
Und vor allem: Auf die Einkaufsliste großer Herausgeber.
Doch davon will man in Dresden nichts wissen. Ebenso
wenig wie von Schlipsträgern im Blatt. Deshalb bleibt
der Ausflug von Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier in die Starstunde eine Ausnahme. Im neuen
Heft gibt also Komiker Bully Herbig einer zehnten Klasse
aus München Unterricht in Sachen Staat und Macht. Eine
der vielen kreativen Rubriken des Spiesser. So wie das
Rentner Kompetenz-Team zum Schluss, zwei Seniorinnen,
die sich diesmal zu Rechtsradikalen äußern. Noch so ein
Thema, das andere Jugendmagazine eher meiden. Zu
heikel, zu spaßfeindlich, zu anspruchsvoll. Wie man das,
was junge Leute interessiert, witzig und einfallsreich,
aber ohne Klamauk und erhobenen Zeigefi nger, also ganz
spießig, bearbeitet – davon könnten die anderen noch was
lernen.
Themenschwerpunkt:
Bild: photocase.de
impressum
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verspricht aber, wirklich jeden Beitrag wohlwollend zu
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Chefredaktion: Martin Schirdewan (V.i.S.d.P.), Thomas
Feske AutorendieserAusgabe: Ines Wallrodt, Ina Beyer,
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Jünger, Nico Zerbian, Anne Kirchberg, Heiko Langner,
Wolf Hunger unter Mitarbeit von: Kevin Stützel, Andreas Voland, Alexander Beuge Graphische Gestaltung:
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Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag
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