Pressestimme Rhein-Neckar-Zeitung - HRS

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Pressestimme Rhein-Neckar-Zeitung - HRS
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LEKTÜRE
Samstag/Sonntag, 29./30. August 2009
Rhein-Neckar-Zeitung / RNZ Magazin / Nr. 199
F
rieden in Afghanistan?
Es ist nicht leicht, wirk
lich daran zu glauben.
Für den Heidelberger
Fotografen Helmut R.
Schulze ist das keine
Frage. Schulze, der in
den letzten Jahren sie
ben Mal in das kriegsgebeutelte Land am
Hindukusch reiste, ist es möglich, in Af
ghanistan Frieden zu schaffen, wie er sag
te. Der Mann riskierte bei seinen Reisen
durch das Land sein Leben, aber er lässt
nicht nach, auf die Situation Afghanis
tans aufmerksam zu machen. „Man muss
helfen.“ Das tut der mittlerweile 80Jäh
rige mit seinen Fotos, Büchern und Aus
stellungen, die seit gut zwei Jahren zu se
hen sind. Die erste FotoAusstellung fand
im Frühjahr 2007 im Historischen Muse
um in Speyer statt, die letzte ging gerade
in New York zuende. Nächste Station ist
Houston in Texas, dann folgt Jerusalem.
51 Mal war Schulzes „Afghanistan“
bisher weltweit zu sehen. Das könnte ein
Rekord für Ausstellungen mit dieser kan
tigen Thematik sein. Fast 400 000 Men
schen haben die Fotos bisher gesehen.
Die Gründe für den Erfolg dieser Ausstel
lung liegen in der Qualität der Motive
und dem Konzept des Fotografen. Schul
ze zeigt auf sehr ambivalente Weise Bil
der eines zerrissenen, widersprüchlichen
Landes: Für ihn ist es weder das geschun
dene und bedauernswerte Land allein,
noch ausschließlich die schönen Berg
landschaften oder nur die Begegnung mit
den Menschen. Es ist eine Melange da
raus. Zerstörung, Tod, Trauer, Schönheit,
Mut, Freude und Hoffnung.
Dieses Land liegt jenseits unserer Vor
stellungen. Die heute 30Jährigen haben
nichts anderes als Krieg erlebt, Afghanis
tan als Land der Bomben, der zerschosse
nen Städte und der Selbstmordattentä
ter. Reisen durch dieses erschöpfte Land
„gleichen Expeditionen mit ungewissem
Ausgang, Scheitern inbegriffen“, sagt
Helmut R. Schulze, der 4000 Kilometer
mit einem ungeschützten Auto ohne All
rad durch Afghanistan fuhr. Die Reisen
plante er von Tagesziel zu Tagesziel, da
zwischen lagen Schlaglochpisten, not
dürftig geflickte Brücken, Flussdurch
fahrten, Temperaturen im Sommer bis 45
Grad, im Winter bis 25 Grad unter Null“,
beschreibt er in seinem Bildband „Afgha
nistan. Reisen hinter den Horizont“.
Die Bilder seines Buches, die teilweise
in seinen Ausstellungen zu sehen sind,
können Hoffnung machen. Es sind die
Aufnahmen der Menschen, denen Schul
ze zum Beispiel mitten im Winter begeg
nete. Der Türwächter der Moschee, der
draußen sitzt, um darauf zu achten, dass
die Schuhe ausgezogen werden. Es ist ver
mutlich eisig kalt, aber der Mann lacht
als würde er im warmen Café bei einem
Tee sitzen. Oder die Männer, die mit gro
ßen Schritten ihren Kamel und Eselkara
wanen voran gehen, dies in der Hitze des
Sommers. Es sind immer die Gesichter,
die Mut machen. Warum sie wohl diese
Zuversicht ausstrahlen, fragt man sich,
wo doch alles herum so wenig friedlich
und instabil wirkt. Aus keinem der Au
„Reisen hinter den Horizont“ machen Landschaften von dieser Großartigkeit deutlich. Eine Aufnahme des Heidelberger Fotografen Helmut R. Schulze.
Ein erschöpftes Land
Die Rekord-Austellungen „Afghanistan“ des Fotografen Helmut R. Schulze / Von Rolf Kienle
gen blickt Feindseligkeit, sondern allen
falls Neugierde.
Schulze ist es gelungen, ein Porträt zu
liefern, das nicht verschweigt, dass es in
diesem Land nicht paradiesischfriedvoll
zugeht, er zeigt die zerschossenen Häuser
von Kabul und die Arbeit der Minensu
cher auf dem Land. Aber er fotografierte
auch die großartigen Landschaften des
BamiyanTales, die Blauen Seen von
Bande Amir, den Basar der Hauptstadt.
Eine Frage lässt er bewusst nicht aus:
Was tut die Bundeswehr in Afghanistan?
Anne Kenkenberg von der Orthopädi
schen Klinik Heidelberg, die schon in den
Jahren zuvor nach Kabul kam, um medizi
nisch zu helfen, begleitete Schulze mehr
fach und widmete der Situation der Frau
en in Afghanistan ein Kapitel, in dem sie
die Forderung nach dem gesicherten Zu
gang zu Bildung unterstreicht.
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i Info: Helmut R. Schulze: „Afghanistan.
Reisen hinter den Horizont“. Edition
HRS Heidelberg, 2009. 304 Seiten mit 340
Fotos, 39 Euro. ISBN 9783981033038
Vorlesungspause auf
afghanisch: Zwei Studentinnen der Universität Kabul nutzen die
Frühlingssonne, um ihre Arbeit auf der Wiese
fortzusetzen. Das Foto
ist Teil der Ausstellungen von Helmut R.
Schulze, die demnächst in Houston und
dann in Jerusalem zu
sehen sein wird.
Ausstellungseröffnung in New York. Helmut
Schulze (Mitte) mit Klaus-Peter Siegloch vom
ZDF und dessen Frau. Foto: Anne Kenkenberg
Wie Leopold das Lager überlebt
Ein Stück Weltliteratur: Herta Müllers beeindruckender Roman „Atemschaukel“ / Von Wolf Scheller
Leopold Auberg, der IchErzähler im Ro
man, ist gerade mal 17, als ihn die Russen
aus Hermannstadt verschleppen. Die
Großmutter sagt ihm: „Ich weiß, du
kommst wieder.“ Leo kommt wieder –
nach fünf Jahren Haft und Zwangsarbeit
in der russischen Steppe. Das Lager heißt
NowoGorlowka, liegt in der Ukraine
und ist eine jener infernalischen Filialen
des GulagSystems, in dem Abertausende
namenlos verreckten: erschlagen, erschos
sen, verhungert.
Der BüchnerPreisträger Oskar Pas
tior hat ein solches Lagerschicksal durch
litten, und Herta Müller, die mit ihm bis
zu seinem Tod vor drei Jahren eng be
freundet war, hat aus seinen Erzählungen
das Basismaterial für diesen Roman ge
wonnen. Es ist ein durch seine „Schwär
ze“ tief beeindruckendes Buch, dem man
zwar anmerkt, dass es mit einer Authenti
zität aus zweiter Hand arbeitet, dessen
poetische Dimension aber die Autorin
auf der Höhe ihrer Meisterschaft zeigen.
Herta Müller, 1953 in Nitzkydorf in
Rumänien geboren, hat mit „Atemschau
kel“ weder einen historischen noch einen
Schlüsselroman geschrieben. Es geht ihr
um die jahrzehntelang verdrängten Ver
brechen an den Rumäniendeutschen.
Nach der Niederlage Deutschlands wur
den alle 17 bis 45jährigen Rumänien
deutschen von den Sowjets deportiert.
Sie machten sie dafür verantwortlich,
dass sich ihr Land unter Marschall Anto
nescu mit dem nationalsozialistischen
Deutschland verbündet hatte und Hitler
militärisch unterstützte. Dass es unter
den Siebenbürger Sachsen und den Bana
ter Schwaben auch etliche Anhänger Hit
lers gab, wird von Herta Müller nicht ver
schwiegen. Menschen wie Oskar Pastior
oder auch die Mutter der Autorin zählten
zu den Deportierten und zahlten mit vie
len Tausend anderen die Zeche für die
Kollaboration des faschistischen Dikta
tors Antonescu mit den Nazis.
Nach dem Krieg durfte hierüber in Ru
mänien nicht gesprochen werden. Man
hätte sonst den „Großen Bruder“ in Mos
kau verärgert, dessen Verbrechen unter
Stalins Terrorherrschaft denen der Nazis
kaum nachstanden. Auch Leopold Au
berg wird nie erfahren, warum man ihn
Im vergangenen Jahr wurde sie sogar für den
Literatur-Nobelpreis vorgeschalgen: Herta
Müller. Ihr neuer Roman „Atemschaukel“ wurde gerade für den den Deutschen Buchpreis
nominiert. Foto: H. J. Wöstmann
ins Lager gesteckt hat. Dass er von zu
Hause weg muss, ist ihm zunächst auch
gar nicht so unwillkommen. Er weiß,
dass ihm weder die Familie noch der
Staat seine nächtlichen homosexuellen
Kontakte im Stadtpark von Hermann
stadt hätten durchgehen lassen. Zwölf Ta
ge dauert für die Deportierten die Fahrt
im Viehwaggon, bis sie nachts irgendwo
in der russischen Steppe ankommen. Zu
dem Zeitpunkt haben sie bereits wesentli
che Ingredienzien ihres bürgerlichen Hu
manum eingebüßt. Den Rest besorgt der
Lageralltag, besorgt der den einzelnen
ständig begleitende „Hungerengel“, be
sorgt die Entmenschlichung in dieser
„Hautundknochenzeit“: „Denn in der
Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dys
trophischem Wasser sind Männer und
Frauen nicht zu unterscheiden und ge
schlechtlich stillgelegt. . . die Halbver
hungerten sind nicht männlich oder weib
lich, sondern objektiv neutral wie Objek
te – wahrscheinlich sächlich.“
Herta Müller verfügt über eine eigene
Metaphorik, mit der sie die Erschütterun
gen durch die Terrorsysteme des 20. Jahr
hunderts lesbar zu machen versucht. Es
fehlt ihr da die undogmatische und unauf
geregte Handhabung, wie sie einem Imre
Kertész zu Gebote steht. Ihre Sprachhal
tung will Zeugnis sein stellvertretend für
eigenes Erleben. So kommt es, dass mit
unter die Tonalität ihres Vokabulars auf
befremdliche Weise in eine kindliche
Sprachweise rutscht, vom „schunkeln
den“ Tod spricht oder von Sterbenden
mit einem „Totenäffchengesicht“.
Blechkuss, Weißer Hase, Heimweh,
Himmel unter Erden oben. . . die fünfjäh
rige Lagerzeit des IchErzählers Leopold
wird in kleinen Kapiteln ausgebreitet. Ih
re Zumutung will die Autorin durch Spra
che spürbar machen. Das ist nicht Elend
in schönste Prosa verpackt. Herta Mül
lers Sprache ist nicht schön, sie ist realis
tisch und kühn. Am ehesten fällt einem ei
ne Nachbarschaft zur Sprache von Elfrie
de Jellinek ein. Hinzu kommt ein Verdich
tungsprinzip, das keinerlei Theorem oder
Adam und Eva
erging’s wie uns
Martina Pauras „Angebissen“
Von Rüdiger Busch
Panorama bedient. Diese Autorin ver
traut voll und ganz ihrer Sprachkunst
und verzichtet deswegen bewusst auf Er
klärungen.
All die Schikanen, die mörderischen
Kämpfe im Lager um das bisschen Brot,
auch die Liebeshändel – und immer wie
der das Thema Hunger, das sogar die
Träume beherrscht: „Ich esse einen kur
zen Schlaf, dann wache ich auf und esse
den nächsten kurzen Schlaf.“ Und daran
wird sich auch für den Überlebenden
nichts mehr ändern: „Ich bin eingesperrt
in den Geschmack des Essens, wenn ich
esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus
dem Lager, seit sechzig Jahren gegen das
Verhungern.“
Es sind zum Teil bizarre Figuren, die
die Autorin präsentiert: etwa der gran
dios böse Kapo Tur Prikulitsch oder der
Brotdieb Karli, dem seine Mithäftlinge al
le Zähne ausschlagen und dann auf ihn
urinieren. Oder der jüdische Zitherspie
ler David Lommer, der versehentlich de
portiert wurde. Sie alle werden in ihren
scharfen Konturen kenntlich, treten aus
einem allseitigen Schweigen heraus –
und lassen doch 334 Tote zurück, die wäh
rend der fünf Jahre im Lager umgekom
men sind. Von Leopold Auberg heißt es
am Schluss, er sei ein „Nichtrührer“, still
und schweigend: „Einmal lag unter dem
weißen Resopaltischchen eine staubige
Rosine. Da habe ich mit ihr getanzt.
Dann habe ich sie gegessen. Dann war ei
ne Art Ferne in mir.“ Keine Frage: Herta
Müller ist mit diesem Buch ein Stück
Weltliteratur gelungen, das eines der düs
tersten Kapitel des 20. Jahrhunderts in
unser Gedächtnis zurückholt.
Was ist an den Klischees über die Unter
schiede zwischen Mann und Frau wirk
lich dran? Verblüffend komische Antwor
ten auf diese Frage liefert die aus Buchen
stammende Schriftstellerin Martina Pau
ra in ihrem neuen Roman „Angebissen“.
Auch in ihrem dritten Buch dreht sich al
les um die altbekannten Probleme zwi
schen den Geschlechtern – nur diesmal
werden sie aus einem anderen Blickwin
kel beleuchtet: Im Zentrum stehen näm
lich Adam und Eva.
Ein Thema aus der Bibel als Vorlage
für einen lockeren Frauenroman? Klingt
gewagt. Doch mit viel Charme deckt Mar
tina Paura die ganze Wahrheit über die
erste Lovestory der Welt auf. Ihre Inter
pretation hat mit den herkömmlichen
Vorstellungen der Paradieserzählung nur
wenig gemein, dafür glänzt sie durch Hu
mor und Witz. Und da ist es kein Zufall,
wenn sich die Leser in den Verhaltenswei
sen der Hauptfiguren plötzlich wiederfin
den. Die Autorin macht nämlich auf be
sonders unterhaltsame Weise deutlich,
dass schon Adam und Eva die gleichen
Beziehungsprobleme hatten wie wir.
Die Unterschiede zwischen den Ge
schlechtern vor der ungewohnten Kulisse
des Paradieses – das macht den besonde
ren Reiz des Buches aus. Abgerundet
wird der vergnügliche Lesegenuss durch
den ständigen Perspektivwechsel zwi
schen Eva, Adam und einem sehr mensch
lichen Gott – so unterschiedlich kann die
Einschätzung ein und desselben Vorfalls
sein. . . Aber das kennt man ja aus dem
wirklichen Leben nur zu gut!
嘷
i Info: Herta Müller: „Atemschaukel“.
Roman. Carl HanserVerlag, Mün
chen, 2009. 300 Seiten, 19,90 Euro.
嘷
i Info: Martina Paura: „Angebissen“, Ma
rion von Schröder. Berlin 2009, 480 S.,
14,90 Euro.