Als Karl zu Carlo wurde

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Als Karl zu Carlo wurde
[TSP_PR60: TSP_04-SONDERTHEMEN-BEILAGEN <SONDER_R8> ... 04.07.06]
08 REPORTAGE
Autor:S_WILMS
www.tagesspiegel.de /wm2006
10.07.06
Dienstag, den 4. Juli 2006
15:54
REPORTAGE
www.tagesspiegel.de /wm2006
Dienstag, den 4. Juli 2006
09
DEUTSCHLAND Reise
Als Karl zu Carlo wurde
In Italien ist er ein Held, in Deutschland ein Unbekannter. Weil Karl-Heinz Schnellinger sich 1963 dazu entschied, nach
Mailand zu gehen, blieb dem begnadeten Verteidiger in seinem Heimatland die Anerkennung verwehrt, die er eigentlich
verdient hätte – auch weil er 1970 mit seinem einzigen Länderspieltor die legendäre Verlängerung gegen Italien ermöglichte
Von Reiner Brückner
E
Zweimal Heimat gegen Heimat: Schnellingers Ausgleichstor in der
Nachspielzeit gegen Italien bei der WM 1970 in Mexiko (oben) und sein
Einsatz an der Seite von Giovanni Trapattoni im Trikot des AC
Mailand gegen Rainer Ohlhauser vom FC Bayern München im
Fotos: Picture-Alliance/ASA, dpa
Europapokal 1968.
s ist nicht Pelé, dem die Welt
das größte Spiel aller Zeiten
zu verdanken hat, es ist nicht Maradona, nicht Beckenbauer und
auch nicht Zidane. Der Mann, der
dem Fußball an jenem 17. Juni
1970 seine bis heute unerreichte
Sternstunde ermöglicht hat, war
ein deutscher Defensivspezialist.
Mit seinem Tor zum 1:1 in der
Nachspielzeit schickte KarlHeinz Schnellinger das Halbfinale
von Mexiko-City gegen Italien in
jene ruhmreiche Verlängerung,
an deren Ende Deutschland 3:4
unterliegt und von der noch Jahrzehnte später gesprochen werden
wird.
Es war in der 92. Minute. Das
Team von Bundestrainer Helmut
Schön schien bereits geschlagen
zu sein. Da flankte Jürgen Grabowski von links in den italienischen
Strafraum. Nicht Gerd Müller,
der Deutsche, schoss heran, sondern
der
Defensivkünstler
Karl-Heinz Schnellinger. In einer
Art Parterreflug waagerecht über
dem Rasen, Füße voran, drückte
er das Leder artistisch ins italienische Tor, unhaltbar für Italiens
Schlussmann. Helmut Schön beschrieb die legendäre Szene in seinem Erinnerungsbuch „Fußball“
später so: „Ich werde nie vergessen, wie Schnellinger mit gespreizten Beinen heranflog, den
Ball ins Tor klatschte – und sich
dann wie tot auf den Rücken zu
Boden fallen ließ. Er streckte alle
Viere von sich, und Gerd Müller
stürzte sich in unbeschreiblicher
Freude auf ihn.“ Es war Schnellingers einziges Länderspieltor, und
es entbehrt nicht einer gewissen
Ironie, dass er es gegen seine
Wahlheimat erzielte.
Denn Karl-Heinz Schnellinger
war damals nicht irgendein deutscher Nationalspieler, sondern
das
italienische
Fußballidol
„Carlo il Biondo“ (Carlo, der
Blonde). Er war Stammspieler
beim italienischen Spitzenverein
AC Mailand, seit 1965 unentbehrliches Puzzlestück in der
von Weltstars wie Hamrin, Sormani, Rivera und Trapattoni
durchsetzten Mannschaft. 1968
war er unter Trainer Nero
Rocco mit Milan Meister geworden, ein Jahr später Europapokalsieger der Landesmeister und
Weltpokalsieger. „Im Leben
zählt am meisten, was einem nie-
mand nehmen kann“, sagt der
67-Jährige heute, 36 Jahre später. „Und dieses Tor kann mir
niemand nehmen.“
Als der blonde, sommersprossige Karl-Heinz 1963 Deutschland – frisch gekürt als Fußballer
des Jahres – in Richtung Süden
verließ, um zu Carlo zu werden,
waren solche Abwanderungsgelüste noch höchst umstritten.
Ihm wurde – missgünstig – Geldgier oder – chauvinistisch – Vaterlandsverrat
vorgeworfen.
ter harte Konkurrenten; Beckenbauer schreckte bei seinem Ansturm auf die uneingeschränkte
Führungsrolle im Nationalteam
auch nicht vor dem verdienten
Schnellinger zurück.
Snelli, wie er in Italien auch genannt wurde, spielte bis 1974
beim AC Mailand, ein anerkannter
Leitwolf im Team. „Fußball ist für
mich kein beliebiger Leistungssport“, sagt Schnellinger. „Fußball
ist etwas Besonderes, weil vom
Kollektiv geprägt. Ein professio-
Schnellinger hat in Mailand seine Heimat gefunden –
in Deutschland kommt er sich wie eine vergessene Randfigur
vor. Sein Geburtsort Düren will ihn nicht einmal als Ehrenbürger
Schnellinger hatte extrem unter
dem hässlichen Odium „Fremdenlegionär“ zu leiden. Dabei
wollte er als ehrgeiziger Profi
bloß zweierlei: auf höchstem Niveau spielen und für seine Leistung angemessen bezahlt werden. Beides war damals in
Deutschland nichts als ein frommer Wunsch. Die Bundesliga
existierte noch nicht, und beim
1. FC Köln erhielt er ein Grundgehalt von 320 Mark plus gelegentlicher Siegprämien. Sein damaliger Vereinsboss, der berühmte Franz Kremer, riet ihm
dringend, nach Italien zu gehen.
„Was die dir bieten, können wir
dir nicht in 20, 30 Jahren bieten“, soll er damals gesagt haben. Auch Sepp Herberger und
Helmut Schön, damals für alle
deutschen Nationalspieler das
Maß aller Dinge, legten sich
nicht quer, sondern hielten an
ihrem Musterschüler Schnellinger auch dann fest, als er ins
Ausland ging.
Der Mann aus Düren galt ab
1962, wo ihn Herberger bei der
WM in Chile richtungsweisend
als Libero agieren ließ, als unverzichtbar für das deutsche Team:
Schnellinger war das Ein-MannBollwerk in der Abwehr, der
letzte Mann in der Defensive,
der Cheforganisator im eigenen
Strafraum, der den Gegner vom
finalen Abschluss abzuhalten
hatte. Karl-Heinz Schnellinger
war der direkte Vorgänger Franz
Beckenbauers, der die Rolle als
Libero in seiner Glanzzeit nahezu perfekt beherrschte. Nicht
umsonst wurden die beiden spä-
neller Typ lebt im Team, denkt im
Team und handelt im Team. Er
muss sich einordnen, auch unterordnen können, muss immer
mannschaftsdienlich auftreten,
aber er muss auch Initiative ergreifen. Ein Führungsspieler reißt die
ganze Mannschaft mit, letztendlich immer zum eigenen Vorteil.“
Zeiten auf der Reservebank hat er
kaum erlebt, zumal er selten verletzt war. Er sei stets Stammspieler gewesen, weil er immer geleistet habe, was von ihm erwartet
worden sei.
Dashabe natürlichsein Selbstbewusstseingestärkt undjede Diskriminierung im Keim erstickt.
„Wenn einer nicht spielt, dann
wird es natürlich schwierig. Das
zermürbt und macht sauer. Natürlichmussman alsAusländerbeweisen, dass man gut, ja besser ist als
die einheimische Konkurrenz.
Doch das ist überall so, egal, ob in
Deutschland oder Italien.“
1975 kehrte Schnellinger zum
Ausklangseiner Karriere noch einmal nach Deutschland zurück.
Sein Gastspiel bei Tennis Borussia
in Berlin war kurz und eher erfolglos, und so holten ihn italienische
Freunde daraufhin nach Mailand
zurück, verschafften ihm Arbeit
alsKaufmannund späterals PR-Experte einer weltweit aktiven Investmentkette.
Da seine gesamte Familie – auch
die drei Töchter – in Italien heimisch wurden, zog es ihn danach
nie mehr nach Deutschland zurück. Mailand wurde die Heimat
des Karl-Heinz Schnellinger, der
die italienische Lebensart respektive Kultur verinnerlichte und akzeptierte. In Italien werden seine
Leistungen heute noch hoch gelobt, in seinem Herkunftsland da-
gegen sind sie trotz vier WM-Teilnahmen weitgehend unbekannt.
„Ich komme mir in Deutschland
manchmal wie eine vergessene
Randfigur vor“, sagt Schnellinger.
Wie zum Beispiel 1990. Da war
er richtig wütend, weil das Austragungsland der Fußball-WM Italien hieß, der Deutsche Fußball-Bund es aber versäumte,
Carlo il Biondo, den Mailänder, als
deutschen WM-Botschafter in
seine Planungen einzubeziehen.
Auch mit seiner Heimatstadt Düren–aufhalbemWeg zwischen Aachen und Köln –liegt er in einer Art
Dauerzwist. Bei der örtlichen
Spielgemeinschaft begann seine
Karriere als Zwölfjähriger, doch
für Bürgermeister Paul Larue ist
die Ehrenbürgerschaft des berühmten,unbekannten Sohnes der
Stadt kein Diskussionsthema.
Auch nicht, seit Schnellinger vor
der WM 2006 von 18 Bundesligatrainern in „Deutschlands Traumelf“ gewählt wurde – als bester linkerVerteidiger seit1954, alsInkarnation deutscher Fußballtugenden, als professionelles Vorbild.
Reiner Brückner ist Autor der
WM-Porträtsammlung „Deutschlands
Traumelf“ (mit Karl-Walter Reinhardt), Fackelträgerverlag, Köln,
2006.
Immer noch blond: Karl-Heinz
Schnellinger ist inzwischen 67
Jahre alt. Der frühere
Weltklasse-Verteidiger war Franz
Beckenbauers Vorgänger als
Libero der deutschen Nationalelf.
Foto: Barbara Brückner
Wo der Oliver
immer
spielen geht
Helmut Schümannn besucht
die Hotspots in München
Im P 1 ist Deutschland
ganz unten. Selbstverständlich muss
man auf dieser
Deutschlandreise
auch nach München. München ist
schließlich die Hauptstadt des deutschen Fußballs. Und das P 1 ist der
Kindergarten der hauptstädtischen
Fußballer. Hier geht der Oliver spielen. Um ins P 1 zu kommen, muss
man entweder sehr jung sein und
Mädchen, oder prominent, oder betucht, oder irgendwie aussehen. Wir
sind erst einmal ins Schumann’s gegangen, einem anderen Hotspot in
München.
Im Schumann’s sind aber Fußballer nur selten zu treffen. Dafür war
Benjamin von Stuckrad-Barre da,
was auch nicht schön ist. Auf ins P 1,
wie kommt man rein? Wir waren zu
dritt, zwei Männer, eine Frau, alle
nicht mehr jung, keiner prominent,
niemand betucht, weiß Gott nicht.
Einer trug einen Stockschirm unter
dem Arm, die Frau einen Strauß Rosen, der zweite Mann zwei Bücher.
Man kann sagen, die kleine Gruppe
sah irgendwie literarisch aus. Der
Türsteher sah aus, als wisse er nicht,
was literarisch ist. ,Ah, Künstler‘,
dachte er wahrscheinlich, und ,oh,
hatten wir schon lange nicht mehr‘.
Er ließ uns rein.
Im P 1 sitzen viele ältere Männer
mit ihren Enkelinnen rum. Erstaunlich ist aber, dass sich die Opas und
dieEnkelinnen nichts zuerzählen haben. Sie sitzen da nur rum und nippen an ihren Cocktails. Dann legt der
Opa der Kleinen die Hand aufs Knie,
und dann lacht die Kleine. Es ist
schon merkwürdig, was Oliver und
einige andere hauptstädtische Fußballer immer wieder ins P 1 zieht.
Wenn man im P 1 auf die Toilette
muss, benutzt Mann einen Eingang
auf dem „Buben“ steht. Das ist originell. Über dem Urinal ist auf Augenhöhe eine Art Fototapete angebracht. Auf der Tapete sind nackte
Frauenbrüste zu sehen und nackte
Frauenbeine, aber in Schwarz-Weiß,
wegen des künstlerischen Anspruchs. Als die Frau von der Toilettenästhetik erfuhr, sagte sie: „Upps,
da muss ich doch mal schnell bei uns
nachschauen.“ Für Frauen steht
„Mädchen“auf derTür,auch sehroriginell. Sie kam dann enttäuscht zurück. Sonst gibt es im P 1 nichts zu sehen. Es ist sehr voll. Die kleine
Gruppe hat ein Bitter Lemon getrunken, ein kleines Bier, 0,33Liter, undeinen Gin Tonic. Das zusammen kostet 25 Euro. Das ist auch originell.
Das P 1 ist jene Disco, in der die frühere Nummer eins der deutschen
Nationalmannschaft seine Geliebte
kennen gelernt hat, die jetzt seine
Freundin ist. Wie aus München zu
hören ist, gehen beide immer noch
gerne hierher. Es ist wahrscheinlich
gut, dass Deutschland einen neuen
Torwart hat. Die Reise geht weiter,
wir gehen in die Luft.

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