Shakespeare und Musik und die Zauberkraft der Dichtung

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Shakespeare und Musik und die Zauberkraft der Dichtung
Am 19. Oktober ist die erweiterte Version meines Buches „Geschichten mit Gedichten“
erschienen. Eine der neuen Geschichten stelle ich hier vor:
Shakespeare und Musik und die Zauberkraft der Dichtung
The man that hath no music in himself,
Nor is not moved with concord of sweet sounds,
Is fit for treasons, stratagems, and spoils…
The motions of his spirit are dull as night
Let no such man be trusted. Mark the music.
Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken;
Die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht,
Trau keinem solchen! - Horch auf die Musik!
Тот, у кого нет музыки в душе,
Кого не тронут сладкие созвучья,
Способен на грабёж, измену, хитрость;
Темны, как ночь, души его движенья
И чувства все угрюмы…
So preist die Macht der Musik der junge Mann Lorenzo aus The Merchant of Venice (Der
Kaufmann von Venedig) von William Shakespeare. Von den 37 Theaterstücken Shakespeares
enthalten nur sechs (vor allem die Römertragödien) keine Lieder, obwohl auch da die Musik
eine große Rolle spielt. Die zahlreichen Lieder aus den romantischen Komödien Was ihr wollt
und Wie es euch gefällt wurden bis zu 300mal vertont. Die meisten Melodien, auf die sich der
große englische Dramaturg so häufig bezieht, sind überliefert und gehören heute noch zu den
beliebtesten Melodien weltweit – zum Beispiel die Greensleeves.
Als ich im April 2005 auf die Idee kam, dem Publikum meines Musiksalons in Tula einen
Vortrag zum Thema „Shakespeare und Musik“ anzubieten, hatte ich in meiner CD-Sammlung
etwa 40 Kompositionen aus Shakespeare-Zeit, sowohl Lieder wie auch Instrumentalstücke. Es
gab auch Beschreibungen, in welchem Stück und in welchem Zusammenhang die jeweilige
Melodie von Shakespeare erwähnt wurde. Also, genug Material, um einen soliden und
spannenden Vortrag daraus zu machen.
Aber etwas hat mich dennoch dabei gestört. Bald habe ich begriffen, was das war: mich störte
die Oberflächlichkeit dieser Herangehensweise an den großen Shakespeare. In den oben
zitierten Worten von Lorenzo handelt es sich zum Beispiel um die Macht der Musik, um die
moralische Bedeutung der Musik – wahrscheinlich, dachte ich, hat Shakespeare auch andere
Äußerungen zu diesem und anderen musikbezogenen Themen hinterlassen? Um das
herauszufinden, habe ich mir vorgenommen, Shakespeares Gesamtwerk mindestens auf
Russisch systematisch zu lesen. Einige Monate habe ich mit dieser Lektüre verbracht, und das
war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens!
Viel Interessantes habe ich bei Shakespeare entdeckt – zum Beispiel, welche
Musikinstrumente er in welchem Stück erwähnt oder sogar an der Handlung teilnehmen lässt.
Oder zahlreiche Beispiele für die therapeutische Anwendung der Musik. Ganz verblüffend
finde ich die Szenen, die das homöopathische Prinzip „Ähnliches heilt Ähnliches“ illustrieren.
Am Anfang der Komödie Was Ihr wollt sagt Herzog Orsina:
If music be the food of love, play on;
Give me excess of it, that, surfeiting,
The appetite may sicken, and so die.
That strain again! it had a dying fall:
O, it came o'er my ear like the sweet sound
That breathes upon a bank of violets,
Stealing and giving odour!
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,
Spielt weiter! Mehr und mehr! dass übersättigt
Mein Appetit erkranke und dran sterbe.
Die Weise nochmals! – hört, wie sie dahinstirbt:
Ah, die ergriff mein Ohr wie süßer Südwind,
Der haucht auf einen Abhang voller Veilchen
Und Düfte stiehlt und gibt.
О музыка, ты пища для любви!
Играйте же, любовь мою насытьте,
И пусть желанье, утолясь, умрёт!
Вновь повторите тот напев щемящий, Он слух ласкал мне, точно трепет ветра,
Скользнувший над фиалками тайком,
Чтоб к нам вернуться, ароматом вея.
Der an Liebeskummer leidende Orsino verschreibt sich zur Überwindung seiner Depression
wider Erwartung nicht ein lustiges, sondern ein schwermütiges Lied, welches seinem
melancholischen Seelenzustand am besten entspricht. Ähnliches heilt Ähnliches.
Genauso wie in einer anderen Szene, dieses Mal aus Der Sturm. Hier benützt der Zauberer
Prospero die Musik, um den hohen Gast zu kurieren. Das „kochende Gehirn“ des Königs will
Prospero nicht mit Entspannungsmusik, sondern mit lauten, feierlichen Klängen heilen:
A solemn air, and the best comforter
To an unsettled fancy, cure thy brains,
Now useless, boiled within thy skull.
Ein feierliches Lied kann bestens heilen
Den vom Irrsinn ergriffenen Verstand:
Es wird dein kochendes Gehirn abkühlen.
Торжественная музыка врачует
Рассудок, отуманенный безумьем,
Она кипящий мозг твой исцелит.
In dieser Zeit des intensiven Vertiefens in die faszinierende Shakespeare-Welt habe ich sehr
wenig mit der Außenwelt um mich herum kontaktiert und nur selten meine Wohnung
verlassen. Eines Tages, als ich dennoch nach draußen gehen musste, um den Müll zu
entsorgen, ist mir eine äußerst unangenehme Geschichte passiert. Kaum habe ich die
Treppenhaustür von innen aufgemacht, da rannte mir ein wild aussehender junger Mann
entgegen. Auf meine Frage, was er in unserem Treppenhaus sucht, hat er geantwortet, dass er
dringend zu meinem Nachbarn muss. Als ich ein paar Minuten später zurück gekommen bin,
habe ich ein schockierendes Bild gesehen: der junge Mann, allem Anschein nach Alkoholiker,
hat auf der zum Keller führenden Treppe gestanden und seine kleine Notdurft verrichtet.
Die Stimmung war komplett verdorben, von der Shakespeare-Lektüre konnte keine Rede
mehr sein, und alle meine Versuche, meinen Ärger zu verbeißen, haben nichts gebracht –
selbst die feierliche Musik hat nur wenig geholfen. Und da habe ich mich an eine witzige
psychologische Methode erinnert, über die ich aus einem Büchlein erfahren habe. Die
Methode heißt „Simoron“: solch ein Wort gibt es im Russischen nicht – es wurde erfunden,
um so die Abkehr von Stereotypen zu betonen, die den Sinn von Simoron-Techniken
ausmacht. Mir kam gerade der Abschnitt über die „Technik der Danksagung“ in Erinnerung,
die zur Abwehr einer Gefahr sowie für die Wiedergewinnung der Selbstbeherrschung
empfohlen wird. Die Methode sieht so aus. Sie sehen auf Ihrem Wege ein Hindernis, z.B.,
einen Menschen, der eine Gefahr ausstrahlt. Sie vermuten, dass dieser Typ Ihnen Geld, Ruhe
oder Gesundheit wegnehmen will. Das bedeutet, dass er das alles selber dringend braucht.
Und nun gehen Sie so vor. Im inneren Monolog danken Sie diesem Kerl für die Warnung vor
der Gefahr, die Sie übertreiben und ad absurdum führen. Im zweiten Schritt schenken Sie dem
Mann all das, was er Ihnen wegnehmen könnte, und zum Schluss erfinden Sie in Ihrer
Phantasie eine skurrile Verpackung für Ihr Geschenk. Das alles soll helfen, erst mal eine
innere Ruhe wieder zu gewinnen, und dann, wie die Autoren des Buches versprechen,
verschwindet auch die Gefahr selbst.
Nun wollte ich versuchen, durch diese Methode meinen Ärger zu bekämpfen. Da der aktuelle
Sprachstil für mich damals der von Shakespeare war, lag die Idee nahe, den Monolog der
Dankbarkeit im Shakespeare-Stil zu verfassen. So entstand eine Kombination aus Simoron
und Shakespeare – ein Dankgedicht an den mein Treppenhaus bewässerten Trinker:
Благодарю тебя, Алкаш почтенный,
Что наш подъезд вонючей лужей залил,
Грозя жильцам ненастьем и потопом.
Нуждаешься в комфорте ты душевном,
В покое и блаженстве? Получи
Всё это в дар с магическим горшочком –
В любой он час к твоим услугам будет,
Как только посетит тебя нужда.
Горшочек тот волшебный: с родниковой
Водичкой, с душем, ванной и биде,
С солярием, халатом, полотенцем
И свежих трав душистым ароматом.
Ты береги горшочек сей чудесный!
Тебя не только омывать он будет,
Но также и кормить, поить, лелеять
И даже кофе подавать в постель,
От холода укроет и ненастья!
Храни горшочек – с ним узнаешь счастье!
Ich danke dir, o ehrwürdiger Trinker,
Dass du mit großer Lache überflutest
Mein Treppenhaus, uns mit der Sintflut drohend.
Nun sehnst du dich, mein Freund, nach Seelenruhe,
Nach Wonne und Komfort? Du kriegst all das
Geschenkt von mir mit einem Zaubertöpfchen –
Zu jeder Stunde kommt er dir zu Hilfe,
Sobald die Notdurft plötzlich dich besucht.
Das Töpfchen ist fantastisch! Mit glasklarem
Quellwasser, mit der Dusche, mit Bidet,
Solarium, Handtuch und Bademantel
Und frischer Kräuter duftenden Aromen.
Bewahre gut dies wunderbare Töpfchen!
Es wird dich nicht nur putzen, pflegen, waschen,
Es wird dich auch bewirten und verwöhnen
Und wird servieren Kaffee dir ins Bett,
Vor Hitze schützen, vor dem Frost bewahren!
Mit diesem Töpfchen wirst Du Glück erfahren!
Als ich diesen Vers aufgeschrieben habe, habe ich sofort eine seelische Erleichterung gespürt.
Der Ärger wurde vom Humor ersetzt, und ich habe mich sowohl bei Simoron als auch bei
Shakespeare für die Verbesserung meiner Stimmung bedankt, ohne zu wissen, dass diese
psychologische Zauberei noch ganz praktische Folgen haben wird.
Zwei Tage nach dieser Geschichte bin ich nach Moskau verreist. Als ich nach zwei Wochen
zurückgekommen bin, habe ich mein Treppenhaus nicht erkannt: sauber, frisch renoviert,
neue freundliche Beleuchtung. Der deutsche Leser, der wenig Ahnung von Russland hat und
nie ein russisches Treppenhaus gesehen hat, denkt jetzt wahrscheinlich an die
Vermietungsgesellschaft, die unser renovierungsbedürftiges Treppenhaus in Ordnung
gebracht hat, was in Deutschland eine ganz normale Sache wäre. In Russland ist es aber nicht
der Fall: die für die Wohnblocks zuständigen Behörden erfüllen ihre Pflichten nur in
Ausnahmefällen, und so sehen die meisten Treppenhäuser in Russland so aus, als hätte eine
Bombe eingeschlagen. Jahrelang haben wir die Behörde, die in Russland „Wohnungs- und
Kommunalwirtschaft“ heißt, mit schriftlichen und mündlichen Berichten über den maroden
Zustand unseres Treppenhauses informiert – alles war aussichtslos. Was ist jetzt plötzlich
passiert?
Nein, die Wohnungs- und Kommunalwirtschaft hatte mit der Renovierung nichts zu tun. Wie
die Renovierung zustande gekommen ist, hat mir meine Mutter erzählt. Ein Abgeordneter,
Leiter einer großen Baufirma, hat kurz nach meiner Abreise nach Moskau unser Haus besucht
und nach Beschwerden gefragt. Daraufhin hat ihm meine Mutter unser Treppenhaus gezeigt
und die Geschichte mit dem Simoron-Gedicht erzählt. Als im Gespräch mein Name
aufgetaucht ist, hat der Volksvertreter gesagt: „Das geht doch gar nicht, dass Gennady
Kuznetsov, der für 2 Millionen Menschen Nachrichten spricht und Vorträge über Shakespeare
und Alte Musik hält, in diesem schrecklichen Treppenhaus wohnt. Und die Behörden tun
nichts? Dann übernimmt meine Firma die Renovierung!“
Simoron ist eine gute Methode. Und mit Shakespeare gekoppelt wirkt sie wahre Wunder!