PolisX Auszüge PDF - Klaas Jarchow Media

Transcrição

PolisX Auszüge PDF - Klaas Jarchow Media
polisx
in guter gesellschaft
# 1 MAI 2010
www.polis-x.de
INTERVIEW
ARMIN NASSEHI
Der Soziologe erklärt, warum die
Politik längst überfordert ist
thema
der
ache
hw
c
s
staat
reportage
ErSTmal
LEHREN
Teach First schickt Absolventen verschiedener
Fächer von der Uni in die Schulen. Dort helfen sie
zwei Jahre aus, bevor die eigene Karriere startet
BILDSTRECKE
Einmal um die Welt
Auf vier Kontinenten haben
renommierte Fotografen Menschen
in ihren Ehrenämtern getroffen
polisx
in guter gesellschaft
# 1 MAI 2010
www.polis-x.de
INTERVIEW
ARMIN NASSEHI
thema
Der Soziologe erklärt, warum die
Politik längst überfordert ist
der
ache
hw
c
s
staat
reportage
ErSTmal
LEHREN
Teach First schickt Absolventen verschiedener
Fächer von der Uni in die Schulen. Dort helfen sie
zwei Jahre aus, bevor die eigene Karriere startet
BILDSTRECKE
Einmal um die Welt
Auf vier Kontinenten haben
renommierte Fotografen Menschen
in ihren Ehrenämtern getroffen
zitat
»
ein Staat, der
seinen Bürgern vertraut
und sie innovative
Lösungen entwickeln
lässt, käme mir sehr
stark vor.
«
ARMIN NASSEHI Soziologe und Systemtheoretiker
Gespräch zum Thema „Der schwache Staat“ auf Seite 54
polisx #1 MAI 2010
EDITORIAL
»Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind längst nicht mehr
voneinander zu trennen«
ROBERT JACOBI
ist Chefredakteur von PolisX.
Als mehrfach ausgezeichneter
Journalist und Buchautor
beschäftigt sich der HarvardAbsolvent seit vielen Jahren mit
Themen der Zivilgesellschaft.
Dieses Magazin ist der Versuch, eine Lücke zu schließen. Unzählige Zeitungen, Zeitschriften und Internetseiten beschäftigen sich
mit politischen Themen, und noch mehr mit der Wirtschafts- und
Finanzwelt. Der große Bereich dazwischen – manche nennen ihn
Zivilgesellschaft oder Bürgergesellschaft, andere sprechen vom gemeinnützigen oder „dritten“ Sektor – kommt darin kaum vor. Wenn
doch, dann wegen missbrauchtem Spendengeld oder finanziellen
Schiebereien, die vor allem die Steuerlast reduzieren sollen.
So entsteht ein schiefes Bild eines Gebiets, das nicht nur wächst,
sondern auch immer wichtiger wird für ein funktionierendes Gemeinwesen. Der Staat kann viele Anforderungen nicht mehr erfüllen, die eine alternde, dem Druck der Globalisierung ausgesetzte
Gesellschaft an ihn stellt. Die Privatwirtschaft taumelt spätestens seit
der Finanzkrise durch eine Sinnkrise, die oftmals durch viel beworbenes Engagement überdeckt wird, das mehr der Imagepflege als
einem gesellschaftlichen Zweck dient. Was liegt dazwischen?
Dieses Magazin will diese Frage mit positiven Beispielen beantworten, ohne den kritischen Blick auf Misstände zu verlieren. Es soll
die Bedeutung gesellschaftlichen Engagements für den Zusammenhalt nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch für den weltweiten
Ausgleich sichtbar machen. Dabei wählt es keinen isolierten, sondern einen ganzheitlichen Ansatz, denn längst sind Staat, Wirtschaft
und Zivilgesellschaft nicht mehr klar voneinander zu trennen.
Wir setzen bewusst einen hohen Anspruch: Unsere Autoren sind
erfahrene Journalisten, die sich mit ihren Themen einen Namen
gemacht haben. Unsere Fotografen sprechen eine eigene, moderne
Bildsprache. Das Ziel ist, unsere Leser zu unterhalten, zu informieren und anzuregen. Bitte lassen Sie uns wissen, ob uns das gelingt!
ANNA-CLEA SKOLUDA
hat die Optik von PolisX entworfen.
Sie arbeitet für Designer, Agenturen
und gestaltet das Hamburger Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt.
JAKOB SCHRENK
ist Autor des Buches „Die Kunst
der Selbstausbeutung“. Der Soziologe hat Armin Nassehi an dessen
Lehrstuhl in München besucht.
ALISSA JUNG
ist als Schauspielerin aus „Tatort“
und vielen Serien bekannt. Sie baut
Schulen in Haiti und schildert uns
ihre Idee, die Welt zu retten.
mehr infos zum MAGAZIN UNTER www.polis-x.de
polisx #1 MAI 2010
BLINDTHEMA
inhalt
INHALT
polisx #1
AUFTAKT
5
10
UMSCHAU
72
EDITORIAL
Jeff Rubin verkleinert die Welt, Gunter Dueck
mahnt zum dringenden Aufbruch und Dambisa
Moyo sieht den Westen längst schon untergehen
PANORAMA
Die Zukunft des Pflegens in Deutschland
14
76
ÜBERsicht I
Das weltweite Netz der Goodwill-Promis –
Oscar für den Tierschutz – Projekt Benevides
16
AbREUS ERBEN
Nach dem Vorbild des venezoleanischen Komponisten fördern prominente Musiker weltweit
Jugendorchester, die Kindernn aus den Slums
eine unerwartete Karriere verschaffen
ÜBERsicht II
Mutmacher Jochen Zeitz – Der Boom des guten
Firmengewissens – Transparent oder nicht?
REZENSIONEN
84
KOLUMNE
Hier spricht der Herausgeber
18
TECHNIK
Smarte Hilfe: Wie Handy-Applikationen dabei
helfen, die Welt besser zu machen
20
86
KURZSTUDIE
96
KARRIERE
BILDSTRECKE
Das Ehrenamt ist keine westliche Erfindung.
Aufd er ganzen Welt bauen Kulturen auf persönlichem Engagement. Eine Fotoreportage
Nach amerikanischem Vorbild boomen auch in
Deutschland die Studiengänge für Public Management. Wir haben sie getestet.
THEMA
104
Der schwache Staat – Wenn
Bürger die Lücken füllen
70
Fellows der Stiftung Neue Verantwortung haben
einen neuen Gesellschaftsvertrag entworfen
WETTBEWERB
IN EIGENER SACHE
107 IMPRESSUM
109 AUsBLICK
KURZVORSTELLUNG
110
Die Entstehungsgeschichte dieses Magazins
und die Beweggründe seine Macher
MEINE IDEE
Wie ich mit einer Million Euro helfen würde, die
Welt zu retten
ROBERT JACOBI ist Chefredakteur von PolisX. Als mehrfach ausge
54
THEMA
Der schwache Staat –
Wenn Bürger die Lücken fülleN
96
Vom Leben lernen: Eine Reportage über Teach First Deutschland (Seite 36)
Gastbeitrag von Udo di Fabio: Der Wert der Freiheit (Seite 46)
Was tut der Staat denn überhaupt noch? Und warum? Eine Analyse (Seite 50)
Warum die Politik überfordert ist: Ein Gespräch mit Armin Nassehi (Seite 54)
Devolution: Wenn der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt (Seite 60)
18
Der Wert von bürgerlichem Engagement. Eine Hochrechnung (Seite 64)
polisx #1 MAI
mai 2010
polisx #1 MAI 2010
AUFTAKT
AUFTAKT
betterplace.org
HILFE FÜR
DIE MÜLLSAMMLER
VON BENEVIDES
FREIZEITHELDEN
Hollywood-Stars kämpfen mehr denn je gegen Klimawandel
und Hunger. Dafür ernten sie nicht nur Anerkennung
Zwei Tage lang half der Hip-Hopper Wyclef
Jean nach dem Erdbeben in Haiti beim Verteilen von Lebensmitteln, grub mit Spaten und
Schaufel nach Verschütteten. Am dritten Tag
fiel dem gebuürtigen Haitianer auf, dass er keine besonders große Hilfe war. Also machte der
Weltstar das, was er am besten konnte: Er stellte sich vor die Fernsehkameras und warb um
Spenden. Innerhalb weniger Tage kamen über
20 Millionen Euro zusammen.
George Clooney hat dafür gesorgt, dass über
Darfur nicht nur im Kleingedruckten unserer
Zeitungen zu lesen ist. Bono und Herbert Grönemeyer schaffen ein Bewusstsein dafür, wie
absurd es ist, wenn westliche Staaten sich in
Afrika als Wohltäter inszenieren und gleichzeitig über die Zinsen der hochverschuldeten Staa-
ten ein Vielfaches der angeblich so großzügig
gewährten Entwicklungshilfe abkassieren. Aber
nicht alle sind von den schönen und reichen
Freizeithelden begeistert.
„Es scheint Afrikas Los zu sein, als Bühne für
hohle Phrasen und theatralische Gesten herhalten zu müssen“, kritisiert der US-Schriftsteller
Paul Theroux. Er weist daraufhin, dass das Engagement von Bono, Pitt und Jolie negative Effekte habe, etwa wenn fremde Lehrer nach Malawi geschickt werden, statt mit einheimischen
Kräften das Bildungssystem aufzubauen. Die
Folge: Viele fähige malawische Akademiker finden keine Jobs und wandern aus. „Wir müssen
lernen, kritisch hinzuschauen“, sagt Theroux.
„Wenn Bono eine schlechte Platte aufnimmt,
applaudiert auch nicht die ganze Welt.“
JS
Ein deutscher Arzt will die medizinische Versorgung verbessern
KAUM MISSTRAUEN
Laut einer repräsentativen
Emnid--Umfrage halten 78
Prozent der Deutschen das
soziale Engagement von Stars
wie Clooney, Grönemeyer und
Jolie für nachahmenswert. Nur
16 Prozent der Befragten glauben, dass es den Celebrities vor
allem darum geht, das eigene
Image zu polieren.
Oscar für Delfine
Participant Media feiert den Preis und bringt
den nächsten Umweltfilm ins Kinos
Für die einen Umweltpropaganda, für die anderen ein längst überfälliges Stück Aufklärung:
The Cove, eine Reportage über die geheime
Jagd auf Delfine und Wale in einer japanischen
Bucht, hat den Oscar als bester Dokumentarfilm gewonnen. Hinter der Produktion steckt
Participant Media, die Firma des Internetmiiliiardärs Jeffrey Skoll (links). Jeden ihrer Filme
zu sozialen und ökologischen Themen begleitet
sie mit Aktionen und Kampagnen. Zu den bisherigen Erfolgen zählen Al Gore‘s Klimadoku
An Inconvenient Truth, Der Drachenläufer und Syriana. Nächster Filmstart: The Crazies, ein Spielfilm
über Trinkwasservergiftung in Iowa (ab 27.5.).
sozial society
herbert
grönemeyer
popsänger,
kämpft für
entschuldigung
gerhart baum
fdp, botschafter der uno
für den sudan
madonna
popsängerin,
hat ein 3. weltkind adoptiert
ber
ät
sp
en
de
t
ll
ko
t
t
det
t
er
spen
tm
unterstü
tz
ri
o
ier
r
ur
nk
ko
ber
ä
AUDREY HEPBURN
erste prominente
botschafterin
der uno
it
ab
bill gates
Milliardär,
kämpft gegen
malaria
STARAUFGEBOT
bewundert
zt
tü
t
un
george clooney
schauspieler,
kämpft für dafur
et
BRAD PITT
schauspieler,
engagiert im
klimaschutz
spend
MAX
hausschwein,
clooneys
öko-muse
Große Namen beim Stiftungstag
al gore
aktivist,
kämpft gegen
klimawandel
spen
det
s
er
angelina jolie
schauspieler,
hat zwei 3. weltkinder adoptiert
Treffen unter dem hämmernden Mann: Bayern-Chef Uli Hoeneß, BundespräsidentenGattin Eva Köhler und die Schauspielerin Jutta
Speidel zählen zu den Stargästen des Deutschen
Stiftungstags 2010 im Kongresszentrum der
Frankfurter Messe. Auf Einladung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen diskutiert die
Branche vom 5. bis zum 7. Mai nicht nur über
das Schwerpunktthema „Stiftungen in der Stadt
– Impulsgeber für das Gemeinwesen vor Ort“.
lie
bt
tützt
hr
fä
t
WYCLAEF JEAN
popsänger,
sammelt geld
für haiti
BONO
popsänger,
kämpft gegen
den hunger
credit: BLINDE AGENTUR
unters
TOYOTA PRIUS
statusmobil
der ökologischen elite
JEFFREY SKOLL
Der 45jährige Kanadier war
der erste Präsidentr von Ebay.
Er hat eine eigene Stiftung und
ist zudem Gründer und Inhaber von Patricipant Media
LISA SIMPSON
vorbild aller
gut- und best
menschen
polisx #1 mai 2010
polisx #1 MAI 2010
das proBLEM
Rund um die Müllkippe von Benevides
(Brasilien) leben rund 3500 Menschen in
katstrophalen hygienischen Verhältnissen.
Konzerne zahlen ihnen Armutslöhne dafür, dass sie im Müll nach recyclingfähigem
Material wühlen. Die Folgen: Parasitenbefall, Vergiftungen, Hautkrankheiten
das PROJEKT
Zusammen mit der Kinderhilfe Brasilien
(KIBRA) will der deutsche Arzt Norbert
Lehmann eine Krankenstation einrichten
Der BEDARF
Zunächst geht es um Grundlagen wie
Stethoskope, Krankenliegen, Mundspiegel
und Sterilisationgeräte – schon kleine Beträge würden bei der Anschaffung helfen
IN jeder Ausgabe stellt POLISX ein projekt vor,
das Auf BETTERplace.org um spenden wirbt.
STICHWORT: HILFE FÜR KINDER AUF DER MÜLLKippe
TECHNIK
TECHNIK
Smarte Hilfe
Jedes dritte in diesem Jahr verkaufte Handy wird ein Smartphone
sein. Mini-Programme oder „Apps“ haben den Geräten zum
Durchbruch verholfen – und unterstützen uns dabei, Gutes zu tun
TOBIAS MOORSTEDT (Text) EVA HILLREINER (Illustration)
DSCHUNGEL
DER SYSTEME
Nicht jedes Programm läuft
auf jeder Plattform. Pionier
und Marktführer ist Apple,
das im iTunes-Store inzwischen mehr als 150.000
Applikationen fürs iPhone
zum Download anbietet.
Aufgeholt hat zuletzt Google,
das Smartphones mit dem
Betriebssystem Android
bestückt und einen eigenen
App-Store betreibt. Das
Ovi-Store von Nokia und die
App-World von BlackberryHersteller Research in Motion
liegen weit dahinter. Mittelfristig werden die Systeme vermutlich zu einem gemeinsamen
Standard konvergieren
GUTE APPS
Wer selbst eine kleine App
entwickeln will, benötigt ca.
10 000 Euro. Kostenlose
Apps haben mehr Erfolgschancen. Dem Nutzer sollte eine
Interaktion ermöglicht werden.
10
polisx #1 MAI 2010
polisx #1 MAI 2010
1. BÄUME PFLANZEN
Die Tropen brauchen mehr Bäume, aber um
die Welt zu fliegen, um einen zu pflanzen, lohnt
sich nicht. Die App A Real Tree ermöglicht es
deshalb den Nutzern per Knopfdruck, einen
Keimling in Honduras, Sambia oder auf den
Philippinen zu setzen. Das Programm kostet 99
Cent, dafür pflanzt man einmal auf einer Weltkarte. Auch auf dem Handydisplay blüht dann
ein Baum, den man mit einem Vogel virtuell erkunden kann. Das Klima rettet man so sicher
nicht, aber das Umweltprogramm der Vereinten Nationen und seine Partner liefern gute Infos zum Thema. Verfügbar nur fürs iPhone.
2. HAITI HELFEN
Die Erdbebenopfer in Haiti sind aus den
Schlagzeilen verschwunden. In den App-Stores
gehört die Anwendung Support Haiti aber
weiterhin zu den nach Downloads populärsten
Programmen im Bereich „Nachrichten & Politik“. Die App liefert zum einen aktuelle News
und Updates aus dem Katastrophengebiet, zum
anderen ist sie so etwas wie eine Kontaktbörse
für Geld und Engagement. Support Haiti wird
von einem überparteilichen Forum betrieben,
das viele Organisationen unterstützt, die in der
Region aktiv sind. Entwickelt wurde Support
Haiti von Programmieren, die ihre Kenntnisse
angesichts der schlimmen Bilder und Nachrichten mal nicht für Spiele oder Shopping-Portale
nutzen wollten, sondern für einen guten Zweck.
Verfügbar für iPhone, Android
3. KARMA SAMMELN
Das amerikanische Startup Shopkick widmet
sich nach eigenen Angaben der Verbindung von
mobiler Software und dem Einkaufserlebnis in
der physischen Welt. Es bietet noch kein Produkt
an, erregt aber mit der App CauseWorld bereits
Aufsehen. Nutzer, die das Mini-Programm auf
dem Mobiltelefon installiert haben und die Filiale einer teilnehmenden Handelskette betreten,
werden automatisch in deren lokalem Netzwerk
registriert. Dadurch sammeln sie so genannte
Karma-Punkte, die Konzern-Partner wie Kraft
Foods oder CitiBank dann in reale Dollar umtauschen. Der Nutzer entscheidet, ob er mit den
Karma-Punkten lieber ein Brunnen-Projekt in
Afrika oder den Schutz des brasilianischen Regenwaldes unterstützen möchte. Für Datenschützer ist die App ein Alptraum, aber gerade
weil sie das Spenden so einfach macht, hat sie
offenbar Erfolg. Das Gute daran: CauseWorld
verlangt keine Kaufhandlung, sondern nur einen Moment Zeit für die Registrierung. Verfügbar für iPhone, Android, Nokia/Ovi
4. PINGUINE RETTEN
Greenpeace wurde bekannt durch spektakuläre Aktionen, meterhohe Buchstaben auf den
Außenwänden eines AKWs oder die Hochseeregatten mit japanischen Walfängern. Die
iPhone-App der Organisation kommt dagegen
spielerisch daher. Auf dem Bildschirm erscheint
Pinguin Alex, der auf einer Eisscholle in der
Antarktis steht. Wenn man den Touchscreen
berührt, lacht er oder schüttelt sich. Ist das nur
infantil, oder sensibilisiert der Comic-Vogel
wirklich für Themen wie Klimawandel und
Artensterben? Nach dem Spiel wird der Nutzer
auf eine Seite weiter geleitet, auf der Alex sagt:
„Meine Freunde sterben auf Grund des Klimawandels. Kannst Du uns helfen?“. Greenpeace
weiß, dass ein Online-Hype, der sich in sozialen
Netzwerken verbreitet, heutzutage mehr Menschen erreicht als das größte Protest-Plakat an
einem Schornstein. Verfügbar nur fürs iPhone.
5. PROFIL ZEIGEN
Nicht jede NGO oder Hilfsorganisation kann
sich die Entwicklung einer eigenen App leisten.
Spenden-Plattformen wie Giveabit oder UGive
lösen dieses Problem, in dem sie die Charities
mit den Smartphone-Nutzern verbinden und
deren Spenden einsammeln. Giveabit und UGive funktionieren ganz ähnlich wie KonsumApps, mit denen man Restaurants oder Shops
finden kann, die zu einem passen. Man kann
selbst auswählen, ob man sich in der Entwicklungshilfe engagieren möchte oder für Themen
wie Krebsvorsorge, Missbrauch, Klimawandel.
Giveabit stellt den Nutzern jeden Tag das Profil
einee neuen Non-Profit-Einrichtung vor, und
verschafft so auch kleineren Organisationen
den zugang zu einer ziemlich großen Öffentlichkeit. Verfügbar nur fürs iPhone.
11
Thema
»Der schwache Staat«
Wenn Bürger die Lücken füllen
REPORTAGE
Vom Leben lernen: Ein Besuch bei einem Fellow
von Teach First Deutschland
Seite 36
essay
Der Wert der Freiheit
Ein Gastbeitrag von Udo di Fabio
Seite 46
ANALYSE
Was tut der Staat überhaupt noch? Und warum?
Eine Bestandsaufnahme
Seite 50
Gespräch
Wenn die Politik überfordert ist.
Eine Unterhaltung mit Armin Nassehi
Seite 54
BERECHNUNG
Der Gesamtwert von bürgerlichem Engagement.
Ein statistischer Versuch.
Seite 64
polisx #1 MAI 2010
13
reportage
BLINDTHEMA
Vom Leben lernen
Teach First schickt Uni-Absolventen zwei Jahre lang als
Lehrer auf Zeit in Problemschulen. Für die Schüler ist das lehrreich,
für die Schulen hilfreich und für die Fellows ein echtes Abenteuer
ANJA DILK (Text) peter langer (Fotos)
MENGENLEHRER
An der Kepler-Schule in Berlin Neukölln arbeitet Teach-First-Fellow Burkhard Schaffitzel mit einem Schüler an dessen Verständnis für Begriffe und Dimensionen.
14
polisx #1 mai 2010
reportage
MOTIVATOR
Burkhard Schaffitzel (links) ist
kein ausgebildeter Pädagoge,
sondern hat an der Universität
Witten-Herdecke einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaft
abgelegt. Für 1700 Euro im
Monat soll er zwei Jahre lang
dazu beitragen, dass mehr
Schüler einen qualifizierenden
Abschluss schaffen und Aussichten auf einen geregelten
Job bekommen.
Leise schweben die Rhythmen durch den
Raum, schwellen an zu einem dichten Klangteppich aus Takt und Tönen, einer Symphonie
aus trommelnden Fingern. Jeder der zehn Schüler hat den Blick auf sein Notenblatt gerichtet,
mitgerissen von der Musik und der Lust am
gemeinsamen Spiel. „Super, das war toll“, ruft
Burkard Schaffitzel, „ihr seid schon ein richtiges
Percussion-Ensemble.“
Mittwoch morgen, Kepler-Schule in Berlin Neukölln. Die Sonne steigt über den efeubewachsenen Schulbau an der Zwillingstraße,
und die Rhythmen der Siebtklässler im zweiten
Stock dringen bis auf den Flur. Seit Anfang des
Schuljahres hat Schaffitzel die Musikstunde für
die Hälfte der siebten Klasse übernommen.
In einer kleineren Gruppe kann er besser auf
die Schüler eingehen und ausprobieren, was in
großer Runde kaum möglich wäre – bis hin zu
einem Rap, den die Kids in der Pausenhalle
aufführen. „Es ist schön zu sehen, was die Kinder hier auf die Beine stellen, wenn man sie
motiviert“, sagt er. In seiner Basketball- oder
Fußball-AG, in der Englischförderung oder bei
der Hausaufgabenhilfe ist es nicht anders.
Als ein Studienfreund ihm von dem Konzept der Initiative Teach First Deutschland erzählte, Schüler in Brennpunktschulen zwei Jahre
lang unterstützen, damit sie den Schulabschluss
packen, war Schaffitzel sofort interessiert. Gera-
16
de hatte er an der Universität Witten-Herdecke
seinen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften
gemacht. Eine klassische Karriere zu starten,
konnte er sich nicht vorstellen. Dafür hatte er
nicht an einer Uni studiert, die alles andere als
isoliert denkt, sondern Soziologie und Psychologie einbindet in die Erkundung der Ökonomie.
Das machte ihn neugierig auf das Leben, und er
wollte etwas weitergeben von seinen Privilegien,
die für ihn als Abkömmling einer Akademikerfamilie so selbstverständlich gewesen waren.
„Ich sehe das als Teil meiner gesellschaftlichen
Verantwortung“, sagt Schaffitzel.
Vorurteile hatte der 24-jährige dennoch
im Gepäck, als er zum ersten Mal in den berüchtigten Berliner Rütli-Kiez kam: „Ein Gefühl, wie auf ein Schlachtfeld zu ziehen“. Das
Angstszenario, das die Medien in ihrer Berichterstattung über den Berliner Brennpunkt in den
vergangenen Jahren entworfen hatten, wollte
sich einfach nicht aus dem Kopf vertreiben lassen. „Dann habe ich gemerkt: Die Kinder hier
haben enorme Startschwierigkeiten, aber sie
sind dennoch neugierig, offen, talentiert und
bemüht, Dinge richtig zu machen. Die Lehrer
hier an der Schule unterstützen die Schüler viel
engagierter, als ich es aus meiner Schulzeit kenne.“ Natürlich gibt es Vorfälle wie die Rangelei
zwischen zwei Schülern seiner Basketballtruppe
in der vergangenen Woche. Da ist der fast zwei
GETROMMEL
Musik macht nicht nur das
Leben, sondern auch das
Lernen leichter: Schaffitzel
gibt den Berliner Schülern
Schlagzeugunterricht. und
studiert mit ihnen schon auch
mal einen Rap ein.
polisx #1 mai 2010
reportage
reportage
»Es ist schön, zu sehen, was
die Kinder auf die Beine stellen,
wenn man sie motiviert«
Meter große Amateur-Lehrer beherzt dazwischen gegangen. „Doch das sind Ausnahmen“,
sagt Schaffitzel. „Meist macht es großen Spaß,
mit den Schülern zusammenzuarbeiten.“
Schulleiter Wolfgang Lüdtke lacht: „Das
merkt man.“ Ohne ihren Fellow könnten er und
seine Kollgen, wie er sagt, sich den Schulalltag
kaum noch vorstellen: „Er ist eine absolute Bereicherung für das Schulleben und ein Motor für
uns alle“. Kein Ersatz für einen ausgebildeten
Lehrer, aber eine erfrischende Ergänzung. Der
Schulleiter hat Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Externen. Gezielt holt er seit Jahren
Theaterleute, Handwerker oder Musiker in seine Schule am harten Ende der Realität.
Berlin Friedrichstraße, Montag Nachmittag.
Kaija Landsberg, die Ideengeberin und Gründerin von Teach First Deutschland, strahlt, als wir
von unserem Besuch erzählen. Genau so hat sie
sich das vorgestellt. Ihr Konzept: Erstklassige
Hochschulabsolventen sollen als Lehrer auf
Zeit in Schulen an den sozialen Rändern der
18
Republik arbeiten. Erfolgsgewöhnte Menschen,
die handeln, statt zu zaudern und Potenziale
entdecken, statt Grenzen aufzuziegen. Vorbilder, die fachliche Exellenz mit Sozialkompetenz und leidenschaftlichem Engagement
verbinden. „Solche Menschen gibt es an diesen
Schulen, aber viel zu wenige“, sagt Landsberg.
„Das wollen wir mit Teach First Deutschland
ändern.“
Die Sonnenstrahlen streichen über den
grauen Nadelfilz im dritten Stock der Teach FirstZentrale, die Jalousien sind zur Hälfte heruntergelassen. Durch die gekippten Fenster zur Straßenseite strömt das Rauschen der Großstadt.
Telefone klingeln, die Finger der Mitarbeiter
fliegen über die Computertasten. Die Arbeit
des Organisationsteams läuft auf Hochtouren.
Die Zeit drängt, im neuen Schuljahr wird der
zweite Jahrgang in die Schulen gehen, Bewerbungen stapeln sich auf den Schreibtischen.
Ein Kurvendiagramm an der Wand gibt einen
Überblick: Online-Bewerbung bestanden, Tele-
TROTZDEM
GUT DRAUF
An den Schulen, mit denen
Teach First zusammenarbeitet,
kommt die Mehrheit der
Schüler aus Verhältnissen, in
denen Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Kriminalität
zum Alltag gehören
polisx #1 mai 2010
foninterview geschafft, Auswahltag bewältigt.
Gegenüber hängen die Organigramme der
deutschen Bildungsministerien. Geschäftsführer Arist von Hehn versucht, Behörden in der
ganzen Republik von der Teach First-Idee zu
überzeugen.
„Ich bin mal gerade in einem Termin“, ruft
Kaija Landsberg. Drei Jahre ist es her, dass sie
bei einer Onlinerecherche auf ein ähnliches
Konzept stieß, das in den USA und Großbritannien längst etabliert ist: Zwei Jahre lang
unterstützen die Fellows von Teach For America
Kinder und Jugendliche mit schlechten Startbedingungen in Mathe und Chemie, Deutsch,
Geschichte und Englisch, gründen mit ihnen
Schülerfirmen, machen Bewerbungstrainings,
schieben Sport-, Kunst- oder Musik-Projekte
an, machen Mut, und verhelfen ihnen im Idealfall zu besseren Noten, Abschlüssen, vielleicht
einer Lehrstelle. „Die Idee hat mich sofort berührt“, sagt Landsberg. „In der Schule habe ich
selbst erlebt, wie viel mehr man unter guten Bedingungen und mit toller Förderung erreichen
kann. An vielen Brennpunktschulen bleibt dafür keine Zeit.“
Landsberg, damals Studentin an der Hertie School of Governance, machte Teach For
America zum Thema ihrer Masterarbeit. Seit
Jahren trieben sie schwierige Fragen um: Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, was
heißt das eigentlich? Wie kann es sein, dass wir
in Deutschland zehn Prozent der Schüler vergeblich durch die Schule schleusen? Nach neun
Jahren stehen sie ohne Abschluss da und haben
kaum eine Chance, einen anständigen Job zu
finden und in der Gesellschaft Fuß zu fassen.
Wie kann es sein, dass gerade Enkel von Migranten noch wie Fremdkörper vor den Toren
polisx #1 MAI 2010
der Gesellschaft stehen? Wie kann es sein, dass
unser System so versagt? „Es ist doch Wahnsinn, dass der Bildungserfolg in Deutschland so
stark vom familiären Hintergrund der Schüler
abhängt“, sagt Landsberg. Sie fragte sich: „Was
kann ich tun, damit sich etwas ändert?“
Es war an einem Morgen im Juni. Kaija
Landsberg saß mit Freunden und Kommilitonen zusammen. Die Masterarbeiten an der
Hertie School waren geschafft, das Gespräch
kreiste um Karriere und Zukunft. Plötzlich die
Idee: Wir machen Teach First Deutschland. Jetzt.
Neben Landsberg gehören Michael Okrob,
Arist von Hehn, Elisabeth Heid und Caspar von
Schoeler zum Team. Der Deal: Wer einen Job
in Aussicht hat, lässt sich zurückstellen oder sagt
ab. Die Ersparnisse reichen bis Ende des Sommers, so lange wird Gas gegeben. „Nur wenn
wir selbst bereit waren, ein Risiko zu übernehmen, würden uns Förderer abnehmen, dass wir
AMATEURCOACH
Für sein Können beim
Basketball bewundern ihn die
Schüler. Kein Wunder: Schaffitzel ist fast zwei Meter groß.
Doch Sprungtechnik lernen
und Körbe werfen können auch
normale Achtklässler
reportage
an unser Projekt glauben“, berichtet Landsberg.
Kurz darauf bezieht das Quartett in den Seminarräumen der Hertie School of Governance
Quartier.
Kaija Landsberg unterbricht die Schilderung jener Anfangstage, um einen Schluck
Wasser zu nehmen. Die Erinnerung an die
ersten Monate lässt sie kurz innehalten. Um
das Projekt in Bewegung zu setzen, musste das
Team das Konzept ausarbeiten, die Finanzierung sicherstellen, Schulen gewinnen, Verwaltung überzeugen, Kandidaten gewinnen – und
das alles gleichzeitig. 45.000 Euro Startgeld der
Hertie-Stiftung halfen erstmal über die Runden. Landsberg und ihre Mitstreiter legten
sich ins Zeug. Sie sprachen Unternehmen an,
tingelten durch die Begabtenstiftungen, hielten
Vorträge an den Universitäten, bastelten an ihrer Homepage. Sie suchten Studenten, die als
Campus Captains ihre Idee an der Uni verbreiten.
Sie knüpften Kontakte zu den Bildungsverwaltungen, fanden Profis im Hamburger Institut
für Schulentwicklung und bei der Deutschen
Kinder- und Jugendstiftung, die sie pädagogisch
berieten: Wie müssen wir die Fellows qualifizieren, damit sie vor den Schülern bestehen können? Und sie erarbeiten ein Stufenkonzept: Erst
Online-Fortbildung, dann Intensivtraining von
Schulrecht bis zu Fachdidaktik in einer Sommerakademie.
Das Teach First-Team zieht durch interessierte Schulen: „Sagt, was ihr braucht. Überlegt, wo
ihr Fellows einsetzen könnt.“ Nachmittags oder
im Unterricht? In Physik oder für Deutsch als
Zweitsprache? Für Schülerfirmen oder Sportprojekte? Schulleiter Lüdtke erinnert sich noch
allzu gut an die junge Frau, die mit flammenden Reden auf einer Veranstaltung für die Initiative warb. „Ich war perplex. Da wollten junge
Menschen mit glänzenden Berufsperspektiven
wirklich ins tiefste Neukölln kommen“, sagt
der Direktor der Kepler-Oberschule. Neun von
zehn seiner Schüler haben einen Migrationshintergrund, die meisten Eltern sind arbeitslos.
Lüdtke war begeistert: „Wir wollten sofort mitmachen.“
Doch würden tatsächlich genug sozial engagierte Top-Absolventen bereit sein, sich für
20
1.700 Euro im Monat zwei Jahre lang an die
harten Schulen in den Ballungszentren der Republik zu bewegen? „Da bewirbt sich doch eh
keiner“ – diesen Satz hörte Kaija Landsberg in
der ersten Phase täglich. „Lange haben wir uns
im Kreis gedreht.“ Die Ministerien fragten nach
den Sponsoren, die Sponsoren nach den Ministerien, die Schulen nach den Fellows. „First
Mover-Dilemma“ nennt Kaija Landsberg das.
Niemand wollte den ersten Schritt tun. Im Juni
2008 stand Teach First vor dem Aus.
Dann kam die Zusage der Vodafone Stiftung. „Das war der Durchbruch“, erinnert
sich Landsberg. Jetzt beteiligten sich auch die
Bildungsministerien von Hamburg, Berlin und
Nordrhein-Westfalen. Sie würden die Gehälter der Fellows zahlen. Robert-Bosch-Stiftung
und Post, Lufthansa und McKinsey klinkten
sich ein. Anfang 2009 war das Zittern endgültig vorbei. 730 Bewerbungen stapelten sich auf
den Schreibtischen in der Teach First-Zentrale.
66 Kandidaten haben im vergangenen Herbst
ihre Arbeit aufgenommen.
Kaija Landsberg weiß, auf welch harte Tour
sie ihre Fellows schickt. In den ersten Feedbacks
aus dem Schulalltag war das deutlich zu spüren. „Es ist für die Fellows krass, zu sehen, aus
welchen Verhältnissen die Kinder kommen“,
sagt die Teach-First-Chefin. Abwesende Väter,
Gewalt in der Familie, kein Geld für das Schulessen oder Bücher. Oft haben es die Fellows mit
Schülern zu tun, die sich fragen: Wieso soll ich
mich mit dem Dreisatz beschäftigen, wenn ich
von der Abschiebung bedroht bin? Wieso mit
Kommaregeln herumschlagen, wenn zwei meiner Brüder im Knast sitzen? Landsberg: „Das
ist für die meisten erstmal eine fremde Welt.
Damit müssen sie zurechtkommen und gleichzeitig ihre Schüler motivieren: Ihr könnt nur
etwas erreichen, wenn ihr jetzt trotzdem Mathe
und Deutsch paukt.“
Wie beflügelnd, wenn es tatsächlich gelingt.
Zum Beispiel an der Johannes-Rau-Hauptschule in Bonn. Florian Weber hat dort ein veritables kleines Feuerwerk entzündet, ein Feuerwerk
der Zuversicht und des Anpackens: Ihr könnt
es schaffen! Als das Kollegium nach den Sommerferien das nächste Schuljahr plante, waren
DIE GRÜNDERIN
Kaija Landsberg stieß bei der
Recherche für ihre Master-Arbeit auf Teach First America,
das Vorbild für ihre deutsche
Organisation. Gemeinsam
mit Freunden von der Hertie
School of Government begann
sie im Sommer 2008 mit der
Suche nach Geldgebern und
nach Unterstützern in den
Behörden. Ihr Team musste
gegen viele Widerstände kämpfen – und hatte Erfolg: Im
Herbst 2009 haben die ersten
66 Teach First-Fellows in
Schulen in Berlin, Hamburg
und Nordrhein-Westfalen ihre
Arbeit aufgenommen
VERTRAUENSLEHRER
Fellows wie Burkhard
Schaffitzel vermitteln den
Schülern nicht nur Wissen,
sondern übernehmen auch
die Rolle von Ratgebern
polisx #1 mai 2010
reportage
sich die Lehrer noch sicher: In diesem Jahr wird
kein Schüler der neunten Klasse Kurs auf die
Mittlere Reife nehmen. Die Leistungen waren
schwach, Konflikte an der Tagesordnung, neue
Schüler wirbelten die Gruppen durcheinander,
in vielen Familien türmten sich die Probleme,
etliche Kids lebten in Wohngruppen betreut
vom Jugendamt. Doch immer wenn Florian
Weber in seinen ersten Wochen als Fellow mit
den Schülern sprach, in den Pausen, auf den
Gängen, bei einem Weiterbildungswochenende, bestätigte sich derselbe Eindruck: Viele sind
hochintelligent, sie brauchen nur den Kick, die
Motivation, den Glauben an sich. Weber beschloss: „Darum will ich mich kümmern.“
Sechs Monate später ist absehbar: Es wird
eine Realschulklasse geben im nächsten Schuljahr. Zwanzig Schüler sind dabei. Weber lacht.
„Die Anstrengungen der vergangenen Monate
haben sich gelohnt.“ Gemeinsam mit den Lehrern hatte der Fellow überlegt: Wer kann es
packen? Wer braucht welche Förderung? Mal
wurden die Klassen geteilt, mal unterstützte
der Fellow die Lehrerin im Unterricht. Er gab
guten Schülern Extraaufgaben in Deutsch und
Geschichte, paukte Mathe und Physik. Immer
wieder redete er ihnen zu: „Komm, eine Aufgabe geht noch.“ Er riss die Schüler mit, die Lehrer, die ganze Jahrgangsstufe. „Das Kollegium
an der Schule ist wahnsinnig engagiert. Aber
die Probleme hatten sich so geballt, dass viele
Lehrer einfach verzweifelten“, sagt der Fellow.
„Ich war so etwas wie das Zünglein an der Waage, das die Stimmung zum Kippen brachte.“
Trotz solcher Erfolge: Seit die Fellows in
die Schulen ausgeschwärmt sind, schwillt der
Gegenwind an. Die Gewerkschaften sind skeptisch. Sie fürchten, das Projekt entprofessionalisiere den Lehrerberuf. In zwei Berliner Bezirken
verweigerten die Personalräte die Zustimmung:
„Wir wollen keine Billigkonkurrenz an unseren
Schulen.“ Mit der Arbeit bei Teach First wollten
die Kandidaten vor allem ihren Lebenslauf aufhübschen, argwöhnten manche Medien. Kaija
Landsberg schüttelt den Kopf. „Zwei Jahre in
so einem Umfeld sind reichlich viel für ein Bisschen gutes Gewissen im Lebenslauf. Uns ärgern
solche Vorwürfe.“ Doch Landsberg beherrscht
22
die Kunst, Skepsis in Zustimmung zu verwandeln. Mit präzisen Argumenten, Leidenschaft
und einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln, gelingt es ihr immer wieder, Gegner zu
überzeugen. Gewerkschafter sitzen jetzt im Beirat, die erste Umfrage bei den Partnerschulen
war ermutigend. Auf einer umgekehrten Notenskala von 1 bis 5 schnitten die Fellows hervorragend ab: Durchschnittswert 4,7.
Kaija Landsberg räumt einige Unterlagen
zusammen. Es ist 18.30 Uhr, aber ihr Tag ist
noch lange nicht zu Ende. Das Team überarbeitet gerade das Qualifikationsprogramm für die
Fellows. Wichtig ist die wissenschaftliche Evaluation des Projekts: Was bringt die Arbeit der
Fellows wirklich? Wie ändert sich das Klima in
den Schulen, wie verbessern sich die Schulleistungen der Schüler? Die Crew ist dafür in Gesprächen mit Experten an Universitäten.
Mit Menschen wie Florian Weber oder
Burkhard Schaffitzel stehen die Chancen gut,
dass Teach First zum Erfolg wird. Der Unterricht
in der Kepler-Schule ist vorbei. Schaffitzel wirft
den Rucksack über und klemmt den Basketball
unter den Arm. Natürlich, es gibt Regen- und
Sonnentage im Schulalltag. Heute war einer jener Sonnentage mit aufgeweckten, motivierten
Schülern. „Ich kann mir gut vorstellen, so lange
mit den Schülern weiterzuarbeiten, bis sie den
Abschluss haben“, sagt Schaffitzel. „Die Kids
brauchen Kontinuität.“ Danach geht es zurück
an die Uni, den Master machen. Sicher ist:
Burkard Schaffitzel wird seine Erfahrungen im
Brennpunkt mit in sein Berufsleben nehmen, in
die Welt weit draußen, am anderen, angenehmeren Ende der Realität.
BESTNOTEN
Auch beim Korrigieren der
Hausaufgaben helfen die
Fellows aus. Sie selbst werden
wiederum von den Schuldirektoren bewertet. Bisheriges Ergebnis: (Fast) volle Punktzahl
polisx #1 mai 2010
GESPRÄCH
»Der Nenner
existiert nicht mehr«
Die Politik ist überfordert damit, die Gesellschaft zu steuern, sagt der
Münchner Soziologie-Professor Armin Nassehi. Der Staat sei
genau dann stark, wenn seine Bürger stark genug sind, sich für das
Gemeinwohl zu engagieren – und dabei Risiken einzugehen
JAKOB SCHRENK (Fragen), STEPHANIE FÜSSENICH (Fotos)
Nein.
ich einen Bettler begegne, gar nicht unbedingt
in den Sinn kommen muss.
Warum nicht?
Sondern?
Mir ist das peinlich. In einer ständischen Gesellschaft hatte der Bettler einen sozialen Ort. Seine
Armut war gottgewollt, also durfte er auch von
denen, die in der gesellschaftlichen Ordnung
weiter oben standen, Geschenke erwarten.
Heute kann ein Bettler nicht mehr Gott verantwortlich machen, die Idee des Individualismus
sagt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Noch
dazu leben wir in einer Gesellschaft, die sich
auf Gleichheit kapriziert, die verlangt, dass sich
alle Menschen auf Augenhöhe begegnen, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient. Einen Bettler
etwas zu schenken ist ein asymmetrischer Akt,
eine herablassende Geste.
Journalisten, die Soziologen interviewen, und
natürlich Soziologen selbst sind fasziniert von
der Vorstellung, dass wir unser gesamtes Tun
und Lassen permanent reflektieren. Dabei kann
man im Alltag beobachten, dass Reflektionen
über das Handeln der absolute Ausnahmefall
sind. Die meiste Zeit handeln wir routiniert,
gewohnheitsmäßig, wie automatisch. Die bessere Antwort auf ihre Bettler-Frage wäre also:
„Ich habe dem Mann nicht gegeben, weil das
einfach meiner Gewohnheit entspricht.“ Auch
meine Amnesty-Spenden reflektiere ich nicht
auf einer moralischen Ebene, ich mache das
halt einfach so.
Haben sie das einmal einem Bettler erklärt?
Aber die Millionen Deutsche, die für die Erdbebenopfer in Haiti spendeten, haben doch ein
moralisches Motiv? Sie wollten helfen.
Herr Nassehi, geben sie Bettlern Geld?
MENSCH NASSEHI
Der Münchner Soziologe hat
seine Studenten immer schon
mit ungewöhnlichen Methoden
begeistert. Inhaltlich setzt er
sich gerne zwischen die
Stühle – ohne dabei jemals
die Systemtheorie nach
Luhmann unter den Tisch
fallen zu lassen
Zugegebenermaßen handelt es sich bei meinen
letzten Sätzen um eine Rationalisierung, einen
guten Grund, den ich mir im Nachhinein zurechtlege, der mir aber in dem Moment, in dem
polisx #1 MAI 2010
Ich halte eine medientheoretische Erklärung
für überzeugender. Wenn Thomas Gottschalk
25
GESPRÄCH
GESPRÄCH
eine Spendengala moderiert und Überweisungschecks ausfüllt, dann kopieren Millionen
von TV-Zuschauern diese Handlungsmuster
und spenden selbst 50 oder 100 Euro.
Das klingt abfällig.
Wir kopieren ständig Muster aus dem Fernsehen. Wie wir streiten und lieben, welche sexuellen Stile es gibt, und wie man sich gegenüber Kollegen und Vorgesetzten verhält, das
alles wissen wir aus dem TV-Gerät. Es ist nicht
schlimm, wenn soziales Engagement einem
massenmedialen Muster folgt. Jede Form von
Engagement oder Wohltätigkeit ist viel stabiler,
wenn sie nicht umständlich moralisch begründet werden muss.
Wirklich?
In den USA gründen reiche Menschen Stiftungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der bei uns Steuern gezahlt werden,
das ist eine selbstverständliche Praxis, die gar
nicht hinterfragt wird. Gerade hat eine reiche
Verlegerwitwe der Met in New York 30 Millionen Dollar zukommen lassen. In Deutschland
dagegen gilt Spenden und Stiften im großen
Stil als problematisch, als eine Art gebändigte
Korruption, man würde sich ängstigen, ob die
»DAS SUBSIDIARITÄTSPRINZIP SAGT,
dass der staat erst eingreifT,
wenn das soziale umfeld nicht
mehr helfen kann«
Verlegerwitwe das künstlerische Programm der
Met bestimmt und sich ganz allgemein darüber
moralisch empören, dass Geld alle anderen gesellschaftlichen Bereiche korrumpiert.
Ganz überzeugt bin ich noch nicht.
Dann schauen sie doch mal, was man in den
USA machen muss, um ein Stipendium für das
College oder für die Universität zu bekommen.
Viele Bücher zu lesen, ist nicht unbedingt wichtig. Dagegen zählt, dass man einen NachhilfeClub im Viertel aufgebaut oder beim Basketball
einen Drei-Punkte-Wurf in letzter Sekunde ge-
26
troffen hat. So etwas kann man nicht einfach
auf Deutschland übertragen, es reicht nicht,
wenn der Bundespräsident soziales Engagement
oder eine „Wertedebatte“ fordert. Moralische
Werte werden überschätzt, als reine Appelle
bleiben sie folgenlos. Die Frage ist, wie man zu
gewünschten Werten passende Praxisformen
und Handlungsmuster findet.
Wir berichten in diesem Heft über den Versuch,
nach amerikanischen Vorbild Studenten als freiwillige Lehrer an deutschen Schulen einzusetzen.
Bis in die achtziger Jahre war Hausaufgabenbetreuung in den Kirchen oder innerhalb verschiedener Organisationen der Arbeiterbewegung völlig normal. Jetzt sind diese Formen
sozialen Engagement nicht mehr attraktiv, deswegen brauchen wir neue Muster.
Stielt sich der Staat nicht aus der Verantwortung?
Man stellt weniger Lehrer ein, weil es Freiwillige
gibt. Der Soziologe Stefan Selke sagt, dass die Einrichtung der Tafeln, an denen mittlerweile knapp
eine Millionen Menschen in Deutschland versorgt
werden, den Staat zum Sozialabbau ermutig: Es
wird schon niemand verhungern.
Ich sehe das Problem nicht: Das Subsidiaritätsprinzip, wie es in der katholischen Soziallehre
formuliert wurde und nun prägend für unser
Land ist, besagt, dass der Staat erst eingreifen
soll, wenn dass soziale Umfeld nicht mehr helfen kann.
Käme ein schwacher Staat also ihrer Vorstellung
von einer guten Gesellschaft entgegen?
Ich halte nichts davon, wenn Soziologen Werturteile abgeben. Niklas Luhmann hat einmal
gesagt, dass unsere Gesellschaft mehr positive
und mehr negative Eigenschaften hat als jede
frühere Gesellschaft zuvor, alles sei zugleich
besser und schlechter, was man zwar genau
beschreiben aber nicht zu einem Gesamturteil
aufaddieren könne.
Die Finanzkrise hat gezeigt, dass es dem Staat
nicht gelingt, das Bankenwesen zu kontrollieren.
Über elf Millionen Deutsche sind von Armut bedroht. Ist das kein Anlass zu Kritik?
Aber wichtiger als Empörung ist doch das Verständnis, warum das so ist.
polisx #1 mai 2010
Warum ist das so?
Solange der Staat mehr einnahm, als er auszugeben plante, konnte er als ein Sachverwalter
der Gesellschaft agieren. In den siebziger Jahren trat man als ÖTV-Vorsitzender zurück,
wenn man nur eine Gehaltserhöhung von zwölf
Prozent herausgehandelt hatte. Für die gleiche
Forderung würde man heute sofort in die Psychiatrie kommen. Früher musste man nicht
individuell nach neuen Lösungen suchen, zum
Beispiel nach einer guten Hausaufgabenbetreuung, weil die beste Lösung immer schon vom
Staat kam.
Jahrhundert setzt sich in der Gesellschaft die
funktionale Differenzierung durch, was bedeutet, dass einzelne gesellschaftliche Teilbereiche
entstehen, die ihre eigenen Programme, Codes,
Logiken und Strukturen heraus bilden. Und
diese unterschiedlichen Perspektiven sind dann
einfach nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Ein wirtschaftlich sinnvolles Großprojekt
kann zum Beispiel ökologisch betrachtet höchst
problematisch sein.
Nein, das Hauptproblem ist, dass wir die Politik
als Steuerungszentrum der Gesellschaft ansehen.
»DIE POLITIK IST EIN SOZIALES
SYSTEM UNTER ANDEREN, WIE DIE
WISSENSCHAFT, DIE RELIGION
ODER DIE WIRTSCHAFT«
Als was denn sonst?
Was bedeutet das für die Politik?
Die Politik ist ein soziales System unter vielen
anderen, wie etwa die Wissenschaft, die Religion oder die Wirtschaft. Falls sie das anders sehen, müssten sie behaupten, dass Angela Merkel die reichste Deutsche ist, das Oberhaupt der
Kirche und außerdem noch bestimmen kann,
was als wissenschaftliche Wahrheit anerkannt
wird. Aber vollends mit der Wende zum 20.
Dass es unmöglich wird, die Gesellschaft zentral zu steuern. Die Wissenschaft kann wissenschaftliche Erkenntnisse nicht aktiv vergessen,
deshalb werden wir weder die Kernspaltung
noch die Gentechnik los, selbst wenn man sie
politisch einzuschränken versucht. Und die
Weltwirtschaft, um ein weiteres Beispiel zu
geben, agiert viel schneller als die nationale
Politik. Deren Geltungsraum ist auf den nationalen Rahmen begrenzt, während die Wirtschaft längst globalisiert ist. Die Folge ist, dass
die Politik nicht mehr Ziele wie Vollbeschäftigung erreichen kann. Wo Arbeitsplätze entstehen und wo sie abgebaut werden, entscheidet
sich im wirtschaftlichen System. Und es ist verharmlosend und scheinradikal, diese Entwicklung als Deregulierung oder Neoliberalismus
zu brandmarken. Das impliziert, dass man das
mit besseren politischen Entscheidungen hätte
verhindern können. Dass sich die Wirtschaft
kaum steuern lässt, ist aber ein gesellschaftsstrukturelles Problem.
Das Hauptproblem ist das fehlende Geld?
Könnte die Politik besser steuern, wenn sie schneller werden würde?
Demokratie heißt Partizipation und das braucht
nun einmal Zeit, die Zeit, um die Bevölkerung
zu überzeugen, für ein Anliegen zu werben. Je
schneller die Politik agiert, desto weniger ist ein
solches Einvernehmen herzustellen.
EIN BAYER
Nassehis Familie hat iranische
Wurzeln, er selbst ist aber
in Niederbayern geboren. Er
promovierte und habilitierte
sich in Münster und wechselte
1998 nach München.
27
GESPRÄCH
Interessanterweise beschweren sich gerade
Unternehmer und Manager über die Langsamkeit des politischen Prozesses.
AUF DIENSTREISE
Nassehi beschränkt sich nicht
nur auf die akademische Welt,
sondern berät auch Unternehmen und schreibt Bücher für
ein breiteres Publikum. Zuletzt
erschien sein Werk „Mit dem
Taxi durch die Gesellschaft.
Soziologische Stories.“
Aber nur in einer Diktatur ist es möglich, das
Energieeinspeisungsgesetz innerhalb von einen
Tag einzuführen oder abzuschaffen. Übrigens
braucht auch die Wirtschaft stabile Rahmenbedingungen, die sich nicht so schnell ändern
wie Märkte. Diese Rahmenbedingungen werden politisch vorgegeben. Ohne Vertragssicherheit kann man sich keine funktionierende
Wirtschaft vorstellen. Es käme also darauf an,
das wechselseitige Verständnis beider Systeme
zu stärken. Die Wirtschaft könnte verstehen,
dass die Langsamkeit der Politik ein Segen ist,
umgekehrt muss die Politik verstehen, dass Demokratie und Partizipation wundervolle Dinge
sind, aber eben nur im politischen System funktionieren, nicht in anderen gesellschaftlichen
Teilbereichen. Dass die Politik in den siebziger
Jahren versucht hat, demokratische Prozesse in
der Wirtschaft zu installieren, war Unsinn.
Wie könnte so ein wechselseitiges Verständnis geschaffen werden?
Ich bin begeistert von der Desertec-Initiative des
Club of Rome, die einen Verbund von solarthermischer Energie, Wind- und Wasserkraft von
»DIE ANONYMe Form
DER ORGANISIERTEN SOlidarität
im Sozialstaat ist doch
ein fantastischer fortschritt«
Europa über die Sahara bis zur arabischen
Halbinsel schaffen will. Von Anfang an hatte das Projekt alle möglichen Fragen im Blick:
kulturelle Implikationen, Rechts- und Vertragssicherheit, technische Machbarkeit, politische
und ökonomische Leadership. Zwölf Unternehmen aus der Energie-, Finanz- und Versicherungsbranche beteiligen sich an dem Projekt. Es ist wichtig, dass Menschen miteinander
reden, die sonst nicht miteinander reden, um
zu neuen, ungewöhnlichen Lösungen kommen.
Und dieses Gespräch können engagierte Privatpersonen viel besser animieren als der Staat.
28
Wo sehen sie noch Vorteile privater Initiativen gegenüber dem Staat?
Immer wenn es um innovative, radikale Ideen
geht. Die Politik muss stets das Kollektiv im
Blick behalten, also Lösungen für alle suchen.
Ob man aber vielleicht Schulkinder ganz anders unterrichten kann, Sterbende viel besser
begleiten oder Arbeitslose wirklich sinnvoll fördern und fordern, das kann man nur im kleinen
und privaten Rahmen ausprobieren. Übrigens
mit dem Risiko, dass man grandios scheitert.
Auf wohltätige und engagierte Bürger hofft ja
auch Peter Sloterdijk: Besser als eine Zwangssteuer sei es, wenn die Reichen freiwillig Geld an Bedürftige geben.
Ich will gar nicht moralisierend gegen Sloterdijk argumentieren. Aber der Mann hat keine
historische Bildung. Die Anonymität der organisierten Solidarität im Sozialstaat ist ja gerade
ein fantastischer Fortschritt. So unterstützt der
Sozialstaat nicht konkrete Menschen, die er
kennt und schätzt, sondern Anspruchsberechtigte, deren Anspruch ohne Ansehen der Person
gilt. Das ermöglicht, dass man einfach Steuern
zahlt, nicht, weil man moralisch in die Pflicht
genommen wird, sondern weil das ein Gesetz
ist. Gleichzeitig müssen die Empfänger nicht
bitten oder betteln. Das hat eine enorm befriedende Wirkung auf die Gesellschaft.
Was noch kann der Staat besser?
Der öffentliche Transport wäre ein Beispiel.
Offensichtlich ist das nicht rentabel zu organisieren, gleichzeitig ist der öffentliche Transport
aber aus vielen Gründen, darunter auch ökonomische, sehr wichtig. Wenn hier der Staat
aktiv ist, als ein ökonomischer Akteur, der ökonomisch unvernünftig sein darf, kommt mir das
sehr vernünftig vor.
Ganz sicher bin ich mir immer noch nicht: Sind sie
für einen starken Staat oder für starke Bürger?
Der Gegensatz, den sie konstruieren, existiert
doch überhaupt nicht. Warum ist ein Staat
schwach, der seinen Bürgern vertraut und ihnen
die Möglichkeiten gibt, innovative Lösungen zu
entwickeln, ohne den Anspruch zu haben, alles
selbst zu regulieren? So ein Staat käme mir sehr
souverän und stark vor.
polisx #1 mai 2010
BÜCHER
BÜCHER
JEFF RUBIN:
Warum die Welt immer
kleiner wird. Öl und das
Ende der Globalisierung.
Erschienen bei Hanser
Wirtschaft. 288 Seiten,
19,90 Euro
WENIGER IST MEHR
Warum der steigende Ölpreis unsere Welt
kleiner und zugleich besser macht
Der kanadische Ökonom Jeff Rubin glaubt an ein baldiges
wirtschaftlich goldenes Zeitalter, in dem die zu starke Ausbeutung der Ressourcen ein Ende haben könnte. Beispiel:
Lachs. Der Fisch, der vor Norwegen im Atlantik gefangen
wird, ist nämlich nur noch deshalb erschwinglich, weil billiges Erdöl den Preis von Fisch subventioniert. Niedrige
Transportkosten sorgen dafür, dass er in der Regel günstig
nach China verschifft, dort von billigen Arbeitskräften entgrätet und filetiert wird, um dann wieder in einem Containerschiff zurück nach Europa zu gelangen.
Nur solange genug Öl da ist, kann die Wirtschaft diese bizarre Energieverschwendung aufrechterhalten. Wir
alle essen Lachs, ohne darüber groß nachzudenken. Doch
das Spiel ändert sich: Game over. Peak Oil! Dadurch wird
Energie, zumindest Erdöl, teurer. Weshalb die globalisierte
Fischindustrie ein Kostenproblem bekommen wird, das sie
nicht in den Griff kriegt. Denn Erdöl ist bekanntermaßen
keine unendliche Ressource, die Wirtschaft wird sich in den
nächsten Jahrzehnten davon unabhängig machen müssen.
Und genau hier beginnt Rubins These: „Teures Öl bedeutet das Aus für das Leben, wie wir es kennen – doch
vielleicht war dieses Leben ohnehin nicht gar so großartig.
Smogverseuchte Städte, globale Klimaerwärmung, Ölteppiche und andere Umweltschäden sind allesamt Folgen von
billigem Öl.“ Die Globalisierung legt den Rückwärtsgang
ein. Lokale Produkte werden unsere Märkte wieder stärker
prägen. Die heimische Wirtschaft wird aufblühen, so Rubin.
Sein Rat: „Stellen Sie sich auf eine kleinere Welt ein! Schon
bald werden Ihre Lebensmittel von einem Acker in Ihrer
Nähe kommen, und die Dinge, die Sie kaufen, werden eher
von einer Fabrik im Ihrem Heimatort produziert als am anderen Ende der Welt.“ Wenn das mal kein Neuanfang ist
– und einer, der sich gar nicht schlecht anhört.
30
STUDIEREN!
Deutschland braucht eine kompromisslose
Strategie für mehr Bildung
Gerade eben erst wurde es heftig begrüßt, das Ende der sogenannten Nullerjahre mitsamt ihren Krisen und Katastrophen. Nun also stehen die Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts
ins Haus, und praktischerweise hat Gunter Dueck punktgenau einen Leitfaden für die weitere Marschrichtung vorgelegt. „Aufbrechen!“ also, und mit vereinter Anstrengung
etwas ganz anderes versuchen, als wie bisher alte Gewohnheiten beizubehalten oder sterbende Branchen und Unternehmen künstlich wiederzubeleben. „Nach der Krise geht
es woanders hin, nicht zurück“, sagt Dueck: nämlich mit
aller Kraft voraus in die Exzellenzgesellschaft.
Exzellenz klingt immer gut, aber eine der Voraussetzungen dafür hört sich dann doch etwas schrill an: „Fast
alle müssen studieren.“ Das käme einer Revolution gleich,
gerade für konservative Bildungspolitiker, die bis heute auf
einer klaren Trennung nach Leistung schon in der Schulzeit
plädieren und eine Verwässerung der Universitäten fürchten. Aber der Autor, Cheftechnologe und Vorausdenker des
IBM-Konzerns, hat die Sache durchdacht. Selten hat einer
die Wissensgesellschaft, auf die wir zusteuern, gründlicher
durchdekliniert als der Mathematiker und Ökonom Dueck,
im eigenen Unternehmen – in Anspielung an sein Buch
Wild Duck – nicht von ungefähr „Wild Dueck“ genannt.
Duecks Forderung: Menschen sollten von innen motiviert und leistungsbereit sein, Eifer und Willen zeigen und
gerne die Verantwortung übernehmen. Dabei hilft ihnen
der höchstmögliche Bildungsstand. „Wenn Deutschland erfolgreich in die Exzellenzgesellschaft will, muss es sich kompromisslos entscheiden“, fordert Dueck. Kein Wunder, dass
er die Kultur des selbstverantwortlichen, integren Menschen
mit einem starken Sinn für die Gemeinschaft und für Ethik
sogar im Grundgesetz verankern will.
GUNTER DUECK:
Aufbrechen! Warum wir
eine Exzellenzgesellschaft
werden müssen. Erschienen bei Eichborn. 224
Seiten, 19,95 Euro
polisx #1 mai 2010
NICHOLAS A.
CHRISTAKIS,
JAMES FOWLER:
Connected! Die Macht
sozialer Netzwerke und
warum Glück ansteckend
ist. Erschienen bei
S. Fischer. 432 Seiten,
22,95 Euro
ANSTECKEND
Sie denken, dass Sie ein selbstbestimmtes
Leben führen? Vermutlich irren Sie sich
Otto Normalverbraucher jammert hierzulande gerne darüber, dass der Einzelne nichts bewirken kann und hilflos
im Netz staatlicher und wirtschaftlicher Obrigkeiten zappelt. Was aber gar nicht zutrifft, wie neueste amerikanische
Studien beweisen. Jeder Mensch verfüge zwar nur über vier
enge Sozialkontakte, aber die haben es in der Regel in sich.
Denn diese kleine Welt ist eingebettet in größere Strukturen.
Es ist sogar oft möglich, „durch Verbindungen von einem
Menschen zum nächsten einen Kontakt zu jedem beliebigen
Menschen auf der Erde herzustellen“.
Christakis und Fowler haben sich auf die beschwerliche
Suche gemacht, wie und wann der Mensch von sozialen
Netzwerken profitiert. Erstes Ergebnis: Je mehr enge Freunde
und Verwandte man hat, desto glücklicher ist man. Zweites
Ergebnis: Enge Freunde und Verwandte beeinflussen uns
mehr, als uns lieb ist. Wir ahmen nämlich gerne Menschen
aus unserer nächsten Umgebung nach. „Studenten mit fleißigen Zimmergenossen werden fleißiger. Esser, die neben
Fressern sitzen, essen mehr. Hausbesitzer, deren Nachbarn
ihren Garten pflegen, mähen regelmäßig ihren Rasen.“
Aber es kommt noch dicker. Wir ahmen nicht nur unsere
Freunde nach, sondern auch die Freunde unserer Freunde
und deren Freunde. Das hat erhebliche Folgen für die Wirtschaft. Wie wir konsumieren, färbt auf Menschen ab, die
wir dabei gar nicht im Blick haben. In der Regel umfassen
solche Reaktionsketten drei Glieder. Auch in Erfindernetzwerken verbreiten sich neue Ideen über drei Stationen, „das
heißt, dass die Kreativität eines Erfinders auf seine Kollegen,
die Kollegen seiner Kollegen und die Kollegen der Kollegen
seiner Kollegen abfärbt“. Die Mund-zu-Mund-Propaganda
für Verhaltensweisen, Objekte oder Dienstleistungen im alltäglichen Leben funktioniert genauso. „Soziale Ansteckung“
beschreibt unser Leben besser als „Selbstbestimmung“.
polisx #1 MAI 2010
HELFERSYNDROM
Der Westen sollte sich dringend um
sich selbst sorgen, statt um Afrika
Dambisa Moyo ist eine spannende Persönlichkeit. Die
40-jährige Ökonomin aus
Sambia, die bis vor kurzem
bei der Investmentbank Goldman Sachs gearbeitet hat,
ist neben dem kenianischen
Ökonomen James Shikwati
die wichtigste Kritikerin der
Entwicklungshilfe für Afrika.
In ihren Schriften weist sie
DAMBISA MOYO:
eindrucksvoll nach, weshalb
Der Untergang des Westens: Haben wir eine neue Chance in der
Afrika aufgrund der finanziWirtschaftsordnung? Erscheint bei
ellen Hilfe aus dem Westen
Piper. 288 Seiten, 19,95 Euro
heute ärmer ist als noch vor
50 Jahren. „Lebten damals
nur zehn Prozent der Einwohner unter der Einkommensgrenze von zwei Dollar, sind es heute 70 Prozent. Während
der letzten 30 Jahre sank das Wirtschaftswachstum jährlich
um 0,2 Prozent.“
Jetzt aber dreht sich der Wind. Das eigentliche, noch weitgehend unsichtbare Drama laute: Der Westen geht unter.
Seit Jahren produziere der Westen immer weniger, Innovationen fänden anderswo statt. Für Afrika sieht Moyo Licht
am Horizont: „Auf mittlere Sicht wird die Entwicklungshilfe sinken, und Afrika kann endlich seine eigene Strategie für
ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum abstecken.“ Moyo
ist nicht alleine. Auch Shikwati glaubt, dass der Westen sich
sein Geld sparen kann. „Hilfe, das klingt so unschuldig“, sagt
er. „Aber das Problem sind die Folgen: Hilfe macht Afrika
auf Dauer abhängig und redet den Menschen ein, dass sie
ihre Probleme nicht selbst lösen können.“ Deshalb vertritt
Shikwati schon länger die Forderung, dass Entwicklungshilfe
abgeschafft wird – am besten sofort. Nur so lasse sich das
System ändern, das Afrika in die Armut getrieben hat.
Moyo liegt ganz auf dieser Linie. „Nehmen Sie den IWF,
der afrikanischen Staaten ständig neue Bedingungen auferlegt, unter denen sie Geld bekommen können: die nutzen zu
allererst den Gebern, nicht den Empfängern.“ Ein provozierendes Buch, das wir aufmerksam lesen sollten.
PETER FELIXBERGER
ist Herausgeber von PolisX und Experte für Bücher aus den Bereichen Wirtschaft,
Politik und Gesellschaft. Manchmal schreibt er sie gleich selbst, so wie zuletzt den
Band „Deutschlands nächste Jahre – Wo unsere Reise hingeht.“
31
LETZTE SEITE
MEINE IDEE
» Wie ich mit einer Million Euro
helfen würde, die Welt zu retten«
Alissa Jung
Schauspielerin
Wenn mir jemand eine Million Euro gäbe, würde ich damit noch
mehr Schulen in Haiti unterstützen als bisher. Mein Engagement dort
fing mit zwei Patenschaften an, die ich übernommen habe, nachdem mir
ein befreundeter Arzt vor drei Jahren von seiner Arbeit für das Hilfswerk
Unsere kleinen Brüder und Schwestern erzählte. Er meinte: „Du stehst
doch in der Öffentlichkeit, diese Organisation ist ganz toll, nur leider
kennt sie in Deutschland niemand. Kannst du da nicht was tun?“
Ich habe mich mit diesem Hilfswerk beschäftigt, das in Haiti besonders aktiv ist. In der ersten Zeit war ich überrascht und bin über mich
selbst erschrocken. Da hält man sich für einen einigermaßen gebildeten
Mitteleuropäer aber weiß nicht, wo genau Haiti liegt und dass es eines
der ärmsten Länder der Welt ist. Als ich meine Patenkinder besuchte und
einen der größten Slums der Welt sah, wo die Leute Kekse aus Erde, Öl
und Salz aßen, war ich total aufgewühlt.
Zurück in Deutschland war mir klar, dass ich mehr für die Menschen
dort tun wollte. Meine Kollegin Janin Reinhardt und ich haben uns
entschieden, bei der Bildung anzufangen, denn wer in Haiti lesen und
schreiben kann, hat den meisten anderen schon etwas voraus. Jeder ausgebildete Haitianer ist eine Chance für das Land. Deutsche Schulklassen
helfen uns dabei, zwei Slumschulen zu finanzieren. Die Kinder sollen
nicht einfach sagen: „Mama, gib mir mal einen Euro, den ich spenden
kann.“ Sie organisieren Benefizkonzerte oder Flohmärkte. Dabei geht es
nicht nur ums Geld. Wir möchten eine Brücke bauen. Gerade nach dem
schlimmen Erdbeben sind die deutschen Schüler froh, etwas für Gleichaltrige in Haiti tun zu können. Protokoll: Sandra Winkler
ALISSA JUNG
Die Schauspielerin wurde 1981
in Münster geboren. Ihre erste
Fernsehrolle bekam sie in der
ARD-Serie „In aller Freundschaft“. Bekannt wurde sie durch
die Sat.1-Telenovela „Schmetterlinge im Bauch“. Sie lebt mit ihren
beiden Kindern in Berlin.
isl ut aliquip ex ea commodo consequat. Duis autem vel eum iriure dolor in hendrerit in vulputate
velit esse molestie consequat, vel illum dolore eu feugiat nulla facilisis at vero eros et accumsan et iusto
32
polisx #1 mai 2010

Documentos relacionados