Bis ins Mark - Droemer Knaur

Transcrição

Bis ins Mark - Droemer Knaur
Martyn Waites
Bis ins Mark
Thriller
Aus dem Englischen von
Ulrich Hoffmann
Knaur Taschenbuch Verlag
Die englische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel
»Bone Machine« bei Pocket Books, London
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe Mai 2010
Copyright © 2007 by Martyn Waites
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe bei
Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-63612-1
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Für Linda
Vielleicht ist dies wirklich das Ende.
Vielleicht sind unsere Namen nur in Wasser geschrieben,
und irgendwann versiegt die Quelle.
James Lee Burke,
Crusader’s Cross
1
S
ie konnte nicht mehr sagen, ob ihre Augen geöffnet oder geschlossen waren. Es war immer dunkel.
Sie konnte ihren Mund nicht öffnen, um zu schreien oder zu
sprechen.
Konnte sich nicht rühren.
Sie musste entkommen, musste fliehen. Sie versuchte, ihre Arme
zu bewegen. Ihre Beine. Es ging nicht. Er hatte sie festgebunden.
Sie versuchte sich zu bewegen, sich loszureißen, stemmte sich
gegen das Ding, an das sie gefesselt war. Rauh und kalt. Hart. Es
tat weh, wenn sie sich bewegte.
Sie ließ sich zurücksinken, atmete schwer. Zwang Luft durch
ihre geschlossenen Lippen. Ihre Mutter. Ihr Vater. Ihre Schwester Catherine. Selbst ihr Hund, Barney. Sie hatte sich noch nie
im Leben so sehr nach ihnen gesehnt.
Ihr Leben. Es schien tausend Jahre weit weg, als hätte sie es nur
geträumt.
Sie hätte weinen können. Aber es gab keine Tränen mehr. Sie
erinnerte sich an den Schmerz, als sie das letzte Mal versucht
hatte, den Mund zu öffnen. Sie seufzte angestrengt.
Wenn doch nur.
Wenn doch nur …
Zuvor hatte sie immer gedacht, sie wäre zu jung, um etwas zu
bereuen. Falsch. Sie dachte immer und immer wieder an den
Augenblick zurück, jedes Mal mit einem anderen Ende. Sie
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wünschte, sie hätte ihn ignoriert. Wünschte, sie hätte nie angeboten, zu helfen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er …
nicht einer wie er …
Man hatte Filme an der Uni gezeigt, im ersten Jahr, hatte es
ihnen eingeschärft: Vergewaltigungen! Fremde! Man durfte
sich nicht verwundbar machen, nicht abends allein nach Hause
gehen. Sie war hingegangen, hatte gut zugehört. Sich keine
Sorgen gemacht. Das würde ihr schon nicht passieren. Sie war
klug, vernünftig. Solche Sachen passierten immer anderen.
Nicht ihr.
Niemals ihr.
Gefühle wallten in ihr auf, die Welle wollte sich brechen. Diese
Gefühle hatten sie immer wieder überrollt. Wie Riesenwellen
eines El-Niño-Sturms; sie hatte ihnen nicht standhalten können. Selbstmitleid, Panik, Reue.
Angst. Sie hatte nicht wirklich gewusst, was Angst war. Bis sie
hier gelandet war. Dann aber war sie ihr in die Adern gefahren,
sie schrie vor Schmerzen, lag zerschmettert da, hilflos. Wut.
Wenn doch nur …
Sie versuchte wieder, zu schreien. Spürte den Schmerz in ihrem
Gesicht.
Versuchte, sich aufzurichten. Spürte jedoch nur, wie die Fesseln
sich tiefer in ihr Fleisch gruben.
Und dann, mit einem Lufthauch, einer Bewegung, einem anderen Geruch – war er da. Sprach. Seine Stimme, wie sie sie hasste.
Er goss sie über sie wie dickes, ranziges Öl. Sagte ihr, alles wäre
in Ordnung. Bald würde es ihnen bessergehen. Sagte ihr, sie
würde jetzt die aufregendste Reise ihres Lebens antreten.
Erst hatte sie versucht, mit ihm zu reden, wie sie es an der Uni
gelernt hatte. Hatte versucht, ihn für sich einzunehmen. Ihn für
sie zu interessieren, sich als menschliches Wesen darzustellen,
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das etwas wert war. Sie hatte es versucht. Dass sie ihren Mund
nicht mehr öffnen konnte, war seine Antwort.
Sie versuchte, zu sprechen, ihn anzuschreien, zu betteln. Wieder
nur Schmerzen.
Sie spürte ihn auf sich klettern. Hörte etwas zerreißen. Spürte
etwas Kaltes, Scharfes auf ihrer Haut. Ihre Kleidung. Er schnitt
ihre Kleidung herunter.
Eine neue Welle der Panik erfüllte sie. Sie zerrte, drückte. Wand
sich. Konnte sich nicht rühren. Seine Stimme, jetzt erregt, immer höher. Ergoss sich über sie. Ertränkte sie.
Seine Hände auf ihr.
Sie versuchte zu schreien. Konnte nicht.
Sie spürte alles, was man spüren konnte; und zugleich spürte sie
nichts.
Wieder versuchte sie zu seufzen.
Wenn doch nur …
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2
D
ie Nacht war kalt, der Winterwind trug einen Hauch von
Eis in sich, der krustige Matsch auf dem Boden zeigte die
elende Wirklichkeit.
Katya war froh, drinnen zu sein. So froh, wie sie im Moment
über irgendetwas sein konnte. Sie hatte sich noch nicht an das
nordische Klima gewöhnt. Noch nicht an dieses Leben gewöhnt.
Sie sah sich um: ein anonymes Schlafzimmer, einfach und billig
möbliert. Eine einzelne Glühbirne mit staubigem Schirm warf
ihren erbärmlich schwachen Schein über Bett und Nachttisch.
Die Bettdecke mit billigem Blumendruck, oft gewendet und gedreht, um die Flecken zu verbergen, der Teppich alt und aus
Kunstfaser, ein schwindelerregender Wirrwarr aus abgetretenem Blau, die Vorhänge dünn und farblos.
Das Haus lag an einer anonymen Straße im Westen Newcastles.
An einer Straße, in der arme Familien und Studenten wohnten.
Wenn man hier nicht lebte, brauchte man einen guten Grund,
um herzukommen. Männer, dachte sie, mussten Sex wirklich
dringend wollen, wenn sie herkamen. Oder gar nicht wirklich
wollen.
Katya rückte ihren Plastikminirock zurecht, zog ihre Strümpfe
hoch. Der BH kniff sie unter den Armen. Ihre Unterwäsche war
billig und scheußlich. Man hatte ihr gesagt, sie sollte sie tragen,
aber sie hasste sie, sie versuchte, sie als Rüstung zu betrachten,
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als etwas, das zwischen ihr und den Männern stand. Aber das
funktionierte nicht. Sie behielt sie nur selten lange genug an.
Sie saß auf dem Bett und seufzte. Wartete. Die Nachtschicht. Die
Schlimmsten kamen, wenn die Pubs zumachten. Dann kamen
die Betrunkenen, die Versager. Schleppten sich in ihr Zimmer.
Die, die nirgends hin konnten oder nirgends hin wollten. Sie
waren voll Hass oder darauf aus, ihr Schmerzen zuzufügen. Sie
wollten ihr eigenes Versagen und ihre verdammte Frustration
an ihr ablassen. Das ließ sie ihrerseits Hass empfinden. Sie hasste diese Welt. Sie hasste sich als Teil davon. Sie hoffte, sie würde
sich niemals so akzeptieren.
Sie lauschte. Im Zimmer nebenan war ein neues Mädchen. Oder
zumindest ein anderes Mädchen. Die Neue hatte versucht,
Katya in ein Gespräch zu verwickeln, auf dem Weg hierher, als
alle Mädchen zusammen waren. Blondes Haar, zu einem
Pferdeschwanz gebunden, krasses Make-up, wie eine asiatische
Theatermaske. Um die natürlichen Züge zu verbergen und aus
der Ferne deutlich erkennbar zu sein. Sie hatte sicher erst kürzlich aufgehört, auf der Straße zu arbeiten, dachte Katya, dann
schalt sie sich dafür. Sie begann sich daran zu gewöhnen, sie
dachte schon wie eine von ihnen. Diese Vorstellung deprimierte
sie.
Die Neue hatte immer weiter geredet, hatte erzählt, wie kalt es
geworden war, hatte sogar die verschwundene Studentin erwähnt, über die die ganze letzte Woche in den Zeitungen berichtet worden war. Katya hatte bloß genickt und so getan, als verstünde sie nicht genug Englisch. In Wahrheit glaubte sie, recht
gut Englisch zu können. Aber das war, bevor sie nach Newcastle
gekommen war. Es fiel ihr schwer, die Leute hier mit ihrem
schnellen Singsangdialekt zu verstehen. Aber sie bekam immerhin mit, was sie ihr nachriefen. Asylantenschlampe. Verpiss dich
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doch dahin, wo du hergekommen bist. Man musste weder viele
Worte noch den Dialekt kennen, um das zu verstehen.
Katya hatte genickt, das Mädchen ignoriert, einfach darauf gewartet, dass die Vormieterin fertig wurde mit ihrem Kunden
und das Zimmer frei machte. Sie wollte nicht reden, sie wollte
sich nicht fühlen wie eine von ihnen. Das erinnerte sie nur daran, wie tief sie gesunken war. Also war sie hineingegangen, und
das Mädchen hatte das Zimmer neben ihrem genommen. Katya
lauschte. Kein Laut drang durch die Wand. Ungewöhnlich,
dachte sie. Die Tür des anderen Mädchens war ein paarmal aufund zugegangen, das hatte sie gehört. Kunden waren normalerweise nicht so leise. Sie stand auf, zuckte mit den Achseln. Ging
sie nichts an.
Sie vermisste ihre Heimat. Ihr Heimatland. So wie es gewesen
war, bevor die Bomben fielen, bevor die Soldaten kamen. Bevor
die Nachbarn den Krieg ausnutzten, um ihren lang aufgestauten
Hass zu rechtfertigen auf alle, die sie nicht mehr länger haben
wollten. Bevor der Großteil ihrer Familie ermordet worden war,
ihr Heim niedergebrannt. Sie versuchte, nicht zu oft an die Vergangenheit zu denken. Das war eine andere Zeit. Ein anderer
Ort.
Sie seufzte. Zwei. Nur zwei Kunden bisher in dieser Nacht. Der
erste schlimm genug, der zweite noch schlimmer. Verschwitzte,
hässliche, nichtssagende Männer. Sie hatte mit ihnen geredet,
hatte sich an das Drehbuch gehalten, aber sie waren nicht interessiert gewesen. Sie entluden bloß ihre Lust, zahlten und gingen.
Und mit jedem Kunden, den sie bediente, starb ein wenig mehr
von ihr.
Bald, dachte sie, könnte sie ein Messer durch ihre Hand stechen
und würde nichts mehr dabei empfinden. Oder durch ihr Herz.
Vielleicht sollte sie das tun, ein Messer über ihre Handgelenke
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ziehen. Nur um zu sehen, ob sie noch etwas fühlen konnte. Wenigstens Schmerz.
Sie schüttelte den Kopf, stand auf. Sie wollte ihre Gedanken
nicht diesen Weg nehmen lassen. Sie ging durchs Zimmer; sie
bemerkte, dass sie im Kreis lief, wie ein Tier im Zoo. Eine deprimierend angemessene Analogie, dachte sie.
Sie zog die Vorhänge beiseite, schaute zum Fenster hinaus. Der
schwarze Peugeot 406 stand immer noch auf der anderen Straßenseite. Sie konnte gerade eben die beiden muskulösen Umrisse auf den Vordersitzen ausmachen. Die sicherstellten, dass sie
arbeitete und nicht weglief. Die ihr Investment schützten. Die
dafür sorgten, dass sie jeden Penny abgab, den sie verdiente.
Katya konnte spüren, wie sie sie beobachteten. Sie zitterte nicht
nur wegen der Kälte. Sie würde bald wieder einen Kunden nehmen müssen, so abscheulich sie das auch fand. Denn wenn
nicht, würde es ihr später noch viel schlechter ergehen.
Sie schaute die Straße entlang. Ein einsamer Junge, ein hellhäutiger schwarzer Teenager, übte mit seinem BMX-Rad. Er war
ganz schön spät draußen und schien zu wenig anzuhaben für
die Jahreszeit, aber andererseits bezweifelte sie, dass dies eine
Gegend war, in der sich irgendjemand um so etwas kümmerte.
Weiter die Straße hinunter, Richtung Stadtzentrum, torkelte ein
Betrunkener die Straße entlang, der eisige Bürgersteig machte es
ihm nicht leichter. Ihr Herz sank. Das konnte ihr nächster Kunde sein.
Während sie das dachte, hielt ein Wagen vor dem Haus. Sie
versuchte, Marke und Modell zu erkennen. Der Wagen war
dunkel, ein Cabrio mit hochgeklapptem Dach, so viel konnte sie
ausmachen. Vielleicht ein Saab oder sogar ein Mercedes. Sie
sah, wie ein Mann auf der Fahrerseite ausstieg, abschloss und
zum Haus ging. Groß, das Haar vielleicht ein wenig länger als
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modisch war. Er trug eine braune Lederjacke, Jeans und Stiefel.
Sie fand ihn recht attraktiv. Den Bruchteil einer Sekunde hoffte
sie, dass er zu ihr käme.
Sie hörte ihn unten klopfen. Hörte, wie die Tür sich öffnete, und
wie Lenny, der Hausmeister, mit dem Kunden sprach. Sie hörte
genau hin. Sie glaubte, Lennys Stimme erkennen zu können.
Seine rotzige Piepsstimme, seine ölige Haut; er steckte das Geld
ein und schickte den Kunden hoch. Er war eine Sau. Sie hatte
gesehen, wie er zur Tür hereinlinste, wenn sie arbeitete, das
machte ihn an. Man hatte ihr von ihm erzählt, hatte sie gewarnt.
Die Warnungen waren berechtigt.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihre Gedanken an Lenny zerstieben.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Selbst wenn der Mann attraktiv war, wollte sie nicht mit ihm Sex haben. Das sollte ihre
Entscheidung sein.
Katya spürte, wie Magensäure ihren Hals hochkroch, und
schluckte sie wieder hinunter. Sie atmete tief durch und versuchte, ein gelassenes Gesicht aufzusetzen. Sie hatte keine Wahl.
Langsam, wie ein Invalide, der gerade erst gesundet, ging sie zur
Tür. Innerlich schrie sie, weinte vor Wut, Schmerz und Verlust,
nach außen hin zeigte ihr Gesicht nicht mehr Gefühle als eine
Gefängnismauer. Sie erreichte die Tür, öffnete sie.
Er hatte freundliche Augen, dachte sie. Ein schüchternes Lächeln. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie trat zur Seite,
ließ ihn herein. Er kam langsam ins Zimmer, sah sich um. Er
war der Erste, der das tat, dachte sie. Ihm schien nicht zu gefallen, was er sah. Er setzte sich aufs Bett. Katya blieb stehen,
schaute ihn an. Er hatte sie immer noch nicht wirklich angesehen. Sagte nichts.
Katya wurde nervös. Vielleicht war dieser Mann ein Verrückter,
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ein Killer. Vielleicht war er derjenige, der diese Studentin entführt hatte, von der alle redeten. Oder, schlimmer noch, vielleicht war er Polizist, oder von der Einwanderungsbehörde,
wollte sie ausweisen, sie ins nächste Flugzeug zurück setzen.
Sie schluckte. Versuchte zu sprechen. »Wie heißen Sie?«, fragte
sie.
»Joe«, antwortete er nach einer Weile des Nachdenkens.
Sie nickte. »Gut. Also … Joe … was kann ich für dich tun?« Die
Worte klangen hohl und falsch, wie die Versprechungen eines
routinierten Ehebrechers.
»Das kommt darauf an«, meinte Joe schließlich.
Er wandte sich um, sah sie an. Sein Blick war freundlich – da
hatte sie recht gehabt –, aber es lag noch etwas darin. Ein Verlust, ein dunkler Schimmer.
Katya schaute ihn an, versuchte zu lächeln. »Auf … was …«,
fragte sie zögerlich.
Der Mann seufzte, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er.
»Ich kann das nicht.« Er steckte seine Hand in die Innentasche
seiner Jacke.
Katyas Herz setzte einen Schlag aus. Das war es, dachte sie. Er
würde einen Polizeiausweis hervorziehen. Oder sein Messer.
Er schaute zur Tür, bevor er wieder etwas sagte, überprüfte, dass
niemand sie belauschte. »Heißt du Katya?«, wollte er leise wissen.
Katya blieb der Atem weg. »Nein«, erwiderte sie schnell, »so
heiße ich nicht. Ich heiße Mandy. Mandy.«
»Sieh mal«, sagte Joe drängender. »Ich bin nicht von der Polizei.
Ich bin nicht von der Einwanderungsbehörde. Ich will dir nichts
tun. Ehrlich. Also bitte. Heißt du Katya?«
Sie nickte. Als hätte er ihre Gedanken lesen können.
»Gut«, meinte er. »Ich habe etwas für dich. Von Dario.«
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»Dario?« Sie schrie beinahe.
Joe beruhigte sie, legte seine Hände auf ihre Schultern. Drückte
sie hinunter, damit sie sich auf die Bettkante setzte.
»Nicht so laut«, mahnte er und nahm seine Hände weg, als er
sicher war, dass sie nicht wieder schreien würde. »Ja. Dario. Aber
du musst mit mir mitkommen.«
»Wann?«
»Jetzt.«
Sie lachte beinahe über diesen absurden Vorschlag. »Das kann
ich nicht. Nein. Unmöglich.«
»Es ist nicht unmöglich. Du musst bloß mit mir mitkommen.«
Joes Stimme war ruhig, vertrauenerweckend. »Komm einfach
mit mir hinunter. Steig in den Wagen, dann fahren wir davon.«
»Das klingt so einfach.«
»Ist es auch.«
Panik schlich sich in ihre Stimme. »Sie beobachten uns, sie
werden uns nicht gehen lassen. Sie werden Ihnen Schlimmes
antun.«
Joe lächelte. »Du glaubst doch nicht, dass ich allein gekommen
bin, oder?«
Katya runzelte die Stirn. Joe erhob sich, sah sich erneut im Zimmer um.
»Willst du irgendwas mitnehmen?«
Katya schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, in einen Traum
hineingestolpert zu sein.
Joe beugte sich über einen Stuhl in der Ecke, nahm Katyas Plastikmantel, reichte ihn ihr. »Ich denke, den wirst du brauchen.«
Sie nickte wie taub, zog ihn über ihre Arbeitskleidung. Zog den
Gürtel fest zu.
»Gut«, sagte er. »Dann los.«
Er öffnete die Zimmertür, hielt sie auf für Katya, damit sie zu18
erst durchgehen konnte. Sie lächelte ihn an. Es war die erste
freundliche Geste, die jemand ihr seit langem zuteilwerden ließ.
Hätte ihr Herz nicht so schnell geschlagen, hätte sie vielleicht
geweint.
Joe ging zum Zimmer nebenan, klopfte an die Tür. Katya runzelte die Stirn. Er lächelte bloß.
»Angezogen?«, fragte er, als er die Tür öffnete.
»Sehr lustig«, war die Antwort von drinnen. Es war das Mädchen, das früher am Abend versucht hatte, sie in ein Gespräch
zu verwickeln.
Sie klang jetzt anders. Hatte nicht mehr einen so starken Akzent.
Sie trat durch die Tür, schloss sie hinter sich.
»Kann’s losgehen?«, fragte Joe.
Sie nickte.
»Peta – Katya, Katya – Peta«, erklärte er, stellte die beiden Frauen einander vor. »Später ist Zeit für mehr. Los geht’s.«
Er ging zügig die Treppe hinunter. Unten tauchte Lenny auf, der
wieselgesichtige Hausmeister. Seine Augen weiteten sich, als er
die drei kommen sah.
»Was zur Scheiße glaubt ihr denn, was ihr da macht?«, knurrte
er und kniff seine nagetierartigen Gesichtszüge noch bösartiger
zusammen. »Geht wieder hoch. Aber sofort.«
Joe kam direkt auf ihn zu, nutzte seine Größe, sein Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich. Lenny zuckte zusammen, trat
zurück.
»Wir gehen. Alle. Probleme?« Joes Tonfall ließ keinen Zweifel
daran, dass er geradezu hoffte, es würde welche geben.
Lenny versuchte zu lachen. Es klang mehr wie der Schrei eines
kranken Pferdes. »Versucht’s doch. Geht raus. Ihr werdet ja sehen.«
»Okay.«
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Joe stieß Lenny beiseite, öffnete die Tür. Als er hindurchtrat,
griff Lenny nach Peta, der Letzten in der Reihe.
»Was glaubst du, wo du hingehst?«, fragte er, seine schweißnassen Hände um ihr Handgelenk geklammert.
Peta wirbelte herum. Sie wand sich aus Lennys Griff und bog
seinen Arm so schnell hinter seinen Rücken, dass Katya kaum
mitbekam, was sie getan hatte. Aber das darauffolgende Knacken konnte man nicht überhören.
Lenny stieß ein schrilles Heulen aus. Peta ließ ihn los, und er
sank zu Boden.
»Nächstes Mal nimm dir jemand deiner eigenen Größe vor«,
riet sie.
Und dann traten sie auf die Straße, die Tür fiel hinter ihnen zu,
Katya starrte die Frau bewundernd und erstaunt an. Joe zielte
mit seinem Schlüssel auf den Saab, ging zügig zur Beifahrertür.
»Seid vorsichtig«, mahnte Peta und trat zur Seite. »Der Wagen
ist mein ganzer Stolz. Wenn dem was passiert, ergeht es euch wie
unserem Freund da drinnen.«
Joe lächelte. »Das bezweifle ich nicht.« Er schaute Katya an, warf
einen Blick quer über die Straße, dann öffnete er ihr die Tür,
bevor er zur Fahrerseite ging. »Ich denke, du steigst besser ein.
Bevor wir ungebetenen Besuch bekommen.«
Katya folgte seinem Blick. Ihre beiden Bewacher stiegen aus
dem Peugeot, knallten wütend die Türen hinter sich zu und
marschierten quer über die Straße.
Panik machte sich in ihr breit. Mit der Hand auf dem Türgriff
erstarrte Katya.
»Einsteigen«, drängte Joe aus dem Wagen heraus. »Wir müssen
los.«
»Aber …«
»Mach dir keine Sorgen, steig einfach ein.«
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Katya riss sich zusammen und stieg ein. Joe verriegelte die
Türen. Sie starrte ihre beiden Bewacher an, während Joe den
Wagen anließ.
Sie kamen nicht über die Straße. Der Junge auf dem BMX-Rad
hatte ausgerechnet diesen Moment gewählt, um seine Stunts direkt vor ihnen zu üben. Sie versuchten, um ihn herum zu gehen.
Katya hörte sie fluchen, erkannte ihre Muttersprache. Der Junge
wich nicht aus; wohin sie wollten, fuhr auch er. Ihre Stimmen
wurden lauter, die Drohungen derber.
Eine weitere Stimme erklang. Ihre Aufseher, die versuchten, um
den Jungen herum zu gelangen, waren gegen den betrunkenen
Mann gestoßen, der die Straße entlangwankte. Der Mann, wütend darüber, dass er aufgehalten wurde, ließ sie wissen, was er
von ihnen hielt. Einer der Aufpasser schlug nach ihm. Katya, die
oft die Kraft hinter solchen Schlägen gespürt hatte, befürchtete
das Schlimmste für den Wankenden.
Aber was als Nächstes geschah, überraschte sie. Der Betrunkene
wich dem Schlag mit fast nonchalanter Geschmeidigkeit aus,
drehte sich, so dass er gegen ihren Bewacher stürzte, riss dem
Mann die Beine weg und ließ ihn auf den Asphalt knallen. Der
BMX-Junge fuhr immer noch im Zickzack vor dem anderen hin
und her.
Joe ließ den Wagen an. Katya schaute sich panisch von Seite zu
Seite um.
»Bitte beeil dich …«
»Keine Sorge.« Der Wagen sprang an. Joe fuhr davon. Katya
schaute zurück. Der BMX-Junge hatte gewendet und radelte
weg. Der Betrunkene, von dem sie jetzt bemerkte, dass er ein
Pakistani war, hatte einen ihrer Bewacher flachgelegt und sah
aus, als würde er sich gleich über den anderen hermachen. Er
schien auch nicht mehr unsicher auf den Beinen zu sein. Und
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Peta, stellte sie fest, hatte die Straße überquert, um ihm beizustehen.
»Ach, übrigens«, erklärte Joe im Fahren. »Ich bin Joe Donovan.«
Er streckte ihr die Hand hin. Sie schüttelte sie.
»Katya Tokic.« Sie lächelte. »Sie haben mir Ihren wahren Namen gesagt.«
»Ich dachte, dich anzulügen, wird mir dein Vertrauen nicht einbringen.«
Katya dachte nach, nickte. »Wo fahren wir hin?«
»Nicht weit«, meinte er. »Aber weit genug weg von denen.«
Sie schwiegen eine Weile. Katya kannte die Straßen nicht, sie
wusste nicht, wohin sie unterwegs waren. Sie schaute zum Fenster hinaus, bemerkte die Veränderungen. Die roten Ziegel- und
Steinhäuser wichen Pflanzungen. Donovan fuhr zum Fluss, an
einem Pub und Restaurant vorbei, dessen Licht einen warmen
Schein auf Bäume und Büsche warf, dann immer näher ans
Wasser, bis er auf einem abgelegenen, gekiesten Parkplatz anhielt.
Katya schaute ihn an, Sorge breitete sich in ihr aus.
»Und jetzt?«
»Warten wir. Aber hoffentlich nicht lange.« Er lehnte sich zurück, seufzte. »Na. Das war aufregend, was?«
Katya lächelte. Die Sorge schwand.
»Oh, übrigens«, sagte Donovan und wühlte in seiner Innentasche, »der ist für dich.«
Er zog einen Umschlag heraus, reichte ihn ihr und schaute dann
weg, so dass sie ungestört war, soweit dies in einem Wagen möglich sein konnte.
Sie öffnete den Umschlag und las den Brief. Bevor sie das Ende
erreicht hatte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Alles stürzte
auf sie ein: ihr Leben in der alten Heimat, bevor die Soldaten
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kamen, ihr neues Leben mit diesen schrecklichen Männern,
alles dazwischen. Die Hoffnungslosigkeit. Die Hoffnung. Quoll
in großen, heißen Tränenwellen aus ihr heraus.
Dass der andere Wagen kam, ein anonymer Pkw, und neben ihnen hielt, bemerkte sie kaum. Sie hatte den Brief viermal gelesen
und versuchte, sich die Worte einzuprägen. Sie schaute auf. Donovan stand neben dem Auto, öffnete die Tür.
»Alles in Ordnung?«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen, faltete den Brief und steckte ihn zurück in den Umschlag.
Sie nickte.
»Gut. Dann kannst du jetzt die anderen kennenlernen.«
Er hielt ihr die Tür auf, half ihr hinaus. Auf dem Parkplatz, beleuchtet durch die Scheinwerfer der beiden Autos, standen die
drei Leute, die sie zuvor gesehen hatte. Die Kälte verwandelte
ihren Atem in Rauchwolken.
»Peta kennst du«, erklärte Joe und deutete auf die blonde Frau,
die zu lächeln begann.
»Was du da mit Lenny gemacht hast …«, begann Katya.
Peta zuckte mit den Achseln. Sie hatte den Großteil ihres Makeups entfernt und sich eine gefütterte Jacke übergezogen. Ohne
ihre hochhackigen Schuhe wirkte sie viel kleiner. Drahtig und
muskulös. »Man tut, was man muss«, meinte sie.
»Das ist Amar«, stellte Donovan vor. Der Pakistani nickte. Er
war jung, stellte Katya fest, und von mittlerer Größe. Sein Designer-Parka stand auf, zeigte ein enganliegendes T-Shirt, das
seine wohldefinierten Muskeln erkennen ließ. Er krümmte und
streckte seine Finger, die geschwollen aussahen.
»Bist du verletzt?«, erkundigte sich Katya.
Amar lächelte. »Nur mein Stolz.« Seine Stimme klang hell. »Ich
muss aus der Übung sein.«
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Peta lachte. »Ein Mädchen musste ihm helfen. Er will’s nur nicht
zugeben.«
Katya lächelte. Das Adrenalin war beinahe spürbar.
»Und«, schaltete sich Donovan ein und deutete auf den jungen
hellhäutigen Schwarzen, »dieser BMX-Bandit hier ist Jamal.«
Jamal trug ein Sweatshirt mit Kapuze und streckte ihr die Hand
hin; die höfliche Geste verriet, dass er kein Ghetto-Kid war. Sie
schüttelte seine Hand.
»Nun gut«, sagte Donovan, »das war’s.« Er sah die anderen an,
lächelte. »Gut gemacht, Leute. Das war gute Arbeit.«
Katya betrachtete die vier, sah sich dann um. Die Bäume im
Wind, der Fluss dahinter. Sie atmete tief durch, sog die Lungen
voll frischer, reiner Luft. Sie lächelte. »Ich danke euch. Ich danke
euch allen …«
Sie spürte, wie die Tränen wieder kamen, und bemühte sich gar
nicht erst, sie zurückzuhalten. Denn hier, an diesem Ort, in diesem Moment, fühlte sie sich sicher.
Sicher.
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