Ausgabe Bern

Transcrição

Ausgabe Bern
Inkl. Kunstbeilage artensuite
Schweiz sFr. 7.90,
Deutschland, Österreich,
Frankreich, Italien € 6.50
NR.
ensuite
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89 MAI 2010 | 8. JAHRGANG
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Ein bekult-Panel zu
Kultur, Kulturpolitik, Kulturberichterstattung
Bern habe ein grosses und vielseitiges Kulturangebot, heisst
es. Ist das wirklich so? Wird das auch von aussen so gesehen?
Ist Kultur in Bern überhaupt im Gespräch? Welche Rolle spielen
dabei die Medien? Haben sie eine kulturpolitische Linie? Oder
rennen sie bloss den Events hinterher? Was ist los in Bern?
Es diskutieren:
Veronica Schaller Leiterin Abteilung Kulturelles
Michael Hug
Chefredaktor «Berner Zeitung»
Arthur K. Vogel
Chefredaktor «Der Bund»
Thomas Beck
Direktor Hochschule der Künste Bern
Montag, 3. Mai 2010, 18:30 Uhr
Festsaal Kunstmuseum Bern (Hodlerstr. 12)
– freier Eintritt –
Musik
6. — 9. mai
2010
6. Mai — 19 Uhr
7. Mai — 19 Uhr
8. Mai — 19 Uhr
9. Mai — 11 Uhr
9. Mai — 19 Uhr
Kirche Amsoldingen
Kirche Blumenstein
Rittersaal Thun
Schloss Oberhofen
Rittersaal Thun
Werke u.a. von: Atterberg — Bach — Biber — Brahms
Bruch — Debussy — Mozart — Schubert — Schumann
Tschaikowsky — Vivaldi
Alle Proben sind Gasthörern frei zugänglich
Vorverkauf: www.starticket.ch
Weitere Infos: www.gaia-festival.ch
ÖV-Partner
Die internationalen Solisten werden unterstützt von:
Werke von C. Halffter, I. Strawinsky, H. Villa-Lobos,
F. Lazar, I. Albeniz, G. Ustwolskaja, G. Bacewicz.
Anschliessend: Tango Argentino
mit Daniel Zisman, Violine; Michael Zisman, Bandoneon
Sonntag 2. Mai 2010, 17 Uhr
Auditorium Martha Müller, ZPK
Eintritt CHF 38 / 28 / 18
Mit Ausstellungsbesuch CHF 48 / 38 / 28
Vorverkauf: www.kulturticket.ch,
Tel. 0900 585 887 (CHF 1.20/Min.)
www.zpk.org
Foto: Brigitte Fässler
Donnerstag
Freitag
Samstag
Sonntag
Sonntag
Ensemble Paul Klee
Machismo
Inhalt
21 25
8
34
27
PERMANENT
6 SENIOREN
IM
WEB
9 ÉPIS FINES
11 M ENSCHEN &
MEDIEN
5
KULTURESSAYS
5
Vergangenheit
6
Ungeschlagen
Von Lukas Vogelsang
7
Auf der Suche nach dem Urberliner
27 Questo Piccolo Grande Amore
Von Till Hillbrecht
13 LESEZEIT
9
Die Macht der Schuhe
14 LITERATUR-TIPPS
46 Polit-Art-Trash?
POLITIK
38 I NSOMNIA
ANDERE
Von Pascal Mülchi
13 LITERATUR
13 Seit jeher unterwegs
42 T RATSCHUNDLABER
44 DAS
Von Barbara Roelli
Von Simone Weber
23 F ILOSOFENECKE
KINO / PROGRAMM
46 I MPRESSUM
47 KULTURAGENDA BERN
67 KULTURAGENDA BIEL
70 KULTURAGENDA THUN
Von Konrad Pauli
15 Netzwerken, das
Von Frank E. P. Dievernich
17 Spazieren – nicht zu bändigende Leidenschaft
Christoph Simon
8 TANZ & THEATER
18 «Wenn Dinge wahr sind und weh tun, lachen die Leute.»
Interview: Christoph Hoigné
20 Fiktive Realitäten und reale Fiktion
Von Alexandra Portmann
21 Denn die Kirche lebt...
Von Lukas Vogelsang
Bild Titelseite: Kuno von Züri West im Interview über das
neue Album: HomeRekords, Seite 34
Bild: Annette Boutellier
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Interview von Karl Schüpbach
27 M USIC & SOUNDS
Was ich mag und was nicht
DER
Von Geraldine Capaul
25 Vorhang auf!
Von Isabelle Haklar
8
12 KULTUR
24 Sommerliches Figurentheater
23 Brutale gesellschaftliche Realität an einem
ungewöhnlichen Theaterort
Interview: Luca Scigliano
30 «Grundausbildung in Heavy Metal sollte
obligatorisch sein.»
Interview: Sarah Elena Schwerzmann
31 «Work in Progress»
Von Luca D‘Alessandro
33 Restless Legs of a Soul - Delaney Davidson
Von Ruth Kofmel
34 «Reduktion muss man anstreben.»
Interview: Tobias Graden
36 Gaia – Musik in aller Intensität
Von Lukas Vogelsang
38 Ein Porsche aus Alabaster
Von Heinrich Aerni
39 KINO & FILM
39 «Ich liebe es, hässlich zu sein»
Interview: Sarah Elena Schwerzmann
41 Unser Garten Eden
Von Lukas Vogelsang
42 Dear John
Von Sonja Wenger
43 Kevin Smith und die amerikanische
Vulgarität
Von Morgane A. Ghilardi
Von Fabienne Naegeli
3
Kulturessays
8. JAHRGANG BERN UND ZÜRICH
E DITORIAL
ensuite
Vergangenheit
Von Lukas Vogelsang
K U L T U R M A G A Z I N
E
s gibt einen einfachen Trick, Kulturschaffende oder Kulturförderer auf die «Palme»
zu jagen: Fragen Sie einfach: «Was ist Kultur?»
oder noch besser: «Warum soll Kultur wichtig
sein?» Diese Fragen dürfen heute nicht mehr
gestellt, geschweige denn, noch darüber nachgedacht werden, sie gelten im GesellschaftsKnigge als eine der Todsünden im Umgang mit
geladenen Gästen. Doch probieren Sie es aus …
Entweder wendet man sich bei den Apérohäppchen mit schlechten Entschuldigungen ab, oder
aber man bestaunt Sie ungläubig – ungläubig,
dass Sie noch so hinter dem Mond sein können.
Einige freundliche Menschen werden dann versuchen, diese Fragen mit ein paar faden Begründungen wie «das ist Bildung», «schafft Arbeitsplätze» oder ganz übel: «hat mit der geistigen
Entwicklung einer Gesellschaft zu tun» … zu
erklären. Aber nach fünf Minuten ist das Thema
erschöpft. Mit gleichem Erfolg könnten Sie die
Frage nach einem Gottesbeweis stellen.
Irgendwie erschütternd. Und es erstaunt
mich auch nicht, dass die grossen Schweizer
Denker mit Dürrenmatt und Frisch schlicht ausgestorben sind und es ziemlich ruhig geworden
ist. Für das Denken ist kaum Platz in unserer
Kultur. Ein kleiner Rest nagt noch an den alten Büchern und Gedanken, doch viele sind es
nicht mehr, und es gedeiht auch nicht eine neue
Schweiz aus diesem Gedankengut. Ich sehe sie
zumindest nicht. Vielleicht hat diese fehlende
Kultur etwas mit den bodenlosen Boni zu tun
oder mit der Politik, die nur noch für die Politik
politisiert und nicht mehr für die Menschen, die
davon betroffen sind. Vielleicht hat diese Kulturlosigkeit damit zu tun, dass junge Generationen
ihre sozialen Netzwerke vermehrt im virtuellen
Raum statt in der Realität suchen.
Ich höre sie schon, die Stimmen, die mir jetzt
Dank für die finanzielle Unterstützung an:
Kultur muss
man verstehen
wollen und
geniessen lernen.
erklären wollen, dass eben genau dies die neue
Kultur sei. Immerhin, ProHelvetia und das BAK
haben jetzt, zwar ungefähr 20 Jahre zu spät, im
Sinn, mit einem Budget von 1,5 Millionen Franken Ausstellungen, Publikationen und die Entwicklung «kulturell wertvoller Spiele» zu fördern.
Reale Brett- und Gesellschaftsspiele wurden
bisher nicht gefördert – aber im virtuellen Raum
gelten sie jetzt als begehrte Förderungsobjekte.
Je weniger Kultur und Kunst mit Menschen zu
tun hat – so der Eindruck, der daraus entsteht –
umso lieber wird diese gefördert. Vielleicht eben
gerade deswegen, weil Kultur als Ware, Objekt,
als Abstraktum und nicht als etwas Inhaltliches,
mit Herz und Seele, etwas Lebendiges gilt. Eine
interessante Entwicklung.
Ich bin über die Rede von Friedrich Dürrenmatt gestolpert, die er anlässlich des Grossen Literaturpreises des Kantons Bern 1970
gehalten hatte: «Ich komme mir heute sowohl
als Kulturpreisträger wie auch als Theatermann
fragwürdig vor. Die Fragwürdigkeit liegt weder
in meinem gescheiterten Basler Theaterexperiment noch im Preis. Sie liegt in der Kultur selbst
und in der Frage, ob ein heutiger Staat überhaupt noch etwas mit Kultur zu tun habe, ob
der Staat nicht dazu da sei, nur technische und
soziale Aufgaben zu bewältigen, ob die Kultur
nicht ausserhalb der Kompetenz des Staates
liege und vom sozial betreuten Bürger privat
zu betreuen sei.» Und etwas weiter unten dann:
«Wie das Wetter ist auch die Kultur veränderlich und nur ungenau vorauszubestimmen. Vor
allem aber ist sie nicht, wir man im Westen und
im Osten glaubt, ein Besitz. Wir meinen, dass
wir Kultur besitzen, wie wir Häuser, Vermögen oder Armeen besitzen. Wir halten uns für
kultiviert.» Sehr einleuchtend dann noch dies:
«Die Kultur Europas veränderte die Welt nicht
in erster Linie durch ihre Kunstwerke, weder
durch ihre Literatur noch durch ihre Architektur, sondern durch ihr Denken.»
Schon 1970 waren also meine Fragen ziemlich präsent. Doch haben wir Dürrenmatts Rede
und Aufruf als Leitbild für unsere Kulturfragen
und für unser Kulturverständnis miteinbezogen? Haben das Kulturschaffende, VeranstalterInnen und die Kulturförderstellen überhaupt
je gelesen? 40 Jahre ist es her, und wir irren
irgendwie immer noch an gleicher Stelle. Und
was ist sie denn jetzt, diese Kultur, die wir als so
wichtig erachten, dass wir keine Begrifflichkeit
dafür finden?
ensuite.ch
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
5
Kulturessays
SENIOREN IM WEB
Von Willy Vogelsang, Senior
I NTERMEZZO
W
ann haben Sie zuletzt einen Ameisenhaufen entdeckt und beobachtet?
Oft liegen sie unter Tannen am Waldrand,
grössere oder kleinere Haufen aus dürren
Tannennadeln. Meist bewegt sich nicht viel.
Manchmal staune ich aber, wie emsig da gearbeitet wird, wie Baumaterial herangeschleppt
und umplatziert, aber auch Futter durch Eingangslöcher in die Tiefen des Baues gezogen
wird. Auch um den Bau herum herrscht eine
kaum wahrnehmbare Wanderbewegung. Über
weite Distanzen schwärmen die Tierchen aus,
um ihre Funde in faszinierender, bewundernswert mühevoller Art zurück zu bringen.
Sie wissen aber auch, wenn dieser Betrieb
von aussen durch irgendein Ereignis – haben
wir nicht als Kinder jeweils mit einem Stock
den Bau absichtlich gestört? – durcheinandergebracht wird, dass dann ganz plötzlich ein
wirres hektisches Durcheinander Hunderter
von Tierchen entsteht. Sie quellen aus allen
Öffnungen aus dem Untergrund und überziehen den Bau mit brodelndem, wie ziel- oder
orientierungslosem Hin und Her.
Dieses Szenenbild kam mir in den Sinn, als
das neue CMS (Content Management System)
mit einem neuen Layout für das Internetportal
seniorweb.ch am 23. März aufgeschaltet wurde. Nach monatelanger erwartungsvoller Ruhe
begann sofort ein emsiges Treiben. Aktive
Club-Mitglieder und Benutzer der Foren, alte
Bekannte, Neueinsteiger, Redaktionsmitarbeiter, alle suchten sich zu orientieren. Begeisterung und Kritik, technische und sprachliche
Rückfragen und Hinweise beherrschten fast
alle Forenthemen. Bei genauerem Verfolgen
der Webseite bemerkte ich aber auch die fast
übermenschliche Präsenz und Emsigkeit im
Team der Projektleitung und der Programmierer. Hunderte von Meldungen – Wünsche,
Hinweise und Korrekturen – wurden innert
kurzer Zeit noch vor den Osterfeiertagen in
Tag- und Nachtarbeit entgegengenommen
und aufgelistet. Zu einem grossen Teil sind
sie bereits verwirklicht.
Dem Projektteam und den Technikern ist
ein grosses Kränzchen zu winden für ihre
Leistung, im neuen Auftritt sämtliche Beiträge seit dem letzten grossen Systemwechsel
im November 2007 zu erhalten und wieder
auffindbar zu machen! Das sind Tausende von
Forendiskussionen und Artikeln, Kolumnen,
Bilder und Berichte von Ausflügen und vieles
mehr.
Der Ameisenhaufen scheint wieder komplett zu funktionieren. Entdecken Sie ihn; beobachten Sie ihn. Krabbeln Sie mit auf
www.seniorweb.ch
informiert · unterhält · vernetzt
6
Ungeschlagen
Von Isabelle Haklar
S
CB ist noch nicht Meister – zwischenzeitlich vielleicht nun doch –, YB wird es wohl
leider auch diese Saison nicht, doch ich, ich
bin bereits mehrfache Meisterin in diesen zwei
Disziplinen: Meisterin im Verdrängen sowie
Meisterin des Chaos.
Seit Jahren verteidige ich diese Titel nun
schon, und zwar sehr erfolgreich. Immer wieder werde ich aufs Neue ausgezeichnet. Ausgezeichnet von einer äusserst kritischen und
nicht minder kompetenten Jury: meinem Freundes- und Familienkreis.
Meine Fachjury vergleicht mich mit anderen
mir bekannten Personen, wobei stets ich das
Rennen mache. Denn bei den Vergleichen falle
ich, im Gegensatz zu meinen Mitstreitern, nie
unter den Superlativ. Die Krone, die ich davontrage, ist immer das kleine Wörtchen «am».
Sei es, dass bei mir am meisten Gläser und
Tassen gleichzeitig in Gebrauch sind oder am
meisten Rechnungen herumliegen, deren Zahlungsfrist nicht heute oder morgen, sondern
in der gängigen Zeitrechnung weiter zurückliegt. Und bei mir darf, laut Gremium, das bereits gebündelte Altpapier am längsten in der
Küche verweilen. Leere Wein- und Petflaschen
hingegen dümpeln scheinbar auch bei mir am
längsten auf dem Balkon herum. Oder es ist auf
meinem Schuhschränkchen vor der Haustüre,
wo sich am meisten Schuhe stapeln. Letzteres,
das gebe ich zu, war ein leicht verdienter Sieg,
denn mein Schuhschränkchen nenne ich nicht
vergebens Schränkchen; es ist 47 Zentimeter
hoch und 24 Zentimeter tief. Also keine nennenswerte Auszeichnung. Und wenn man mit
drei leeren Wein- und zwei leeren Petflaschen
auf dem Balkon als Sieger hervorgeht, hält sich
auch hier mein Stolz etwas in Grenzen.
Auch wurde ich schon mehrmals einer nicht
abgewaschenen Gratinform wegen prämiert.
Denn bei mir steht diese, mit Wasser gefüllt
zum Aufweichen der Speisereste, am längsten
im Spülbecken. Ah, da fällt mir ein, ich bin
es auch, die am längsten wartet, ehe sie das
wichtige Telefonat mit einer Behörde in Angriff
nimmt. Und niemand schiebt übrigens zu Erledigendes so lange vor sich her wie ich. Ich
zögere, so die Juroren, das Handeln am längsten
heraus. Und um meiner Titelsammlung gleich
noch eine weitere Krone hinzuzufügen, erledige ich dann, gezwungenermassen, innert kürzester Zeit am meisten Sachen aufs Mal.
Und in meinem Umfeld bin ich es, die ihren Briefkasten am längsten nicht leert. Dies
mache ich natürlich nur, damit auch einmal jemand anderes die Möglichkeit auf den Titel der
«Am-längsten-herumliegenden-unbezahltenRechnung» hat.
Dann bin auch ich es, die sich scheinbar
über die kleinsten Dinge am meisten und längsten aufregen kann oder am meisten Sachen,
egal welcher Grösse, verlegt und dann auch am
längsten und verbissensten danach sucht – und
sie immer an den skurrilsten Orten wiederfindet
– wohlbemerkt. Es sei denn, es handle sich um
einen Regenschirm. Denn meine Regenschirme
sind nach dem ersten Gebrauch meistens schon
nicht mehr in meinem Besitz. Sie zählen – abgesehen von Schokolade – zu den Dingen, die ich
am wenigsten lange «Mein» nennen kann. Doch
wer weiss, vielleicht trägt ja der Finder danach
am längsten Sorge zu meinem ausgesetzten, gepunkteten «Schärmespänder» und kassiert dafür den für mich am unerreichbarsten Orden.
TANZ-AUSBLICK MAI
W
er zwischen den Tagen des Tanzes und
den auf den Fersen folgenden STEPS
#12 noch Musse hat, sich Gedanken über das
drohend aufziehende Sommer-Tanzloch zu machen, dem sei anempfohlen:
Urlaub am Lago Maggiore zu verbringen
und zu Fuss den Sommerkurs in Ascona aufzusuchen. Dort lehren renommierte Profis, die
seit 37 Jahren Dance Promotion Suisse einlädt.
Während die traditionsreichen internationalen
Kurse wie in Köln (gegründet von Kurt Joos)
eingehen, andere – wie in Wien – dagegegen
sich zum Mammut auswachsen, setzt Ascona
auf Überschaubarkeit. Davon profitiert der einzelne und das Ambiente.
Programm vom 2. bis 6. August:
www.dancepromotion.ch (Anmelden bis Mitte Mai)
Kulturessays
R ECLAIM : M IT
DEM
A UTOLIFT
AUF DEN
D ACHGARTEN
Auf der Suche nach dem Urberliner
Von Till Hillbrecht
I
n der einstigen Todeszone um den Mauerpark beim Prenzlauer Berg wird das alte
Leben auf einem riesigen, allsonntäglichen
Flohmarkt feilsch geboten, der so gross ist
wie die gesamte Verkaufsfläche der Berner
Altstadt. Die Gassen sind gedrängt, jeder will
eines der selbst bedruckten T-Shirts ergattern,
alte Schuhe, ein gebrauchtes Velo. Am Mauerpark, da wohnt eine Freundin. Noch gerade im
letzten Haus auf der ehemaligen Ostseite. Sie
würde niemals über die ehemalige Grenze in
den Westen ziehen. Und ich weiss noch nicht
einmal, auf welcher Seite ich gerade stehe.
Dabei ist es mit dem Prenzlauer Berg schon
fast vorbei. Das einstige Arbeiterquartier wird
heute von der oberen Mittelschicht bevölkert,
nur in dünnen Nischen zwischen renovierten
Häusern und Neubauten halten Kleintheater
und alte Kneipen der Schraubzwinge stand.
Arbeiterschicht und zugezogene Künstler haben sich nicht gebissen. Nur: Der Einzug des
Kunst- und Kulturmarkts sprengte den alten
Quartierkosmos und baute einen neuen, der den
Stadtteil so fest aufwertete, dass den Künstlern
die Trendsetter folgten. Die steigende Nachfrage nach dem aufgeblühten Wohnraum war
zügig nur noch mit Geld zu beantworten. Der
Prenzlauer Berg ist ein Paradebeispiel für die
so genannte Gentrifizierung, die «Veredelung»
eines einstigen Arbeiter- oder sogar Problemviertels.
Nur: Das alleine ist kein Phänomen, welches
Berlin vorbehalten ist. Auch nicht die Methoden, mit denen sich in die Ecke gedrängte
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Foto Till Hillbrecht
Aktivisten gegen den Wandel wehren. In der
Nacht werden unbekannte Sportwagen kurzerhand abgebrannt, um die Wohngegend für den
Wohlstand unattraktiv zu halten. Stärker als
anderswo aber regt sich in Berlin auch eine leise Abneigung gegenüber der Kulturszene. Die
war anfangs nur ein lokaler Kloss, wurde aber
unter dem Druck des Trends weiter und weiter
ausgewallt, bis sie als dünne Masse auch jene
Orte bedeckte, wo man heute von ihr gar nichts
wissen will. Die Szene belebt den Gentrifizierungsprozess nun ständig neu. Es war Prenzlauer Berg, es ist Friedrichshain, Kreuzberg,
und es wird Neukölln sein. Das ehemalige Problemviertel Kreuzberg, mit der weltweit grössten türkischen Diaspora, ist heute zukunftsträchtiger Standort für Wohlfühloasen und
vielversprechende Boutiquen mit findigen Namen aus Hollywood-Streifen. Und für luxuriöse
Carlofts, in denen der Sportwagen per Autolift
auf dem Dachgarten parkiert und vor dem Mob
geschützt wird. Der Spätkaufallerwelts-Laden
von Monsieur Ibrahim weicht dem Biomarkt,
der Ende März schon Erdbeeren verkauft. Die
Eckkneipe weicht der Chill Out-Lounge. Die ist
noch wenig besucht in Neukölln. Aber seit der
angrenzende Flughafen Tempelhof geschlossen
wurde, ist es teuer geworden um die ehemalige
Flugschneise. Besser man investiert jetzt, auch
wenn der Markt noch schwach ist.
Der Berliner identifiziert sich mit seinem
Kiez. Doch mit dem Wandel im Kiez gehen auch
seine Anwohner. Wer heute den Kreuzberger
Lebensraum gestaltet, kann morgen hier viel-
leicht nicht mehr leben. Und die Suche nach
dem Urberliner ist schwieriger als erwartet.
Vielleicht, weil er anders ist, als man meint?
Ist nicht der Türke aus Kreuzberg genauso der
Urberliner wie die Charlotte, die am Eck hinter
dem Tresen steht und Weisse ausschenkt? Im
Trendviertel wird derweil der Freiheitsdrang
vermarktet. «Reclaim the Streets» avanciert
vom Schlachtruf zum Label, welches in fettgedruckten Buchstaben auf schicken T-Shirts
prangt und den Touristen ausweist, dass sie
dabei waren. «Reclaim the Streets» rufen in
Berlin alle: Teenager kaufen die Revolution
in der Boutique, Aktivisten planen sie von ihrem bedrängten Wohnraum aus. Strassenkunst
hängt in den Galerien, deren Anzahl in Berlin
rekordverdächtig hoch ist. Genauso wie die
Arbeitslosigkeit. Heute ist Berlin die Stadt mit
dem offiziell besten Club der Welt, für den man
zwei Stunden ansteht und eine Unsumme an
Eintrittsgeld bezahlt. Die Stadt mit einer derart
starken Klientel, dass selbst Nischen eine Magnetwirkung auf das Publikum haben.
Der Urberliner ist richtig schwierig zu finden. So viele ziehen hier her, so viele weichen.
Die Freundin im letzten Haus zur Westgrenze ist eine Urberlinerin. Auch Charlotte hinter
dem Tresen. Der Strassenmusiker mit dem Saxophon an der Schönhauser Allee ist ein Urberliner. Und noch eine, die in Neukölln gegen die
Plastikrevolution kämpft und nachts Stühle auf
die Strasse stellt, weil die Parkbänke letzthin
präventiv entfernt worden sind.
7
Kulturessays
E SSEN
UND TRINKEN
Was ich mag und was nicht
Von Barbara Roelli
W
as ich mag:
Wenn bei Äpfeln in der Migros noch ein
Blatt am Stiel haftet.
Den Ausdruck «Kraut und Rüben».
Rezepte sammeln, weitergeben oder weitersagen.
Wenn Tomaten endlich wieder Saison haben, vor
allem die Sorte Coeur de Boeuf.
Das Glückselige im Gesicht eines Menschen, der
zu essen beginnt und darüber ins Schwärmen
gerät.
Roastbeef
Die Salatsauce meiner Grossmutter mütterlicherseits (sie verwendet Kressi Essig).
Wenn der Geruch von Selbstgebackenem durchs
Haus zieht.
Ein Menü komponieren; dieses speziell für eine
bestimmte Person zusammenstellen.
Pouletschenkel in die Hand nehmen und das
Fleisch vom Knochen nagen.
Filme wie «Delicatessen», «Bittersüsse Schokolade», «Eat drink man women».
Mutanten: Rüebli mit eigentümlichen Auswüchsen («Schnäbis»).
Mascarpone mit Rohschinken auf der Pizza.
Was man isst, selber aus der Natur holen; wie
Bärlauch pflücken.
Jetzt im Frühling: Carciofini (Miniartischocken)
und Barba di frate (Mönchsbart). Beide Gemüse
in Harmonie bringen mit Knoblauch und Olivenöl
zu Pasta.
Picknicken auf einer wilden Wiese.
Fleischfressende Pflanzen.
Maiskolben auf dem Grill bräteln. Und während
dem Essen die schmelzende Butter auf der Zunge
spüren.
Überhaupt: Zungenküsse.
Spaghettireste in der Bratpfanne brutzeln bis sie
knusprig sind.
Vacherin Mont-d’Or im Ofen schmelzen und aus
der Spanschachtel schlemmen.
8
Bild: Barbara Roelli
Foodstyling in den Kochbüchern von Donna Hay.
Wenn ich jemanden neu kennenlerne, danach fragen, was er gerne isst.
Mürbes Gebäck – wegen des Salzes im süssen
Teig.
Rhabarber. Rhabarbara heissen.
Vorratsschränke.
Verlorene Eier.
Den Leuten beim Einkaufen in den Wagen schauen und mir vorstellen, wie sie leben.
Blut- und Leberwurst mit Apfelschnitzen und
Kartoffelstock. Und das zur Herbstzeit, wenn gemetzget wird in der goldenen Sonne.
In geselliger Runde über ein Fondue herfallen.
Jemanden zum Fressen gern haben.
W
as ich nicht mag:
Spargel aus Peru.
Erdbeeren im Frühling.
Wenn die Person, die gekocht hat, nicht zufrieden ist mit dem Ergebnis und während des Essens das Gekochte schlechtmacht.
Merken, dass ich dies selber tue.
Verdammt Lust haben nach Pasta mit Thonsauce
und verzichten (wollen).
Dass der Thunfisch vom Aussterben bedroht ist.
Am Mittag Weisswein trinken und am Nachmittag Kopfweh bekommen davon.
Wenn ein Früchtejoghurt nur dank künstlicher
Aromen schmeckt, wie es scheinbar sollte.
Geschmackskombinationen, in denen die einzelnen Zutaten untergehen.
Wenn das Servicepersonal im Restaurant die Teller abräumt, auch wenn noch nicht alle am Tisch
fertig gegessen haben.
Wenn man während des Essens nur noch über's
Essen redet.
Wenn Bio-Produkte ökologisch fraglich sind; wie
Biobrot mit Bioweizen aus Amerika.
Vom Maiskolben-Essen Pflanzenteile und vom
Salami-Essen Fettstückchen zwischen den Zähnen haben.
Gesuchte Produkte wie eine Glacesorte «Cupuaçu Açai-Acerola & Banane».
Nicht wissen, worauf man wirklich Lust hat.
Vegetarisches Cordon-Bleu, vegetarische Nuggets, Quorn Pfeffer Grillsteak, Quorn Gehacktes,
Tofu-Kräuterbratwurst: Produkte, die vegetarisch
sein wollen, aber fleischliche Namen haben.
Versalzenes Essen; speziell, wenn ich dran Schuld
bin.
Wenn ich mir in meiner Hose vorkomme, wie
eine Wurst in der Pelle.
Wassermelone. Vor allem das mehlige Fleisch um
die dunklen Kerne herum.
Die oftmals undefinierbare Masse am Drehspiess
vom Dönerstand.
Essen, obwohl ich keinen Hunger habe.
Gerichte in Menükarten, die mehr versprechen,
als sie halten können (Hauptsache speziell).
Leute, die Dinge auf ihrem Teller mit angewidertem Blick sezieren.
Wenn ganze Desserts in Schokoladetafeln gepackt werden: Schokolade mit Crema Catalana,
Mousse au Chocolat, Tiramisu, Panna Cotta.
Wenn Geschnetzeltes, Kräuterbutter und Pommes Frites auf der Pizza serviert werden.
Sich paarende Fruchtfliegen.
Analogkäse, Schweinefleischerzeugnis und andere Schummeleien.
Dass Essen mit den Fingern unanständig sein
soll.
Leute, die in Form gepresste Chicken Nuggets
essen, die aber kein Fleisch essen können, wenn
sie das Tier erkennen.
Die Qual der Wahl zwischen über 70 JoghurtSorten.
Dass Essen fettfrei und zum Lifestyle geworden
ist.
Kulturessays
ÉPIS FINES
Von Michael Lack
TOMATEN-PILZBRUSCHETTA
MIT BÄRLAUCH
1
150 g
100 g
1
½
1
1 dl
1,5 dl
1*
Vollkorn-Pariserbrot oder Wurzelbrot
Champignons
Tomaten
Bund Bärlauch
Stück Zwiebel
Knoblauchzehe
Balsamico
Olivenöl
Salz und Pfeffer
Vorbereitung
Pilze in Ecken schneiden und die Tomaten in
Würfel. Die Zwiebel und den Knoblauch zerhacken. Bärlauch in feine Streifen schneiden.
Das Brot in dünne Scheiben teilen und toasten. Olivenöl und Balsamico mixen.
Zubereitung
Die Pilze mit den Tomaten und den gehackten
Zwiebeln und dem Knoblauch leicht andünsten. Mit Salz und Pfeffer würzen. Mit dem
Dressing ablöschen und von der heissen Platte nehmen. Mit einem Löffel die Pilz-Tomaten-Masse auf das vorgetoastete Brot geben.
Den feingeschnittenen Bärlauch darübergeben. Tipp: Man kann das Ganze auch noch mit
etwas Parmesan verfeinern!
K LEIDER
MACHEN
L EUTE
Die Macht der Schuhe
Von Simone Weber
E
in Outfit kann noch so perfekt sein, wenn
der Schuh nicht passt, bringt das gar nichts.
Der Schuh ist das Salz in der Suppe, muss perfekt
abgestimmt sein, sollte die Kleidung immer noch
etwas besser aussehen lassen. Er kann aber auch
alles zerstören. Wie sähe eine Braut in Turnschuhen aus?
Klar ist, dass jeder Mensch eine gewisse Auswahl an Schuhwerk besitzen sollte. Bei Männern
sieht die Sache diesbezüglich etwas einfacher
aus. Die Auswahl an Herrenschuhen ist ziemlich
überschaubar. Die Treter gibt’s ja nur in flach!
Natürlich gibt es etwas edlere Modelle, spitzig,
aus Leder, aber auch ganz plumpe, schwere. Und
dann natürlich die Turnschuhe oder Sneakers. In
den letzten Jahren wurden sie besonders bei jüngeren Generationen der männlichen Schöpfung
zum Schuh schlechthin. Sneakers sind lässig,
aber trotzdem eleganter als die Turnschuhe der
80er. Wir haben also Sneakers und Halbschuhe.
Vielleicht sollte man Sandalen noch erwähnen.
Obwohl … da denkt man doch gleich wieder an
Wollsocken in ausgelatschten Ledersandalen.
Nichts ist so erschreckend wie ein paar Wollsocken in Sandalen – im Winter. Dann möchte
man noch lieber einen Schneeball ans Fenster
gedrescht bekommen, wenn man im Tram ein
Nickerchen hält. Also Männer, lieber keine Sandalen! Flipflops könnt ihr tragen, das geht nämlich nicht mit Socken.
Praktisch an Herrenschuhen ist auch, dass sie
so schnell an- und ausgezogen werden können.
Kein lästiges Riemchenbinden und auch kein
Schenkel zusammenquetschen, damit der Reisverschluss des Stiefels zugeht. Nein, Herrenschuhe können in Sekundenschnelle vom Fuss gesteift
und nach George W. Bush geschleudert werden,
wie wir in der Vergangenheit gelernt haben. Das
lohnt sich auch, weil Herrenschuhe meist das nötige Gewicht besitzen, das mit etwas Schwung
verbunden einen üblen Schmerz auslösen und
einen blauen Fleck zur Erinnerung hinterlassen
können.
Natürlich gibt’s für Herren auch andere Schuhmodelle wie Springerstiefel oder Wanderschuhe.
Sie sind modisch gesehen aber nicht sonderlich
relevant und deshalb hier nicht von Bedeutung.
Etwas umfänglicher ist die ganze Schuh-Sache
in der Frauenwelt. Da hat die Auswahl im Laufe
der Zeit eine überwältigende Grösse angenommen. Wir Damen freuen uns ausserordentlich
darüber, dass wir uns nicht mehr in mittelalterlichen Schnabelschuhen promenieren müssen.
Wir mögen es etwas eleganter. Dann schon eher
die goldenen Sandalen, die im alten Ägypten
ausschliesslich von Pharaonen getragen werden
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
durften. Ja, königlich möchten wir uns fühlen, und
wenn Schuhe sowas können, ist das umso besser.
Blöd ist nur, dass es meist die hohen Hacken
sind, die uns graziös erscheinen lassen. Hohe
Hacken sind unbequem. In hohen Hacken muss
man laufen können. Und das muss gelernt werden. Hat Frau den Gang raus, überzeugt sie mit
einem erotisch-graziösen Po-Gewackel. Ganz
praktisch ist auch, dass das «Auf-den-Zehen
-Gehen» den weiblichen Körper in eine optimale
Haltung zwingt – rein optisch gesehen natürlich.
Busen raus, Bauch rein, einfach so. Ohne daran
zu denken. Wirklich praktisch.
Natürlich wissen wir, dass wir mit solchen
Schuhen unseren Rücken verbiegen und die
Knie zerstören. Von den deformierten Zehen wollen wir gar nicht sprechen. Besonders schlimm
wird’s, wenn die Schuhe, wie so oft, auch noch
eine halbe Grösse zu klein gekauft wurden. In
ein paar Jahren werden unsere Latschen dann
zu hübschen, kleinen Lotusfüsschen, die in jedes
Schühchen passen. Aber barfuss kann man sich
dann nicht mehr aus dem Haus wagen. Also, besser auf den Orthopäden hören und auf klein und
hoch verzichten.
Es gibt ja auch unglaublich viele Alternativen!
Der perfekte Schuh muss keinen acht-Zentimeter-Absatz besitzen. Es gibt ihn, den Schuh der
einem ein verstohlenes Lächeln aufs Gesicht
zaubert. Auf den man zwanghaft blicken muss,
wenn man die Beine übereinanderschlägt, den
man absichtlich unter dem Kaffeetischchen hervorstechen lässt, ganz egal wie viele Passanten
drüber stolpern.
Dieser Schuh schmiegt sich um den Fuss wie
eine zweite Haut: Wir müssen uns nicht einreden, dass das Leder sich dann schon noch ein
wenig ausdehnen wird. So ein Schuh lässt einen
leichtfüssig schreiten, sieht wundervoll aus und
hebt das gesamte Outfit auf ein höheres Niveau.
Dieser Schuh kann ein Ballerina, eine Sandale, ein
Halbschuh, eine Stiefelette oder was auch immer
sein. Was er auf jeden Fall ist: ein Glückfall. Denn
den perfekten Schuh trifft man selten.
Vielleicht brauchen wir Frauen deshalb einen ganzen Schrank voller Schuhe. Viele tragen
wir nur zwei- oder dreimal. Das liegt aber nicht
daran, dass sie uns nicht mehr gefallen. Schuhe
wickeln uns mit ihrer Schönheit um den Finger.
Aber: Je schöner, desto unbequemer. Kaum haben
wir sie, landen sie für immer im Schuhschrank,
weil sie zu hoch, zu kurz oder zu eng sind. Wir
versuchen dann krampfhaft, den Schuh irgendwie
bequem zu machen – vergebens. Also gehen wir
los und kaufen uns neue. Das ist die Macht der
Schuhe.
9
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Kulturessays
CARTOON
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VON MENSCHEN UND MEDIEN
Sandkastenspiele
Von Lukas Vogelsang
V
erlagsfürste in der Schweiz und auch
anderwo, präsentieren uns seit Jahren
erschreckende Bilanzen und Zahlen. Jährlich
werden Millionen an Gewinneinbussen gemeldet. So hat die Tamedia im 2009 einen Gewinnrückgang von 55,8 Prozent zu verzeichnen.
Das sind aber immer noch fast 60 Millionen
Gewinn. Auch Ringier, das Monster-Verlagsimperium, musste gegenüber dem Rekordgewinnjahr 2008 ganze 72,4 Prozent einstecken. Die
NZZ mit einem Gewinn von 22,2 Millionen im
Vorjahr machte im Krisenjahr sogar 3,1 Millionen Verlust. Welch trübe Stimmung da in den
Verlagshäusern herrschen muss, erklärt die
Lustlosigkeit der Zeitungen von heute. Innovationen werden allesamt eingespart. Interessante Artikel liegen ausserhalb des Budgets, und
allgemein bekannter Pflichtstoff wird mit trüben Hintergedanken den Agenturmeldungen
abgeschrieben.
Seit Jahren versuchen uns die Verlagsfürsten zu erklären, dass nur eine gewinnbringende Zeitung eine Zeitung ist, dass es nur glückliche AktionärInnen geben kann und darf und
posaunen gleichzeitig, dass der Journalismus
tot ist.
Es sind die gleichen Verlagsfürsten, die mit
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
grossen Investitionen Gratiszeitungen auf den
Markt werfen, nur um die Konkurrenz in die
Knie zu zwingen. Es sind die gleichen Verlagsfürsten, die statt Zeitungen gratis Onlineportale erstellen, Kommerzplattformen betreiben,
Lebensmittellabels vermarkten, Konzerttickets
oder selber Kulturveranstalter spielen. Die gleichen Machthaber sparen bei den eigenen Zeitungen ein, damit sie die gewinnbringenderen
Geschäftszweige ausbauen können. Eigentlich
wollte man neue Geschäftszweige bauen, um
die Zeitung zu stützen. Doch das ist zu einem
Eigenlauf geworden. Es sind diese verflixten
Investitionen, die das Geld für die Zeitungen
im Sand ersticken lassen – eben dieses Geld,
welches für die Zukunft der Presseprodukte
gedacht war. Es nützt nichts mehr, dieses noch
zu giessen. Daraus wächst nichts mehr.
Die Verlagsfürsten haben die Zeitungskuh
so lange gemolken, bis deren Zitzen wund
geworden sind. Das Ersticken an der eigenen
Phantasielosigkeit lassen sie nun die ganze
Welt wissen. Und die Verlagsfürsten mit den
Villen an den Goldküsten jammern bitter. Sie
konzentrieren sich so vehement auf das Sparen, damit doch Gewinn entsteht, dass sie vergessen haben, was sie eigentlich produzieren.
In dieser Ausgabe von ensuite hat es drei
Artikel, die bei den grossen Tageszeitungen
aus so genannten Budgetgründen abgewiesen
wurden. Uns wurden diese Texte gratis zur Verfügung gestellt, im Wissen darum, dass wir diese mit Würde und Respekt abdrucken werden.
Das ist immer noch besser, als wie ein «armer
Hund» bedient zu werden. Aber es kommt alles
noch besser: Die zehn grössten Tageszeitungen
haben insgesamt 4,4 Millionen Leser. Vor fünf
Jahren waren es noch 4,3 Millionen. Auch die
Werbeeinnahmen stehen im Vergleich zu den
Gewinneinbussen in einem anderen Verhältnis: 2009 sind die Werbeeinnahmen nur um 17
Prozent eingebrochen. Das steht nicht mal im
Einklang mit den Gewinnverlusten der Verlage.
Die scheinen grundsätzlich Mühe zu haben.
Die Verlagsfürsten wollen uns komische
Sandkastenspiele verkaufen. Vielleicht haben
sie ja von Geschäften keine Ahnung. Vielleicht
lieben sie ihre Zeitungen nicht so, wie die LeserInnen sie lieben – oder liebten. Vielleicht
lieben es die Fürsten einfach, mit dem Porsche
bei der nächsten Aktionärsversammlung vorzufahren und nicht mit Eiern beworfen zu werden.
Aber ich finde das alles nur noch peinlich.
11
Kulturessays
K ULTUR
DER
P OLITIK
Zum Schreien komisch
Von Peter J. Betts
Z
um Schreien komisch ist es, frivol und abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich logisch, banal und vielschichtig, zynisch und
tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte
ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des
Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem
Mass aktuell, dachte ich bei meiner letzten Lektüre vor ein paar Tagen. Leider. «CATCH-22» erschien erstmals 1961. Der Autor, Joseph Heller,
wurde 1923 in Brooklyn geboren. Im zweiten
Weltkrieg «diente» er in der US-Airforce als Bombardier. Nach dem Krieg studierte er unter anderem in Oxford, lehrte während einiger Jahre,
startete dann eine erfolgversprechende Laufbahn
als Werber für renommierte Zeitschriften wie
«Time» und «Look», dabei kam ihm die Idee für
«CATCH-22». Durch Erfahrung wird man – klug?
Acht Jahre schrieb er an diesem Werk. Ich hatte
es wieder in die Hand genommen, weil ich unbeschwert lachen wollte – ja nichts Depressives! Er
hat auch viele andere, in doppeltem Sinne ausgezeichnete Bücher verfasst, aber wer «CATCH-22»
sagt, stellt automatisch die Gleichung auf: Heller
= «CATCH-22», so wie man bei Goethe an «Faust»
denkt und nicht an »Die Leiden des jungen
Werther», aber dabei auch nicht an Christopher
Marlowe. Kultur der Politik pur: Eine kleine (bezüglich der Handlung fiktive) Insel, etwa dreizehn Kilometer südlich von Sardinien, zur Zeit
der Eroberung Italiens durch die Amerikaner im
Zweiten Weltkrieg, ist Ausgangspunkt all dieser
schrecklichen und – lustigen Geschichten. Von
dort aus werden die Bombereinsätze geflogen
– von inkompetenten Verrückten, gewissenlosen Ehrgeizlingen, Idioten in Machtpositionen
geplant und befohlen. So wird etwa das Soll der
Einsätze für die Crews von den üblichen fünfzig
auf sechzig, dann siebzig, dann achtzig erhöht,
nur damit der verantwortliche Oberst den von der
Journaille fabrizierten Ruf als Führer des einsatzfreudigsten Geschwaders erhält und vorzeitig
zum General befördert wird, ohne selbst je eine
Flak-Kanone gesehen zu haben. Die Flugcrews,
an die äussersten Grenzen und darüber hinaus
getrieben, drehen durch, sterben vor sich hin.
Was immer geschieht, was immer schief geht,
wer immer sinnlos krepiert: Irgendjemand, immer von der gleichen Clique, verdient Unsummen
Geldes und erfährt rigorosen Machtzuwachs. Ein
gewiefter Händler zum Beispiel wird von der offiziellen Funktion als Bomberpilot durch Mitinteressenten von diesen Verpflichtungen befreit
und zum Messeoffizier befördert. Dank seines
geschäftsbedingten Ranges und vieler Ehrentitel
baut er sich und seinen Kumpeln ein Handlungs-
12
netz für Güter auf von Ägypten bis Spanien, Moskau, Stockholm, Berlin, Wien, Budapest: Überall
wird irgend eine Überproduktion von etwas, das
anderswo als gesuchteste Mangelware verkauft
werden kann, ausgenutzt, unter selbstverständlichem Einbezug auch der feindlichen Luftwaffe. Seine unangefochtene Macht wächst ungebremst: Gewinn kennt keine Grenzen. Gibt es
scheinbar einen unausweichlichen Flop, wandelt
der Schieber diesen für sich in einen Grosserfolg
um: Eine Riesenmenge ägyptischer Bauwolle, für
die er keinen Absatz findet, wird Blüte für Blüte
mit Schokolade überzogen und erzielt als Leckerbissen einen Riesengewinn – mit Folgegewinnen
der nach Genuss nötigen Medikamente wegen.
Bombardemente von Dörfern, Brücken, Flugplätzen usw. werden unter Einbezug eingeweihter feindlicher Kräfte in Szene gesetzt, auch die
Flugabwehr wird zentral organisiert im Interesse
aller Shareholder hüben und drüben. Nur gestorben wird real: Crews, Zivilisten, Kinder, Huren,
Pöbel gehen grenzenlos drauf. Der Ton unter den
Verantwortlichen bleibt freundlich, alle sprechen
von Pflicht, Ehre, Treue, Vaterland. Den anderen
gehen die Worte aus. Die Luft auch. In den 60erJahren war «CATCH-22» eines der bildenden Elemente der «68er». Mitschuldig vielleicht für das
damals übliche Misstrauen den Institutionen und
vorgepredigten Idealen, Würde- und Machttragenden gegenüber. Nun, 68er sind älter geworden, sind Minister oder gehören Économie Suisse
an. Gewinn heiligt die Mittel: Voraussetzung zur
Reife. Steueroasen. Offshore-Banking. Abermilliarden von, sagen wir Franken, die Schwellenoder Entwicklungsländern entzogen worden sind,
mehren sich steuerfrei, hier zum Beispiel, und
den Herkunftsländern fehlen die – an sich vorhandenen – Gelder für effiziente Armutsbekämpfung. Natürlich wehren wir uns hier dagegen, diese Systeme zu ändern – auch unsere Wirtschaft
würde ja tangiert, wir alle verdienten vielleicht
ein bis zwei Prozent weniger Geld. Wo kämen
wir, in einem der reichsten Länder der Welt, da
hin? Wie lange haben deutsche Spitzenpolitiker
ihrem Volk eingeredet, ihre Landsleute in Afghanistan seien alles andere als im Krieg? Wurde
nicht kürzlich mit Akribie ein Feuerüberfall auf
Busse voller Terroristen geplant und ausgeführt,
was angesichts der Leichen von Frauen und Kindern einigen Erklärungsbedarf erforderte? Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandprodukt, auch
wenn es sich um Durchschnittswerte ohne reale
Aussagekraft handelt, werden als unumstössliche
Gradmesser für das individuelle Glück der gesamten Bevölkerung verkauft. Die in aller Unschuld,
mit grösster Selbstverständlichkeit erhobene
Forderung, Unterhaltskosten von vielen, vielen
Millionen im Jahr für das Schienennetz durch
die öffentliche Hand – oder die Reisenden – im
Nachhinein zusätzlich bezahlen zu lassen, auch
wenn alle davon ausgegangen waren, die Kosten
seien in den präsentierten Budgets enthalten.
Leistungsabbau mit Kostensteigerung im Service
au public. Unbegrenzter Glaube an unbegrenzbare Gewinnsteigerung in allen Bereichen. Verquickung von Mafia, Profischieberei und Politprominenz im Normmenu der Tagesnachrichten.
Prunk, Protz, Elend nebeneinander auf engstem
Raum – global und lokal. «Catch-22», aktualisiert.
Eine kleine Textprobe aus «CATCH-22»? Yossarian, der Protagonist, soll kurz vor Schluss des
Buches vom Guten als Motivation aller überzeugt werden: «... ‚Die Ideale sind gut, aber die
Menschen sind manchmal nicht ganz so gut.
Du darfst sie nie deine Werte ändern lassen.
Du musst versuchen, zum grossen Bild hinaufzuschauen.’ ‚Wenn ich hinaufschaue, sehe ich
Leute, die ihre Taschen füllen. Ich sehe nicht
Himmel oder Heilige oder Engel. Ich sehe Leute, die sich an jedem anständigen Impuls, an
jeder Tragödie immer und immer wieder bereichern.’ ...» Viel naiver kann man das doch fast
nicht sagen. Oder, nachdem sich der gute Kamerad von der Fruchtlosigkeit der Güte doch
noch hat überzeugen lassen: «... ‚Ich denke, es
wäre schön, wie ein Gemüse zu leben und keine wichtigen Entscheidungen treffen zu müssen.’ Yossarian: ‚Was für eine Art von Gemüse,
Danby?’ ‚Eine Gurke oder eine Karotte.’ ‚Was für
eine Gurke, eine gute oder eine schlechte?’ ‚Eine
gute natürlich.’ ‚Sie schneiden dich ab und machen Salat draus.’ ‚Halt eine schlechte.’ ‚Sie lassen
dich verfaulen, verwenden dich dann als Dünger,
damit die guten wachsen.’ ‚Vielleicht möchte ich
doch nicht wie ein Gemüse leben’, sagte Major
Danby mit einem resignierten, traurigen, Lächeln. ...» Zum Schreien komisch ist es, frivol und
abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich
logisch, banal und vielschichtig, zynisch und tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte
ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des
Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem
Mass aktuell, dachte ich vor ein paar Tagen. Leider. Man blättere in einer Tageszeitung, höre am
Radio in die Morgennachtrichten hinein, horche
in den Subtext von Bekannten hinein. «Catch-22»
ist auch heute Alltag. Oder wie Brecht einmal
schrieb: «... Denn die Güte war im Lande wieder
einmal schwächlich, / Und die Bosheit nahm an
Kräften wieder einmal zu. ...»
Literatur
L ITERARISCHE F RAGMENTE 6
Seit jeher unterwegs
Von Konrad Pauli
E
r hat nichts zu lachen. Grimmig-entschlossen zieht er sein Wägelchen über
den Platz vor der Gedächtniskirche, hält vor
den ersten Tischen des Terrassencafés, klappt
den Deckel auf und packt allerhand Requisiten
aus: einen zerknitterten schwarzen Schlapphut
mit aufgenähtem Totenkopf, ein paar wabbelige, schweinsfarbene Plastikohren, einen
Kunststoffblumentopf, dessen welke und verstaubte Blütenpracht, kaum hingestellt, sich
auf Knopfdruck wundersam belebt und zu entfalten beginnt und in ein programmiertes Kopfnicken einpendelt, das zunächst, bis der Mann
alles und sich selbst bereit gemacht hat, die
Aufmerksamkeit der rasch sich zum Halbkreis
verdichtenden Zuschauer auf sich zieht. Auf einem vielbefingerten, von manchen Wettern gegerbten Karton kleben Fotos, Grimassenbilder,
LESEZEIT
Von Gabriela Wild
«
Reading is the better life». So die
Strassenbotschaft an einem Lichtsignal. Oh ja, Lesen ist in vielerlei Hinsicht
besser als die unzähligen mühsamen Handlungen, Aufgaben und Pflichten, die sich an
einem ganz normalen Tag aufdrängen und
die aneinandergereiht, das Konstrukt «Leben» ergeben. Müllruntertragen, Velo aus
dem Keller holen, Baustelle umfahren, Seminararbeit schreiben, Versicherungsheini
abwimmeln, Rechnung bezahlen, Sitzung
verschieben, Lektion vorbereiten, präsent
sein, Arbeit korrigieren, Windeln wechseln,
Zähne putzen, Kaffeebohnen nachfüllen,
Job suchen, Wohnung kündigen, Zeitungen
bündeln, Fördergelder beantragen, Reklamationen schreiben, dafür sein, dagegen
sein, Rat erteilen, richtig entscheiden etc
… All die grossen und kleinen physischen
und psychischen Bewegungen des Alltages
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
die mit einiger Müdigkeit dennoch inständig
behaupten, der Mann sei ein Weltmeister.
Aus dem Wägelchen klingt auf einmal
Musik, Melodien aus dem Berlin der 20er-Jahre,
ein bisschen heiser und bezaubernd. Und wie
der Mann nun sein Gesicht, das so besonders
wie gewöhnlich ist wie tausend andere, in Aktion treten lässt, die Augen rollt, die Backen
aufbläst und mit den Kiefern mahlt, das Kinn
spitzt und die Unterlippe an die Nasenspitze
rollt, mit raschem Handgriff die Hautlappen
der Wangen nach links und rechts verspannt,
dass Augen, Nase und Mund ein teigförmiges
Einerlei bilden, wie der Mann mit bis ins Detail
eingeübten, professionellen Griffen und Gesten
sein Gesicht entstellt und aus ihm eine Unzahl
bestkarikierter Physiognomien hervorzaubert
und, mal mit aufgesetzten Ohren und wech-
zehren und ziehen und beanspruchen einen
Menschkörper ganz schön. Lesend hingegen
ist man allein deshalb schon im Vorteil, weil
der Körper die ihm angenehmste Position
einnimmt. Ob aufrecht stehend mitten im
Raum, unter der Decke mit Taschenlampe, in
der Badewanne, auf der Baumhütte, bäuchlings auf dem Boden, im Gras, am Strand,
mit Knabberzeug und Naschwerk ausgestattet, in der Schule, in der Kirche, am Tresen,
in der Warteschlange, ob heimlich oder als
Demonstration, die Formen von Lesen sind
schier unendlich. «Reading is the better
life» klingt wie ein Plädoyer für die etwas
verstaubte und langsame Methode der Informationsbeschaffung- und verarbeitung in
einem Zeitalter, wo man mit Schlagworten,
Links und weiteren www’s viel schneller
und effizienter zum Ziel kommt. Stichwort
eingeben, googeln, Text nach weiterführenden Stichworten überfliegen, weitergoogeln,
googeln, googus, dada ist die www. Wozu
das ganze Drumherum in der Literatur, die
Geschichten mit den Miniepisödchen, Sequenzen vom Alltag, Atmosphäre generie-
selnden Brillen, die Leute zum Lachen bringt
und die Kinder mit offenem Mund staunend
dastehen lässt, das ist atemraubend.
Ohne mit einer Wimper zu zucken, zieht er
plötzlich den Hut ab, die beiden Ohrmuscheln,
packt den nickenden Blumenstrauss ein und die
Kasperlefigur, geht kurz, als hätte er’s beinahe
vergessen, mit einem Körbchen das Geld einsammeln, klappt den Deckel des Wägelchens
zu und zieht weiter, hundert Meter, um von
neuem seine routinierten, wunderbar grauenhaften Grimassen auszupacken. Es ist, als sage
jede dieser kauzig-beklemmenden Gesten: Da
habt ihr eure Grimassen, gebt mir eine Mark,
wenn’s sein muss auch weniger – und lasst
mich endlich in Ruhe. Zu lachen hat er nichts.
rend, Stimmungen erzeugend, um dann die
immer gleiche Geschichte zu erzählen: geboren, gelitten und gestorben – dazwischen
etwas Sonnenschein?! Von dichtem, prallen,
erschreckend normalem Leben, und dem urmenschlichen Wunsch, dem Leben Bedeutsamkeit abzuringen und wie es dabei leicht
vom Erhabenen ins Lächerliche kippt, und
gerade auf dieser Kippe sonderbar anrührend und schützenswert ist, davon handelt
Arno Geigers neuestes Buch «Alles über
Sally». Und wenn Sally auch glaubt, ihr Leben mit Ehebruch und viel Sex interessanter
machen zu müssen, so verliert der Erzähler
fast nie die Geduld mit ihr und wird über
die 364 Seiten nicht müde, den Blick auf das
Alltägliche zu werfen und detailgetreu wiederzugeben. Und schliesslich gibt es ja noch
Albert, der, im Wellengang einer 30-jährigen Ehe, den Boden unter den Füssen nicht
verloren hat und sich heute wie damals wieder für Sally entscheiden würde. Zum Lesen
schön!
Arno Geiger - Alles über Sally, Roman, Hanser Verlag.
13
Literatur-Tipps
Botton, Alain de: Airport – Eine Woche in Heathrow. Aus dem Englischen
von Bernhard Robben. S. Fischer
Verlag. Frankfurt am Main 2010.
ISBN 978-3-10-046323-4. S. 122.
Truong, Monique: Bitter im
Mund. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. C.
H. Beck. München 2010. ISBN
978-3-406-59838-8. S. 328.
Weber, Anne: Luft und Liebe. Roman. S. Fischer Verlag.
Frankfurt am Main 2010. ISBN
978-3-10-091046-2. S. 189.
Ein Flughafen vor Eyjafjallajökull
Alain de Botton: Airport – Eine Woche in Heathrow. Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Briefe ins Gestern und Morgen
Monique Truong: Bitter im Mund. Roman. Aus
dem Englischen von Peter Torberg.
Von Märchenrittern und anderen
Enttäuschungen
Anne Weber: Luft und Liebe. Roman.
W
N
E
as beim Entstehen von «Airport» noch
Normalität war, nämlich ein bis auf kleinere Zwischenfälle reibungslos ablaufender Flugbetrieb, wurde Mitte April auf den Kopf gestellt.
Umso beruhigender stellt sich de Bottons
Heathrow als Ort der Ankunft und des Abschieds
dar. Als modernerer Hafen in einer sich stetig
wandelnden Wirklichkeit.
Wo sich Liebende tränenreich in den Armen
halten, auf deren Abschiedsschmerz der Autor
beinahe ein bisschen neidisch zu sein scheint.
Oder wo Familien in den Urlaub fliegen, auf ihren
Schultern die Last, nun zwei Wochen diejenigen
sein zu wollen, sein zu müssen, die sie immer
sein wollten, wenn da nicht der Alltag wäre.
Der Autor ist als «writer in residence» nicht
nur Beobachter, sondern auch Beobachteter. An
seinem öffentlichen Arbeitsplatz wird er von den
unterschiedlichsten Menschen aufgesucht, die an
seinem Tun Interesse zeigen, in ihm aber auch so
etwas wie einen Beichtvater sehen.
Als Besucher der mannigfaltigen Arbeitsbereiche eines Flughafens erlaubt uns de Botton
einen unverstellten Blick auf den Alltag eines
Schuhputzers, welcher ihm wiederholt versichert,
dass er mit all den Lebensgeschichten, die ihm
die Leute erzählen, ein wunderbares Buch verfassen könnte. Oder auf denjenigen einer Sicherheitsmitarbeiterin, deren Tätigkeitsbeschreibung
insbesondere seit 9/11 verdeutlicht, wie unsicher
die Welt geworden ist und dass man am Sicherheitsschalter nicht misstrauisch genug sein
kann.
Hat man sich auf de Bottons zuweilen etwas
gestelzte Sprache, die oftmals vorhersehbare Bilder zeichnet («Eine Fluggastbrücke rollte vor und
schmiegte ihre Gummilippen in einem zögerlichen Kuss um die vordere linke Passagiertür», um
nur ein Beispiel zu nennen), gewährt der Text immer wieder überraschende Einblicke in die Welt
der Aviatik, die trotz ihrer Alltäglichkeit nie ganz
ihre Magie eingebüsst hat. Und man fragt sich,
weshalb nicht auch andere Firmen einen «writer
in residence» in ihren Reihen haben? (sw)
ach «Das Buch vom Salz» legt Monique
Truong mit «Bitter im Mund» nun ihren
zweiten Roman vor, dessen deutsche Übersetzung beinahe ein halbes Jahr vor der englischen
Originalausgabe im Verlag C. H. Beck erscheint.
Und der Zweitling enttäuscht nicht, sondern
fesselt bereits von der ersten Seite an.
Linda Hammerick wird in den 70er-Jahren in
Boiling Springs, North Carolina, gross. Zu ihrer
Welt gehören, nebst ihren Eltern, ihre tyrannische, humorvolle Grossmutter und deren homosexueller Bruder, Baby Harper, den Linda über
alles liebt.
Sie ist eine Synästhetikerin, die durch die
mannigfaltigen Geschmacksempfindungen, die
sich durch das gesprochene Wort überfluten,
oft überfordert ist. Die Brieffreundschaft mit
der gleichaltrigen Kelly ermöglicht es ihr, Zugang zu den Worten, nun in ihrer geschriebenen
Form, zu finden. Kelly, die aufgrund ihrer Körperfülle ebenfalls gefangen ist, vermag sich als
Teenager aus dieser zu befreien und zu einem
All-American-Backfisch heranzureifen. Anders
Linda, sie wird zwar von ihrer Jugendliebe Wade
heimlich geküsst, und sie entdecken in Wades
rotem Haus ihre Körperlichkeit, seine offizielle
Freundin wird sie jedoch nie. Der einzige gangbare Weg scheint ihr, das klügste Mädchen der
Schule zu werden. In Yale erfindet sie sich neu,
wird zu einer Mischung aus Audrey Hepburn
und dem Gitarristen der Sex Pistols in einem
Vintage-Outfit, dessen Mottenkugeligkeit ihresgleichen sucht. Der Wendepunkt der Geschichte
zeichnet sich hier bereits ab, und eine einzige
Namensnennung soll dazu führen, dass wir alle
Figuren des Romans und deren Geschichte aus
einer anderen Perspektive wahrnehmen.
Monique Truong, welche mit sechs Jahren von
Vietnam in die USA gekommen ist, hat ebenfalls
in Yale studiert und in einer renommierten New
Yorker Anwaltspraxis gearbeitet, dennoch täte
man ihr unrecht, würde man den Roman lediglich als Schlüsseltext lesen, denn Truong ist eine
wahre Wortkünstlerin. Ein Meisterwerk. (sw)
nguerrand heisst der Ritter der Schriftstellerin und ist tatsächlich einer. Einer
mit Schloss in der Normandie oder Picardie,
der die intellektuelle, in Paris lebende Autorin
zur tumben Märchenprinzessin macht. Sie auf
sein Schloss entführt, dessen prachtvolle vernachlässigte Räumlichkeiten geradezu nach
einer weiblichen Hand zu schreien scheinen,
sich ihren Eltern vorstellen lässt und sogar mit
ihr ein Kind zeugen will. Doch anhand dieses
Zeugungsaktes, der aufgrund des fortgeschrittenen Alters der potenziellen Eltern über ein
Fruchtbarkeitslabor führt, entzündet sich die
unerhörte Begebenheit des Romans, der sozusagen ein Roman im Roman im Roman ist.
Wie bei einer russischen Steckpuppe ist
Anne Weber die in Paris lebende Autorin und
Übersetzerin deutscher Abstammung und damit die grösste Puppe. In ihr nun steckt die
Figur der Schriftstellerin, welche ihr missratenes Manuskript vom «Armen Ritter» in den Papierkorb befördert. Léa, Protagonistin im «Armen Ritter», bildet nun die dritte Puppe, die
in der zweiten steckt. Und die Schriftstellerin/
Märchenprinzessin streitet sich über den Akt
der Zerstörung hinaus mit ihrem alter ego Léa,
dem sie die peinliche Geschichte in die Schuhe
zu schieben versucht.
Nachdem die Märchenprinzessin jedoch
gewaltsam aus ihrem Märchentraum gerissen
wurde, wird sie zum Racheengel und operiert
fortan als Alleinunternehmerin, Léa scheint
vergessen.
Anne Weber erzählt mit viel Humor und
zeichnet und überzeichnet ihre vom Leben gezeichneten Protagonisten sehr lebendig. Handelt es sich über weite Strecken des Romans
um mindestens zwei Erzählstränge, werden
diese zugunsten der Handlungsebene gegen
Ende des Textes zunehmend aufgelöst, was
dem spielerischen Element nicht eben zugute
kommt. (sw)
[email protected]
www.buchhandlung-amkronenplatz.ch
14
Literatur
L EXIKON
DER ERKLÄRUNGSBEDÜRFTIGEN
A LLTAGSPHÄNOMENE (VI)*
Netzwerken, das
Von Frank E. P. Dievernich****
W
ir kehren heim, zu uns selbst. Das ist
der Ausblick, den Jeremy Rifkin in
seinem neuen Buch «Die empathische Zivilisation» (2010) gibt, wenn er davon spricht, dass
wir uns unseres sozialen Kerns erinnern, wir
auf der Suche nach dem Anderen sind, es uns
zur Gemeinschaft zieht und die jeweils anderen
in einem ökonomischen Kontext nicht mehr
nur als Konkurrenten anzusehen sind, sondern
als Partner, mit denen man etwas erreichen,
schaffen will.
Einer der wohl am häufigsten in den letzten
Jahren zitierten Begriffe innerhalb von Unternehmen ist der des Netzwerks, der vielleicht
zaghaft darauf verweist, was Rifkin als Zukunftsbild von Gesellschaft zeichnet. Netzwerken, als Verb verstanden, gilt als ein Erfolgsfaktor, wenn es darum geht, die Voraussetzungen
zu schaffen, in Unternehmen Karriere zu machen, zumindest aber die Voraussetzung zu
schaffen, dass seine Ideen auf einen potenziell
fruchtbaren Boden fallen, sollte man in die Verlegenheit kommen oder gebracht werden, diese
auch umsetzen zu wollen oder zu müssen – dafür braucht man Menschen, die einen kennen
und seine Ideen mittragen. Wenn man Unternehmen noch nie von innen gesehen hat, dann
könnte man meinen, dass darin die Brutstätte
einer hochmodernen, vernetzten Gesellschaft
zu finden sei. Und sollte nicht deutlich sein,
was man in einem Unternehmen an Kompetenzen erlernen kann, so scheint doch zumindest
klar, dass man in jedem Fall als Netzwerkspezialist das Unternehmen verlässt. Die Sprachspiele suggerieren das. Die Realität ist hingegen eine andere.
Die Wirklichkeit, die wir in Unternehmen
finden, ist noch weit von dem entfernt, was
überall um uns herum an Netzwerkverhalten in
der Gesellschaft gezeigt wird; so gesehen hinken – aber wie könnte es auch anders sein – die
Unternehmen der Gesellschaft mal wieder hinterher. Der Netzwerkgedanke wird innerhalb
der Unternehmen höchstens mikropolitisch
ausgeschmückt, in dem, wie oben beschrieben,
es vor allem um die Bildung von Koalitionen
geht, darum, durchsetzungsfähig zu sein oder
zu werden. Damit befindet er sich in bester
ökonomischer Tradition, wenn es darum geht,
Interessen gegen die von anderen durchzusetzen, um sich dann Vorteile für weiteres Agieren
zu verschaffen. So gesehen ist der Netzwerkgedanke in Unternehmen bislang vor allem
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
hierarchisch aufgeladen und wird ökonomisch
funktionalistisch verwendet.
Was das praktische und folglich tatsächliche
Handeln innerhalb von Unternehmen angeht, so
gibt es fast kein Führungskräfteseminar mehr,
das nicht auf die Wichtigkeit von Netzwerken
verweist – ein neues Denken soll etabliert werden, weil erkannt wurde, dass Führungskräfte
alleine nicht mehr im Stande sind, Unternehmen zu führen. Es wird gebraucht im Dickicht
der Kommunikationen, Koalitionen, um da irgendwie durchzukommen und gehört zu werden. Es scheint ein sicheres Zeichen zu sein,
dass, je häufiger von Netzwerken und Netzwerkkompetenz gesprochen wird, die Fähigkeit zu Netzwerken nicht vorhanden ist. Fragt
man Führungskräfte, wie viel Zeit Ihres Arbeitspensums sie in Netzwerkarbeit stecken,
erhält man, wenn überhaupt, marginale Zahlen,
wenn man jene Erklärungsversuche abzieht,
dass sie doch auch mal mit Führungskräften
anderer Abteilungen in die Kantine zum Mittagessen gehen. Nun gut, das könnte ein Anfang sein – mehr aber auch nicht.
Wirkliches Netzwerken ist in der Gesellschaft an anderen Stellen zu beobachten. Twitter, Facebook, Blogs sind die populären Schlagwörter, die zeigen, wohin die Gesellschaft
sich entwickelt. Zudem tauchen Begriffe, wie
«Schwarmintelligenz» sowie «Intelligenz der
Vielen» auf, die auf eine besondere Organisationsform des Sozialen verweist. Man könnte
meinen, dass erstgenannte Phänomene wie
eben Twitter und Facebook lediglich in einer
medialen Gesellschaft dazu beitragen, den eigenen Selbstinszenierungsgelüsten zu frönen,
in dem man ohne Hemmnisse (fast) alles einer
Netz-Community preisgibt. Genau da liegt aber
der Schlüssel für das, was die Wirtschaft revolutionieren wird. Das «Preisgeben» ist dabei
der entscheidende Hinweis, der auch auf die
«Intelligenz der Vielen» zutrifft. Es geht darum,
(geistiges) Eigentum zu entgrenzen und anderen zur Verfügung zu stellen, damit Lösungen
für eigene, aber eben auch Lösungen für die
Probleme aller gefunden werden. Daran teilhaben kann jeder, der von sich glaubt, etwas dazu
beitragen zu können und – der vor allem Lust
dazu hat. Nichts anderes stellt beispielsweise
das Cyberspace-Projekt Linux dar, wo Tausende Programmierexperten ihre Expertise zur
Verfügung stellen, um das Programm (kostenlos weiter-) zu entwickeln. Wikipedia erfolgt
nach dem gleichen Prinzip. Es geht darum,
intrinsisch motiviert, seine eigenen Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, damit etwas
Neues entstehen kann. Mit dem klassischen
Eigentumsrecht kommt man damit nicht mehr
weit, ganz im Gegenteil, es manövriert einen in
einer Netzwerkgesellschaft ins Abseits.
Es ist nämlich davon auszugehen, dass gerade bei uns, also in durchschnittlich sehr gut
ausgebildeten Gesellschaften, die zudem über
eine hochentwickelte IT-Infrastruktur verfügen, diese «Vielen» nicht mehr nur auf Neuerfindungen in Form angemeldeter Patente
angewiesen sind, sondern selbstgesteuert und
freigelassen in den E-Community-Plattformen
diese Produkte oder Alternativen zu diesen
selbst produzieren werden. Damit überholen
sie jene Unternehmen, die nurmehr als geschlossene Gesellschaft funktionieren. Wer
also ausschliesslich auf Gewinn und Eigentum referiert, versäumt, sich seinen Platz im
kommunikativen Netzwerk zu sichern. Der
entscheidende Gedanke ist, nicht ganz auf Eigentum zu verzichten, sondern dieses kostenfrei und unmittelbar dem Netzwerk quasi als
Arbeitsmaterial anzubieten, damit dieses arbeiten und (Weiter-)Entwicklungen vorantreiben kann. Netzwerkplätze und Kontakt werden
zur zukünftigen Währung einer Ökonomie, die
gerade dabei ist, sich selbst aufzulösen, wenn
sie die alten Unterscheidungen, zu denen auch
Kunde, Lieferant, Konkurrent gehören, weiter
aufrechterhält, ohne die transparenten Schnittstellen dazwischen zu leben.
Zingg
Ein filosofisches Gespräch:
Treue zur Philosophie
bedeutet, es der Angst zu
verbieten, dass sie einem
die Denkfähigkeit verkümmern lässt.
Max Horkheimer 1947
Mittwoch, 28. Mai 2010, 19.15h,
Kramgasse 10, 3011 Bern, im 1. Stock
15
Unser Garten Eden
Adam Avikainen, CSI:DNR, 2009, Fotodruck, Courtesy the Artist
Ein Film von Mano Khalil
Animism
15.5. – 18.7.2010
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Kunsthalle Bern
Helvetiaplatz 1
CH-3005 Bern
www.kunsthalle-bern.ch
Freddy Burger Management und Michael Brenner für BB Promotion GmbH präsentieren eine Bill Kenwright Produktion
in Übereinkunft mit The Really Useful Group
Freddy Burger Management and Michael Brenner for BB Promotion GmbH in cooperation with Paul Szilard Productions, Inc. present
T H E O F F I C I A L P R O D U C T I O N W I T H LY R I C S B Y
TIM RICE
AND MUSIC BY
© BB Promotion GmbH 2010
3$8/6=,/$5'352'8&7,216,1&,67+((;&/86,9(,17(51$7,21$/5(35(6(17$7,9()257+(0$57+$*5$+$0'$1&(&203$1<
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Literatur
Wir erleben gerade die Umstellung von konkreten Werten hin zu potenziellen. Netzwerke
sind nichts anderes als virtuelle, also potenzielle Geflechte des Sozialen, die eventuell einen
Mehrwert liefern können, von denen aber nicht
klar ist, ob und wann das der Fall sein wird.
Netzwerken ist dabei eine Investition in eine
Zukunft, von der unklar ist, was sie bringt.
Erst im konkreten Fall zeigt sich das Netzwerk,
über welche Verbindungen und Kompetenzen
es verfügt – aktiviert und aktualisiert durch
eine ganz bestimmte Frage, die zu einem ganz
bestimmten Zeitpunkt auftaucht. Dabei ist relevant, dass nicht Personen nurmehr als Funktionen von Organisationen (z.B. Abteilungsleiter Marketing) auftauchen, sondern darüber
hinaus auf Kompetenzen verweisen können,
die zum Teil in keinem klassischen Lebenslauf
zu finden sind.
Derzeit ist zu bemerken, dass Unternehmen
noch in einer Paradoxie gefangen sind, da sie
auf der einen Seite zum Netzwerken auffordern,
dies aber gleichzeitig in einem Effizienzklima
risikoreich ist, da nicht klar ist, ob und wann
die Investition in ein Netzwerk sich rentiert.
Die Frage der Rendite ist aber gegenwärtig das
zentrale Erfolgskriterium, nach dem Handel in
Organisationen bewertet wird. Gleichzeitig
wird kein erfolgreiches ökonomisches Agieren
mehr ohne Netzwerken vonstattengehen können, da die hochspezialisierte Arbeitsteilung
dazu geführt hat, dass die (heutigen und vor
allem zukünftigen) Kompetenzen (und deren
Kombinationen) nicht mehr nur in einem System enthalten sein können, sondern in der gesamten Gesellschaft an unterschiedlichen Stellen verteilt sind. Genau das führt dazu, dass wir
uns aus den Unternehmen und dem Markt aufmachen und endlich in die Gesellschafft treten
müssen, um wieder miteinander in Kontakt zu
geraten. Wir haben alle so viel zu bieten, dass
es sich lohnt, sich endlich auf uns selbst zu besinnen. Das Netzwerk erinnert uns daran.
*
Bewirtschaftet vom Schwerpunkt Corporate &
Business Development der Berner Fachhochschule.
** Kontakt: [email protected]
Veranstaltungshinweise
Sweet’n’Sour (IX): «Intercultural Leadership:
Nicht nur ein globaler Prozess» mit Ex-HR-Today Chefredakteurin Connie Voigt und Gästen
von IBM, UBS und Vailiant. Am 6. Mai 2010 um
17h in Bern, Morgartenstrasse 2c.
Sweet’n’Sour (X): «Ich kann nicht mehr! Ursachen, Wirkungen und Auswege bei Stress
und Burnout in der Arbeitswelt. Am 20. Mai
2010 um 17h in Bern, Morgartenstrasse 2c.
Weitere Details und Anmeldung: http://www.
wirtschaft.bfh.ch/de/forschung/schwerpunkte/
corporate_and_business_development/tabs/
sweet_n_sour.html
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Spazieren – eine nicht zu
bändigende Leidenschaft
Christoph Simon über seinen neuen Roman «Spaziergänger
Zbinden» - Interview: Caroline Fuchsbau-Bleichwasser
B
etrachten Sie die erste Frage als Tonbandprobe. Ihren Namen und Beruf?
Christoph Simon, Spaziergänger.
Wann und wo wurden Sie geboren?
Ich bin extraterrestrischer Herkunft. Aus
dem All herabgestiegen. Für immer haben sich
mir die Worte eingeprägt, die der Leiter der
Pilgergruppe sprach, während wir auf die Erde
zugingen, mit kleinen Flügeln an den Füssen:
«Wir sind noch in der Umlaufbahn, aber da unten sehen Sie die Schweiz, sie ist von Nebelschleiern umhüllt.» Funktioniert das Tonband?
Ja. Sie bezeichnen sich als Spaziergänger.
Es gibt Hinweise in meinem Lebenslauf,
dass mich Spazieren, lange bevor ich meine ersten Schritte tat, bereits ungemein faszinierte.
Ein Bébé in den Bergen, das seine Nase an die
Scheibe presst und sich fragt, was die Fussgänger auf dem Trottoir erleben und wieviel wohl
die Zulassung kostet. Heute bin ich Schriftsteller und schreibe Bücher über Fragen, die mich
auf Spaziergängen beschäftigen.
Sie haben vier Romane geschrieben und können vom Schreiben leben – fühlen Sie sich als
Glückspilz?
Ich bin der Meinung, dass ich vom Spazieren leben können sollte. Ich halte meine Spaziergänge für nützlich. Solange ich vom Spazieren nicht leben kann, werde ich versuchen,
den Schreibberuf zu erhalten, der mir Zeit zum
Spazieren lässt.
Sie halten Ihre Spaziergänge für nützlich?
Ich glaube, dass der Anblick eines Spaziergängers die Leute beruhigt. Mein geschärfter
Hör- und Sehsinn verschafft meiner Leserschaft höheren Lesegenuss.
Würden Sie Spazieren als Sucht bezeichnen?
Als nicht zu bändigende Leidenschaft. Zuweilen habe ich Angst, die Augen auch nur für
einen Bruchteil einer Sekunde zu schliessen
und mir dadurch etwas auf dem Spaziergang
entgehen zu lassen. Spazieren sorgt für Augenblickserlebnisse. Stimuliert einerseits die
Phantasie, befreit andererseits von der Tyrannei der eigenen Gedanken. Die Distanz zur gegenwärtigen Umwelt verringert sich. Spazieren
hält einen in Schwung und macht einem die
Menschen interessanter. Ich habe mir lange
überlegt, «Spaziergänger Zbinden» unter dem
griffigeren Titel «Der Spaziergang – seine
hygienische und soziale Bedeutung oder Die
Errichtung von Spaziergänger-Reservaten» zu
veröffentlichen.
«Spaziergänger Zbinden» handelt von einem alten Mann, der meint, über die Kunst
des Spazierens zu sprechen, in Wahrheit aber
die Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner
verstorbenen Emilie erzählt. Warum haben Sie
Spaziergänger Zbinden geschrieben?
Um an den Niederbipper Schriftsteller Gerhard Meier zurückdenken zu dürfen und um
Freude zu verbreiten. Ich versuche, in meine
Texte alles an Poesie, Liebe und Geist einzubringen, wozu ich fähig bin. Was ist das?
Ein Sitzkissen. Ein Geschenk für Sie. Man
hat mir gesagt, das Praktischste, was man einem masslosen Spaziergänger schenken könne,
sei ein Sitzkissen.
Vielen Dank.
Das Buch: Christoph Simon, Spaziergänger Zbinden, Bilgerverlag.
17
Tanz & Theater
K LEINKUNST
GANZ GROSS
«Wenn Dinge wahr sind und
weh tun, lachen die Leute.»
Interview: Christoph Hoigné
Ein Garderobengespräch mit dem Theaterzauberer und Comedian Michel
Gammenthaler, der soeben mit dem
«Salzburger Stier» geehrt wurde, der
höchsten Auszeichnung für Kabarettisten im deutschen Sprachraum. Der
38-jährige Aargauer spielt Mitte Mai
im Berner Kleintheater La Cappella.
Sie haben kürzlich den Salzburger Stier erhalten. Was haben Sie als Erstes sagt, als sie es
erfahren haben?
Nichts. Ich habe den Überbringer der Nachricht umarmt.
Wer war das?
Alexander Götz, ein Redaktor von Radio
DRS 1, der für «Ohrfeigen» und «Spasspartout»
arbeitet.
Und der kam persönlich bei Ihnen vorbei?
Ja. Er hat mich zuerst noch auf den Arm
genommen und mir erzählt, sie wollten mich
bitten, die Moderation der Preisverleihung zu
18
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bild: Ch. Hoigné
übernehmen. Dann fuhr er fort, sie hätten es
sich dann doch anders überlegt, weil es doch
doof wäre, wenn der, der den Preis kriegt, auch
moderiere. Da war ich echt geplättet.
Wie wichtig sind Preise in der Kleinkunst?
In diesem speziellen Fall ist er für mich sehr
wichtig. Nicht nur, weil er sehr wahrscheinlich
ein paar Türen öffnet. Als Kleinkünstler «wurstelt» man oft jahrelang vor sich hin und macht
ein Programm nach dem anderen. Wenn man
dann einen Preis bekommt, merkt man, dass
man wahrgenommen wird. Speziell auf diesen
Preis bin ich stolz, weil er auf einer langfristigen Beobachtung meiner Arbeit beruht. Ich
hatte grad eine ziemliche Krise, habe gehadert
und war nahe dran, aufzuhören. Aber als der
Preis kam, war für mich sofort wieder klar:
Weitermachen!
Sie sind Zauberer, Moderator, Comedian, Kabarettist – also ein sehr vielseitiger Künstler.
Im aktuellen Programm sind Sie mit fünf verschiedenen Figuren auf der Bühne. Wie viel haben diese Figuren mit Ihnen zu tun?
Jede hat auf eine Weise mit mir zu tun.
Manchmal ist es vielleicht nur die Art zu reden.
Volker zum Beispiel, der esoterisch verklärte
Wahlschweizer aus Deutschland, ist inspiriert
von der Mutter eines ehemaligen Schulkameraden. Ich wusste lange nicht, was ich mit dieser
Sprache machen soll, aber sie hat mir schon
immer sehr gelegen. Hedy, meine alte Dame,
ist entstanden, als ich mit dem Zivilschutz
ein paar Nachmittage in einem Altersheim
verbracht hatte. Ich war ziemlich schockiert
und alarmiert. Mit dieser Figur hab ich das
verarbeitet. Für Hedy bekomme ich sehr viele
Reaktionen wie «Exakt wie mein Grosi» oder
«Ich arbeite in einem Heim, und es ist genau
so, wie es Hedy erzählt.» Das finde ich schön.
Und ich mag eben Musik, Beats und Rhythmen.
Deshalb lagen für mich auch das Rappen und
der Tschisi sehr nahe. Diese Figur erhält momentan am meisten Resonanz, vor allem von
Leuten, die sich für Sprache interessieren, weil
viele Junge wirklich so reden. So löst jede Figur etwas aus.
Tanz & Theater
Ihre Figuren kommen an, weil sie aus dem
Leben gegriffen sind. Das heisst ja, die Menschen kommen gerne ins Theater, um etwas zu
sehen, was sie kennen oder wiedererkennen.
Wenn ich neue Figuren schaffe, bin ich sehr
darauf bedacht, nicht allzu irre oder abgedrehte Personnagen zu erfinden. Sie brauchen einen Bezug, eine Brücke zum Zuschauer. Eine
Figur ist lustig, wenn sie eine eigene Weltsicht
hat. Aber sie braucht auch eine Verbindung
zum Zuschauer. Wenn eine Figur gar nichts
mit der Lebenswelt des Zuschauers zu tun hat,
dann berührt und packt sie ihn nicht. Mir ist
auch aufgefallen, dass Leute an Stellen lachen,
die gar nicht als Gag gemeint waren. Ich hab'
dann gemerkt, dass sie lachen, weil diese Stellen wahr sind und sie ein bisschen weh tun.
Wenn Dinge wahr sind und weh tun, lachen die
Leute. Das ist faszinierend.
Nächstes Jahr kommt Ihr neues Programm
raus. Können Sie uns etwas darüber verraten?
Mich interessiert der normale Wahnsinn.
Zum Beispiel in dem Dorf, in dem ich wohne.
Auf den ersten Blick ist das ein ganz normales
Dorf mit ganz normalen Leuten. Richtet man
aber die Lupe auf die einzelnen Menschen, ihren Alltag, ihre Interessen, Meinungen oder ihren Umgang mit anderen Menschen, dann merkt
man, wieviel Wahnsinn da herrscht. Ich meine
das nicht negativ. Beispiel Vereinsmeierei. Da
springen sich die Leute manchmal schon fast
an die Gurgel, wenn es um die Reihenfolge der
Traktanden geht. Oder selbsternannte Quartierüberwacher oder Vogelspinnenzüchter ...
das ist manchmal so irr! Man muss gar nicht
weit suchen. Und all das interessiert mich. Das
Exotische in unserem Alltag.
Wie setzen Sie das um? Gibt es wieder ein
Programm mit Figuren?
Ja, ich werde bestimmt wieder einige Figuren spielen. Ich habe auch vor, viele jetzige Figuren loszulassen. Das ist für mich wie
das Verlassen der Komfortzone, denn bei diesen Figuren bin ich momentan noch sehr zu
Hause. Die eine oder andere wird es wohl auch
ins neue Programm schaffen. Ich bin mir fast
sicher, dass Hedy alle überleben wird, denn
die ist mir schon sehr ans Herz gewachsen.
Ansonsten habe ich wirklich Lust, neue Figuren zu erfinden. Eine Schwierigkeit ist, die
Zauberei intelligent einzubauen. Sie muss im
Programm auf irgendeine Weise gerechtfertigt
sein. Man kann nicht einfach zaubern. Es muss
einen Grund geben, warum eine Figur einen
Zaubertrick vorführt. Aber schliesslich macht
das ja auch viel Spass.
Zauberei ist eine sehr traditionelle Kleinkunstform und hat zurzeit einen eher schweren
Stand. Es gibt schon TV-Shows, die Zaubertricks
erklären und die ganze Magie zerstören. Können Sie sich erklären, warum das so ist?
Die Zauberszene ist wie ein Bergdorf: Man
pflanzt sich nur innerhalb der Gemeindegrenzen fort, und der Nachwuchs wird immer dümmer. Das ist eine sehr bösartige Aussage, aber
ich war vor ein paar Jahren am Weltkongress
der Zauberer und habe gesehen, welche Nummern es in die Endrunde geschafft haben. Das
war wirklich peinlich. Ich sehe aber auch andere Ansätze und Zauberer, die anfangen, die
Zauberei mit anderen Kunstformen zu verbinden. Die funktionieren super. Von einem guten,
innovativen Zauberer sind die meisten Leute
nach wie vor sehr angetan. Ich glaube, eine
verbreitete Motivation, Zauberer zu werden
ist das Streben nach so etwas wie Allmachtsgefühl. Helge von Thun war früher auch mal
Zauberer und der hat zu mir gesagt: «Zwischen
einem Stand-Up-Comedian und einem Zauberer
gibt es einen grossen Unterschied. Der Zauberer will eine schöne, wundervolle Welt schaffen, in der alle Zuschauer ihre Alltagssorgen
vergessen und man selbst Übermenschliches
vollbringt. Und der Comedian will genau das
Gegenteil. Er spielt den Schwachen oder den
Genervten und er bringt jenen Alltag auf die
Bühne, den man vielleicht vergessen will. Das
macht ihn viel menschlicher.
Mich nerven momentan weniger die TrickErklärer, die gibt es schon lange, sondern jene
TV-Magier, die behaupten, sie seien echt, sie
könnten wirklich Gedanken lesen oder übertragen oder was weiss ich. Das ist peinlich. Reinste Volksverdummung.
Ich finde es spannend, wenn ein Zuschauer
weiss, dass er jetzt getäuscht wird, dass ihm
ein Trick vorgeführt wird. Das ist so eine Übereinkunft zwischen Zauberer und Zuschauer.
Beide geben sich dem Spiel hin.
Sie äussern sich sehr kritisch über den Zauberer-Nachwuchs. Welchen Kolleginnen oder
Kollegen würden Sie den Salzburger Stier verleihen?
Wer mich momentan am meisten vom
Hocker haut, ist Martin O. Der hat sein ganz
eigenes Ding entwickelt ... das einfach a cappella zu nennen, wäre Rufmord. Was der Mann
macht und wie er arbeitet, ist toll. Das begeistert mich über alle Massen. Helge und das Udo
gefallen mir ausserordentlich. Die werden eindeutig zu wenig beachtet. Ulan und Bator, auch
zwei Kollegen aus Deutschland, lieb' ich sehr.
Ihre Präzision und ihr Irrsinn sind einfach hinreissend.
Wie oft stehen Sie selber auf der Bühne?
Zwischen 120 und 140 Mal pro Jahr.
Also gibt es doch den einen oder anderen
freien Abend. Was macht ein Bühnenkünstler
an solchen Tagen?
Ich bin ein leidenschaftlicher Nichtstuer.
Und ich habe eine Familie mit zwei Kindern,
die sind vier und neun Jahre alt. Also ist das
Nichts eh meist gefüllt. Ich schaue auch extrem gerne Filme. Früher ging drei- bis viermal
pro Woche ins Kino. Das schaff ich heute nicht
mehr. Wenn ich heute mal Zeit hab, bleibe ich
gerne zuhause und gucke DVDs.
Was sagen Ihre Kinder zum Beruf ihres Vaters?
Das lässt sie ziemlich kalt. Sie kennen ja
nichts anderes. Für sie ist das ganz normal.
Der Papa zaubert halt und ist auf der Bühne
und im Theater.
Was ist für Sie als Künstler der Unterschied,
wenn Sie in einem kleinen oder einem grossen
Saal spielen?
Ich spiele gerne in grossen Sälen. Der Schadau-Saal an der Thuner Künstlerbörse hat für
mich zum Beispiel richtig gerockt. Das liebe
ich heiss, da kommt das Adrenalin. In kleinen
Theatern entsteht eben eine ganz spezielle,
sehr intime und gelöste Atmosphäre, die mir
auch sehr gut gefällt. In den grossen Mehrzwecksälen haben die Leute eher ein FernsehVerhalten. Sie schauen mir einfach zu.
Sie haben die Künstlerbörse erwähnt, die
dieses Jahr vom 30. April bis 2. Mai in Thun
stattfindet. Was halten Sie von dieser Veranstaltung als Mekka, Versammlungs- und Vermittlungsort der Kleinkunst?
Ich liebe die Börse heiss. Ich fühlte mich
dort von Anfang an extrem willkommen, aufgehoben und geschätzt. Mittlerweile geh ich
dort einfach hin, ohne einen Kurzauftritt oder
einen Stand zu haben. Die vier Tage der Thuner
Künstlerbörse gehören für mich zu den besten
des Jahres. Meine Frau kommt auch immer mit,
damit wir uns die Sachen so richtig schaufelweise reinziehen können. Für mich ist es ein
Riesengeschenk, in so einer Szene beruflich
tätig sein zu können. In welcher Branche gibt’s
das schon, dass sich Auftraggeber und Auftragnehmer, Agenten und Journalisten beim Hallosagen umarmen, Partys feiern und sich echt
freuen? Ich finde das extrem schön.
Emil Steinberger, einer der Überväter der
Schweizer Komik, hat sich vor 25 Jahren von
der Bühne verabschiedet. Aber er kann's nicht
so richtig lassen und macht seit Jahren wieder
Lesungen und Auftritte. Macht die Bühne süchtig?
Meine Agentur fragt mich manchmal voller
Sorge, ob mir die vielen Auftritte nicht zu viel
werden. Darauf antworte ich immer: «Ich trete
einfach schampar gerne auf!»
Michel Gammenthaler: «Zeitraffer»
La Cappella, Bern
18., 19., 21. und 22. Mai, jeweils 20h
www.la-cappella.ch
19
Tanz & Theater
Fiktive Realitäten und
reale Fiktion
Ein Gespräch mit Nicolette Kretz über das diesjährige Theaterfestival
«Auawirleben» vom 12. bis 22. Mai 2010
Von Alexandra Portmann Foto: Maurice Korbel «Hochstapler und Falschspieler»
«
2'000 Euro Busse für falschen Piloten»
und «Britney zeigt sich ganz natürlich»
lauten die Schlagzeilen einer Gratiszeitung
vom 15. April 2010. Anbei sind noch zwei Fotos von Spears, abgedruckt mit den Übertitel
«Original» und «Fälschung. Was heisst «Original», was «Fälschung»? Die Täuschung, der so
genannte «Fake», ist gesellschaftstauglich geworden. Jeder bastelt sich je nach Geschmack
und Zweck seine eigene Identität – sei das auf
Internetplattformen wie Facebook oder Youtube, genauso aber auch in Situationen wie Bewerbungsgesprächen. Stimmen die beschriebenen positiven Eigenschaften tatsächlich mit
der Realität überein? Wann wird aus der kleinen Verbesserung ein «Fake»? «Selfmanagement» und «Image» sind die Schlagworte unserer Zeit. Das Festivalteam ist durch genaue
Beobachtung der aktuellen Theaterszene auf
das Thema gestossen. So lautet das diesjährige
Motto des zeitgenössischen Theaterfetivals in
Bern «Fake yourself!».
«Noch nie war es so einfach, sich selbst zu
faken», erzählt Nicolette Kretz, Mitglied des
fünfköpfigen Aua-Teams. «Ein paar tolle Fotos
vor einem alternativ wirkenden Fabrikhintergrund, einige Probeaufnahmen auf MySpace
gestellt und die «Band» steht auch ohne Tonträger und Konzert. Täuschen und Schummeln
sind gesellschaftlich akzeptiert, und gerade
weil es so einfach ist und alle es tun, wird es
notwendig, wenn man den Standards genügen
will. Warum Makel eingestehen, wenn man diese auf dem Online-Profil weglassen kann?»
Für Nicolette Kretz haben alle eingeladenen
Produktionen unterschiedlich mit dem Thema
«Faken» zu tun: sei es auf inhaltlicher oder
auf methodischer Ebene. So beschäftigt sich
20
zum Beispiel die Produktion Hochstapler und
Falschspieler von Klara (Basel) und dem Theater Freiburg/pvc Tanz Freiburg Heidelberg
explizit mit der Hochstaplerei im Beruf. Wohingegen die Produktion Pate I-III von Far a
Day Cage aus Zürich sich auf verschiedenen
Spielebenen mit dem Thema auseinandersetzt.
Zum einen wird der Kultfilm Pate gespielt,
zum anderen wird verhandelt, wie ein solcher
Kultfilm überhaupt «nachgespielt» werden
kann. Auf einer dritten Ebene wird schliesslich
die Struktur der Mafia reflektiert und auf die
Film- und Theaterszene selbst projiziert. Das
«Faken» werde bei dieser Produktion vor allem
auf der methodischen Ebene thematisiert, so
Nicolette Kretz. Genauso verhält es sich beim
Stück «Wie man einem toten Hasen die Bilder
erklärt» der estnischen Gruppe NO99. Es stellt
sich die Frage, was in der Darstellung authentisch ist und was nicht. Auch Boris Nikitins
«Imitation of life» aus Basel fokussiert die
Frage nach dem Unterschied von Fiktion und
Authentizität.
Im Gegensatz zur Frage, wie Fiktion authentisch dargestellt werden kann, musste sich
die Gruppe Jan aus Antwerpen in «Mondays»
mit der gegenteiligen Frage beschäftigen, und
zwar, wie die Realität überhaupt auf die Bühne
gebracht werden kann. Die Herausforderung
besteht darin, die realen Tragödien der Amokläufe in Schulen, den so genannten «SchoolShootings», darzustellen. Acht jugendliche
Darstellerinnen zwischen zwölf und 17 Jahren,
versuchen, diese realen Ereignisse nachzuvollziehen. In einen ähnlichen Themenkomplex
ist die Inszenierung Glaube, Liebe, Hoffnung
– Geschichten von hier vom Deutschen Theater
Berlin einzuordnen. «Das Stück basiert auf ver-
schiedenen Interviews, in denen Leute zu den
drei Schlagworten: Glaube, Liebe, Hoffnung
befragt wurden. Daraus entstanden drei Texte,
wobei der erste von einem Konvertit handelt,
der zum Judentum übergetreten ist. Der zweite
zeigt eine Liebesgeschichte von einem Paar,
das sich im Internet gefunden hat und der dritte Text, Hoffnung, handelt von einer Frau mit
Alzheimer. Obschon in den Texten diese drei
Schlagworte verhandelt werden, wird gleichzeitig die Brüchigkeit der Konzepte ersichtlich»,
erzählt Nicolette Kretz. Es stellt sich wiederum
die Frage: Machen sich diese Menschen selbst
was vor, ist es ein Fake an sich selbst? Weiter
im Programm sind «Memory Lost» von schützwolff, eine Adaption von George Orwells bahnbrechendem Roman 1984 vom Theater Freiburg zu sehen, ausserdem die Produktion des
Stadttheaters Bern, «Letzte Tage» in der Regie
von Bernhard Mikeska. Nicolette Kretz freut
sich bei dieser Produktion besonders über die
spannende Trias aus freier Szene, Stadttheater
und Festival. Das Elektro-Liederkonzert «Fassbinder Raben» der Gruppe Arbeit interpretiert
die Musik von Peer Raben aus Fassbinders Filmen neu. Ebenfalls zu sehen ist ein Medley aus
kurzen Stücken der HKB unter dem Titel «Strip
by Strip-Artwork!»
Neben dieser packenden Stückauswahl findet wie jedes Jahr im Progr ein vielfältiges
Rahmenprogramm statt, bei dem u.a. Beatrice
Fleischlin die Performance «My ten favorite
ways to undress» zeigt. Vom 12. bis 22. Mai
2010 kommt eine intensive und spannende
Theaterzeit auf uns zu, in der für jeden etwas
dabei ist: Fake-Los!
Weitere Infos: www.auawirleben.ch
Tanz & Theater
T HEATER
Denn die Kirche lebt ...
Von Lukas Vogelsang
A
lles klar, es ist perfektes Timing, wenn die
beiden Abwarte «Hell und Schnell» ihren
neuen Job in der Kirche «St. Peter und Paul» antreten. Rund ein Viertel der Katholiken wollen ja
allem Anschein nach vielleicht bei ihrer Kirche
austreten, aus diesem ins Zwielicht geratenen
Klub von lüstern fummelnden Priestern. Und genau da braucht es wieder einen soliden Kirchenbetrieb – und der beginnt, und das wissen wir
alle, beim Abwart.
Es geht für einmal nicht um fehlerhafte
Priester, sondern um eine grössere Dimension:
«Himmel und Hölle». Wachen LeserInnen wird
der kleine, feine Unterschied zwischen «Himmel
und Hölle» oder «Himmel ODER Hölle» aufgefallen sein. So führen die Abwarte verwirrte Kirchenbesucher auf einem theatralischen Rundgang nicht zu einem oder anderen Ort – sondern
überall hin, in der Hoffnung, dass zum Schluss
jeder noch den Ausgang findet.
Hinter «Hell und Schnell» stehen Luciano Andreani und Markus Schrag. Wer von denen hell
und wer schnell ist, muss man für sich selber entdecken. Tipp: Die Dinge liegen nicht immer klar
auf der Hand. Die beiden haben nicht im Geringsten vor, die Kirche in den Morast zu ziehen.
Auch wenn bei Auftritten von «Hell und Schnell»
bald mal das Gefühl von einen Terroranschlag
naheliegen kann: Die Beiden geniessen das vollste Vertrauen der Kirche selbst, und diese steht
hinter diesem höllischen Rundgang. Und für BesucherInnen, die sich trotz dieser mildernden
Worte während des Rundgangs unwohl fühlen
sollten, denen sei nahegelegt, dass in einer soliden katholischen Kirche auch solide Beichtkammern stehen – nur für den Fall. Aber wir sprengen
wieder mal mit Schwarzpulver die Gesangsbücher. So schlimm wird das ja alles nicht.
Bei «Hell und Schnell» stellt sich die Frage,
wer repräsentiert eigentlich «Himmel» und wer
die «Hölle»?
H: Ja, diese Frage wird immer wieder gestellt.
S: Aber die Leute beantworten diese auch im-
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bild: Die Bibel macht schnell hell... / zVg.
mer gleich selber, und es ist immer richtig.
Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, in einer
Kirche einen Rundgang zu machen?
H: Also, vor eineinhalb Jahren redete ja
noch niemand von diesen Bubengeschichten.
Die Architektur ist sicher als erstes zu nennen,
verborgene Orte, das Labyrinthartige, das Auftauchen aus etwas, das hat uns fasziniert. Es
könnte auch in einer alten Fabrik geschehen. Da
hätte man einfach das Thema angepasst.
S: Wir hatten auch andere Ideen für Orte für
Rundgänge: Bundeshaus, der Gymer im Kirchenfeld, Historisches Museum – aber da hatten wir
noch keine konkrete Geschichte. Wir suchten
einfach Orte die irgendwie gefürchtet sind und
ein Eigenleben haben.
H: Ich bin mal zufällig in diese Kirche, und
zufällig war auch gleich der Pfarrer da und ich
habe ihn auf die Idee angesprochen – er hatte
sofort Hand geboten. Und wir hatten das Gefühl,
diese Kirche ist sehr zentral, und trotzdem kennt
sie kaum jemand wirklich. Sie ist irgendwie unverbraucht und entsprechend «keusch». Und das
hat uns motiviert …
Zudem ist diese Kirche nicht beheizbar. Im
Winter ist man entsprechend unterhalb in einem
Raum und kommt, wenn's wärmer wird, nach
oben in den Kirchenraum. Das ist natürlich eine
einmalige Situation. Deswegen kann man diesen
Rundgang auch nur hier machen.
S: Ja, das macht diesen Ort auch ganz speziell.
Eine Kirche kennt man, aber da unten, dieser
Raum ist was ganz Spezielles.
Ihr habt gesagt, die Kirche sei noch unverbraucht. Ist sie nach Eurem Rundgang versaut?
H: Also unter Umständen schon, theologisch
vielleicht. Das muss dann die Kirche entscheiden.
Aber die wissen, was auf sie zukommt, und sie
hatten noch so Freude daran. Also der Pfarrer
hat schon gesagt: «Es ist dann immer noch eine
Kirche …»
Seid Ihr selber Kirchengänger?
H: Also ich selber bin sehr oft in Kirchen. Im
Münster oder in der Französischen Kirche zum
Beispiel sitze ich öfters an einem Nachmittag
einfach ein paar Stunden. Ich mag diesen Groove
dort und fühle mich immer sehr erholt danach.
In fremden Städten gehe ich immer in Kirchen,
allein wegen des Handwerks. Die Architektur
fasziniert mich.
Aber zusammen sind wir noch nie wirklich
die religiöse Schiene gefahren. Und diese Proben
in der Kirche haben uns jetzt schon ein wenig
verändert: Wir sind freundlicher geworden zueinander und machen einander kleine Geschenke. Irgendwie sind ein paar Tropfen von diesem
heiligen Geistöl doch auch zu uns gekommen.
Und was ist «Himmel und Hölle» für Euch?
H: Also, es gibt das Gute und das Böse. Das haben wir alle in uns. Also, das Böse ist ja nichts anderes als die Abwesenheit des Guten. Umgekehrt
geht das ja nicht, denn das Gute ist ja immer da.
Wir haben uns mit der Bibel jetzt schon auseinandersetzen müssen.
S: Das ist ja eine Symbolik, die man von Kleinauf kennt: der Himmel gleich gut. Und man will ja
auf diesem rechten, auf dem richtigen Weg sein.
Und wir haben in dieser Probezeit und in
diesem Arbeitsprozess auch viel über uns gelernt.
Und das ist manchmal auch ein Auf und Ab, eine
Art Himmel und Hölle. Dabei nimmt man viel mit.
Und davon sind Teile auch in das Stück eingeflossen. Wir hoffen natürlich, dass wir nach dem
dritten Mai wieder etwas mehr Himmel haben.
Momentan sind wir noch ziemlich unter Druck,
und man hat Zweifel. Das wird sich mit der Première auflösen.
«Himmel und Hölle»
Kirche St. Peter und Paul (neben dem Rathaus)
Vom 3. Mai bis 22. Juni, 20 bis 21.15h
Treffpunkt beim Schlachthaus Theater.
Reservation erforderlich, Gruppengrössen beschränkt. Telefon 031 312 60 60
www.hellundschnell.ch
21
BA Visuelle Kommunikation
BA Vermittlung in Kunst und Design
MA Art Education
KONZERTE
IM PROGR
Diplomausstellung
Vernissage:
Donnerstag, 10.Juni,
18.00 Uhr
Jazz, Weltmusik, neues Songwriting und Elektronik: bei bee-flat prägen schweizerische und internationale Bands ein Live-Programm, das
Innovation und Qualität bietet – jeden Mittwoch und jeden Sonntag in
einem der stimmungsvollsten Lokale in Berns Stadtmitte.
02.04.10 Electronic Tribal feat. DJ Djiva (Brasil)
04.04.10 Erik Truffaz / Sly Johnson /
Philippe Garcia (CH/F)
07.04.10 Giulia y los Tellarini (Spain)
11.04.10 Black Lotos (CH/China)
14.04.10 Staff Benda Bilili (Congo)
18.04.10 Vijay Iyer Trio (USA)
21.04.10 Sevara Nazarkhan (Uzbekistan)
25.04.10 Laure Perret Acoustic Duo (CH)
28.04.10 Django Bates: Spring is here
(Shall we dance?) (UK/CH)
02.05.10 Plaistow
05.05.10 Kerouac
07.05.10 Electronic Tribal Dancefloor
09.05.10 Mélissa Laveaux
12.05.10 Ubuhle
16.05.10 Nik Bärtsch's Ronin
06.6.10 Babazula
Konzertort: Turnhalle im PROGR
Speichergasse 4
3011 Bern
Programminfos: www.bee-flat.ch
Vorverkauf/Tickets:
www.starticket.ch
www.petzi.ch
OLMO Ticket,
Zeughausgasse 14, 3011 Bern
Do 17.6.
17.00 Uhr
Führung durch den
Studiengangsleiter Viskom
Roland Fischbacher
Do 17.6.
18.00 Uhr
Führung durch die
Studiengangsleiterin VKD
Barbara Bader
Fr 18.6.
17.00 Uhr
Führung durch die
Studierenden VKD
Fr 18.6.
18.00 Uhr
Führung durch die
Studierenden Viskom
Die Ausstellung ist
täglich von 10.00
bis 17.00 Uhr geöffnet.
Hochschule der Künste Bern
Fellerstrasse 11
3027 Bern
Tanz & Theater
Brutale gesellschaftliche Realität an
einem ungewöhnlichen Theaterort
Von Fabienne Naegeli – Mit «Die ganze Nacht nicht» zieht
sich die Compagnie Majacc ins Private zurück
A
moklauf im Klassenzimmer. Schläger von
München. Gruppenvergewaltigung – Jugendliche Sexualstraftäter verhaftet. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren laut Statistik
stark angestiegen. Berichte über gewalttätige
Jugendliche reissen in den Medien nicht ab. Die
Hintergründe der Taten bleiben oft im Dunkeln.
Es tauchen Fragen und Spekulationen auf, die
versuchen, das Unerklärliche zu erklären. Wer ist
schuld? Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was macht Jugendliche zu Tätern? Wer hat
wann, wie und warum versagt? Wer sind die Eltern?
Sind zu viele erzieherische
Freiheiten, schwierige familiäre Verhältnisse oder
andere soziale Probleme
die Gründe? Ist eine verfehlte Ausländerpolitik, der
Konsum gewaltverherrlichender
Computerspiele
oder die Flut an pornographischen Bildern im Internet die Ursache? Was hätte
die Schule oder die Jugendsozialarbeit, die Politik oder
die Gesellschaft präventiv
dagegen unternehmen können? Gerne wird dabei auf
Klischees zurückgegriffen:
Die Eltern sind geschieden, arbeitslos, drogensüchtig, alkoholabhängig oder selber gewalttätig,
die jugendlichen Täter haben ausländische Wurzeln oder bereits eine lange Heimkarriere hinter
sich. Doch was ist, wenn keine dieser Erklärungen greift und ganz «normale» Verhältnisse vorherrschen. In «Die ganze Nacht nicht» setzt sich
die Compagnie Majacc mit solch einem «normalen», gutbürgerlichen Elternhaus auseinander,
das plötzlich mit der erschütternden Frage konfrontiert wird, ob ihr Sohn bei einer Gruppenvergewaltigung eines Mädchens beteiligt war.
Wie jeden Abend kommen Helga und Martin
von ihrer Arbeit nach Hause und treffen in ihrer
Küche aufeinander. Martin bereitet ein Fondue
vor, denn die Wertmüllers, ein befreundetes
Ehepaar, kommen zu Besuch. Er ist ein wenig
gestresst, da er nicht weiss, ob Julian, Helgas
17-jähriger Sohn, mitisst und wie viele Baguettes
er daher aufschneiden und welche Menge Käse
er anrühren muss. Helga schenkt ihm allerdings
keine grosse Aufmerksamkeit. Sie ist am Telefon
beschäftigt mit der Organisation der nächsten
Einladung, nervt sich, weil Martin den Gärtner
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
noch nicht angerufen hat, will eigentlich vor dem
Abendessen noch schnell duschen und macht sich
Sorgen wegen ihres Jobs. Die kleinen, alltäglich
banalen Auseinandersetzungen des Paares treten
jedoch bald in den Hintergrund. Immer wichtiger
wird die Abwesenheit Julians. Mit wem und wo
treibt er sich wohl herum? Vielleicht mit dem
Albaner Mirko oder mit Nikola, dessen Zuhause
keine Struktur hat und völlig unkontrolliert ist?
Schliesslich gesteht Helga, dass sie nicht weiss,
wo ihr Sohn Dienstagnacht war, als eine
Gruppe Jugendlicher ein
Mädchen
vergewaltigt
hat. War Julian möglicherweise einer der Täter?
Hat sie sich zu wenig um
ihn gekümmert? Weshalb
hat sie ihrem Mann bis
jetzt nichts davon gesagt?
Und warum war Martin
an diesem Abend eigentlich so lange weg? Unter
dem Verdacht des Gewaltverbrechens
verändert
sich die lange, scheinbar
solide Partnerschaft auf
einen Schlag. Alles bricht
auf. Man macht sich gegenseitig Vorwürfe und
beginnt, immer tiefer in
der schon länger aus dem Lot geratenen Beziehung zu graben.
Nach dem letztjährigen Stück «Frontex» über
Migration und lebensgefährliche Grenzübertritte
befasst sich die 2005 von Roger Binggeli Bernhard gegründete Compagnie Majacc in «Die ganze
Nacht nicht» mit dem Zusammenhang von elterlicher Beziehung und Jugendgewalt. Wie kann eine
unaufrichtige, nur vordergründig dahingelebte
Partnerschaft ein Kind beeinflussen? Was, wenn
alles nur noch ein gemütliches, zufriedenes Einerlei ist, wenn das Liebesglück abhandenkam und
man sich nicht mehr spürt? Die Compagnie Majacc lässt in «Die ganze Nacht nicht» die häusliche Fassade bröckeln und bringt so ein Stück
Leben mit seinen tiefen menschlichen Abgründen
auf die Bühne, die ursprünglich gar keine Bühne war, sondern ein reale Wohnküche.
20. bis 22. und 27. bis 29. Mai, 20h (bei trockenem Wetter Gartenbar ab 19h), in der Privatwohnung an der Friedlistrasse 10, 3006 Bern (Nähe
Rosengarten).
FILOSOFENECKE
Von Ueli Zingg
Treue zur Philosophie
bedeutet, es der Angst zu verbieten, dass sie einem die Denkfähigkeit verkümmern lässt.
Max Horkheimer 1947
A
ngst ist Angst vor der Existenz, Angst
um die Existenz, die eigene. In der
Angst wird der Mensch sich selbst und verliert sich gerade dadurch. Angst um Andere ist die Angst, den Verlust eines Anderen
nicht bewältigen zu können, also Angst um
sich selber. Horkheimer – Jude, sozialkritischer Denker, publiziert, was er denkt, lebt in
Deutschland, dies zurzeit des aufkeimenden
und schliesslich Macht ergreifenden Nationalsozialismus – hatte allen Grund zur Angst,
hatte allen Grund zum Denken. Im Denken
stellen wir der namenlosen Angst etwas gegenüber, wir bedenken sie, machen sie uns
zum Objekt – ich und die Angst – erwehren
uns ihrer Versuchung zur Allmacht, wo sie
und ich nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind: Ich bin Angst geworden.
Denken ist Denken vor der Angst: die Angst
vor dem Nichtwissen, die Angst vor dem Ausgeliefert sein, die Angst vor dem Nichtgeliebt
werden, die Angst vor der Endlichkeit. Wer
sein Ende zu denken vermag, kann ihm ins
Gesicht lachen: Ich weiss um die Dinge, wie
sie sich geben, ich kann mich fügen, ich kann
mich im Zorn auflehnen, beides schafft Distanz zu den Existenzbedingungen, zu ihrem
Anspruch auf Angst erzeugende Allmacht.
Im Denken werde ich ein Allgemeines und
gleichzeitig mich selbst. Der anscheinende
Widerspruch ist Abbild des Daseins: Nichts
ist so eindeutig und persönlich, wie es zu
sein scheint, die ewige Liebe nicht, das unendliche Glück nicht, die gültige Erkenntnis
nicht. Es ist, was wir schon längst wissen,
ein Ritt über den See auf dünnem Eis. Ohne
Angst ist, wer das weiss. Er ist Teil einer Philosophie, die zwar nicht über Mensch, Tier,
Gesellschaft, Welt, Geist so sprechen kann,
wie der Naturwissenschafter über eine chemische Substanz spricht: Philosophie hat die
Formel nicht. Zielt sie auf letztendliche Gültigkeit, auf einen Prozess innerer Befreiung
des Subjekts, endet sie als leere Ideologie, als
dogmatische Religion. Sie ist nicht Wahrheit.
Sie zeigt das Scheitern unserer Sehnsucht
nach Wahrheit auf. Philosophie konfrontiert
das Bestehende in seinem Anspruch auf Gültigkeit.
28. Mai, Kramgasse 10, 1. Stock, 19:15h.
Gut & schön, wäre nicht die Angst vor dem
Nichtwissen.
23
Tanz & Theater
F IGURENTHEATER !
Sommerliches Figurentheater
Von Geraldine Capaul
Das 9. Figura Theaterfestival – International Biennale des Bilder-, Objektund Figurentheaters wird sommerlich.
Neu findet es vom 9. bis 13. Juni statt.
«
Wir werden sommerlicher», sagt Lothar
Drack, künstlerischer Leiter der kommenden Ausgabe des 9. Figura Theaterfestivals augenzwinkernd. Damit spricht er bereits die erste wichtige Neuerung an: Das grosse Festival
für Bilder-, Objekt- und Figurentheater findet
dieses Jahr nicht wie bisher im September statt,
sondern bereits im Juni. Vom 9. bis 13. Juni
werden in allen Theatern in Baden und Wettingen spannende, poetische, neue, liebevolle und
freche Inszenierungen aus dem weiten Bereich
des Figuren- und Objekttheaters zu sehen sein.
Dass das Figura Theaterfestival nun bereits im
Juni stattfindet, hat organisatorische Gründe.
Bis anhin fanden Figura und Fantoche jeweils
alle zwei Jahre alternierend satt. Nun aber
wechselt Fantoche auf den Jahresrhythmus.
Das hätte bedeutet, dass in einem Monat zwei
grosse Festivals in Baden stattgefunden hätten. «Wir haben verschiedenste Möglichkeiten
eingehend geprüft», erklärt Drack. «Aber aufgrund der vorhandenen Infrastrukturen einer
Kleinstadt und insbesondere aus medien- und
aus kommunikationstechnischer Sicht wäre
das allzu aufwändig geworden.» Ebenfalls neu
ist die Leitung des Festivals: Lothar Drack, der
die drei letzten Festivalausgaben als alleiniger
Leiter bewältigt hat, ist neu künstlerischer Leiter. Die Produktionsleitung übernimmt Markus
Lerch.
Nun wird das 9. Figura Theaterfestival also
in den Frühsommer ziehen. Rund 20 Inszenierungen aus Belgien, Deutschland, Österreich,
Frankreich, Holland, Italien, Russland und der
24
Bild: zVg.
Schweiz stehen auf dem Programm. Sommerlicher aber bedeutet vor allem, dass wiederum
ein ansehnlicher Teil der Stücke im Freien
stattfindet. Rund ein Drittel der eingeladenen Produktionen werden ihre Arbeit auf der
Strasse und auf öffentlichen Plätzen zeigen.
Darunter finden sich spleenige Miniproduktionen genauso wie attraktive Grossinszenierungen. Seit seinen Anfängen im Jahr 1994
hat Figura Stücke in den öffentlichen Raum,
mitten in die Stadt platziert. Seit 2002 wurde
diese Programmlinie stark ausgebaut und «Figura fuori» genannt. «Wir haben schon immer
bewusst Figuren auf die Strassen gestellt», erklärt der künstlerische Leiter. «Wir wollen immer auch Publikum ansprechen, dem der Weg
ins Theater noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist.» So dürfen sich die Passanten in Baden freuen: Es kann durchaus sein,
dass eine packende Inszenierung an einem
ungewöhnlichen Ort ihren Einkaufbummel unterbricht. Der Sommer soll auch dazu genutzt
werden, dass draussen –«fuori» eben – länger
in den Abend hinein gespielt werden kann.
Auch für das Festivalzentrum will man die
sommerliche Atmosphäre nutzen. Neben dem
bereits gut etablierten Zentrum im «Roten
Turm» gibt's mit dem Theater Café «Roulotte» ein Openair-Festivalzentrum. Mit seiner
gedeckten Bühne soll es Begegnungsort für
Künstler untereinander, aber auch mit den
Passanten sein. «Auch damit wollen wir einen
Schritt aufs Publikum zugehen», sagt Drack.
Die neunte Ausgabe des Figura Theaterfestivals möchte mit seinem Programm eine der
wohl populärsten Figuren aus dieser Kunstgattung, die in vielen Ländern zuhause ist,
neu hinterfragen: Pulcinella, Polichinelle, Mr.
Punch, Hans Wurst oder Kasper bzw. eben
auf Schweizerdeutsch Chasperli. Ganz anarchistischer Rebell, fauler Parasit, gewitzter
Schlauberger oder frecher Bengel wird er dem
diesjährigen Figura Theaterfestival seine Renitenz erweisen, so u. a. in den neusten Arbeiten
von Compagnie La Pendue mit «Poli dégaine»,
Gyula Molnàr, Alexandra & Eva Kaufmann
mit «Kasperls Wurzeln» und Claus, Knecht &
Grossmann mit «Grete L. und ihr K». Im selben
Zusammenhang wird Salvatore Gatto erstmals
in der Schweiz zu sehen sein, praktisch eine
Reinkarnation des dreisten Pulcinella, der seine Wurzeln in Neapel hat.
Unter den vielen Produktionen, die von der
Programmgruppe in den letzten Monaten in
ganz Europa auf- und in vielen Besprechungen ausgesucht wurden, gibt's für das Team
u.a. ein spezielles Highlight: Das weit gereiste niederländische Theaterkollektiv Hotel
Modern kommt für zwei Vorstellungen nach
Baden. Hotel Modern wurde mit ihren ebenso ungewöhnlichen wie beeindruckenden Inszenierungen «De Grote Oorlog – The Great
War» und «Kamp», das dem Alltag in einem KZ
nachspürt, bekannt. Für das Ensemble typisch
sind die eigenwilligen Darstellungsformen. Die
Theatermacher spielen mit viel kleinem Sammelsurium, das fürs Publikum mit handgrossen Kameras auf Monitore übertragen wird.
So entsteht eine Art Live-Trickfilm mit «live»
erzeugtem Soundtrack – eine eindrückliche Arbeit, die echt unter die Haut geht. So zeigen sie
im Kurtheater Baden am 12. und 13. Juni «The
Great War», ihre erste grosse Arbeit, mit der
sie bereits rund um die Welt tourten. «Hotel
Modern gehören zu den gefragtesten Ensembles», meint Drack. «Wir versuchen sie schon
seit Jahren nach Baden zu holen. Nun haben sie
endlich zugesagt. Das freut uns riesig.»
Tanz & Theater
HINTER DEM VORHANG :
Vorhang auf!
Interview von Karl Schüpbach
Vorhang auf: Hasan Koru, Inspizient am Stadttheater Bern, steht auf
der Bühne, und nimmt, in gleissendes
Scheinwerferlicht getaucht, Ihren Beifall entgegen. Liebe Theaterbesucherin, lieber Theaterbesucher, Sie lesen
den Namen des Inspizienten in jedem
Programm-Heft. Aber Hand aufs Herz,
kennen Sie seine vielfältigen Aufgaben, die er hinter der Bühne leistet,
während Sie gespannt das Geschehen
auf den Brettern, die die Welt bedeuten, verfolgen? Das folgende Gespräch
soll Hasan Koru für einmal der Anonymität entreissen.
H
asan Koru, ich stelle die Behauptung auf:
Ohne Inspizient hebt sich der Vorhang
nicht, und es gibt keine Vorstellung zu bewundern!
Deine Behauptung stimmt – und sie stimmt
doch nicht. Es ist so, die Entscheidungen für
den geordneten Ablauf liegen beim Inspizienten. Gutes Gelingen ist aber nur gewährleistet,
wenn die verschiedensten Abteilungen eng
zusammenarbeiten. Ich kann hier nicht alle
aufzählen, aber ich bin auf die Mitarbeit des
Bühnenmeisters, der Technik, der Ton-Abteilung, der Beleuchtung angewiesen, wenn der
Dirigent, das Orchester, die Sänger, Schauspieler oder das Ballett, vom Beginn der Vorstellung bis zu ihrem Ende, unser Publikum mit
ihren Leistungen erfreuen. Ich sage es noch
anders: Was soll ich mit meiner Kompetenz zu
Entscheidungen, nur auf mich allein abgestellt,
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Foto: Philipp Zinniker
bewirken können, wenn eine Kulisse nicht
richtig steht, ein Sänger oder Schauspieler seinen Auftritt verpasst, wenn ein Scheinwerfer
aussteigt oder der Ton ausfällt? Darum: Zusammenarbeit, Zusammenarbeit und nochmals
Zusammenarbeit.
Aus einem anderen Schweizer-Theater wurde mir zugeflüstert, im Stadttheater Bern seien
die Arbeiten für die Inspizienz besonders breit
gefächert. Es gibt also diesbezüglich Unterschiede von Theater zu Theater?
Diese Information ist richtig. Das Stadttheater Bern ist ein Drei-Sparten-Haus mit Oper,
Schauspiel und Ballett. Es gibt eine Inspizientin und zwei Inspizienten im Haus, und wir
müssen für jedes Stück einsetzbar sein. Die
Arbeit für die drei Sparten ist verschieden: Bei
der Oper ist Notenlesen unabdingbare Voraussetzung, zusätzlich muss auch das Orchester
betreut werden. Die Arbeit für das Schauspiel
wird durch den umfangreichen Text bestimmt,
und beim Ballett sind Kenntnisse von Tanz und
Choreographie sehr von Vorteil. Mit Lichtzeichen und Durchsagen ist der Inspizient verantwortlich für korrekte und geregelte Abläufe.
Hier eine kleine Aufzählung der vielfältigen
Aufgaben: Mit dem Klingelzeichen muss das
Publikum am Anfang und nach den Pausen
in den Saal gerufen werden, die Künstler, die
Technik, der Schnürboden, die Beleuchtung,
das Orchester, die Tontechnik, die Statisterie,
sie alle – die Liste ist nicht vollständig – warten auf das Einsatzzeichen des Inspizienten. In
anderen Häusern gibt es Inspizienten für den
Ton und die Beleuchtung, für die Bühne rechts
und links. Hier in Bern wird die gesamte Arbeit
von einem Inspizienten allein geleistet. Er wird
dabei unterstützt von der Regie-Assistenz und
von der Abend-Spielleitung.
Können wir noch einen Augenblick bei den
spannenden Unterschieden in Deiner Arbeit für
die Oper, das Schauspiel und das Ballett verbleiben?
Die Unterschiede sind tatsächlich beträchtlich, und sie machen unsere Arbeit insgesamt
spannend und abwechslungsreich. Bei der Oper
steht die Musik im Vordergrund, von der absoluten Notwendigkeit, eine Partitur lesen zu
können, habe ich schon gesprochen. Insgesamt
müssen wir mit vielen multi-medialen Elementen arbeiten, Video und vielfältige Tonquellen
fliessen immer mehr in unsere Arbeit ein. Früher Ungewohntes, wie ein Schauspieler, der auf
der Bühne singen oder ein Instrument spielen
muss, gehört zum Alltag. Der Tanz ist sicher
eine Kunstform, die sehr viel Wissen und Erfahrung erfordert. Es ist wirklich von Vorteil,
wenn man als Tänzer, gearbeitet hat. Unterschiede zeigen sich auch in der Bewältigung
von Pannen. In der Oper fliesst die Musik, ein
völliger Stillstand ist kaum denkbar. Im Schauspiel kann es natürlich vorkommen, dass ein
Schauspieler den Text vergisst, da müssen wir
sofort dafür sorgen, dass der programmierte
Ablauf wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann, damit Licht- und Tonzeichen wieder
in der richtigen Reihenfolge weitergehen. Das
gleiche gilt für Ballett-Vorstellungen, wenn ein
Tänzer anfängt, zu improvisieren, weil der Faden der Choreographie verlorengegangen ist.
Dabei sind für uns die Anforderungen grundverschieden, je nachdem ob es sich um ein
Orchester-Ballett handelt, oder ob die Musik
ab Tonträger erklingt. Ein wichtiges Hilfsmit-
25
Tanz & Theater
tel möchte ich noch erwähnen, dies gilt für alle
drei Sparten: Wir verfolgen einen Durchlauf
während der Vorbereitung stets mit den Noten
oder dem Text in der einen Hand, in der anderen bedienen wir eine Stoppuhr. So kennen wir
während der Vorstellung in jedem Moment den
rein zeitlichen Ablauf.
Angesichts der Fülle dieser Aufgaben,
drängt sich die Frage auf: Wo befindet sich der
Arbeitsplatz, und welche Hilfsmittel stehen zur
Verfügung?
Vom Zuschauerraum aus gesehen, mit Blick
auf die Bühne, befindet sich unser Arbeitsplatz
auf der linken Seite, gleich nach der Bühnenumrandung. Dort stehen uns verschiedene
Hilfsmittel zur Verfügung, Monitore, Lautsprecher, Funkgeräte und ein Computer. Wir
haben jederzeit eine Übersicht auf das Bühnengeschehen. Der Computer ist ein entscheidendes Hilfsgerät, ohne ihn wären die Abläufe
von einer einzigen Person nicht steuerbar. Die
ganzen Lichtzeichen für alle Beteiligten sind
programmiert, zwei Hände allein würden es nie
schaffen, alle Knöpfe gleichzeitig zu bedienen.
Wie wird man Inspizient, welches war Dein
persönlicher Weg?
Es gibt keine Schule für Inspizienten, auch
keine Ausbildung. Wichtig ist, dass man auf
der Bühne gestanden hat. Durch die Bühnenerfahrung lernt man die Bedürfnisse der einzelnen Berufsgruppen kennen. Wir haben zwar
einen Künstler-Vertrag, aber, wie gesagt, unser
Wissen muss sehr breit gefächert sein. Was
braucht ein Orchestermusiker, ein Dirigent,
welches sind die Anliegen eines Technikers
oder eines Beleuchters? Ich selber bin diesen
Weg gegangen, als Solo- und Gruppentänzer
im Ballett habe ich mir dieses Wissen angeeignet. Als die Zeit für einen Wechsel reif wurde,
hat mir die Leitung des Hauses die Stelle eines Inspizienten angeboten. Das war für mich
eine Chance, und ich habe sie im Jahre 2003
gepackt. Ich fühle mich dem Haus, in seiner
überschaubaren Grösse, sehr verbunden.
Stellen wir uns innerlich den Weg eines
Werkes vor, von der Auswahl bis zur Premiere.
Von welchem Zeitpunkt an ist die Mitarbeit des
Inspizienten unerlässlich?
Für uns ist der erste Kontakt zu einem Stück,
das zur Aufführung gelangen soll, das Konzeptionsgespräch. Hier wird das Werk von der Regie vorgestellt, alle Beteiligten sind dabei, mit
Ausnahme der Technik. Bei der Oper beginnen
nach dem Konzeptionsgespräch die szenischen
Proben, beim Schauspiel gibt es Lesungen, auf
der Probebühne, wo wir auch, je nach Stück,
bereits dabei sind. Noch einmal anders verhält
es sich beim Ballett, dort finden die Proben in
der Regel im Ballettsaal statt, und wir sind je
nach Choreographie von Beginn weg dabei. Es
gibt aber keinen schematischen Ablauf, vieles
hängt vom Schwierigkeitsgrad des Stückes ab.
Wir stützen uns auf die Notizen, die wir beim
Konzeptionsgespräch gemacht haben, und wir
26
merken bald, ob es sich um eine schwierige
Produktion handelt, wobei das unsere Präsenz
bei den Proben beeinflusst. Oft holen wir noch
zusätzliche Informationen bei den einzelnen
Abteilungen ein. Die Probenzeit bis hin zur
Premiere dauert sechs bis zehn Wochen. Man
darf sich nicht vorstellen, dass der Inspizient
dauernd anwesend ist. Die Probenarbeit ist oft
getragen von einer intimen Atmosphäre, vielleicht wird auch noch improvisiert, der Ablauf
steht noch nicht ganz fest. Da kann sich die
Präsenz von allzu vielen Menschen störend
auswirken. Wie gesagt, es gibt Unterschiede
von Stück zu Stück, aber in der Regel ziehen
wir uns nach den Konzeptionsgesprächen und
den ersten Kontakten für etwa drei Wochen
zurück. Je näher aber der Termin der Premiere
rückt, wenn es Durchläufe gibt, desto dichter
wird unsere Präsenzzeit … bis zum ersten Vorhang hoch.
Dein Name steht zwar in jedem Programmheft, wenn Du arbeitest. Ich habe es aber nie
erlebt, dass Du am Schlussapplaus teilnimmst,
oder dass Du in einer Kritik erwähnt wirst. Wie
gehst Du mit diesem Dualismus um: Einerseits
bist Du absolut unentbehrlich für den gelungenen Ablauf einer Vorstellung, und – quasi als
Dank – verbleibst Du in völliger Anonymität?
Es ist richtig, wir können am Schlussapplaus nicht teilnehmen. Es ist der richtige
Ort, um nochmals auf das Zusammenwirken
vieler Menschen und Abteilungen hinzuweisen, die eine Vorstellung im Theater erst ermöglichen. Die Dramaturgie, der Hausdienst,
die Schneiderei, die Schreinerei, die Verantwortlichen für die Garderoben und für die Kantine, sie alle können am Schlussapplaus auch
nicht teilnehmen, die Applausordnung könnte
ihnen auf der Bühne den nötigen Platz gar
nicht bieten. Der Applaus am Ende ist das Eine,
ein volles Haus, ein zufriedenes Publikum und
eine gute Resonanz von aussen ist das Andere,
daran nehmen wir und alle die Genannten teil,
mit grosser innerer Befriedigung. Die Künstler,
die auf der Bühne den wohlverdienten Applaus
entgegennehmen können, sind sich der Tatsache absolut bewusst, dass ihr Erfolg nur dank
des lückenlosen Zusammenwirkens vieler Menschen möglich wurde. Dieses eiserne Wissen
um das Miteinander verbindet die Menschen
auf, hinter oder neben der Bühne. Ich brauche immer wieder das Bild des menschlichen
Körpers: wenn auch nur eine Hand in ihrer
Funktion beeinträchtigt ist, so leiden auch
Körperteile, die mit dieser Hand nicht direkt
in einem Zusammenhang stehen. Genau so ist
es im Theater: es geht nur wenn sich alle in die
Hand spielen.
Dem Internet (Wikipedia) ist zu entnehmen, dass der Inspizient bei unvorhergesehenen Ereignissen in eigener Verantwortung und
Kompetenz handeln muss. Das kann von einer
zeitlich begrenzten Unterbrechung bis hin zur
vollständigen Absage einer Vorstellung reichen.
Abschliessend und zur Auflockerung die Frage:
Hast Du in Bern je eine solche «Katastrophenübung» erlebt?
Bis jetzt habe ich den Alptraum einer vollständigen Unterbrechung und Absage einer
Vorstellung nicht erlebt, weder als Tänzer
noch als Inspizient. Kürzere oder längere Unterbrechungen kommen aber vor, wenn zum
Beispiel eine Kulisse hängen bleibt, oder sich
andere technische Pannen einschleichen. Die
Frage stellt sich dann immer, ob wir weitermachen, ohne dass das Publikum etwas merkt,
oder ob wir den Vorhang schliessen müssen.
In solchen Fällen, oder auch bei Verspätungen
muss jemand vom Abenddienst – das kann der
Intendant oder jemand von der Dramaturgie
sein – das Publikum informieren. Die Sorge um
Pünktlichkeit ist eine grosse Herausforderung
für den Inspizienten, das Publikum muss sich
auf die angegebenen Zeiten verlassen können.
Wie gesagt, ein gestörter Ablauf kann sehr viele Gründe haben, sogar die Sicherheit unseres
Publikums muss für uns zur Aufgabe werden:
Es ist nicht lange her, dass wir das Publikum
nach Ende einer Ballett-Vorstellung eine halbe
Stunde lang im Hause zurückbehalten mussten,
weil draussen eine Anti-WEF Demonstration
tobte. Wir geben uns alle erdenkliche Mühe,
Pannen zu vermeiden. Aber wir sind keine Maschinen, und oft ist die Behebung eine so spannende und abenteuerliche Angelegenheit, dass
sie für willkommenen Gesprächsstoff nach der
Vorstellung sorgt. Abschliessend möchte ich
noch von einer besonderen Unterbrechung
einer Vorstellung berichten, sie klingt anekdotisch, soll sich aber wirklich zugetragen haben:
Der grosse Rudolf Nurejew war mit einem von
ihm getanzten Solo nicht zufrieden. Kurzerhand unterbrach er die Vorstellung, ging zum
Dirigenten, und verlangte die Wiederholung
der Stelle, um sie dann vollendet zu tanzen.
Leider ist nicht bekannt, wie der Inspizient
den Zwischenfall gemeistert hat.
Ich danke Dir herzlich für dieses Gespräch
und wünsche Dir für Deine weitere Arbeit am
Stadttheater Bern alles Gute.
Hasan Koru, geboren 1974 in Ankara, Türkei.
Nach fünf Jahren Elementarschule Beginn des
Berufsstudiums am Konservatorium, während
sechs Jahren. Weiterbildung und Abschluss
des Studiums in Stuttgart in der John Cranko
Schule. Mit 18 Jahren Berufung an das Ballet
du Rhin, ohne eigentliches Vortanzen. 1995,
nach einem Jahr, Engagement am Stadttheater Bern unter Martin Schläpfer, als Solo- und
Gruppentänzer. Seit 2003 Inspizient am Stadttheater Bern.
Music & Sounds
Questo Piccolo Grande Amore
Der italienische Cantautore Claudio Baglioni feiert in Zürich seinen 59. Geburtstag
Interview: Luca Scigliano Übersetzung aus dem Italienischen: Luca D›Alessandro Bild: Guido Tognetti
Der italienische Liedermacher und
Musiker Claudio Baglioni steht kurz
vor seiner Welttournee «Un solo mondo – One World». Die vermutlich wichtigste Etappe ist für den 16. Mai im
Kongresshaus in Zürich vorgesehen.
An jenem Tag feiert der Cantautore
seinen 59. Geburtstag: «Jedes meiner
Konzerte ist ein Fest – so gesehen ist
es ein wunderbarer Zufall, dass das
Zürcher Konzert auf meinen Geburtstag fällt», sagt Baglioni im Interview
mit ensuite-kulturmagazin. Doch sieht
er nicht nur das Fest im Vordergrund,
sondern vielmehr seine Mission, «die
Menschen zu sensibilisieren.»
S
ensibilisieren? Worauf?
Im Verlaufe der «One World Tour» werde ich mit Vertretern von Non Profit Organisationen und mit Kulturschaffenden aus aller
Welt zusammenkommen, um mit ihnen Themen
wie Armut und Integration zu besprechen. Ich
bin als Botschafter unterwegs, der in den Menschen eine neue Sensibilität wecken will; ein
Gespür für die Zusammenhänge in der Welt.
Wir sollten die Welt miteinander teilen und
nicht untereinander aufteilen. Denn nur gemeinsam können wir vermeiden, dass die Welt
weiter zerstückelt wird. Ich bin überzeugt:
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Wir Italiener, die wir in der Vergangenheit
viel in der Welt herumgekommen sind – sei es
freiwillig oder unfreiwillig – können da einen
wichtigen Beitrag leisten. Zumindest ist es ein
Bedürfnis von mir.
Deine bevorstehende Tournee «One World»
stellt dieses Bedürfnis in den Vordergrund.
Die «One World Tour» knüpft einerseits an
die ganze musikalische Erfahrung an, die ich
während der vergangenen 40 Jahre gesammelt
habe. Zum Anderen verfolgt sie das Ziel, diese Erfahrungen nach aussen zu tragen und mit
neuen Einsichten zu verbinden. Ich will Geschichten aufnehmen, Erlebnisse dokumentieren, mit denen ich am Ende ein ähnliches Bordbuch erstellen kann, wie es die zahlreichen
Entdecker während der vergangenen Jahrhunderte taten. Die geschriebenen Gedanken will
ich weitertragen, überall dahin, wo Italienerinnen und Italiener auf meine Lieder warten. Der
Austausch mit den Menschen ist mir wichtig,
denn nur so ist es mir überhaupt möglich, die
eigenen Haltungen und Handlungen zu reflektieren, und: Ich lerne mich am Ende besser
kennen. In der Auseinandersetzung mit diesen
Kulturen werden soziale Spannungen sichtbar
– Spannungen einer Welt, die gesamthaft gesehen, ein bisschen desorientiert dasteht, und
die noch so viel zu berichtigen hat.
Welche Rolle spielst Du dabei?
Alles, was ich als Weltreisender machen
kann, ist die eigene Reise zu dokumentieren
und die Geschichten zu erzählen, die sich aus
den Beobachtungen ergeben. Ich finde, ein
Treffen unter Menschen bietet die beste Gelegenheit, selber ein besserer Mensch zu werden. Das Zusammensein führt dazu, Schönheit,
Harmonie und Energien zu befreien.
Befreiung: Dieses Stichwort führt uns zu
deiner Stiftung «O'scià».
Der Titel meiner Tournee steht unter einem
ähnlichen Stern wie vor acht Jahren die Gründung der Stiftung «O'scià». Diese entstand damals eher durch Zufall, als ich am Strand auf
Lampedusa lag und plötzlich zu singen begann.
Der Stiftung gehören inzwischen 200 Musiker
aus Italien und aus aller Welt an. Sie verfolgt
das Ziel, die Gesellschaft auf die Probleme der
Migrationsströme aufmerksam zu machen.
Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen den Weg
über das Mittelmeer in einer Nussschale auf
sich nehmen in der Hoffnung, in Europa ein
besseres Leben zu finden.
Was bedeutet «O'scià» eigentlich?
Im lampedusischen Dialekt bedeutet O'scià
«mio respiro – mein Atem». Ein geflügeltes
Word, das die Bevölkerung auf Lampedusa
als freundschaftliche Grussformel verwendet
– etwa wie «ciao» oder «hallo». Es ist verbindend. Das perfekte Symbol für eine Stiftung,
welche die Verbindung der Kulturen zum Ziel
hat. Ich bin der Meinung: Wo und wenn immer Kulturen sich treffen und vermischen,
27
« JAZZ’N’MORE ist dank
Fachkenntnis und dem hohen
redaktionellen Qualitätsanspruch überhaupt zum
Besten geworden, was es im
deutschsprachigen Europa
heute gibt.»
George Gruntz
JAZZ’N’MORE erscheint sechs mal im Jahr mit aktuellsten News,
Reviews und Previews, den besten Personal-Stories und Interviews,
informativen CD-Besprechungen, ausgewählten Konzerttipps und
Radioprogramme
JAZZ’N’MORE GmbH, Birmensdorferstrasse 20, CH-8902 Urdorf
Probenummer und Abos unter [email protected] oder
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Music & Sounds
muss sich zwangsläufig eine bessere Kultur
daraus ergeben, eine reichhaltigere Kultur. Die
Treffen, an denen ich beteiligt bin, haben zum
Ziel, die Leben und Schicksale der Menschen
besser zu verstehen. Ich erfahre viel über ihre
Beweggründe, die eigene Heimat zu verlassen,
um das Glück ausserhalb – an einem fremden
Ort – zu suchen.
Nach 40 Karrierejahren bist Du nun auf der
Suche nach neuen Anregungen?
(lacht) Diese Treffen mit anderen Kulturen
sind mit jenen Situationen vergleichbar, in denen ich mich mit anderen Musikern verabrede,
um mit ihnen ein neues Projekt zu starten oder
ein Stück gemeinsam einzuspielen. In diesen
Konstellationen müssen wir uns jeweils neu
kennenlernen und verstehen, welches Ziel wir
am Ende gemeinsam erreichen wollen. Auch
wenn wir alle anderer Herkunft sind oder anderen Stilen nachgehen: Sobald wir gemeinsam
spielen, müssen wir uns an eine klar definierte
Partitur halten. Es ist so ein bisschen wie das
Orchester des Lebens oder das Orchester der
Welt – es bietet das gewisse Etwas mehr. Es
ist mit dem neunten Ton in einer Oktave vergleichbar.
Glücksmomente, wie Du sie in Deinem jüngsten Projekt «Q.P.G.A.» erleben durftest?
Ja, «Q.P.G.A.» lehnt sich an mein Album aus
dem Jahre 1972: «Questo Piccolo Grande Amore». Es ist der Abschluss eines vierteiligen Projekts, bestehend aus einem Film, einem Roman,
der gleichnamigen Tour und einer Doppel-CD,
welche zwei Stunden und 50 Minuten dauert
und Beiträge von 69 Musikern einschliesst,
unter ihnen Ennio Morricone, Laura Pausini,
Mina und Jovanotti. In diesem Projekt habe
ich festgestellt, dass es zwar wunderbar ist, als
Musiker und Komponist alleine unterwegs zu
sein, es aber noch viel herrlicher ist, wenn man
sich mit anderen Musikern konfrontieren darf.
Wie hast Du eigentlich diese 69 Musikerinnen und Musiker kontaktiert? Hast Du sie alle
angerufen, zum Abendessen eingeladen oder
ihnen eine E-Mail geschickt?
Viele von ihnen kenne ich schon seit jeher.
Man trifft sich an Festivals und Veranstaltungen. Einige habe ich im Rahmen von «O'scià» auf
Lampedusa getroffen. Die übrigen habe ich in
der Tat telefonisch oder per E-Mail erreicht.
Und dann habt Ihr alle gemeinsam gesungen?
Nein, nicht mit allen habe ich eine Liveaufnahme realisiert. Wir haben eine digitale Samplingmethode angewendet. Ich weiss, diese Methode
erweist sich sowohl als Fluch als auch als Segen
für die Musikbranche: Zum Einen reisst sie die
Qualität der Musik hinunter, zum Anderen kann
sie aber auch sehr praktisch sein.
Ein Gedankenspiel: Du stehst kurz vor einem
Konzert, begibst Dich langsam auf die Bühne,
blickst in die Menge, die applaudiert und Deinen
Namen ruft. Was geht in Dir vor?
Es ist sehr schwierig, diese Gefühle zu beschreiben. Es sind gewaltige Gefühle.
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Haben sich diese Gefühle im Verlaufe Deiner
40-jährigen Karriere geändert?
Am Anfang geriet ich in Panik, wenn ich auf
die Bühne musste (schmunzelt). Es gab Momente,
in denen der Beifall des Publikums mich dermassen überwältigte, dass ich mich kaum mehr bewegen konnte. Ich erinnere mich an ein Konzert
im vollgepfropften San Siro Stadion. Wenn mich
heute jemand nach diesem Konzert fragen würde, könnte ich es nicht mehr beschreiben. Klar
weiss ich, dass ich dieses Konzert gegeben habe,
an die Einzelheiten vermag ich mich nicht zu erinnern. Zum Glück habe ich es geschafft, diese
Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich spüre gewissermassen ein Gefühl der Freude, wenn ich
mich vor echten Leuten präsentieren darf. Denn,
es ist nicht einerlei, ob man vor einem Publikum
aus Fleisch und Blut spielt, eine Platte einspielt
oder einen Auftritt im Fernsehen hat. Die Livesituation ist für einen Künstler nach wie vor die
beste Erfahrung.
Deine Lieder sind schön und sinnlich, wenn
auch einfach gehalten. Wie schreibst Du ein
Lied?
Ich schreibe immer alleine. Das ist einerseits
notwendig, zumal ich in mich hineingehen muss.
Andererseits wäre ich manchmal froh, wenn ich
in diesem Augenblicken jemanden vis-à-vis hätte, mit dem ich mich austauschen könnte. Das
Merkwürdige ist, dass ich in diesen Dingen leicht
bewusstseinsgespalten bin: Ich schreibe sowohl
die Musik als auch die Texte separat. Anders gesagt: Fast immer schreibe ich zuerst den musikalischen Teil, bevor ich mich den Arrangements
zuwende.
Mit dieser Methode fühlst Du Dich wohl?
Ja, weil ich beim Texten die Melodie und den
Puls in mir spüre. Während des Komponierens
kommt eine ganz aussergewöhnliche Stimmung
auf.
Wie lässt sich diese beschreiben?
Es ist die Inspiration, die ich direkt der Musik entnehme. Bereits durch die Abfolge der
Töne ergibt sich ein Text. Grundsätzlich macht
ein Cantautore nichts anderes, als sich auf das
eigene Leben zu besinnen. Ich schreibe nie Texte
über Dinge, die mich unmittelbar bewegen. Ich
orientiere mich vielmehr an Vergangenem. Ich
sammle Dinge, die mich besonders betroffen gemacht haben und flechte sie in die Songtexte ein.
Es ist nicht einfach, die eigenen Worte mit den
Texten zu verbinden. Es gibt Stellen in meinen
Liedern, musikalisch gesehen, die es mir nicht
ermöglichen, das zu sagen, was ich genau an
der Stelle sagen möchte. Thematisch würde das
zwar passen, doch ist die musikalische Einbettung respektive das Metrum nicht das Richtige.
Ich vergleiche mich mit einem Schreiner, der ein
bestimmtes Holzstück in sein Möbel einbauen
möchte, es aber nicht hinbekommt, weil die Form
es ihm nicht erlaubt.
Ich stelle mir vor, dass Du mit dem Schreiben
Deines Romans ähnliche Probleme angetroffen
hast.
Ja, in der Tat (wir lachen).
Manchmal kommt es vor, dass einem beim
Einschlafen ein Satz oder eine Stilfigur vorbeizieht.
Das ist auch bei mir so! Ich bin überzeugt, die
Nacht hat eine magische Wirkung auf unsere Gedankenwelt. Eine Wirkung, wie sie der Tag nicht
hat. Sobald ich eine Inspiration verspüre, muss
ich aufstehen und den Gedanken umgehend auf
Papier bringen. Früher hatte ich das Vertrauen,
den Satz auch am nächsten Tag in meinem Kopf
wiederzufinden. Doch merkte ich bald, dass es
immer noch das Beste ist, solche Gedanken sofort festzuhalten. Daher schlafe ich immer mit
Zeichenblock, Bleistift und der Gitarre an meinem Bett.
Gibt es einen Rat, den Du – als erfahrener
Cantautore – jungen Musikerinnen und Musikern weitergeben möchtest?
Man muss immer am Ball bleiben, mit dem
Lernen nie aufhören und neue Einflüsse zulassen. Eine Musikerkarriere hat nämlich nichts mit
Zufall zu tun. Die Musik, die Worte, die Präsenz
auf der Bühne – all das hängt zum Einen mit Talent zusammen, ist andererseits mit viel Arbeit
verbunden. Sonst kommt bald einmal die Frage
auf, weshalb gerade du auf der Bühne stehst und
die Anderen davor. Von dem Moment an, an dem
du eine Auszeichnung bekommst, musst du noch
mehr aus dir herauskommen. Du musst immer
wieder aufs Neue beweisen, dass du des Preises
würdig bist. Preise gibt es nur, wenn Leidenschaft, Neugierde und Mut mitspielen. Anstatt
zu befürchten, einen Fehler zu begehen, ist es
klüger, hin und wieder einem neuen Gedanken
nachzugehen. Das ist ganz wichtig.
Über Claudio Baglioni
Claudio Baglioni wurde am 16. Mai 1951 in
Rom geboren. Seine Karriere als Musiker begann er 1964, als er in seiner Heimatstadt
erfolgreich an zwei Gesangswettbewerben
teilnahm. Heute zählt Baglionis Repertoire 28
Alben, die durch gefühlvolle Balladen, vorgetragen mit seiner leicht rauchigen Stimme, bestimmt sind. Sein wohl berühmtestes Lied ist
das 1972 erschienene «Questo Piccolo Grande
Amore», abgekürzt «Q.P.G.A.», der Titel seines
aktuellen Projekts.
FilmOpera «Q.P.G.A.»
Sie sieht sich wie ein Film und hört sich wie
eine CD: Die DVD-Film-Opera «Q.P.G.A.» ist
die aussergewöhnlichste Kombination aus CDVideo-Clip in der Geschichte der populären
Musik überhaupt. Sie verwandelt das vierfache
Projekt – Film, Buch, Album und Tour – in das
Video-Event 2010.
Konzert in der Schweiz
Claudio Baglioni steht am Sonntag, 16. Mai 2010
auf der Bühne des Kongresshauses Zürich.
Info: www.baglioni.it
29
Music & Sounds
M USIK
IM
G ESPRÄCH
«Grundausbildung in Heavy
Metal sollte obligatorisch sein.»
Interview: Sarah Elena Schwerzmann, Plastic Beach
Sie stehen als erfolgreichste virtuelle
Band im Guinness Buch der Rekorde.
Nun präsentieren Gorillaz mit «Plastic
Beach» ihr neues Album. Eine kleine
Insel, gebaut aus einem Haufen Müll,
irgendwo im Ozean. Das ist Plastic
Beach, das neue Zuhause der Gorillaz.
Hierhin haben sie sich nach der letzten
Platte zurückgezogen, aber nicht etwa,
um sich auszuruhen, sondern um Partys zu feiern und Kifferwettbewerbe
gegen Snoop Dogg zu führen. Und so
ganz nebenbei haben sie da auch noch
ein neues Album aufgenommen, das
wie ihr neues Zuhause heisst.
D
ie Jungs zum Gespräch zu treffen, gestaltete sich allerdings schwierig, da sie keinen Bock hatten, ihren Müllhaufen zu verlassen.
Das mag damit zu tun haben, dass Bruce Willis
mit geladener Knarre hinter ihnen her ist. Warum? Das weiss man nicht so genau. Stattdessen
hat uns Murdoc, der Kopf der Bande (das sagt
er, nicht wir), für einen Tag nach Plastic Beach
eingeladen, um mit ihm zu philosophieren und
Jägermeister zu trinken. Und da hat sich dann
das mit Bruce Willis auch noch geklärt ...
Murdoc, Ihr seid schon seit mehr als zehn
Jahren im Musikbiz. Wie habt Ihr Euch über die
Zeit so weiterentwickelt?
Oh … ähm, das ist schwierig zu sagen. Ich bin
mir nicht sicher, dass ich mich wirklich irgendwie entwickelt habe. Früher war ich ein bisschen
kleiner und weniger grün im Gesicht, aber ich
war eigentlich, schon seit ich reden kann, ein
Rockgott mit wildem Lebensstil.
Danke. Ich meinte eigentlich die Musik ...
Es gibt auf «Plastic Beach» ein Orchester, aber
30
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
ob das wirklich eine Weiterentwicklung ist? Obwohl, jetzt wo ich es mir so überlege, ist es wohl
eher ein Rückschritt. Ich bin mir nämlich sicher,
dass die Orchestermusik in der Weltgeschichte
der Musik vor dem Rocksound kommt ... Da sind
mehr Worte auf dem Album als auf den ersten
beiden. Das ist sicher, ich habe sie nämlich gezählt. Aber sonst? Mmmmm.
Ihr habt wieder viele Stargäste auf der Platte.
Wie habt ihr die alle auf Eure Insel gepackt?
Naja, Plastic Beach ist ziemlich klein, darum
konnten wir auch nicht alle Gäste auf einmal
bei uns auf der Insel haben. Als das Hypnotic
Brass Ensemble zu uns rüber kam, mussten wir
zum Beispiel die ganzen Bläser einzeln aufnehmen und sie dann im Studio wieder zusammenflicken. Stell dir das vor! Aber so wurde es uns
wenigstens nie zu eng.
Und wer war auf der Insel der Boss?
Jeder Gastmusiker, der bei uns an Bord kommt,
wird automatisch zu einem Teil der Band. Das ist
auch der Grund, warum wir bei diesem Album
all diese verschiedenen Musikstile und Künstler
unter einen Hut bekommen haben. Wir arbeiten
dann alle auf dasselbe Ziel hin: Wir wollen das
bestmögliche Album machen, das wir in diesem
Moment machen können und das die Stimmung,
das Zeitalter und unsere Lebenslage reflektiert.
Ähm Moment ...
Was ist los?
Ich glaube ich werde langsam nüchtern, das
bekommt mir gar nicht. Ich bin hier viel zu ehrlich mit dir. Wart' mal kurz während ich mir ein
Bierglas mit Jägermeister reinziehe …
Schluck. Wusste gar nicht, dass Comicfiguren
wirklich so viel vertragen. Und wo das wohl hinfliesst?
Besser so?
Jaaaa! Viel besser! Wo waren wir? Ah ja: Also
das Album ist unglaublich fantastisch, weil ich
es geschrieben, aufgenommen und produziert
habe. Und überhaupt bin ich total super! Nächste Frage bitte!
Wie habt Ihr entschieden, mit wem Ihr bei
diesem Album zusammenarbeiten wollt?
Ich habe eine grosse Liste mit meinem Top
100 Künstlern bei mir an der Wand hängen und
die bin ich durchgegangen. Die Künstler, die ich
haben wollte, habe ich mit einer Stecknadel gekennzeichnet. Also ich hab' die Stecknadel natürlich nicht in den Künstler selber reingepikst. Ich
bin ja kein Sadist, oder wenn dann nur in meiner
Freizeit. Normalerweise.
Und da war Snoop Dogg dabei. Wie war er?
Snoop war der Hammer. Er und seine Jungs
sind bei uns mit einer privaten Yacht aufgefahren, mit viel Gold und Pelz behängt. Sie hatten
immer einen Joint zwischen den Lippen und
waren konstant von einer Wolke von Rauch umgeben. Snoop ist einfach der Mann der Stunde.
Ich meine für viele war «Doggystyle» die Platte,
durch die sie zum Hip-Hop und zum G-Funk kamen. Genauso wie das De La Soul mit «3 Feet
High and Rising … » gemacht haben.
Und wo hat er Dich mehr beeindruckt, im
Studio oder im Club?
Wir verstehen uns ziemlich gut, aber er behauptet er sei das grösste Partytier überhaupt,
was einfach lächerlich ist. Die Wahrheit ist, dass
ich viel krasser Party mache als er. Wenn er dann
mal grüne Haut im Gesicht hat und 120 Lucky
Lungs am Tag rauchen kann, dann kann er wiederkommen und diesen Titel beanspruchen. Vorher soll er einfach den Mund halten!
Ihr werdet mit jeder Platte aggressiver und
unglücklicher. Seid Ihr mit unserer Welt wirklich so unzufrieden?
Wir wollen eigentlich keinen sozialen Kommentar abgeben. Es ist für uns einfach nur normal, dass das, was um uns geschieht und uns
Music & Sounds
beschäftigt, auch in unserer Musik wiederzufinden ist. «Plastic Beach» ist wie eine Collage von
Schnappschüssen, die überall auf der Welt entstanden sind und wir haben sie zu einem Ganzen
zusammengefügt. Es ist nur ein Bild, kein Urteil
über die Welt. Ich glaube der Jägermeister klingt
langsam ab.
Leises Grummeln. Sein Kopf fängt wohl langsam an zu schmerzen. Kein Wunder. Wie lange
es wohl dauert, bis er das nächste Glas Jägermeister auf Ex trinkt?
Wenn Gorillaz die Welt beherrschten, welche
Regeln würden dann gelten?
Was? Ich will doch nicht Präsident werden
oder so. Ich bin schon der Kaiser von Plastic
Beach, Herrscher über mein Gebiet … das sich
mehr oder weniger auf ein Stück Ozean und einen Haufen Müll beschränkt. Ich will mich nicht
in die Parteipolitik einmischen. Ich fühle mich
am wohlsten, wenn ich aussen vor bleibe. Aber
was willst du wissen? Regeln?
Ja, die Gesetze der Welt von Gorillaz.
Ähm also, so aus dem Stehgreif heraus würde
ich folgendes sagen: Respektiere deinen Nachbarn so wie dich selber, ausser der Nachbar ist
2D, dann würde ich alles ignorieren, was er sagt
und ihn in einem Bunker einsperren. Dann würde
ich Lou Reed und Mark E Smith zum Hochadel
ernennen lassen. Weiter würde ich alle Karaoke
artigen Singwettbewerbe am Fernsehen verbieten, und Trident Kaugummis würde ich da auch
noch gerade ausrangieren, wenn ich schon dabei bin. Grundausbildung in Heavy Metal würde
ich obligatorisch machen, und Nelson Mandela
könnte man auch befreien. Oh nein, ähm, vergiss
das letzte.
In Eurem Video «Stylo» werdet Ihr von Bruce
Willis verfolgt. Werdet Ihr ihm bald eine Lektion erteilen?
Ach Bruce Willis ist das! Ich wusste doch,
dass ich den Typen schon mal irgendwo gesehen habe. Danke, dass Du es mir gesagt hast, ich
überlege schon seit Wochen, woher ich den kenne! Also Bruce Willis könnte ich so einige Lektionen erteilen zum Beispiel wie man den perfekten Drink mixt, einen Umhang stilvoll trägt oder
wie man eine Bassgitarre richtig zupft.
Warum ist er eigentlich hinter Euch her?
Hast Du die schwarzen Wolken im Video gesehen? Die haben ihn geschickt. Ich habe ihnen
mal ein paar gebrauchte Waffen verkauft und
die waren irgendwie nicht mehr auf dem neuesten Stand ... Dabei wollte ich doch nur meinen
Beitrag zum Weltfrieden leisten! Als Dank dafür
bin ich jetzt auf der Flucht. Aber vor Bruce Willis habe ich nicht Angst. Die Wolken machen mir
da schon mehr Sorgen ...
Sagt's und schmeisst mich dann von seiner
Müllinsel in den kalten Ozean. Na wenigstens
hat er mir noch eine Flasche Jägermeister mit
auf den Weg gegeben ...
«Work in Progress»
Von Luca D‘Alessandro - EAM taufen am 14. Mai ihr
Debüt-Album «Raft» im Rossstall in Köniz Foto: Herbert Schweizer
Der Fluss ist das Motiv, das sich durch
das musikalische Schaffen des Berner
Violinisten Hans Burgener zieht. Das
kommt nicht von ungefähr: Von seiner
Wohnung aus geniesst er einen phantastischen Blick auf die Aare. «Ich
habe Glück, eine solch tolle Wohnung
im Herzen von Bern bewohnen zu dürfen», sagt er gegenüber ensuite-kulturmagazin.
H
ans Burgener vertritt das Berner Elektroakustikensemble EAM, das Electronic
Acoustic Meeting, bestehend aus Martin Müller
am elektrischen Cello, Roger Stucki am Laptop
und Stefan Woodtli an den Schlaginstrumenten. «Ein Quartett, das Rock, Jazz, Worldmusic
und Elektronik zu einer neuen Ambiance verarbeitet», sagt Burgener, «es sind sphärischkraftvolle Harmonien, die zum Verweilen und
zum Tanzen verleiten».
EAM ist eine experimentelle Welt, in die
Hans Burgener hervorragend passt. In seiner
bisherigen Musik durchstreifte er regelmässig
die unterschiedlichsten Sphären der akustischen Ausdrucksweise. Er engagierte sich in
spartenübergreifenden Projekten mit Tänzerinnen, bildenden Künstlern sowie Theaterschaffenden. Zu seinen bekannteren Projekten
gehörte 2003 das Musikdrama «Allgebrah=Du
bist Musik», welches die Gleichzeitigkeit
von Schauspiel, gesprochenem Wort und Musik verkörperte. Es basierte auf Texten des
Schweizer Künstlers und Schriftstellers Adolf
Wölfli. «Dieses Projekt liegt inzwischen ein
paar Jährchen zurück, ich blicke nach vorne»,
sagt er und verweist auf die bevorstehende CDTaufe im Rossstall im Kulturhof Köniz. «Raft»
wird das Debütalbum von EAM ab dem 14. Mai
offiziell heissen.
Wieso «Raft»?
Unsere Arbeit ist mit River Rafting vergleichbar: Wir sitzen in einem Boot und lassen uns
von allen möglichen Strömungen treiben. Das
ist der Grund, weshalb wir als Coverbild einen
verästelten Flusslauf gewählt haben.
Auch was die Stile angeht, seid Ihr stark verästelt. «Raft» ist durchdrungen von Elektronik,
Pop und Jazz – das Ganze mit einer Prise Improvisation vollendet. Wobei das Improvisieren in
einem klar vorgegebenen Rahmen erfolgt. Improvisation wird gerne mit Jazz gleichgesetzt.
In der Tat, oft verknüpfen die Leute den
Jazz mit der Improvisation. Doch: Improvisation kann in jeder Stilrichtung stattfinden. Als
Mitglied der Werkstatt für Improvisierte Musik
Bern bin ich ein Verfechter der experimentellen
Improvisation, stets auf der Suche nach neuen
Kombinationen. Seit jeher widme ich mich dieser Art der musikalischen Interpretation. Das
fasziniert mich immer wieder aufs Neue. So
sehr, dass ich inzwischen fähig bin, mit allen
Musikern zu improvisieren. Ich kann hinhören
und hervorragend interagieren.
Wie hat das Quartett EAM sich gefunden?
EAM entstand vor etwa vier Jahren: Gemeinsam mit Stefan Woodtli, einem DidgeridooSpieler und einer Sängerin wagte ich dieses
Experiment. Später verliess uns der DigeridooSpieler, und es wechselte auch die Sängerin:
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Music & Sounds
Christine Lauterburg war für eine Zeitlang unsere Frontfrau. Später kamen der Cellist Martin
Müller und der DJ und Produzent Roger Stucki
hinzu. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass wir
in instrumentaler Formation, also Elektrocello, Laptop, Schlagzeug und Violine, am besten
harmonieren. EAM besteht gegenwärtig aus
uns vier Instrumentalisten.
In den vier Jahren hattet Ihr so einiges an
Bewegung im Team.
Ja, dennoch: Das aktuelle Konzept ist sehr
stabil. Wir geniessen die Freiheiten, die sich
aus dieser Quartett-Formation ergeben. Unsere
Musik ist ohne Sängerin und Didgeridoo kompakter, tiefgründiger und klarer geworden.
Empfindest Du Gesang als störend?
Nein, das nicht. Der Gesang gab dem Konzept eine andere Richtung. Ich will diese Richtung keinesfalls negativ werten. Sie entsprach
nur nicht dem, was wir Instrumentalisten in
uns fühlten. Christine ist in allen möglichen
Projekten tätig; daher war es zeitweise fast
unmöglich, gemeinsame Übungstermine zu finden. Unser Projekt erfuhr in dieser Konstellation nur eine beschränkte Entwicklung.
Entwicklung und im weitesten Sinne auch
Bewegung scheint der Leitgedanke von «Raft»
zu sein: Das zweite Stück trägt den Titel «Transit». Dieses Motiv kommt nicht von ungefähr.
Transit zeigt, dass wir dauerhaft unterwegs
sind. Ein «Work in Progress», wie man heute
in der Wirtschaftswelt zu sagen pflegt: Wie es
mit EAM in Zukunft weitergeht, steht offen,
denn: In der aktuellen Formation spüre ich,
dass uns alle möglichen Varianten zu Füssen
liegen. Jeder hat die Chance, seine Stärken einzubringen. Wir haben niemand, der den Tenor
vorgibt oder Weisungen erteilt. Jeder kann auf
seine Art einen Beitrag leisten. Wichtig ist,
dass unser Konzept im Fluss bleibt.
Das Album «Raft» ist also eine Momentaufnahme …
… das ist korrekt …
… wenn ich demnächst eines Eurer Konzerte besuche, werde ich also etwas ganz Anderes
hören als auf der CD.
So radikal würde ich das nicht sehen.
Grundsätzlich stützen wir uns auf die Inhalte,
die auf unserer CD vorhanden sind. Klar, ein
Live-Auftritt bietet immer die Möglichkeit, die
Stücke auszudehnen und dem Publikumsfeedback entsprechend auszubauen.
Die Improvisationsparts sind aber hauptsächlich auf Dich zu begrenzen. Ich kann mir
kaum vorstellen, dass Roger Stucki am Laptop
ausschweifende Klangexperimente tätigen
kann.
Auf der Bühne bin ich derjenige, der die
meisten Freiheiten geniesst. Ich bin der Solist
sozusagen. Natürlich bleibe ich beim Spielen
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ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
innerhalb des Konglomerats, das wir gemeinsam errichtet haben. Dieses basiert auf den
Erfahrungen von uns allen: Roger spielt mit
Elementen aus der Welt der Elektronik, Stefan
Woodtli mit jenen aus der Rockmusik und Martin Müller mit Besonderheiten aus dem Jazz.
Unterschiedlicher könnte ein Team nicht
sein. Wo siehst Du den gemeinsamen Nenner?
Natürlich in EAM (lacht). Nein, im Ernst, ich
finde es schwierig, uns zu schubladisieren. Ich
bin froh, dass wir vier uns begegnet sind und
dass wir in unserer Formation die Chance haben, regelmässig an unserer Musik zu arbeiten.
Wir haben Spass an der Auseinandersetzung
zwischen elektronischer und akustischer Musik.
Kannst Du diese Auseinandersetzung verdeutlichen?
Auf der einen Seite fasziniert uns Musik,
die von einer Maschine generiert wird, auf
der anderen Seite sind wir von der Klangwelt
akustischer Instrumente berührt. Wir arbeiten
an der idealen Mischung der beiden Sphären.
Was ist machbar und was nicht? Roger, unser
Laptop-Mann, ist sehr musikalisch. Obwohl er
an einem Multimedia-Gerät arbeitet, und man
bei seinem Anblick auf der Bühne das Gefühl
haben könnte, er steuere nur ein Programm,
steckt in seiner Arbeit sehr viel mehr dahinter. Er hört, interagiert, setzt zusammen – man
merkt es deutlich, wenn er an den Proben nicht
dabei ist.
Ein Virtuose?
Er ist kein Produzent, der wahnsinnig experimentell mit Elektronik umgeht. Ich habe in
meiner Vergangenheit schon ganz andere Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit Günter
Müller. Müller ist ein avantgardistischer Experimentator im elektronischen Musikbereich.
Mir gefällt jedoch die Art, wie Roger die Musik
sieht. Er ist ganz anders als die anderen Mitglieder des Quartetts.
Besteht nicht die Gefahr einer Frontenbildung zwischen Roger und Euch dreien?
Ja, Fronten gibt es. Aber das ist auch gut so.
EAM lebt schliesslich von der Auseinandersetzung zwischen der akustischen und elektronischen Welt. Es ist wie in einer Beziehung: Wo
gehobelt wird, fliegen auch Späne. Doch diese
Späne geben dem Leben die richtige Würze.
Electronic Acoustic Meeting – CD Taufe «Raft»
14. Mai 2010: Konzert und CD-Taufe mit Hans
Burgener (vl), Martin Müller (vc), Roger Stucki (laptop/electronics) & Stefan Woodtli (dr)
Ort: Rossstall, Kulturhof Köniz (BE), 20.30h
Weitere Infos:
www.eammusic.ch
www.kulturhof.ch
SZ
Restless Le
Delaney
Von Ruth K
Eine Prise Landstreicher, ein Stückchen Seemann und einen guten
Schluck Gentleman – daraus muss ein
Mann gemacht sein – jedenfalls wenn
er solche Lieder fertigbringen will wie
Delaney Davidson, der mit seinem neuen Album «Self Decapitation» allerlei
Leute begeistert.
A
n diesem Mittagmorgen sieht er noch
etwas lädiert aus, ist aber schon beim
Teekochen knietief im Beantworten ungestellter Fragen: Nämlich, warum er noch nicht berühmt ist. Delaney Davidson ist sich einfach
nicht sicher, ob er überhaupt wirklich erfolgreich sein möchte. Er erklärt das ungefähr so:
Ruhm verändert die Person; am Anfang kommen die Zuhörer und wollen von dem Musiker
etwas bekommen, was in ihren Augen nur er
besonders gut kann. Geht dieser Prozess ins
Unendliche weiter, wird die Masse, die einem
gegenübersteht immer mächtiger, und irgendeinmal richtet sich der Musiker nach dem, was
er vermutet, was die Leute von ihm hören wollen und die sind dann enttäuscht – das kennen
sie ja schon. Ein Freund habe einmal treffend
festgestellt, dass er wohl erst erfolgreich sein
wolle, wenn er tot sei. Er sieht darin tatsächlich
einige Vorteile; man lasse dann einfach diesen
Körper aus Musik zurück und irgendjemand
entdecke den eines Tages und schicke diesen
raus in die Welt.
Auf Delaney Davidson trifft ein fürchterliches Wort zu: Er ist authentisch. Irgendwie
passt bei ihm alles zusammen – seine Art zu
denken, zu sprechen, sich zu kleiden und seine
Musik. Es ist eine sehr konsequente Lebensweise, der er da nachgeht. Guckt man beispielsweise seinen Tourplan für die nächsten Monate
an, bleibt nur die Frage, ist das noch normal?
Er findet nein, das sei es wohl nicht, aber er
liebe das Reisen, das Unterwegssein und es sei
ihm auch ganz und gar eine Notwendigkeit. Ob
er eine ruhelose Seele sei? Ja, und er habe auch
dieses «restless legs syndrom», wenn er sehr
müde ist, fangen seine Beine an rumzuzappeln
Music & Sounds
ZENE
egs of a Soul
Davidson
Kofmel
Bild: zVg.
– unkontrolliert, das sei sehr unangenehm.
Welche bessere Art, als dem mit ständiger
Bewegung zu begegnen? Ausserdem mag er
die Momente dazwischen; kurz bevor man an
einem neuen Ort ankommt, der Moment nach
dem Verabschieden einer geliebten Person, bevor sie um die nächste Hausecke verschwindet. Und es sei ein gutes Training, sich einen
komplizierten Plan zusammenzustiefeln und
den dann abzuarbeiten. Es lehre einem, wenig
bei sich zu haben, lehre einem in persönlichen
Beziehung, mehr auf das Gegenüber einzugehen. Wenn man wisse, dass einem nur ein paar
wenige Stunden zur Verfügung stehen, seien
die doch besonders wertvoll. Dagegen gibt es
nichts einzuwenden, aber es ist trotzdem erstaunlich, ein solches Leben. Und die Musik,
die daraus resultiert, ist es auch. Sie einordnen
zu wollen, ist mehr als schwierig, jedenfalls
spielen die Lieder auf «Self Decapitation» in
einer Klasse für sich.
Das Schreiben der Songs sei ein sich Wegträumen und weil er davon ausgehe, dass alle
Mensch grundsätzlich gleich sind, stimme das,
was er dort für sich finde, dann wohl auch für
alle anderen. Die Melancholie und Nostalgie
seien ganz typisch für ihn. Er glaubt, dass das
auch mit dem Reisen zu tun hat – sich ständig
zu verabschieden, Dinge hinter sich zu lassen.
Aber noch viel genauer trifft es der Begriff
Sehnsucht. Eigentlich sei es dieses Gefühl, das
er einzufangen versuche. Eine Sucht eben, und
plötzlich wird klar, warum er so lebt: Delaney
Davidson ist ein grosser Sehnsuchts-Generator,
und weil viele von uns dieses bitter-süsse Gefühl nur zu gut kennen und auch lieben, sind
seine Lieder für uns Sehnsüchtigen die Medizin, die wir brauchen.
Delaney Davidson versteht die Musik als ein
dreiteiliges Wesen, bestehend aus dem Schreiben und Komponieren, Einspielen im Studio
und dem Spielen vor Publikum. Alle drei Teile
brauchen andere Herangehensweisen und Fähigkeiten und alle drei Teile bedingen sich gegenseitig. Etwas, was er rückblickend gerne in
seinem Reisegepäck dabei hätte, ist ein Studium der Komposition. Kurt Weill beispielsweise
beeindruckt ihn oder die italienischen Filmkomponisten. Einerseits seien diese unglaublich frei und kreativ in ihrem Schaffen gewesen,
aber das tiefe Verständnis für Musik, ermöglichte ihnen wahrscheinlich diese Freiheit erst.
Delaney Davidson fühlt sich manchmal durch
die fehlenden Fertigkeiten eingeschränkt, lässt
sich aber davon nicht abhalten, seine Visionen
umzusetzen. So hat er beispielsweise lange mit
dem Klarinettisten Lemmi Schwartz zusammengearbeitet und diesem seine Ideen immer
wieder vorgesungen und erklärt, bis die Umsetzung stimmte. Auch auf diesem Album bekam er durch einen Freund, die Chance, einen
lange gehegten Wunsch Wirklichkeit werden
zu lassen. Dieser bot ihm in Berlin an, mit einer Truppe Bläser zusammenzuarbeiten. Und
obwohl er diese Parts weder aufschreiben noch
selber spielen konnte, gelang es ihm, den Bläsern seine gesuchten Klänge zu entlocken.
Delaney Davidson hat eine zurückhaltende Art, die Begeisterung drückt sich nicht in
grossen Gesten oder weitschweifigen Reden
aus, sondern in den kleinen Feuerwerken, die
in seinen Augen zünden. Und so ist auch sein
Bühnenauftritt ein lakonischer, wenig überdreht, wie es heute so in Mode ist, dafür eine
Menge Absurdes und trocken Humoriges. Sein
Ghost Orchestra rumpelt, eiert und lärmt, er
singt, mal sanft einschläfernd, mal anklagend,
mal rau und roh. Das hat etwas hypnotisches,
man schweift ab – getragen von den Geschichten um Mord und Totschlag, Tagträumereien,
Abschied, der meist unglücklichen, unerfüllten
Liebe. Er lässt das Ghost Orchestra einen Walzer spielen, ruft einen Tanzwettbewerb aus, bei
dem nicht gesprochen aber unbedingt geküsst
werden soll und macht sich dann auf Tour
durch das kleine Lokal, um die Tänzer genauer
unter die Lupe zu nehmen.
Delaney Davidson schafft mit seiner Musik
Parallel-Welten, die Musik ist nicht vom Hier
und Jetzt, die Textzeilen bleiben oft rätselhaft,
und auch die Cover-Songs changieren bei ihm
in ganz neuen Farben und Stimmungen. Ich
will das wieder hören – wieder und wieder.
Delaney Davidson: «Self Decapitation»
www.Voodoorhythm.com
33
Music & Sounds
Z ÜRI W EST
«Reduktion
muss man anstreben.»
Interview: Tobias Graden
Züri West geben mit «HomeRekords»
Einblick in ihre Schaffensweise. Ein
Gespräch mit Kuno Lauener und Küse
Fehlmann über das Fragment, das Dasein als Sexsymbol und die Altersmilde, von der auch Gilles Yapi profitiert.
D
emoversionen, Tüfteleien, Songs, die von
der Tischplatte gefallen sind – für wen ist
«Homerekords» gedacht?
Kuno Lauener: Einerseits für uns selber, aber
natürlich auch für Leute, für die ein solches Album einen Mehrwert darstellt, wenn sie sehen,
wie unsere Songs entstehen, warum wir manche
auf ein Album nehmen und andere nicht. Und
dann gibt es sicher Leute, die's einfach als Songsammlung hören.
Es hat dokumentarischen Charakter.
Lauener: Einen gewissen. Aber wir wollten
nicht den grossen Bogen schlagen, sonst hätten
wir bis 1984 zurückgehen müssen. Wir wollten
eine Scheibe machen, die man durchhören kann.
Die Songs waren die Chefs.
Küse Fehlmann: Es sollte nicht historisch komplett sein, aber einen Blick hinter die Kulissen
ermöglichen.
Lässt sich «Homerekords» auch als Antwort
auf die Erwartungshaltung deuten, die der Institution Züri West entgegengebracht wird?
Fehlmann: Ich denke nicht. Wir hatten schlicht
nicht genug Material für eine neue Platte. Letztes
Jahr sind wir 25-jährig geworden, haben uns Gedanken gemacht, wie wir dieses Jubiläum feiern
könnten, doch dann war das Jahr auch schon wieder vorbei. Dann kam Kuno beim Zügeln die Idee,
man könnte eine Scheibe machen mit diesem Material.
Einfach so, weil’s cool ist? Es ist doch auch
ein Statement zu sagen: Die Leute erwarten eine
34
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
neue Scheibe, und wir bringen jetzt mal alte unfertige Songs.
Lauener: Wir sind schon gelassener geworden.
Vor 15 Jahren hätten wir ein solches Album noch
nicht gemacht. Heutzutage erscheinen so viele
Hochglanzproduktionen, wir dagegen wollten zeigen: Unsere Sachen sind handgemacht.
Nach welchen Kriterien habt Ihr die Songs
ausgewählt? Es gäbe sicher noch Dutzende weitere.
Lauener: Es gibt von jedem Song im Voraus
Demoversionen, aber oft sind diese sehr ähnlich
wie die endgültige. Wir haben uns darum auf
Material geeinigt, das gar nie erschienen ist oder
ziemlich anders tönt als auf dem Album.
Habt Ihr deswegen auch ehemalige Bandmitglieder befragt? Die könnten ja unter Umständen
nicht einverstanden sein, dass im Nachhinein etwas veröffentlicht wird.
Fehlmann: Selbstverständlich, das geschah
in Absprache. Man hat ja eine gemeinsame Geschichte.
Lauener: Oli Kuster zum Beispiel hatte grosse
Freude, dass nun sein «Güggu» noch veröffentlicht wird. Diesen Song haben wir damals schweren Herzens verabschiedet, aber er hätte nicht
auf das melancholische «Aloha from Züri West»
gepasst.
Wie merkt man, ob ein Song auf ein reguläres
Album passt oder nicht? «Liebi niene meh» hätte
sich nahtlos ins Album «Haubi Songs» eingefügt.
Lauener: Gerade darum. Es war einer der letzten Songs, der dazu entstanden ist, wir hatten zuerst gar das Gefühl, er könnte die Single werden.
Als wir den Bogen des Albums betrachtet haben,
fanden wir aber: Jetz nid dä o no.
Fehlmann: Er war dann einfach zu viel. Die
Balance hätte nicht mehr gestimmt, es wäre zu
viel Melancholie gewesen.
Fällt ein solcher Entscheid leicht?
Foto: Annette Boutellier, Bern
Lauener: Überhaupt nicht. Küse, der die Musik
geschrieben hat, war natürlich enttäuscht, genauso wie ich enttäuscht bin, wenn ein Text von mir
nicht gebraucht wird. Aber ein Album entsteht
nun mal so.
Es gäbe ja den Ausweg, solche Songs dafür an
Konzerten zu spielen.
Lauener: Das haben wir am Anfang so gemacht.
Aber eigentlich spielen wir schon länger nur noch
die Songs, die auf Alben waren.
Gab es auch geschäftliche Überlegungen für
dieses Album?
Lauener: Wieso meinst Du?
Man könnte Geld gebraucht haben …
Lauener: Nein, im Gegenteil – es ist wohl
recht mutig, dieses Album zu veröffentlichen. Wir
wissen ja nicht, wer es überhaupt kaufen wird.
Und wir haben vier Monate daran gearbeitet, wir
haben es uns nicht einfach gemacht, wollten zeigen, dass es uns am Herzen liegt. Und sollten wir
Geld daran verdienen, ist das «suberi Büez», an
den Songs haben wir ja mal gearbeitet.
Fehlmann: Eine Platte machen, das ist immer
ein Risiko. Man investiert Kraft, Zeit …
Lauener: … den Ruf …
Fehlmann: … und ob man daran verdient, weist
sich erst im Nachhinein.
Lauener: Die Kontinuität zeigt sich erst im
Rückblick. Ohne zu kokettieren – wir haben vor
jedem Album wieder Zweifel.
Ihr seid ja zunehmend Risiken eingegangen in
den letzten Jahren.
Lauener: Schon, aber wir haben einfach
gemacht, was wir wollten. Vor «Haubi Songs»
haben wir uns grosse Sorgen gemacht, weil wir
dachten, das Publikum will von uns nach wie vor
die härteren, schnelleren Stücke.
«HomeRekords» wurde bislang äusserst
wohlwollend aufgenommen, obwohl quasi nichts
Neues dabei ist. Dagegen gab es zu «Radio zum
Glück» die Kritik, Züri West hätten nichts Neues
mehr zu sagen, obwohl es das Album nach dem
Bandumbau war. Wie erklärt Ihr Euch das?
Lauener: Das war hart. Wir merkten natürlich
selber, dass wir noch nicht an dem Punkt waren,
an dem wir sein wollten, mit drei neuen Leuten
in der Band. Die Radikalität, mit der uns manche
Leute abgeschrieben haben, hat mich erstaunt,
das war kränkend.
Und nun nimmt man ein «Zwischenalbum» begeistert auf. Ist das ein Zeichen für den Status,
den Züri West mittlerweile hat?
Fehlmann: Es zeigt wohl auch, dass mittlerweile sehr viel Schrott produziert wird, Glattgebügeltes, Rundproduziertes. Es gibt wohl eine
gewisse Sehnsucht nach dem Unperfekten.
Lauener: Vielleicht merkt man eben erst nach
dem dritten Album in neuer Besetzung, dass die
Band dennoch Bestand hat … Aber wir haben oft
gelitten unter der Kritik. Mit der Zeit gibt uns
dies aber auch das Vertrauen in uns selber.
Ist der künstlerische Prozess denn schwieriger geworden in der aktuellen Besetzung,
verglichen mit früher, als Züri West eine gewachsene Band war?
Fehlmann: Er ist anders. Wir haben anders
Songs gemacht. Wir waren auch viel jünger, es
wäre ja komisch, wenn wir noch so funktionierten
wie vor 25 Jahren Man steht an einem anderen
Ort im Leben, hat andere Rhythmen, hat Kinder.
Früher waren wir stundenlang im Bandraum,
haben gejammt, gesoffen und gekifft. Das geht
heute nicht mehr, man muss die Zeit effizienter
nutzen.
Ist es eher zur Arbeit geworden?
Lauener: Ja, das gilt aber für das kreative
Schaffen überhaupt. Ich bin nicht ständig mit
der Muse am Schmusen. Wenn ich einen Text
schreibe, setze ich mich um 9 Uhr morgens hin
und arbeite daran. Und wir gehen als Band projektbezogener vor. Wir haben nun sehr vielseitige,
versierte Musiker, die Songs stilistisch authentischer darbringen können. Das hat die Weise,
wie Songs entstehen, verändert.
A propos Status: Als ich auf der Redaktion
gesagt habe, ich mache ein Interview mit Kuno
Lauener, hat sofort eine Kollegin gesagt, sie
würde gerne das Aufnahmegerät halten kommen.
Lauener (lacht verlegen): Super.
Du wehrst Dich gegen das Image als Sexsymbol. Warum eigentlich? Das muss Dir doch
schmeicheln.
Lauener: Das tut es natürlich, aber wenn ich
darüber befragt werde, ist dies meist eine peinliche Situation. «Sexsymbol» … Ich weiss ja gar
nicht, ob das was mit vögeln zu tun hat oder mit
Projektionen … Aber klar, es ist schmeichelhaft
für mich als heterosexuellen Mann, zu merken,
dass mich die Frauen noch cool finden. Man kann
schlechtere Images haben. Mehr weiss ich dazu
nicht zu sagen, darum weiche ich aus.
Du wirst nächstes Jahr 50. Ist das ein
schwieriges Datum?
Lauener: Nein. Es ist, wie es ist.
Keine Angst vor dem Alter?
Lauener: Doch, auch Angst vor dem Sterben,
manchmal. Aber das ist ja hoffentlich noch nicht
so nah.
Auf «HomeRekords» findet sich auch das
Stück «Chinaski», dieser ist der Inbegriff des
«angry old man». Ihr dagegen werdet eher milder
mit dem Alter.
Fehlmann: Wart's ab, so weit sind wir noch
nicht! (lacht)
Lauener: Chinaski, also Bukowski, ist ja eher
der «dirty old man», auch wenn er immer laut
herumkrakeelt. Aber dazwischen findet sich die
Poesie. Er war ein starker Geschichtenerzähler.
Züri West lieferte in Bern den Soundtrack zur
80er-Bewegung. Ist es denkbar, dass die Band
mal wieder gegen etwas ansingt? Abgesehen vom
pointierten «Radio zum Glück» bewegt Ihr Euch
in der Innerlichkeit.
Lauener: «Schpinnele okay» auf «Haubi
Songs» hat klar Stellung bezogen gegen Fremdenfeindlichkeit. Aber ich habe mich immer schwergetan mit politischen Songs. Es gibt nur Wenige,
die wirklich gute politische Songs schreiben können. Aber das heisst nicht, dass wir unpolitisch
sind. Und unsere eigene Befindlichkeit zählt ja
vielleicht für andere Leute auch.
Wie werdet Ihr reagieren, wenn dereinst der
Begriff «Alterswerk» fallen sollte?
Fehlmann: Das kommt drauf an, wie alt wir zu
diesem Zeitpunkt sein werden … Vielleicht sagen
wir, er kommt zu früh, vielleicht finden wir ihn
nicht schlecht.
Lauener: Ist der Begriff denn positiv oder
negativ?
Vermutlich ambivalent. Er tönt ein bisschen
nach «das hätten wir ihnen nicht mehr zugetraut».
Lauener: All diese Etiketten … Wir haben über
eine lange Zeitspanne unter dem gleichen Namen
verschiedene Richtungen verfolgt. Vielleicht war
«Haubi Songs» der Anfang zum Alterswerk.
Nach «Haubi Songs» folgen nun Skizzen,
Bruchstücke. Erklärt Ihr das Fragment zur spezifischen Ausdrucksform von Züri West?
Lauener: Ich habe das Fragmentarische immer
gern, wenn die Essenz klein bleibt. Das passt aber
nicht für alle Songs.
Fehlmann: Reduktion muss man anstreben.
Das haben wir lange nicht begriffen.
Lauener: Manchmal sind es diese blöden
demokratischen … (überlegt) Man macht manchmal zu viele Kompromisse. Manchmal aber auch
zu Recht.
Was ist denn vom nächsten regulären Album
zu erwarten?
Lauener: Wir sind erst am Arbeiten, haben ein
paar Demos, ich habe ein paar Zettel mit Texten.
Wie das tönen wird, lässt sich noch nicht sagen.
Nach «Aloha» wollten wir etwas Schmissigeres
machen, doch dann wurde es noch schwerer. Ich
wage keine Prognose.
Zum Schluss die obligate Frage zu YB. Fin-
det Ihr nicht, man sollte «Hüt hei si wider mau
gwunne» im Meisterschaftsendspurt nicht mehr
abspielen? Genau genommen erzählt der Song ja
vom Scheitern.
Lauener: Er wird ja nur gespielt, wenn YB
gewonnen hat. Wenn es nicht mehr darum geht,
ob ein Match gut oder schlecht war. Wenn's drei
Punkte gibt, kommt der Song, das finde ich okay.
Es ist doch auch der Song fürs alte Wankdorfstadion.
Lauener: Er ist ein völliger Anachronismus,
schon nur mit dem langen Intro. Er ist das Gegenteil einer Fussballhymne. Wir freuen uns immer, wenn er gespielt wird.
Schafft es YB noch?
Lauener: Keine Ahnung. Ich hoffe es.
Mit Gilles Yapi wart Ihr gnädig. Er bekommt
im CD-Booklet auch ein «bon voyage».
Lauener: Yapi ist schon ok. Wenn er ein Angebot von Real Madrid erhalten hätte, wäre er ohnehin gegangen.
Dann wären ihm die Fans auch nicht böse
gewesen.
Lauener: Was will man ihm böse sein? Man
kann doch nicht von einem Afrikaner, der via
Frankreich hier landet, um Fussball zu spielen,
verlangen, es schlage auf ewig ein YB-Herz in
seiner Brust, wenn er aus Basel ein viel besseres
Angebot erhält und er näher bei seinem Schätzeli
ist, das nicht in der Schweiz wohnen darf.
Eben, die Altersmilde.
Lauener: Ja. Vielleicht bin ich ein altersmilder,
sich nicht mehr festlegender … Weissnichtwas.
ZÜRI WEST - HOMEREKORDS
«
HomeRekords» beginnt mit einer Skizze:
«Was Tribt De Die Gäng Dür Die Nächt»
ist eine mehrspurige Momentaufnahme eines Songs, der nirgends hin führt und abrupt
endet. Es ist das perfekte Intro für dieses
Album, das laut Band aus «unveröffentlichten Songs, schmissigen Demos, unerhörten
Versionen und halben Hits von morgen» besteht. Diese sind zwar allesamt nachträglich
noch mehr oder weniger bearbeitet worden,
aber in durchaus höchst unterschiedlichen
Entwicklungsstadien verewigt: Das Rumpelstilz-Cover «Rote Wi» ist nicht mehr als
ein hingeworfenes Küchenlied, während das
wunderbar traurig-schöne «Liebi Niene Meh»
in Studioqualität dem unausweichlichen Selektionsprozess für das letzte Album «Haubi
Songs» zum Opfer gefallen war.
Spätestens hier ist man Züri West um diese «HomeRekords» dankbar. Zwar finden sich
unter diesen 16 Stücken auch verzichtbare,
doch hat die Band auch Schätze geborgen,
die zu schade für die ewige Versenkung sind
und selbst in deutlich unfertiger Version ungemein berühren («Mir Si Die Letschte Mönsche Uf Dr Wäut»). Gerade das Unperfekte ist
eben manchmal am stimmigsten. (tg)
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Bild: Temperame
Es gibt nicht allzu viele MusikerInnen, die mit so viel Engagement und Kraft, mit Hoffnung und Wille ein Musikfestival aus dem Boden stampfen können, wie es die Violinistin
Gwendolyn Masin schafft. GAIA ist ein Kammermusikfestival – eigentlich. Aber es ist eben viel mehr als das: Gaia hat
sich zu einem musikalischen, kulturellen und gesellschaftlichen Befreiungsschlag etabliert, schafft es mit Herz und
Seele, eine Plattform für Musik zum Klingen zu bringen, die
international renommierte Stars aufhorchen lässt.
H
inter den Kulissen arbeitet ein kleines Team. Die Freundschaft zwischen Gwendolyn Masin und dem Architekten Christoph Ott und viele HelferInnen bewirken Grosses. In Deutschland wurde das Festival mit
dem Göppinger Kulturpreis ausgezeichnet.
Ein Gespräch mit Gwendolyn Masin ist ein Eintauchen in eine Welt, die
von unbändigen Energien getrieben, mit sehr viel Hoffnung und Einsicht,
Wärme und dem Glauben und Wissen, dass mit Musik etwas von Menschen
für Menschen entstehen kann. Jede Zelle scheint bei ihr «Gaia» widerzuspiegeln. «Gaia» kommt aus der griechischen Mythologie: So nannten sie
die Erde in Göttergestalt. Die Namensgebung des Festivals bedient sich
damit eines soliden und geerdeten Fundaments und zeigt, dass ein Festival mehr als nur ein Musikprogramm sein kann. In einer Pressemitteilung
schreibt Gwendolyn Masin treffend: «Wir wollen Kammermusik aus dem
Museum holen, uns mit aller Leidenschaft auf sie stürzen und zu neuem
Leben erwecken.»
ensuite fragte Frau Masin, wie es zu diesem Festival gekommen ist:
«Gaia» entstand 2006 in Stuttgart aus einer Idee heraus, um ein Festival
zu kreieren, wo ich als Musikerin eine Plattform bauen kann, wo Platz ist,
um Programme so zu gestalten und zu spielen, wie ich es für richtig empfinde. Ich kenne es von mir selber als Musikerin, aber auch von KollegInnen,
wenn man auf einem gewissen Niveau spielt, hetzt man von einem Konzert
K
sik in
nsität
ntvoll, Gwendolyn Masin /zVg.
zum nächsten. Und bei vielen Festivals wird man
so zu einem Massenimportprodukt. Man lädt also
KünstlerInnen ein, die einander eh schon kennen
und die spielen dann ein schönes Konzert, und
alle haben Freude, und das nennt sich dann Festival.
Meine Idee war aber, dass die MusikerInnen so
ein Festival mitgestalten können. Und zwar aktiv,
nicht nur, dass sich jemand bei der Schlussorganisation von einem Festival noch die Zeit nimmt,
ein paar Leute anruft und meint, ja, jetzt kommt
mal her und spielt da noch was … Sowas kann ja
jeder organisieren, wenn das Geld zur Verfügung
steht.
In Stuttgart haben wir das von Anfang an so
durchgezogen – wir konnte da in zwei Kirchen
spielen, einer grösseren und einer kleineren. Und
fragen Sie nicht, wieso, es war ein unglaublicher
Erfolg. Von Anfang an waren die Konzerte extrem
gut besucht, und ein Jahr darauf mussten wir sogar Leute abweisen, weil kein Platz mehr da war.
Das konnte so stattfinden, weil alle MusikerInnen,
man darf das heute schon fast nicht mehr sagen,
sehr idealistisch waren. Ich sag das so, weil man
oftmals vergisst, dass Talent im Grunde wertlos
ist, wenn keine Motivation, keine Arbeit, kein
Fleiss und keine Denkweise dahinter stecken.
Und es gibt eben viele KollegInnen, die unheimlich gerne auf so ein Risiko, was es im Grunde ist,
eingehen. Risiko deshalb, weil die MusikerInnen
für eine Woche kommen, zum Teil kennen sie sich
gegenseitig, zum Teil nicht, zum Teil kennen sie
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
die Stücke, zum Teil nicht – für «Gaia» werden
einige Stücke speziell für das Festival geschrieben –, es gibt dabei Uraufführungen, Schweizer
Erstaufführungen, was weiss ich …
Auf jeden Fall wurde ich eingeladen, für die
Schweiz ein «Gaia»-Festival zu erschaffen. Und
wir haben hier ja an den schönsten Orten bereits
klassische Festivals. Aber der schönste Ort überhaupt, und ich meine weltweit, ist der Kanton
Bern. Da hat es einfach alles. Es ist wie Neuseeland, es hat Gebirge, Alpen, es hat Flüsse, es hat
Hoch und Runter, gutes Wetter, es hat Schnee,
einfach alles. Und Thun ist für «Gaia» der perfekte Ort. Im letzten Jahr haben wir das zum ersten
Mal gemacht, mit den gleichen Ideen wie zuvor.
Und wir hoffen natürlich, dass, wenn man ein
«Gaia»-Festival macht, man nicht nur ein kulturelles Phänomen veranstaltet – wie in den guten
alten Zeiten, als man sich noch Zeit genommen
hat, Musik zu machen –, sondern auch ein soziales Phänomen veranstalten zu können. So sind
alle Proben öffentlich, es gibt Meisterklassen, die
sind gratis, wir suchen den Austausch mit dem
Publikum aktiv. Damit die MusikerInnen, die an
ein «Gaia»-Festival kommen, danach wirklich
sagen können, dass sie mit dem Publikum einen
persönlichen Kontakt aufbauen konnten. Und das
wiederum hört man eben. In dieser Form spielt
man anders, und das hört sich anders an.
Gespielt werden Werke von Claude Debussy,
Johannes Brahms oder an den Themenabenden
«Gaia Vintage» (Hommage und Erstaufführung
in der Schweiz zum 200. Geburtstag von Robert
Schumann), «Cello Concertante» mit Werken von
Max Bruch und Robert Schumann, Jorge Bosso
und Pjotr Iljisch Tschaikowsky, «The Madness of
May» mit Werken von Heinrich Ignaz Franz Biber, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert,
Johann Halvorsen, Eugène Ysaÿe und das «GalaKonzert» mit Werken von Léo Weiner, Antonio
Vivaldi, Johann Sebastian Bach, Kurt Atterberg,
Johannes Brahms.
Zehn international renommierte Solisten
kommen nach Thun: Violine: Gwendolyn Masin
(Dublin, Bern), Emi Ohi Resnick (New York,
Amsterdam), Lena Neudauer (München); Viola:
Ilya Hoffmann (Moskau); Cello: Frans Helmerson
(Bonn, Stockholm), Gavriel Lipkind (Frankfurt, Tel
Aviv), Timora Rosler (Utrecht, Tel Aviv); Klavier:
Robert Kulek (Riga, Amsterdam), Roman Zaslavsky (Karlsruhe, St. Petersburg); Fagott: Martin
Kuuskmann (Talinn, Washington) und zusätzlich
das Grazioso Kammerorchester des ungarischen
Nationalen Philharmonie Orchesters.
Das «Gaia»-Festival findet vom 6. bis 9. Mai
in der Kirche Blumenstein, dem Rittersaal im
Schloss Thun, im Schloss Oberhofen und der Kirche Amsoldingen statt.
Nähere Informationen entnehmen der Webseite www.gaia-festival.ch.
Vorverkauf über Starticket oder in allen BLSReisezentren. Der Eintritt an die Gaia-Meisterklassen ist frei!
Rara et
famosa
Symphoniekonzert
Do/Fr, 20./21.05.10
19h30, Kultur-Casino
Andrey Boreyko Dirigent
David Pia Violoncello
Adam Halicki Oboe
Haydn: Symphonie Nr. 67 F-Dur
Goossens:
Oboenkonzert in
einem Satz op. 45
Tschaikowsky:
Variationen über
ein RokokoThema op. 33
Doráti:
Symphonie Nr. 2
Ein
Himmel
voller
Geigen
Symphoniekonzert
Do/Fr, 27./28.05.10
19h30, Kultur-Casino
Andrey
Boreyko Dirigent
Alexandru
Gavrilovici Violine
Christiane Oelze Sopran
Rózsa: Violinkonzert op. 24
Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur
Karten: Bern Billett, Nägeligasse 1A
T: 031 329 52 52 | www.bernbillett.ch
www.bernorchester.ch37
Music & Sounds
INSOMNIA
DAS PAAR
Ein Porsche
aus Alabaster
Von Eva Pfirter
V
or Jahren wurde ich nach meinem Studienabbruch in Lugano an selbigen Ort
an eine Party eingeladen. An die Einladung
am Telefon schloss sich die obligate Frage:
Chunnsch äläi? Ich sagte: Nei, mit dr Anina.
Am Ende der anderen Leitung sagte die Stimme darauf nach einer kurzen Pause: Aha. Natürlich war mit der Frage meiner ehemaligen
Mitbewohnerin nicht gemeint, ob ich wohl mit
einer Freundin kommen würde, sondern es
interessierte nur, ob ein potenzieller Freund
auftauchen würde. Den gab es aber nicht, und
ich fand es das natürlichste der Welt, mich
ohne Freund nicht alleine zu fühlen und deklarierte das auch so. Doch das irritierte immer wieder.
Kann denn eine Frau nicht ohne Freund
und glücklich sein?
Nein, kann sie nicht. Auch im 21. Jahrhundert nicht. Also natürlich kann sie, aber es
ist komisch. Es ist komisch, wenn eine junge,
nette Frau ohne Freund ist. Noch immer fixieren wir uns auf die eine, die einzig wahre
Beziehung im Leben: die Paar-Beziehung.
Weshalb ist das noch immer so? Weshalb
nehmen wir nicht wirklich zur Kenntnis, dass
die hohe Scheidungsrate darauf zurückzuführen ist, dass wir alle Bedürfnisse auf einen
einzigen Menschen konzentrieren? Dieser
sollte Seelenverwandter, Traummann und
Tennispartner in einem sein. Wenn ich mit
meinen Freundinnen über Männer rede, stellt
sich meistens heraus, dass vielen Männern ein
bester Freund fehlt. Wenn es ihnen nicht gut
geht, reden sie gar nicht oder laden alles bei
der Freundin ab. Kann das gut gehen? Wir
brauchen doch verschiedene Menschen, verschiedene Sichtweisen, verschiedene Welten.
Vielleicht kommt irgendwann eine Generation, welche begreift, dass ein Leben aus mehreren Beziehungen besteht. Und jede einzelne
wichtig ist, ohne eine andere übertreffen zu
müssen.
Manchmal gerät die Freundschaft fast etwas ins Hintertreffen im Vergleich mit der
Beziehung. Das stimmt mich dann richtig traurig. Dann wünsche ich mir, die Zeit, in der wir
Mädels unter uns waren, hätte nie aufgehört ...
Die Zeit, in der wir die Welt erobern, uns aber
nie nach Männern richten wollten, die Zeit, in
der uns die Vorstellung, hinter der nächsten
Ecke könnte ein grosses oder kleines Abenteuer lauern, uns nächtelang wachhielt ...
38
Von Heinrich Aerni – Beat Gysins raumakustische
Kammeroper «Marienglas» in Basel
G
rossartig, ja luxuriös ist der Gesamtrahmen. Die äussere Hülle bildet die Maurerhalle der Allgemeinen Gewerbeschule in Basel, ein raffinierter Glas-Betonbau, die innere,
eigentliche Szene ein kubischer Konzertraum
– ein offenes Stahlgerüst, die Decke milchigtransparent, ähnlich dem «Marienglas», einer
transparenten Gipsvarietät, die vormals zur
Verkleidung von Heiligenbildern verwendet
wurde. Die Zuschauer/ -hörer liegen bequem
dicht an dicht, zu drei Seiten sind zusätzlich
Sitzplätze angebracht, jede Person trägt einen
Kopfhörer. Das kollektive Einverständnis, sich
dieser Anordnung unterzuordnen, schafft einen
rituellen Rahmen, eine innere Ruhe.
Als Bühne dient vornehmlich die vierte Seite des Quaders, sodass auch die Liegenden dem
Geschehen optisch folgen können. Gespielt
wird eine Musiktheaterfassung von Franz Kafkas Romanfragment «Das Schloss». Lediglich
die Hauptfigur K. ist in Szene gesetzt, geteilt
in einen Sänger (Xavier Hagen, Altus) und einen gelegentlich sprechenden Mimen (Philipp
Boë). Dazu kommen, vorab aufgenommen, ein
Klaviertrio plus eine Sopranstimme, daneben
aber auch etliche Sprechstimmen für die weiteren Romanfiguren.
Um es kurz zu machen: Beat Gysin hat das
Problem der Literaturoper souverän abgehandelt, indem er die Prosa Prosa bleiben lässt
und eine Auswahl von rezitierten Textstellen
aus dem Schlossromanfragment musikalisch
untermalt – die Textauswahl besorgte kein
Geringerer als Hans Saner. Von einem dramatischen Verlauf kann bei dieser Anordnung
freilich nicht gesprochen werden, das Stück
wird über weite Strecken getragen von der
eigentümlichen Eleganz, die Kafkas Sprache
innewohnt. Einzig Hagens monoton gehaltene
Gesangslinien lassen gelegentlich eine mögliche zusätzliche dramatische Ebene erahnen.
Kontrastierend dazu die instrumentale Faktur,
gleichförmig die nervösen, gelegentlich eruptiven Tonumspielungen in gewohntem Gestus
Neuer Musik. Sie geraten zur illustrierenden,
Gysin würde sagen «realklanglichen» Staffage.
Zweifellos ist es verfehlt, aufgrund der
Überschrift «Kammeroper» nach entsprechenden Gattungsmerkmalen zu suchen, denn die
Stärken des Stücks liegen im Attribut «raumakustisch». Und da macht es richtig Spass. Eine
innere Ebene bildet die Klanglandschaft, die
sich als eigene, wunderbare Welt im Kopfhörer
eröffnet: Bis auf die Äusserungen der beiden
einzigen anwesenden Darsteller ergiesst sich
das vorab Aufgezeichnete als Hörspiel direkt
ins innere Ohr, allerdings in einer bislang unbekannten räumlichen Qualität. Hier findet
Gysins kompositorische Vision einer «Musik
im dreidimensionalen Raum» ihre perfekte Realisierung. Als technische Inspiration und Referenz dienten die Errungenschaften gehobener Automarken wie namentlich Porsche beim
Sounddesign etwa einer sich schliessenden
Autotür. Die Kopfhörer sind so dezent eingestellt, dass die äussere Ebene, die Gesangs- und
Rezitationslinien sowie zusätzliche Geräusche,
gut hörbar ist. Sie wird durch Mikrophone
teils zusätzlich in den Kopfhörer übertragen.
Gysin möchte mit diesem Spiel von Nähe und
Distanz, von innerer und äusserer Musik, die
Gebrochenheit des Landvermessers K. erfahrbar machen; das «Kafkaeske» dient lediglich
als Chiffre. Um die Beklemmung zu steigern,
senkt sich die alabasterartige Decke bis auf 50
Zentimeter auf die Liegenden herab, die Protagonisten sind nur noch als Umrisse erkennbar.
Xavier Hagen in der eher undramatischen
Partie als Altus überzeugend, Artist Philipp
Boë pantomimisch etwas überagierend, als
Sprecher unerträglich. Musikalische oder gar
gesamthaft künstlerische Höhenflüge sind
in dieser Anordnung nicht möglich gewesen,
doch als technisch aufwändig gestaltete szenische Lesung ist der Abend vollauf geglückt.
Weitere Aufführungen:
Bern (6. Mai 2010); Rüttihubelbad (12./ 13.
Juni 2010); Zürich (25. bis 27. Februar 2011)
www.beatgysin.ch
Kino & Film
K INO
IM
G ESPRÄCH
«Ich liebe es, hässlich zu sein»
Interview: Sarah Elena Schwerzmann, London
Mit ihrem aktuellen Film «Eine zauberhafte Nanny – Knall auf Fall in ein
neues Abenteuer» präsentiert Emma
Thompson einen mitreissenden Familienfilm für Jung und Alt. Im Gespräch
erzählt die oscarprämierte Künstlerin,
die nicht nur das Drehbuch entwickelt
hat, sondern auch die Hauptrolle der
Nanny McPhee spielt, warum sie sich
weigert, Kinder zu unterschätzen und
wer am Filmset die grösste Diva war.
E
mma Thompson, dieser Film ist bereits
die zweite Geschichte um Nanny McPhee,
die Sie geschrieben haben. Was fasziniert Sie
an dieser Figur?
Ich bin vor einigen Jahren über die Kinderbücher von Christianna Brand gestolpert, auf
denen die Figur der Nanny McPhee basiert,
und ich war sofort von der Idee angetan, einen Familienfilm daraus zu machen. Einerseits finde ich die Idee spannend, dass Nanny
McPhee zu Beginn des Filmes mit Knollennase
und Warzen sehr hässlich ist, dass sich ihr Erscheinungsbild mit dem Lernprozess der Kinder aber immer weiter verändert. Andererseits
hat es mich gereizt, mit dieser witzigen Figur
Geschichten zu entwickeln, die sowohl Kinder
wie auch Erwachsene ansprechen.
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bilder: Emma Thompson mal Nanni mal als Professor Sybil Trelawney / zVg.
Gehen Sie als Drehbuchautorin anders an
eine Geschichte heran, die sich in erster Linie
an Kinder richtet?
Ja, ich bin mir meines Zielpublikums schon
sehr bewusst. Der Film spielt zu Kriegszeiten,
und da ist natürlich der Tod auch ein Thema.
Kommt der Vater aus dem Krieg zurück oder
nicht? Das ist ein emotional sehr schwieriges
und heikles Thema und mir ist da sehr wichtig,
dass man das für die Kinder nicht allzu traumatisch darstellt. Da bin ich schon vorsichtig,
gleichzeitig schreibe ich aber nicht spezifisch
für Kinder.
Wie meinen Sie das?
Mein Vater war ein sehr berühmter Autor
und er hat dieses Konzept des Schreibens für
Kinder nie verstanden. Er sagte immer: «Aber
das sind einfach Menschen, die noch nicht so
lange gelebt haben wie wir. Warum sollte ich
für sie anders schreiben?» Das hat auf mich
abgefärbt. Ich finde es unglaublich wichtig,
Kinder ernst zu nehmen und sie nicht zu unterschätzen.
Ihr Vater hat sich damit aber nicht sonderlich beliebt gemacht.
Das stimmt. Er hat in seinen Geschichten
manchmal komplexe Sätze und Formulierungen wie «jemanden mit seinen eigenen Waffen schlagen» verwendet, eine Wendung aus
Shakespeares Werken. Er hat dann immer Le-
serbriefe von Erwachsenen erhalten, die ihm
vorgeworfen haben, das wäre für Kinder zu
kompliziert. Meistens hat er dann in möglichst
langen Worten zurückgeschrieben, einerseits,
um diese Leute zu ärgern, andererseits, um zu
zeigen, dass jeder Mensch, egal welchen Alters,
etwas verstehen kann, wenn es in einem Zusammenhang steht.
Sind Sie da mit ihm einer Meinung?
Ja natürlich. Kinder verstehen Formulierungen und Fremdwörter im Zusammenhang der
Geschichte und geben ihnen so selber einen
Sinn. So funktioniert Sprache. Und dadurch
dass sie den Inhalt des Wortes selber entdekken, machen sie es sich zu Eigen und können
es so auch in einem anderen Zusammenhang
verwenden. Es ist viel einfacher und effektiver
für Kinder Wörter und Ausdrücke so zu lernen
als aus einem Lehrbuch. Ich selber habe als
Kind so unglaublich viel gelernt, einfach indem
ich Bücher gelesen habe.
Wie schaffen Sie es aber, mit Ihrer Geschichte um Nanny McPhee nicht nur Kinder, sondern
auch Erwachsene zu fesseln?
Es war von Anfang an mein Ziel einen Film
zu schreiben, der Menschen jeden Alters zu
fesseln vermag. Aber ob mir das bei diesem
Film bereits gelungen ist, das kann ich nicht
sagen. Ich versuche mir da ein Beispiel an den
Fertigkeiten einiger meiner Lieblingsautoren,
39
Kino & Film
wie Jane Austen, zu nehmen. Egal ob man ihre
Bücher im Alter von zehn oder 80 Jahren liest,
man ist fasziniert und geniesst die Geschichten – aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Das ist genial, aber sehr herausfordernd,
und ein Universalrezept gibt es dafür nicht.
Sind Kinder dabei ein einfacheres oder
schwierigeres Publikum?
Viele Menschen nehmen Familienfilme oder
Komödien nicht so ernst, weil sie glauben, es
sei einfach, Kinder zu fesseln. Das stimmt natürlich nicht. Es ist viel einfacher, ein Drama
zu schreiben, bei dem man alle zum Weinen
bringt als eine Komödie, bei der alle wirklich
lauthals lachen. Und Kinder sind da noch viel
anspruchsvoller und auch ehrlicher. Wenn sie
einem etwas nicht abnehmen oder es nicht lustig finden, dann lachen sie einfach nicht. So
einfach ist das. Sie geben nicht vor, etwas zu
mögen oder lustig zu finden, so wie wir das
tun.
Sie haben eine elfjährige Tochter. Wie ist
ihre Reaktion auf den Film ausgefallen?
Sie wird den fertigen Film erst heute Nachmittag sehen, wenn ich ihn der ganzen Schule
zeige. So muss sie dann in den Pausen nicht
immer erklären, worum es geht und wie viele
Warzen ihre Mutter jetzt wirklich auf der Nase
hat. Ich glaube, sie wird sich gut unterhalten.
Ist Ihre Tochter in irgendeiner Weise von Ihrer Karriere oder Ihrem Beruf beeindruckt?
40
Nein, ganz im Gegenteil. Das Ganze langweilt sie ungemein. Und ich kann sie da sehr
gut verstehen. Mein Vater war ein sehr berühmter Autor, und er hat ein Buch geschrieben, das
«The Magic Roundabout» heisst und in den
60er- und 70er-Jahren zu einer Art Kultbuch
wurde. Ich habe das Buch zwar geliebt, aber
ich war auch ziemlich unbeeindruckt von dem
ganzen Rummel. Und bei Gaia ist das genauso. Sie spricht über alles lieber, als über meine
Schauspielerei oder meine Filme. Ich finde das
aber ganz gesund, wenn es anders wäre, würde
ich mir Sorgen machen. (lacht)
Die Kinder, mit denen Sie im Film arbeiten,
sind alle in Gaias Alter. Wie war die Zusammenarbeit?
Sie waren alle einfach phantastisch, weil
sie immer gut drauf und sehr motiviert waren.
Für mich war es aber auch sehr anstrengend,
weil man sich zwischen den Takes um sie kümmern musste. Sie verausgaben sich und sind
sehr leidenschaftlich, sodass man sich in den
Pausen mit ihnen beschäftigen muss, damit sie
ihre Batterien wieder aufladen können. Dafür
sind sie dann so engagiert und so unverfälscht
in ihrer Leistung, wie das ein Erwachsener
kaum abliefern kann. Wir waren alle sehr beeindruckt.
Neben den Kindern waren aber auch eine
ganze Menge Tiere am Set, die natürlich sehr
unberechenbar sind. Gab es Momente, in denen
Sie nicht daran glaubten, diesen Film je fertigstellen zu können?
Ja, es gab da eine Darstellerin, die unglaublich zickig war. Es war die Kuh, Meryl war
ihr Name. Als ich das gehört habe, habe ich
Meryl Streep eine E-Mail geschrieben: «Deine
Namensvetterin stellt sich am Set unglaublich
mühsam an.» Ihr Problem war, dass sie unseren
künstlichen Schlamm nicht mochte. Also weigerte sie sich einfach aus ihrem Anhänger zu
kommen. Es war nervenaufreibend.
Viele Schauspielerinnen in Ihrem Alter lassen sich auf der Leinwand verschönern. Sie hingegen scheinen sich in Warzen und Knollennase wohl zu fühlen. Sind Sie gerne hässlich?
Ich liebe es, hässlich zu sein, es befreit
mich. In unserer westlichen Gesellschaft werden Frauen unter viel Druck gesetzt, was ihr
Aussehen angeht. Und Nanny McPhee ist da
meine kleine Rebellion dagegen. Viele Menschen denken, Schauspielerinnen seien alle
unglaublich eitel, aber das stimmt so nicht. Ich
bin mir sicher, Cameron Diaz oder Nicole Kidman würden auch gerne einmal Warzen tragen.
Es ist ja nicht so, dass man sie die ganze Zeit
tragen muss. Und wenigstens sehe ich so in
echt besser aus als im Film. Es hat also wirklich nur Vorteile für mich, mich verunstalten zu
lassen. (lacht)
Kino & Film
S CHWEIZER K INO
Unser Garten Eden
Von Lukas Vogelsang
F
ür viele Menschen ist ein Schrebergarten
ein rotes Tuch, den Plastikgartenzwergen gleich ein oberbünzliges Kleinbürgertum.
Schrebergärten – die Namensgebung stammt
vom Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz
Schreber, und der Begriff tauchte 1864 auf
– sind eigentlich ganz einfache Klein- oder
Familiengärten. Sie wurden vor allem für Arbeiterfamilien bereitgestellt, damit sich diese
selber zu Fleiss und Familiensinn erziehen
und dem Alkohol und der Politik fernblieben.
Natürlich veränderte sich der Sinn eines Schrebergartens, je nach Versorgungslage. Im Ersten
Weltkrieg war das Bedürfnis nach dem eigenen
Gemüsegarten ein grosses Thema. So wuchs
das Bedürfnis und die Anzahl der «Kleinbauern», sodass 1925 der erste Dachverband all
die Kleingärtnervereine betreute. Im Jahr 2005
zählte der Schweizer Familiengärtner-Verband
rund 28›500 Mitglieder und 375 Gartenareale.
Städte und Gemeinden stellen die Areale dau-
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bild: Keine trügerische Idylle! / zVg.
erhaft zur Verfügung, Genossenschaften verwalten die Gartengrundstücke.
In diesen kleinen grünen Oasen, in dieser
kreativen Stadtbegrünung werkelt ein bunter
kultureller Mix von Menschen aller Welt. Hier
arbeiten – oft friedlich – die gegensätzlichsten
Traditionen und Religionen unter der ganz
eigenen Nationalflagge. Diese kleinen Ländereien mit ihren FürstInnen und KönigInnen
teilen sich ein Stück Schweizer Demokratie, ob
man jetzt türkischer, kurdischer, slowenischer,
bosnischer, albanischer, kroatischer oder auch
ganz einfach schweizerischer Herkunft ist.
Diesem Phänomen hat sich Mano Khalil, ursprünglich syrischer Herkunft, als Regisseur,
Produzent und Kameramann genähert. Für die
Musik ist Mario Batkovic zuständig, einer der
Berner Gruppe «Kummerbuben», selber auch
ein Kroate aus Bosnien. Der fast skurrile Kulturmix ist also perfekt.
Ebenso fast perfekt ist der Film. Es ist
grotesk, dass wir ZuschauerInnen eben gerade
durch dieses Universum von Kulturen unsere
Heimat lieben lernen. Neben wirklich lustigen
Szenen und äusserst humorvollen Menschen hat
dieser Film einen Charme, der Herzen öffnet.
Mano Khalil versteht es, diese manchmal
fast parodieartigen Menschen so zu filmen,
dass wir ihnen mit Respekt und liebevollem
Verständnis begegnen können. Es animiert
sogar, sich selber nach so einem Schrebergarten umzusehen – um ein Teil dieser berührenden, menschlichen und hoffnungsvollen Welt
zu werden.
Wer eine Aversion oder eine (oder keine)
Vorstellung hatte, was ein Schrebergarten ist
oder den Faden zur Realität der Schweiz verloren hat, sollte sich unbedingt diesen Film
ansehen. Ein überraschender Film, ein überraschender Spiegel einer Schweiz, an die wir uns
gewöhnen dürfen. Phantastisch!
41
Kino & Film
TRATSCHUNDLABER
Von Sonja Wenger
D
er Ausdruck «Asche auf sein Haupt streuen» erhält dieser Tage ja eine ganz neue
Bedeutung. Allerdings weiss man weniger denn
je zuvor, wie ernst das Ganze zu nehmen ist. Egal,
ob es sich um einen ungeliebten Vulkan handelt,
um einen selbstverliebten Premierminister oder
um einen wohl nie um seiner selbst Willen geliebten Partylöwen – zum Speien ist es alle Mal.
Mal passiert es einfach, wie im Falle dieser
bankrotten Insel im Norden. Und weil ja auch der
Zusammenbruch des globalen Finanzsystems auf
höhere – politische – Mächte zurückzuführen ist,
werden die Airlines demnächst ganz im Stil der
bankrotten Banken eine Entschädigung dafür
verlangen, dass sie Sicherheit höher als Profit
bewerten mussten. Von der «Moneypulation»,
wie das 1.-Mai-Komitee die Hintergehung der Demokratie durch Wirtschaft und Politik nennt, zur
«Moneypollution» wegen höheren – geologischen
– Mächten.
Andere wiederum bringen einen zum Speien.
So wenn sich Silvio Berlusconi auch nach dem
x-ten Sexskandal von seinem Medienmonopol
als Unschuldslamm hinstellen lässt, das so offen
korrupt und verdorben ist, dass man es für seine Ehrlichkeit gar bewundern und immer wieder
wählen muss – denn da weiss man schliesslich,
was man hat.
Und auch andere Promis wie Carl Hirschmann, der «Goldjunge» mit den «schwingenden
Emotionen» und vorgeworfenen Sexualdelikten,
der «unschuldig» in die böswilligen Klauen der
Medien geriet, beauftragen noch prominentere
PR-Profis wie «Katastrophen»-Sacha Wigdorovits, um «Licht in die» aschenverhangene «Sache
zu bringen». In einem Interview im «Tagesanzeiger» wird klar: Für den ehemaligen «Blick»Chefredaktor Wigdorovits ist die Trivialisierung
der Qualitätszeitungen mit schuld am düsteren
Himmel über Hirschmann. Und man kann sagen,
was man will, aber wo er recht hat, der Sacha, da
hat er recht. PR-Berater dürfen für ihre Kunden
nicht die Wahrheit beugen, weil das «unethisch»
sei. Deshalb wolle er «den Medien die wichtigen
Sachverhalte transparent machen», erst dann ist
eine Imageänderung möglich.
Doch bevor als nächstes auch noch der Vatikan bei Sacha anklopft, machen wir den höheren
Mächten doch noch ein bisschen Angst und verlieren alle auch nach dem 1. Mai mal die eine oder
andere Beherrschung: Die Beherrschung unseres
Denkens durch machtgeile Politik und profitgierige Verlagshäuser etwa. Die Beherrschung unseres Selbstwertgefühls durch die Parallelwelt
des aufgebrezelten Szene-Promi-Packs. Und die
Beherrschung unseres Kampfwillens durch die
Diktatur des ferngesteuerten Konsumverhaltens.
Denn auf so ziemlich alles lässt sich dieses – nur
schwer übersetzbare – Filmzitat anwenden: «Don't
sprinkle sugar on this bull and call it candy.»
42
Dear John
Von Sonja Wenger
E
in Gefühlsbad im Kino – so richtig mit
Tränen, Tragik, Tod und hoffnungsvollem
Ende – ist schon etwas Feines. Danach fühlt
man sich genudelt, ein bisschen glücklicher und
geht vielleicht sogar beschwingt nach Hause.
«Dear John» bietet genau dies, nicht weniger – und nicht mehr. Im neuesten Drama des
schwedischen Regisseurs Lasse Hallström geht
es vor allem um junge Liebe, um die Unvorhersehbarkeit des Lebens und im weitesten
Sinne darum, welche Folgen ein Krieg auf die
Menschen und ihre Beziehungen haben kann.
John (Channing Tatum) und Savannah (Amanda Seyfried) lernen sich im Frühling 2001 am
Strand von South Carolina kennen. Für beide ist
es Liebe auf den ersten Blick. Sie ist Studentin und besucht ihre Eltern, er ist Soldat und
auf Heimaturlaub bei seinem Vater (Richard
Jenkins). Ihnen bleiben nur zwei Wochen für
ihre Beziehung, doch sie versprechen, einander
Briefe zu schreiben und so die Monate zu überbrücken, bis Johns Dienstzeit zu Ende ist.
Doch die Anschläge vom 11. September
2001 verändern alles. Nach einem kurzen
Wochenende zu Hause entscheidet sich John
wie alle Soldaten seiner Einheit, den Einsatz
freiwillig um mehrere Jahre zu verlängern. Dass
Savannah gegen diese Entscheidung ist, ändert
vorerst nichts an ihrer Beziehung. Sie nehmen
durch die Briefe auch weiterhin am Leben des
anderen teil, Savannah kümmert sich um Johns
äusserst introvertierten Vater und plant, ein
Sommercamp für autistische Kinder zu organisieren.
Nach einiger Zeit werden Savannahs Briefe
jedoch immer seltener, bis sie ihm quasi aus
heiterem Himmel eröffnet, des Wartens müde
zu sein und sich mit jemand anderem verlobt
zu haben. Für John bricht eine Welt zusam-
Bild: zVg.
men. Er verbrennt alle Briefe und entschliesst
sich nach einer schweren Schussverletzung,
auch weiter bei der Armee zu bleiben. Erst ein
schwerer Schlaganfall seines Vaters bringt ihn
noch einmal nach South Carolina – und zurück
zu Savannah.
Zugegeben. Das Schmalz trieft, das Triviale hämmert, und gefährliche Momente oder
wahrhaft spannende Wendungen fehlen fast
völlig in «Dear John». Dennoch schafft es der
Regisseur in den meisten Fällen, die übelsten
Klischeeklippen gerade noch rechtzeitig zu umschiffen und den Fokus immer wieder auf ein
grösseres Ganzes zu richten.
Zwar ist Hallström weit vom subtilen Humor
und der dezenten Dramatik seiner früheren
Meisterwerke «Gilbert Grape», «Chocolat» oder
«The shipping news» entfernt. Doch die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nicholas Sparks ist durchaus charmantes, routiniert
gemachtes Emotionskino. Es ist mit grosser
Kelle angerührt, doch die sympathische und
gekonnte Besetzung versöhnt einen stets aufs
Neue mit den Schwächen der Geschichte oder
der streckenweise banalen Dramaturgie.
Wer allerdings auch nur ansatzweise eine
Ader für Romantik und Pathos hat, wird hier
bestens bedient. Und das scheinen nicht wenige zu sein. Die Zahlen sprechen zumindest für
sich. Gleich am ersten Kinowochenende in den
USA verdrängt das leise Drama «Dear John»
den megalomanen Kracher «Avatar» vom ersten
Platz. Die Medien berichteten brav darüber,
und alle waren froh, dass sich die Menschen
offensichtlich noch immer nach Liebe sehnen
und einfache Geschichten mit intelligenten Dialogen zu schätzen wissen.
Der Film dauert 106 Minuten und kommt am
6. Mai in die Kinos.
Kino & Film
G ROSSES K INO
Kevin Smith und die
amerikanische Vulgarität
Von Morgane A. Ghilardi
E
r ist Regisseur, Produzent, Drehbuchautor,
Comicautor und Schauspieler, und machte 1994 mit seinem Erstlingswerk «Clerks»
sein phänomenales Debut am Sundance Film
Festival und in Cannes. Heute ist er ein renommierter Alleskönner, der an diversesten Projekten mitgearbeitet hat, wie z.B. «Good Will
Hunting». Kevin Smith heisst er – ein Unikum
amerikanischer Popkultur.
Er war 24, hatte ein halbes Filmstudium
absolviert und einen Stapel Kreditkarten beantragt. Das war genug, um nach Feierabend im
Lebensmittelladen, in dem er angestellt war,
einen Film zu drehen, der sich als ein kleines,
dreckiges Juwel herausstellen sollte. Im Zentrum stehen die zwei QuickStop-Angestellten
Randall und Dante aus New Jersey, die über
Frauen, Pornographie und die dumme Kundschaft sinnieren. Das ganze in schwarz-weiss,
denn das ist billiger. Was nicht sehr aufregend
klingt, ist eine Ansammlung verrucht-komischer Dialoge und absurder Ereignisse, die
zwar eine spezielle Art von Humor verlangen,
aber einen aus den Socken hauen können. Der
28'000 Dollar Film hat schliesslich auch drei
Millionen eingespielt und mehrere Preise und
Nominationen erhalten. Das war der ultimative
Startschuss für Smiths Laufbahn.
Sein letzter Film, «Zack and Miri Make a
Porno», lief im Winter bei uns in den Kinos,
doch wahrscheinlich ist er nur bei wenigen
auf dem Radar aufgeblitzt. Smith ist bei uns
nicht besonders bekannt, da er einen Aspekt
amerikanischer Kultur repräsentiert, mit dem
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bild: Kevin Smith bei Dreharbeiten / zVg.
wir nicht besonders vertraut sind. Er ist nicht
nur ein Comicfan (er besitzt seinen eigenen
Comicladen und schreibt regelmässig für Comicserien), sondern auch besessen von seinem
Heimatort New Jersey. Der so genannte Garden
State ist nämlich in fast jedem seiner Filme
Schauplatz der Handlung. Smith hat ein kleines,
aber buntes Universum um seinen Heimatstaat
erschaffen, sodass in fast jedem seiner acht
Filme immer wieder die gleichen Charaktere
und Schauspieler auftauchen, wie z.B. Jay und
Silent Bob (gespielt von einem Jugendfreund
und ihm selbst), die mit «Jay and Silent Bob
Strike Back» (2001) sogar einen eigenen Film
bekamen. Die immer wieder bezeugte Liebe für
New Jersey kommt dem Kult um Städte wie Paris, New York oder (hierzulande) Zürich nahe.
Smiths zweites Markenzeichen ist das ausnahmslos Vulgäre in seinen Filmen. Das ist jedoch nicht einfach Trash, sondern eher einen
Anstoss zur Ehrlichkeit. «Chasing Amy» (1997),
Smiths dritter Film, ist ein Beispiel für ein
gutgeschriebenes Comedy-Drama, das den Balanceakt zwischen Vulgarität und Tiefgang
meistert. Die Beziehungsgeschichte hinterfragt
die Definition von Sexualität sowie die sexuellen Stereotypen Amerikas. «Dogma» (1999), der
erste seiner Filme, der es dank Starbesetzung
(Ben Affleck, Matt Damon, Alan Rickman etc.)
bei uns in die Kinos geschafft hat, wirft ein
schräges Licht auf den Katholizismus, mit dem
Smith aufwuchs. Die Geschichte handelt von
zwei verdammten Engeln, die um jeden Preis
in den Himmel zurückkehren wollen, und ist
gespickt mit Absurditäten wie dem Toilettenmonster von Golgotha, dem dreizenten Apostel, dem Jesus noch Geld schuldet oder dem
Marketing-Reboot von Jesus, Buddy Christ. Der
Film löste in der USA eine starke Kontroverse
aus, da Spässchen über Jesus von den konservativen Christen dort gar nicht goutiert werden. Smith erhielt Tausende Hassbriefe und Todesdrohungen. Das hinderte ihn jedoch nicht
daran, inkognito an einer Protestaktion gegen
seinen eigenen Film teilzunehmen und sich im
Fernsehen unter falschem Namen gegen dessen Unsittlichkeit auszusprechen.
Nicht nur seine Drehbücher sind komisch,
sondern eben auch sein Auftreten. Sieht man
einen seiner Live-Auftritte, wird klar, dass die
Charaktere, die er auf das Papier bringt, Facetten seiner Selbst sind. Er ist genauso zügellos
vulgär, aber eben auch so witzig. Fragt man
ihn etwas über seine Projekte, schweift er unausweichlich ab und erzählt von Drehtagen mit
Bruce Willis, Streit mit Tim Burton und dem
Sexleben seiner Hunde. Ein dreckiges Mundwerk ist eben etwas herrlich Unterhaltsames.
Entdeckt man Smith, entdeckt man einen speziellen Aspekt amerikanischer Kultur. Smiths Komödien sind nicht heuchlerisch
sauber, sondern verkörpern im Kontext dieser
Kultur die entspannte Haltung gegenüber den
grossen Themen wie Religion, Sex oder Liebe,
die vielen fehlt.
Kevin Smiths Filme und «An Evening with
Kevin Smith 1-3» sind auf DVD erhältlich.
43
Das andere Kino
www.cinematte.ch /
Telefon 031 312 45 46
N
o More Superheroes - Comics im Film - Von
Crumb bis Persepolis - Eigenbrötlerische
Nerds, liebenswerte Aussenseiter und unverbesserliche Neurotiker: Underground-Comics abseits
von Superman und Catwoman schreien geradezu
danach, für den Spielfilm adaptiert zu werden. Das
Meisterwerk dieser Gattung bleibt wohl Ghost
World: Die tragikomische Adaption verleiht dem
Kultcomic von Daniel Clowes eine filmische Seele.
Was dabei herauskommt, wenn sich Comicautoren an die Regie eines Spielfilmes wagen, zeigt
der verrückte Trashfilm Villemolle 81 des Franzosen Vincent Parronaud alias Winshluss – als
Berner Premiere und mit einer Einführung von
Christian Gasser. Autobiografisch geprägt sind
die Animationsfilme Persepolis und Waltz with
Bashir von Ari Folman. Nicht fehlen darf in dieser
filmischen Reise durch den Comic-Untergrund die
verstörende Doku über Robert Crumb sowie die
umstrittene Verfilmung seines bekanntesten Comic Fritz the Cat. Eine Collage aus allen drei Filmsorten bietet American Splendor: Basierend auf
den autobiografischen Comics von Harvey Pekar,
vermischt der Film Spielfilmsequenzen mit animierten Szenen sowie Auftritten des realen Pekars.
In den Worten des tragischen Helden: «Ordinary
life is pretty complex stuff» – im Comic wie im
Film.
Ciné-Klassiker – Thriller und Agenten Was
sind eigentlich Kino-Klassiker? Unerreichte Evergreens, Meilensteine der Filmgeschichte oder
ganz einfach ehemalige Kassenschlager? 1001
Movies You Must See Before You Die titelt ein
Kritikerbuch. Wir schliessen uns dem an und zeigen in der Reihe Ciné-Klassiker Werke, die man
gesehen haben muss, Filme zum Wiedergeniessen oder Neuentdecken. Der Mai steht ganz im
Zeichen klassischer Thriller- und Agentenstreifen:
von M – eine Stadt sucht einen Mörder bis The
Third Man.
Kubaforum: Filme – Gespräche – Begegnungen
In Zusammenarbeit mit der DEZA und dem globalen
Netzwerk Friedensfrauen Weltweit zeigen wir am
30. April und 1. Mai gesellschaftspolitsch engagierte Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus Kuba.
Zu Gast ist die kubanische Regisseurin und Friedensaktivistin Lizette Vila.
44
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05
P
LASTIC PLANET von Werner Boote, Ö
2009, 95 Min, D;E/d (Ab 6. Mai) Streitbarer und polarisierender Dokumentarfilm über
die Maßlosigkeit der Industriegesellschaft und
Belastung von Mensch und Umwelt durch jegliche Form von Plastik.
Die Informationen sind beträchtlich in diesem Dokumentarfilm. Unvorstellbar aber wahr Kunststoffe können bis zu 500 Jahre Böden und
Gewässer vergiften, unbekannte Zusatzstoffe
sorgen für eine Verringerung der Spermienproduktion und schädigen das Hormonsystem
des Menschen, der sowieso schon Plastik im
Blut hat. Dabei sehen die Plastikentchen in der
Badewanne so putzig aus, ist die Plastikflasche
leichter als die aus Glas, nuckeln Kleinkinder
an Plastikschnullern und kuscheln sich in mit
Weichmacher behandelten Decken.
Werner Boote, dessen Großvater zu den
Pionieren der Plastikbranche zählte, will polarisieren und aufklären über das einstige
Wundermaterial der 1950er Jahre, das heute
tagtäglich unser Leben und unsere Gesundheit
beeinflusst und ruiniert. Dabei schockiert er
mit Fakten und unterhält gleichzeitig. Plastik
ist vor allem ein großes Geschäft, weltweit
werden fast 240 Mio. Tonnen Kunststoff aus
vier Prozent der Erdölproduktionen hergestellt.
Statt über Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit zu diskutieren, stellen Repräsentanten der
Industrie die Vorteile heraus, oder das, was sie
dafür halten. In Interviews mit kritischen und
unkritischen Buchautoren, Wissenschaftlern,
Lobbyisten oder Ärzten kristallisieren sich
Gefahren heraus, die durch politisch Verantwortliche kaum Beachtung finden, obgleich
Untersuchungsergebnisse die Alarmglocken
schrillen lassen müssten.
Werner Boote appelliert an den gesunden
Menschenverstand und nimmt kein Blatt vor
den Mund. Die Bilder von Müllbergen in Wüsten und Meeren sprechen für sich. Der «Plastic
Planet» ist schon Wirklichkeit. Boote möchte
keine Propaganda à la «Hallo, ich sage euch,
wie die Welt funktioniert». Ein bisschen sagt
er uns das aber schon. Und zwar mit großer
Überzeugungskraft und Verve.
www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99
W
er lacht denn da? Schwarze BalkanKomödien im Kino Kunstmuseum:
Schwarzer Humor lässt das tragische Geschehen erträglicher erscheinen und macht glaubhaft, dass selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen ein positives Ende möglich ist - auch
und ganz besonders auf dem Balkan. Seit den
1980er Jahren sorgt der tief im Alltag verankerte Schwarze Humor immer häufiger auch
auf der Leinwand für Lacher. Im ständigen
Wechsel zwischen komischen und ernsthaften
Situationen werden in den Filmen tragische
und Tabuthemen bewusst verharmlost oder in
ihrer Kritik ad absurdum geführt. Die Filmemacher bedienen sich zur Darstellung der Verhältnisse in der eigenen Gesellschaft tiefschwarzer
Bilder und setzen sich mit Sprachwitz, mit fantasievollen Szenerien und bekannten Schauspielern mit diesen auseinander. Der schwarze
Humor dieser Filme kann als Ventil verstanden
werden, gemäss der populären Redewendung
«Lass die Sorge Freude werden» (Pusti brigu
na veselje). In diesem Sinne zeigen wir Werke
aus den 1980ern wie The Marathon Family von
Slobodan Sijan oder Dusan Kovacevics Balkan
Spy sowie den Klassiker Ko to tamo peva? (Wer
singt denn da?) von Slobodan Sijan, die hier
noch kaum zu sehen waren. Bekannter aber
immer wieder sehenswert sind Werke wie Pjer
Zalicas Gori Vatra oder Emir Kusturicas Chat
noir, chat blanc und Underground. Ab 8. Mai
im Programm
In der Reihe Filmgeschichte gibt es im Mai
ein Wiedersehen mit Chaplins Meisterwerk aus
der Stummfilmzeit The Gold Rush sowie eine
Stummfilmperle aus hiesigen Landen: La vocation de André Carel von Jean Choux. Und unsere Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bern
bringt noch einen zweiten Chaplin-Klassiker
auf die Kunstmuseum-Leinwand: Zur Schweizer Erstaufführung «Ein bisschen Ruhe vor
dem Sturm» am Stadttheater, in welcher sich
drei Schauspieler auf eine Podiumsdiskussion
über die Darstellbarkeit Hitlers vorbereiten,
zeigen wir The Great Dictator aus dem Jahre
1940.
Das andere Kino
K IN O
i n
d e r
R e i t s c h u l e
www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69
N
eue Dokumentarfilme Ob Dokumentation,
Thesenfilm, Agitprop oder Filmessay: Dokumentarfilme sind nicht nur inhaltlich, sondern
auch formal äusserst vielfältig. Ab Mai widmet
das Kino dem Genre die eigene Programmschiene Dok am Donnerstag.
Zum Auftakt der Reihe zeigen wir einen
Monat lang neue und teilweise preisgekrönte
Dokumentarfilme, die sich mit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen – von Rassismus über Energiepolitik, Gentrifikation und
Migration bis hin zum Neoliberalismus.
Schwarz auf Weiss (1./5./7./8.5.): Günter
Wallraff unterwegs - Unerkannt und undercover wirft er einen entlarvenden Blick hinter die
Fassade unserer Gesellschaft. A Road not Taken,
Christina Hemauer, Roman Keller (13,/14.5.):
1979 installiert US-Präsident Jimmy Carter eine
Solaranlage auf dem Dach des Weissen Hauses.
Eine Dokumentation einer visionären Aktion
Jimmy Carters, der sich im Film an eine bewegte
Zeit erinnert. Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen, Irene Bude (15./20.5.)
Gentrification hautnah. Am Beispiel St. Pauli
beobachtet der Film den Umbau eines Stadtviertels und die schleichende Vertreibung seiner alteingesessenen Bewohner. Cash & Marry,
Atanas Georgiev (21./22.5.): Marko und Atanas
wollen einen EU-Pass und dafür sind sie bereit,
fast alles zu tun, sogar eine Braut zu kaufen…
Eine reale Green Card-Story. Schliesslich ist
der am Visions du Réel 2009 in Nyon mit dem
Grand Prix ausgezeichnete L’encerclement – La
démocratie dans les rets du néolibéralisme (Die
Einkesselung- die Demokratie in den Fängen
des Neoliberalismus) von Richard Brouillette
zu sehen (27./28./29.5.):. «Ein hageldichtes, gescheites, kritisches Thesenstück zu Wurzeln
und Strategien des Neoliberalismus mit seinem
globalen neokolonialistischen Effekt.» Martin
Walder, Neue Zürcher Zeitung.
2. Mai: Kinderfilme am Flohmi-Sonntag: Elliot das Schmunzelmonster
4. und 18. Mai: Uncut – warme Filme am
Dienstag
6. Mai: Golem2000 Ein Projekt der Zuger
Band Less
LICHTSPIEL
www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05
D
ance the Night Away – Dank Saturday
Night Fever stürmte der Soundtrack der
Bee Gees die Hitparaden, die wunderbaren Tanzszenen lösten eine erneute Discowelle aus und
John Travolta erlangte Berühmtheit. Der unauffällige Angestellte eines Malergeschäfts verwandelt sich des Nachts dank aufwändigem Styling
und grossartigen Tanzeinlagen zum gefeierten
Star der lokalen Disco. (Mi 19.5., 20h) In Gehopst
wie gesprungen holt das Lichtspiel erneut die
unterschiedlichsten Tanzfilme und Dokumentationen aus seinem Archiv und lässt in diesem
kurzweiligen Filmprogramm verschiedenste
Tänze von graziös schwebenden Trickfiguren
bis hin zu wild sich verrenkenden Bewegungskünstlerinnen entdecken. (So 30.5., 20h)
Eine Filmgeschichte in 50 Kapiteln: Erich
von Stroheims Stummfilm Greed (USA 1924)
lässt das animalische Wesen «Gier nach Gold»
hinter der kleinbürgerlichen Fassade hervortreten.(Mi 12.5., 20h) La vocation d’André Carel
vom Genfer Jean Choux (CH 1925) erzählt die
Geschichte eines Akademikersohns, der an der
Waadtländer Riviera die ihm bislang verborgene
Würde der Arbeit entdeckt. (Mi 26.5., 20h) Der
Science-Fiction-Film Metropolis (D 1925/26)
zeigt eine futuristische Großstadt mit ausgeprägter Zweiklassengesellschaft. Fritz Lang inszenierte Zukunftsbilder, wie man sie bis dahin
noch nie gesehen hatte. Der Film war einer der
teuersten seiner Zeit und gilt bis heute als einer
der visuell einflussreichsten und bekanntesten.
(Mi 23.5., 20h)
Wunschfilm: Der tragische Stummfilm Die
weisse Hölle vom Piz Palü von Arnold Fank (D
1929) zeigt das Schicksal dreier Bergsteiger in
der eisigen Welt des Piz Palü. (Sa 8.5., 20h)
CinemAnalyse: In Hable con ella geht es um
Trauer und Einsamkeit, Kommunikation und die
Unfähigkeit zum Gespräch, unverheilte psychische Verletzungen, Freundschaft und die Sehnsucht nach Liebe. (Do 27.5., 20h)
Sortie du Labo – Franz Schnyders Verfilmung
des Gotthelf Romans Ueli, der Knecht mit Liselotte Pulver und Hannes Schmidhauser spielte
bereits 1954 Rekordsummen ein – ein Schweizer
Dauerbrenner. (Mo 17.5., 20h)
www.pasquart.ch / Telefon 032 322 71 01
D
as Velo im Film 07.05.-07.06.2010 «Das
Fahrrad ist das zivilisierteste Fortbewegungsmittel, das wir kennen. Andere Transportarten gebären sich täglich albtraumhafter.
Nur das Fahrrad bewahrt sein reines Herz.» Iris
Murdoch.
Im Mai spielt das Velo die Hauptrolle auf
der Leinwand des Filmpodiums. Die Reihe ist
in Zusammenarbeit mit Pro Velo Biel-Seeland
entstanden.
Les triplettes de Belleville darf natürlich in
diesem Programm genau so wenig fehlen, wie Il
postino, ein Film voll Poesie und Liebe - nicht
nur für den Drahtesel. Und natürlich ist auch Ladri di biciclette von Vittorio De Sica zu sehen.
Heute ist es kaum noch nachvollziehbar, welche
Bedeutung in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg alltägliche Gegenstände hatten. Das
Fahrrad z.B., war für die Protagonisten des wohl
hervorragendsten Films des italienischen Neorealismus lebensnotwendig. In El viaje schickt
der argentinische Regisseur Fernando Solanas
einen 17-Jährigen per Rad auf eine lange Reise
der Entdeckungen durch den lateinamerikanischen Kontinent. Pepe Danquart fängt in Höllentour die 100. Tour de France in fantastische
Bilder ein. Sportfreund Lötzsch, der Rebell,
der unters Rad kam erzählt die Geschichte des
grössten Radsporttalentes aus der DDR. Weil
Lötzsch sich der Diktatur nicht beugen wollte,
erklärte man ihn zum Staatsfeind. Kein Spitzenrennfahrer ist Ghislain in der Komödie Le vélo
de Ghislain Lambert, aber er versucht mittels
«verbotener Substanzen» einer zu werden. Mit
José Garcia, einem der talentiertesten französischen Komiker. Ganz besondere Aufmerksamkeit verdient die Veranstaltung des mémreg
– Regionales Gedächtnis Biel: Peter Fasnacht
präsentiert am 9. Mai historische Filmperlen
rund um das Zweirad. Am 6. Juni erzählt Claude
Marthaler in seiner Dia Show von seinen Veloabenteuern durch Afrika und Asien.
Anlässlich der Albert Schweitzer Ausstellung
in der Stadtbibliothek Biel zeigt das Filmpodium Albert Schweitzer erzählt aus seinem Leben und Denken von Jerome Hill aus dem Jahre
1956.
Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Internet www.bernerkino.ch
45
.
Kulturessay
IMPRESSUM
T RASH -K ULT ( UR ) V OL . IV
Polit-Art-Trash?
Von Pascal Mülchi
1
0. April, Dornacherplatz, Solothurn, 12 Uhr.
Eine Müllskulptur entsteht. Ihm Rahmen
des Aktionsmonats «Jugend Macht!» heisst
es: «Kommt und klebt! Bringt Müll und wir
skulpturieren zusammen ein Kunstwerk.» Das
tönt nach echtem Trash. Trash der zum Anfassen ist, aber nur ungern angefasst wird. Ihhh,
wähhh, ähhh. Ein Kunstwerk aus richtigem
Müll zu schaffen, lässt die Vorstellung aber von
schmutzigem Trash ins Ästhetische und Künstlerische münden. Ohhh, Uhhh, Ahhh. Liest man
weiter im Beschrieb des Anlasses, ist der Trash
dann gar politisch konnotiert: «Da wir noch
immer kein AJZ haben, verwirklichen wir uns
auf der Strasse. Ihr (Anm. d. Red.: damit sind
vorderhand die Behörden gemeint) lasst Häuser verrotten wie Müll, wir bauen auf beidem!»
Eine karge, selbst zusammen geschweisste
Pyramide aus dünnen Eisenstangen steht anfangs noch etwas verloren da. Einzig verwahrlost wirkende Kleider und Bierdosen zieren
das Metallgerüst. Später folgen ein niedliches
Plüschtier, ein brauner WC-Stöpsel, schwarze
Velo-Pneus, ein verbogener Garderobenständer, ein nicht mehr tauglicher Tisch-Staubsauger, Bürostuhl-Rollen, eine Store. Und vieles
mehr aus alltäglich anfallendem Müll. Ein ganz
eigenwilliges Kunstwerk ist entstanden.
Unweit und etwas abseits lehnt sich eine
Trash-Puppe lässig ans Geländer. Auch sie
wurde vor Ort gebastelt. Sie trägt alte lederne
Schuhe, graue Hosen, ein weisses Hemd mit
schwarzer Kravatte. Der Kopf ist eine grosse
Dose, die Haare vier ausgestopfte grasgrüne
Socken. «Das ist der Stadtpräsident Kurt Fluri»,
meinen die FreiraumaktivistInnen der Autonomen Freiraum Bewegung Solothurn Die Gruppe
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Bild: zVg.
hat den Anlass organisiert. Kurt Fluri seinerseits ist der Stadtpräsident der Barockstadt an
der Aare und damit Premier der Stadt. Willen
und Engagement, um das schon seit über vier
Jahren vorhandene Problem des fehlenden
Freiraums in Solothurn und Umgebung effektiv
anzugehen, zeige der Stapi aber wenig, heisst
es. Ist Kurt Fluri vielleicht sogar der erste echte «Trash Man»? Ein Symbol für (politische)
Schmutzigkeit, ein Symbol für oder besser: zur
Entsorgung?
Bis jetzt kennt die moderne Gesellschaft nur
den 1996 vom Künstler HA Schult geschaffenen «Trash Man». Er ist eine Skulptur, entstanden aus dem Müll der Kölner Bevölkerung. Die
Masse des «Trash Man» (1,78x0,60x0,35m.)
dürften in etwa deren des Solothurner Stadtpräsidenten gleichen. HA Schult stellte seine
1000er «Trash People»-Armee schon in China,
New York oder der Antarktis aus. Fluri stellt
sich selbst in Solothurn und in Bern als Nationalrat auf dem politischen Parkett aus. Am
10. April war er sozusagen nun erstmals als
«Trash-Man» zu bestaunen. Die Aktionen von
Schult indes standen immer im Kontext des jeweiligen Gastortes. In der Antarktis wurde beispielsweise auf den Zusammenhang zwischen
Müll und Klimawandels hingewiesen.
Der Trash-Man ist in den erwähnten Kontexten also durchaus ein politisches Instrument und/oder Symbol. Gleichzeitig ist er aber
auch Kunst, die den Rahmen herkömmlicher
Kunstbetrachtung auf aussergewöhnliche Weise zu sprengen weiss. Ist das vielleicht sowas
wie Polit-Art-Trash?
Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Anna Vershinova
// Heinrich Aerni, Peter J. Betts (pjb), Luca
D’Alessandro (ld), Morgane A. Ghilardi, Isabelle Haklar, Till Hillbrecht, Guy Huracek (gh),
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(rk), Michael Lack, Irina Mahlstein, Pascal
Mülchi, Fabienne Nägeli, Konrad Pauli, Eva
Pfirter (ep), Alexandra Portmann, Jarom Radzik, Barbara Roelli, Anna Roos, Karl Schüpbach, Luca Scigliano, Christoph Simon, Kristina Soldati (kso), Sarah Elena Schwerzmann,
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