„Leb so, wie Du Dich fühlst?“ Zur Authentizitätsfiktion beim
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„Leb so, wie Du Dich fühlst?“ Zur Authentizitätsfiktion beim
„Leb so, wie Du Dich fühlst?“ Zur Authentizitätsfiktion beim Sendeformat „Big Brother“1 von Christian Schicha Aus: Frank Weber (Red.): Big Brother – Inszenierte Banalität zur Prime Time, Münster 2000, S. 77-94. Einleitung Die normative Idee einer Aufklärungsöffentlichkeit scheint in der Lebenspraxis der Moderne keinen hohen Stellenwert einzunehmen. Vielmehr – so die Diagnose der Kulturkritik – sei eine Öffentlichkeit der „Massenkultur“ zu beobachten, die zum „universalen Verblendungszusammenhang“ degeneriert sei und primär kommerzielle Ziele bediene (vgl. zusammenfassend Imhof /Schulz 1998, S. 21). Sennett (1998) konstatiert, dass sich ein Marketing von Lebensstilen und persönlicher Motive zulasten politischer Konzepte herauskristallisiert hat. Willems (2000) interpretiert dabei vor allem das Leitmedium Fernsehen als kulturelles Forum gesellschaftlicher Prozesse: Dieses Medium reflektiert eine gesellschaftliche Umwelt, in der sich Protagonisten der „Medienbühne“ bedienen, um sich publikumswirksam zu inszenieren. Es habe sich eine Medienerlebniskultur herausgebildet, in der die Grenzen zwischen Nachricht, Werbung und Unterhaltung brüchig werden. Medien reflektieren die von Gerhard Schulze prognostizierte „Erlebnisgesellschaft“, die sich am „Gefallensprinzip“ orientiert. Dabei spielt die Form der Unterhaltung durch Enthüllung eine zentrale Rolle. Der Geheimnisraum nimmt ab; Intimes wird öffentlich. An die Stelle der Privatheit tritt permanente panoptische Kontrolle.2 1 Das Motiv von „Big-Brother“ ist aus dem 1949 erschienende Roman von George Orwell mit dem Titel 1984 entlehnt worden. Dort wird die Horrorvision eines totalitären Überwachungsstaates beschrieben, der durch das Motiv des „Großen Bruders“ symbolisiert wird. Diese Instanz überwacht den „gläsernen Menschen“ und sorgt dafür, dass die Privatsphäre der beobachteten Individuen aufgehoben wird. Der Persönlichkeitsschutz in der „realen“ Welt hingegen stellt ein fundamentales Grundrecht einer demokratischen Gesellschaft dar. Faktisch nimmt die Kontrolle öffentlicher Räume hingegen zu. Wohnblocks, Einkaufszentren und Arbeitsplätze werden zum Teil flächendeckend überwacht. „Eine Vielzahl von technischen Überwachungs- und Identifizierungsmittel von Videokameras, Bewegungsmeldern, Wärmesensoren, Stimm- und Irisidentifizierungen stehen bekanntlich neben kommerziell einsetzbaren Aufklärungssatelliten mit großer Auflösung und dem Global Positioning System bereits zur Verfügung.“ (Rötzer 2000, S. 73). Die Diskussion um den Datenschutz und Rasterfahndung hat gerade im Zuge der technischen Optimierung von Überwachungsgeräten neuen Diskussionsstoff erhalten. Private Räume – so die verbreitete Forderung von Datenschützern – sollten von einer derartigen Kontrolle ausgeschlossen bleiben. 2 Dies gilt vor allem für Prominente. Die Diskussion um das Sexualleben des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton hat über Monate die Berichterstattung geprägt. Das Private avancierte zu einem Politikum (vgl. Probst 1998). Diese allgemeine Entwicklung über den veränderten Charakter der Öffentlichkeit kritisiert Sennett (1998, S. 19) wie folgt: „Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde.“ 1 Sennett verweist auf die eigentliche Funktion der Intimität, die ursprünglich „auf die Lokalisierung der menschlichen Erfahrung, ihre Beschränkung auf die nächste Umgebung“ (1998, S. 425) hin ausgerichtet war, jedoch diese Grenzen in zahlreichen Kontexten überschritten hat. In der aktuellen Medienlandschaft zelebrieren Menschen in den Fernsehtalkshows vor einem Millionenpublikum intimste Details ihres Privatlebens.3 Im Internet erfolgen über „Web-Cams“ Live-Schaltungen in die Wohnstuben von kommerziell motivierten Exhibitionisten, die sich den Zugriff in ihre Privatsphäre durch die „User“ bezahlen lassen. Das Spektrum reicht von den Sexanbietern bis hin zum normalen Alltagsgeschehen von Studenten. Dabei gilt: „Was einst für klatschsüchtige, für neugierige Menschen eine als Geheimnis gehütete Obsession was, der Blick ins Private, ins Intime, ist heute verbreitete Unterhaltungskultur in allen Medien der Massenkommunikation“ (Jung/Müller-Dohm 1998, S. 136). Es erfolgt eine Entdifferenzierung durch die Vermengung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, die die Diskretionsgrenzen ursprünglicher Tabus zugunsten der „Ödnis einer totalen Transparenz“ (ebd., S. 137) verschiebt, woraus eine zunehmende Distanzlosigkeit resultiert. Das Format „Big Brother“ „Sich im Big-Brother“-Container beim Pinkeln, Duschen und Nasebohren von TVKameras beobachten zu lassen – kein Problem, dafür genügend Freiwillige zu finden. Und wer den Namen Shakespeare noch nie gehört hat, wird statt sich schämen zu müssen, mit einer eigenen Fernsehshow bekannt.“ (Till Bastian 2000, S. 35)4 Am 1. März 2000 startete „Big Brother“ in Deutschland auf dem kommerziellen Sender RTL2. Die Sendung steht für ein neues Konzept der Darstellung des Privaten, Intimen und Alltäglichen. 3 In den Talkshows kommt es bei der „Veröffentlichung des Privaten“ (Keppler 1998, S. 158) vor allem darauf an, bestimmte, von der Normalität des alltäglichen Geschehens abweichende Eigenschaften der Gäste durch den Moderator oder die Moderatorin abzufragen. Diese Formate folgen einer ausgeklügelten Dramaturgie und sind primär darauf ausgerichtet, das Konfliktpotential zwischen den beteiligten Protagonisten innerhalb der Sendung zum Ausdruck zu bringen. 4 Dabei bezieht sich Bastian auf den Kandidaten Zlatko, der seine vermeintlich oder faktisch vorhandenen Bildungslücken kommerziell erfolgreich vermarktet hat. Neben der Sendung „Zlatkos-Welt“ auf RTL II, die seine steile Karriere nachzeichnet, fungiert der Ex-Bewohner als Werbeträger für „Shakes-Bier“ und hat eine Reihe von 2 Zehn (sich zuvor völlig unbekannte) Personen wurden von der Produktionsfirma Endemol ausgewählt, an einer neuen Form der Fernsehunterhaltung teilzunehmen.5 In einer Mischung aus Spielshow und Real Life Soap / Doku-Soap lebten die fünf Männer und fünf Frauen für bis zu 100 Tagen in einem Container in Hürth bei Köln. Isoliert von der Außenwelt, ohne Fernsehen, Telefon, Radio, Computer; ohne Kontakt zu Freunden oder Verwandten wurden sie von 28 TVKameras und 60 Mikrofonen 24 Stunden am Tag beobachtet.6 Im zweiwöchigen Rhythmus wurde ein Kandidat oder eine Kandidatin von den Zuschauern abgewählt, nachdem mindestens zwei der Bewohner eine Woche zuvor von ihren Mitbewohnern für den Rauswurf nominiert worden sind. Die Kandidaten waren also seit dem Einzug in den Wohncontainer Konkurrenten, da nur der Sieger John, der bis zum Ende der Staffel im Haus blieb, eine Prämie von 250.000 DM erhalten hat.7 Dieses Fernsehereignis hat in der Bundesrepublik, die wohl größte Resonanz seit Bestehen des Bildschirmmediums ausgelöst. Nie zuvor bestimmte eine Sendung mit ihren Reaktionen in einem solchen Ausmaß die öffentliche Diskussion. An der Debatte beteiligten sich Vertreter aus den Medien, der Politik und der Wissenschaft. „Big Brother“ wurde über Wochen zum zentralen Bestandteil der Alltagskommunikation und nicht nur für den ausstrahlenden Sender zu einem ökonomischen Erfolg, sondern vor allem für die Konzerne, die mit Big-Brother-Artikeln handeln.8 gut dotierten öffentlichen Auftritten in Talkshows und Messen sowie als Sänger und Diskjockey absolviert. (vgl. zum Aspekt des Kult-Marketing zusammenfassend Nieland 1999) 5 John de Mol ist der Produzent der Realtainment-Serie „Big Brother“. Seine Firma Endemol produziert auch in Deutschland im Kommerzfernsehen TV-Filme, Infotainment- und Emotainment-Sendungen wie „Nur die Liebe zählt“, „Rache ist süss“ oder die „Traumhochzeit“, die von seiner Schwester Linda moderiert wird. Dort geht es primär darum, den Voyeurismus der Zuschauer zu befriedigen, da intime Details von Partnerschaften öffentlich zur Schau getragen werden. Weitere Spielshows des holländischen Produzenten verlangen von den Kandidaten nicht nur körperliche Höchstleistungen, sondern arbeiten mit dem Ekel- und Angstfaktor der Mitspieler, die Mutproben absolvieren müssen, um die Chance zu bekommen, den ersehnten Geldpreis zu erhalten. Die Entertainment-Fabrik Endemol ist mit 854 Millionen Mark Umsatz und 1931 Mitarbeitern der größte private TV-Produzent Europas (vgl. Schmitz-Normann / Schwinge 2000). 6 Die beabsichtigte Isolation von er Außenwelt wurde jedoch faktisch nicht durchgehalten, da sich eine Reihe von „Fans“ vor dem Container versammelten und durch Zurufe ihre Sympathien und Antipathien gegenüber einzelnen Kandidaten artikuliert haben und damit das Spielgeschehen maßgeblich beeinflusst haben, wie die abgewählten Kandidaten Alex, Manuela und Kerstin kritisch anmerkten. 7 Der Theatermacher Christoph Schlingensief hat das moralisch fragwürdige Prinzip der Nominierung und Abwahl von Kandidaten durch eine spektakuläre Aktion kritisiert, indem er das Big Brother Experiment in Wien mit einem Container für Asylanten nachstellen ließ. In einer Wahl sollten die Österreicher zwei Flüchtlinge bestimmen, die das Land verlassen sollten. Diese Aktion wurde als Protest gegen die Ausländerpolitik der FPÖ von Jörg Haider durchgeführt. Dazu Jessen (2000, S. 41): „Sinnfälliger lässt sich kaum die Verschränkung zwischen dem inszenierten Zynismus des Fernsehens und dem objektiven Zynismus einer Gesellschaft zeigen, die Asylpolitik nach ihrer Mehrheitsfähigkeit beurteilt, unter Absehung von moralischen Werten.“ 8 Die Single „Ich vermiss Dich wie die Hölle“ des abgewählten Kandidaten Zlatko erreichte ebenso wie der Titelsong „Leb“der Band „Die 3. Generation“ über Wochen einen Spitzenplatz in den deutschen Hitparaden-Charts. 3 RTL II hatte - nach Anlaufschwierigkeiten - mit den Einschaltquoten einen weit größeren Erfolg erzielt, als die gleichnamige (Pilot-)Produktion, die im Herbst 1999 in den Niederlanden startete. In der Zielgruppe der 14 bis 49-Jährigen erlangt „Big Brother“ einen Marktanteil von konstant über 15 Prozent - dies ist für RTL2 ein Traumergebnisse.9 Einige Sendungen - vor allen der „Big Brother–Talk“, in dem die Abwahl der Kandidaten seitens der Fernsehzuschauer bekanntgegeben wird (sonntags, im 14tägigen Rhythmus) - können sogar auf eine Reichweite von 3,8 Mio. Zuschauer verweisen (dies sind z.T. über 26 Prozent in der oben beschriebenen Zielgruppe). Zusätzliche Aufmerksamkeit Internetzugriffe. erreichte „Big Brother“ durch die millionenfachen 10 Medienresonanz Den Produzenten, Programmverantwortlichen und Vermarktern von RTL II ist es gelungen, die Sendung und die damit zusammenhängenden Hintergrundberichte über die Kandidaten sowie ihr soziales Umfeld als Thema in nahezu allen Tages- und Wochenzeitungen zu plazieren, also Anschlussdiskurse zu initiieren.11 Während Boulevardblätter wie „BILD“ und „EXPRESS“ mehrfach wöchentlich über die Geschehnisse im und um das Big-Brother-Haus berichteten, fanden sich auch in den regionalen und überregionalen Tageszeitungen regelmäßige Artikel zum Verlauf der Sendung und der Nominierung bzw. dem Ausscheiden der Kandidaten. Neben Das Big-Brother-Computerspiel ist ebenso erfolgreich wie der Verkauf von Fanartikeln aller Art. Dabei wird die Strategie des „Branding“ verfolgt, der sich als Begriff für Markenbildung in der Konsumgüterindustrie etabliert hat. Die Unverwechselbarkeit der Big-Brother-Artikel wurde zunächst durch das urheberrechtlich geschützte BigBrother-Logo initiiert, um eine Kennzeichnung zu erreichen, die an den Wiedererkennungswert der Marke gebunden ist. Durch dieses Symbol wird den „Fans“ eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion geboten, die neben der Identifizierung mit dem gewünschten Lebensstil eine Integrationsfunktion erzeugt, die als soziales Erkennungszeichen zur Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe dient (vgl. Siegert 2000, S. 75ff.). 9 Nachdem die Moderatorin Verona Feldbusch außerplanmäßig für 19 Stunden in das Haus eingezogen wurde, wurde mit sieben Millionen Rezipienten der Sendung ein Zuschauerrekord bei RTL II erreicht. 10 Die Internetkommunikation fand auf mehreren Ebenen statt. Zunächst hatten die Zuschauer die Möglichkeit, das Treiben im Haus rund um die Uhr am Computerbildschirm zu beobachten, von dem am Abend nur eine kleine Auswahl auf RTL II zu sehen war. Auf der offiziellen Homepage (www.bigbrother-haus.de) können u.a. Informationen zur Sendung abgerufen werden. Des weiteren ist dort eine Presseschau und ein Archiv zusammengestellt. Vom offiziellen Internet-Newsletter sind bereits zahlreiche Ausgaben erschienen, die kostenlos bestellt werden können. Dort erfährt man u.a. die Termine der Ex-Bewohner im Rahmen öffentlicher Auftritte, es werden von den Kandidaten signierte Computerspiele und Autogrammpostkarten vertrieben. Es sind weiterhin Homepages der Kandidaten entstanden (z.B. www.sladdi.com oder www.jana-homepage.de), die u.a. dem Vertrieb von Fanartikeln dienen. 11 Neben den Printmedien haben vor allem die Boulevardmagazine (u.a. Brisant (ARD), Akte 2000 (SAT 1), Explosiv (RTL)) der Fernsehanbieter das Thema „Big Brother“ aufgegriffen. Dabei standen vor allem die Angehörigen der eingeschlossenen Kandidaten im Mittelpunkt des Interesses, die über das „wahre“ Leben der Bewohner berichteten. 4 Qualitätszeitungen wie der „TAZ“, der „FR“, der „SZ" und der „FAZ“ haben auch die Wochenzeitungen „DIE ZEIT“, „DIE WOCHE“ sowie die Magazine „SPIEGEL“ und „FOCUS“ auf regelmäßige Berichte zur Sendung nicht verzichtet.12 Darüber existiert auch ein eigenes BigBrother-Fan-Magazin, das in seiner Machart an Jugendzeitschriften wie „BRAVO“ erinnert.13 „Moraldebatte“ „Ein Experiment wie mit Ratten“ (Kurt Beck, SPD). Es lässt sich konstatieren, dass die wohl überwiegende Zahl der Kritiker das neue Sendeformat Big-Brother negativ beurteilte. Diese Reaktionen bestimmten vor allem die Äußerungen der Politiker, Landesmedienanstalten sowie Vertreter gesellschaftlicher Gruppen (insbesondere aus den Kirchen) und reichten bis zur Forderung des Verbotes der Sendung. Der Vorsitzende der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD) sah die Menschenwürde gefährdet und plädiert dafür, auf die Ausstrahlung der Sendung zu verzichten. Staatssekretär Mosdorf (SPD) bezeichnete die TV-Show als „skandalös“ und niveaulos. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion Maria Böhmer befürchtete gar einen Angriff aus die Menschenwürde und forderte: „Schluss mit Big Brother!“14 Die moralisch aufgeladene öffentliche Debatte sorgte dafür, dass das Interesse an der Sendung bereits im Vorfeld der bundesdeutschen Ausstrahlung gewachsen ist. Kaum ein Tag verging, in dem sich nicht ein Vertreter der Landesmedienanstalt oder ein Politiker eine kritische Stellungnahme zum Thema abgibt. Ein Verbot der Sendung hat es dennoch nicht gegeben. So gelangte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (NRW), Wolfgang Clement, in einer von den Grünen beantragten Landtagsdebatte zu dem Ergebnis, dass Fernsehsendungen prinzipiell nicht präventiv verboten werden dürften, obwohl er betonte, dass die Politik „nicht 12 Erwartungsgemäß gab es erhebliche qualitative Unterschiede bei der Berichterstattung der verschiedenen Printmedien. Während die Boulevardzeitungen ereigniszentriert berichteten und die aktuelle Entwicklung im und um den Container sowie die öffentliche Debatte um das geforderte Verbot der Sendung reißerisch kommentierten, wobei das Thema Sexualität eine zentrale Rolle spielte, basierten die Berichte der Qualitätszeitungen stärker auf reflektierenden Kriterien einer gesamtgesellschaftlichen Einordnung des Phänomens „Big-Brother“. 13 Eine ersten Überblick über die Presseresonanz liefert ein Reader, der zahlreiche Artikel der Boulevard- und Qualitätsmedien unter folgenden Rubriken zusammengefasst hat: Kritik aus den Reihen der Politik, Ökonomische Aspekte, Zuschauerresonanz, Medienkritik, Interviews zur Sendung, Kult und Kultmarketing, Fanmagazin, Eigenwerbung (RTL II), Internetpräsentation sowie Cartoons (vgl. Nieland / Lukaszewski / Schicha 2000). 14 Diese Forderung wurde auch als Hauptschlagzeile auf dem Titel der Bild am Sonntag vom 23./24.4.2000 abgedruckt. 5 tatenlos zusehen (dürfe), wenn in dieser Sendung Menschen in menschenunwürdiger Weise dargestellt werden“. Der grüne Abgeordnete Roland Appel rief gar zu einem Boykott von Artikeln auf, für die im Umfeld der Sendung geworden wird.15 Da kein deutsches Gesetz durch die Ausstrahlung von „Big-Brother“ verletzt wurde, gab es keinen Handlungsspielraum für eine Absetzung der Sendung. Auch die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) hat zunächst nichts gegen das Programmformat unternehmen können, da erst nach Sendebeginn potentielle Rechtsverstöße geahndet werden konnten, die faktisch jedoch nicht eingetreten sind.16 Authentizitätsfiktion „Die Fernsehzuschauer haben ein Interesse an realitätsnahen Unterhaltungssendungen, die ihnen die Möglichkeiten bieten, sich mit der Lebenswelt anderer Menschen zu identifizieren (RTL II-Programmchef Josef Andorfer). Interessanter als die allgemeine moralische Aufgeregtheit über das Sendekonzept selbst ist m.E. die Frage der konkreten Rahmenbedingungen, denen die Bewohner während der ersten BigBrother-Staffel ausgesetzt waren. 17 Dabei sollen folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: • Inwiefern verfügten die Bewohner im Big-Brother-Haus über eine eigene Handlungsautonomie? • Zu welchen Zeitpunkt und aus welchem Grund hat der „Große Bruder“ in Form des Senders RTL II in das „Alltagsleben“ der Kandidaten im Container eingegriffen? Lässt eine derart künstlich geschaffenen Situation, bei der ein Kandidat oder eine Kandidatin unter 15 Nach dem Sendestart hatte sich die Aufregung vorübergehend gelegt. Er wurden zwar unbekleidete Kandidaten und Kandidatinnen beim Duschen oder Umziehen gezeigt. Gleichwohl waren aber keine Bilder zu sehen, die jugendschutzrechtlich bedenklich waren. Dennoch haben die Landesmedienanstalten darauf bestanden, dass in den Schlafräumen am Tag eine Stunde lang keine Aufnahmen gemacht werden dürfen. Die Kandidaten waren mit dieser Regelung jedoch nicht einverstanden und boykottierten die Ihnen eingeräumte einstündige Privatsphäre. 16 Es gab auch eine positive Reaktion aus dem politischen Spektrum. Eine Woche vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2000 hat der Spitzenkandidat der FDP – Jürgen W. Möllemann – in der Sendung „BigBrother: Der Talk“ die Gunst der Stunde genutzt, indem er wählerwirksam für Toleranz gegenüber dem Sendeformat eintrat und sich gegen jegliche Form von Zensur aussprach. 17 Josef Andorfer hat am Ende der ersten Staffel von „Big Brother“ die Behauptung aufgestellt: „Wir haben nichts inszeniert“. Angeblich hätte der völlig normale Alltag von normalen Menschen diese Zuschauerresonanz erreicht. 6 permanenter Kamerabeobachtung von seinem Mitspielern für einen Rauswurf nominiert werden kann, überhaupt so etwas wie eine Form von „Authentizität“ zu? Neben der Verständlichkeit, Wahrheit und normativen Richtigkeit von Äußerungen gelten Wahrhaftigkeit und Authentizität als zentrale moralische Kategorien menschlicher Handlungsabsichten.18 „Aussagen in dieser Kategorie beziehen sich auf die subjektive Wahrnehmung und Erfahrung der realen Welt.“ (Renn 1994, S. 37) Darunter wird einerseits die Verbalisierung persönlicher Gefühle, Ahnungen und Befürchtungen subsumiert, anderseits werden in diesem Kontext auch Verhaltensprognosen in Form von Versprechen, Beteuerungen und Vertrauensappellen artikuliert Die Berufung auf „Authentizität“ im Verständnis „einer Einheit von innerer Überzeugung und äußerem Handeln“ (Siller 2000, S. 14) ist selbst in normalen Alltagskontexten kaum zu überprüfen. Schließlich handeln Individuen in unterschiedlichen realen Kontexten notwendigerweise verschieden und bis zu einem gewissen Punkt immer auch strategisch.19 Eine adäquate Berücksichtigung der Person des jeweiligen Gegenübers innerhalb der unterschiedlichen Lebenswelten ist dabei unverzichtbar, um eine Orientierung und Erwartungssicherheit in konkreten Handlungssituationen zu erreichen. Der Sozialpsychologe Mead hat in diesem Kontext den Begriff der erforderlichen „Rollenübernahme“ geprägt. Er vertrat die Auffassung, dass menschliches Verhalten als symbolisch vermittelte Interaktion interpretiert werden kann, wobei sich die Gemeinschaft erst im Prozess zwischen Handelnden und kommunizierenden Menschen entwickelt. Im Verlauf der Sozialisation wird vom einzelnen gelernt, den Menschen nicht nur als konkretes Individuum, sondern als „generalisierten Anderen“ zu begreifen, in dem sich allgemeine und individuelle gesellschaftliche Werte verdichten. Um rationale und kontrollierbare Handlungsprozesse zu ermöglichen, ist die gedankliche „Übernahme der Rolle anderer“ (Mead 19918, S. 300) unverzichtbar. Insofern ist Bösel (1980, S. 47) zufolge ein kontrollierter Entwurf eigener Handlungen im Prozeß sozialer Interaktionen eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die handelnden Akteure ihren Partner 18 Die Befolgung der „Wahrheit“ bedeutet, dass über etwas gesprochen wird, von dessen Existenz derjenige, der etwas behauptet, überzeugt ist, während das Postulat der „Wahrhaftigkeit“ verlangt, dass die tatsächlichen Handlungsabsichten ohne Täuschungsabsicht mitgeteilt werden. Durch die „Richtigkeit“ einer Äußerung soll erreicht werden, dass sie vor dem Hintergrund anerkannter Normen und Werte akzeptiert werden kann (vgl. Habermas 1983, S. 149). 19 Ein Ehemann agiert z.B. in seiner privaten Lebenswelt gegenüber seiner Ehefrau anders als im Beruf. Er verhält sich seinen Kindern gegenüber anders als gegenüber den eigenen Eltern u.s.w. Insofern ist der These von Goffman zuzustimmen, der die Selbstdarstellung im Alltag mit dem Titel seines Buches „Wir alle spielen Theater“ (München 19965) auf den Punkt gebracht hat. 7 dahingehend berücksichtigen, dass seine „Absichten, Erwartungen und Verhaltensweisen“ angemessen identifiziert und antizipiert werden um „so die voraussichtliche Reaktion ihres Gegenübers mit zur Grundlage des eigenen Verhaltens“ (ebd.) zu machen. Das ungehemmte Ausleben eigener Gefühle lässt sich unter solchen Voraussetzungen nicht bewerkstelligen, sondern erfordert sinnvollerweise eine gewisse Kompromissbereitschaft im Umgang mit den Zielen und Bedürfnissen des anderen, um ein funktionierendes soziale Zusammenleben zu ermöglichen. Eine uneingeschränkte Authentizität kann im sozialen Alltagskontext nicht erwartet werden, da das rollenkonforme Handeln grundsätzlich eine Einschränkung der eigenen Bedürfnisse durch die Abgleichung mit den Präferenzen des anderen erfordert. Gleichwohl sollte eine grundlegende Glaubwürdigkeit der eigenen Handlungen und der ihnen vorausgehenden Motive erwartet werden, um Vertrauen in sozialen Kontexten zu erreichen. Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesen Überlegungen für die Big-BrotherThematik ergeben, sofern die Grenze des Alltagsgeschehens zugunsten der „Medienbühne“ überschritten wird. Im Big-Brother-Haus wurde eine künstlich herbeigeführte Ausnahmesituation inszeniert, die mit den konkreten Lebensumständen der Kandidaten in keiner Weise korreliert. Dass der Spielraum für authentisches Verhalten unter einer derartigen Extremsituation nicht vorhanden ist, soll im folgenden begründet werden. Die Big-Brother-Medienbühne Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass durch die unmittelbare Präsenz von Fernsehbildern die Illusion erzeugt wird, dass Kameras „objektive“ Ereignisse erspähen, während zahlreiche Pseudoereignisse nur deshalb stattfinden, weil eine Kamera in der Nähe ist (vgl. Westerbarkey 1998, S. 314).20 Es entsteht beim Zuschauer eine Authentizitätsfiktion, die vor allem daraus resultiert, dass Bilder eine hohe suggestive Wirkung auf den Zuschauer entfalten, die durch die unmittelbare Wahrnehmung des Geschehens auf dem Bildschirm erzeugt wird. Die regelmäßig im Fernsehen auftauchenden Protagonisten im nichtfiktionalen Kontext erzeugen durch den 20 Zugleich verhalten sich die meisten Menschen, die wissentlich von einer Kamera und Mikrophonen erfasst werden, in höchstem Maße unnatürlich. Die Beobachtung schränkt authentisches Verhalten beim Beobachteten zumindest ein, da durch diese Ausnahmesituation eine zusätzliche Form einer reflektierten Selbstkontrolle entsteht, d.h. der Beobachtete beobachtet sich selbst in Hinblick auf seine visuelle und akustische Wirkung. 8 Wiedererkennungswert einen hohen Grad an Identifikationsmöglichkeiten für die Zuschauer, die mit Glaubwürdigkeit assoziiert werden.21 „Leb so, wie Du Dich fühlst“ war der Titel er Band „Die 3. Generation“, der als Erkennungsmelodie der Serie gewählt worden ist und den Aspekt der individuellen Entscheidungsfreiheit beim Zuschauer wie auch für die Big-Brother-Kandidaten suggerierte. Dass dieser Leitsatz zumindest für die Bewohner nicht galt, soll im folgenden begründet werden. Es lässt sich konstatieren, dass die Protagonisten im Container einer Vielzahl von Restriktionen ausgesetzt waren, die den Verhältnissen in der „realen“ Lebenswelt widersprechen. Faktisch haben die Kandidaten im Big-Brother-Haus einen Teil ihrer Handlungsautonomie bereits beim Betreten des Wohncontainers zurückgelassen. Es kann zwar unterstellt werden, dass die Bewohner sich in der Hoffnung auf Ruhm und Geld freiwillig für das „Experiment“ Big-Brother zur Verfügung gestellt haben.22 Faktisch wurde der „Alltag“ im Haus jedoch hochgradig gesteuert und reglementiert. Bereits die Auswahl der Bewohner durch das Casting der Produktionsfirma wurde so gestaltet, dass möglichst viele unterschiedliche - aber medientaugliche - Typen eingesetzt waren, um ein harmonisches – also langweiliges – Miteinander zu vermeiden.23 Es wurde eine heterogene Gruppe zusammengestellt, die sich in realen sozialen Kontexten in der Form freiwillig vermutlich nicht gebildet hätte, weil die Typen einfach zu unterschiedlich waren, um eine angemessene Menge von Gemeinsamkeiten zugrundezulegen, auf der sich dann die Basis einer Freundschaft hätte herausbilden können. Durch diese Vorgaben waren potenzielle Konflikte zwischen den Bewohnern von vornherein strukturell angelegt, die dann auch ausgebrochen sind. Das permanente Eingreifen der „Big-Brother-Regie“ in den „Alltag“ der Kandidaten ermöglichte eine – zumindest partielle Steuerung – ihrer Handlungen. Die obligatorische Wochenaufgabe, in 21 Dies gilt vor allem für Nachrichtensprecher wie Ulrich Wickert: „Er bezieht seine Authentizität nicht aus der Schriftlichkeit seiner Vorlage, sondern aus der „Oralität“ der Situation, genauer gesagt aus der scheinbaren Nähe zum Zuschauer, der freien Formulierung und dem ständigen Blickkontakt. Er nutzt diese Präsenz, um dem Akt der Informationsvermittlung zugleich einen Hauch von unbestechlicher Integrität und Menschlichkeit zu verleihen.“ (Meyer/Ontrup/Schicha 2000, S. 178) 22 Mehrere Kandidaten wie Zlatko, John und Sabrina waren zu Beginn der Staffel arbeitslos und versuchen nun, ihre Prominenz zu vermarkten. 23 Einige Kandidaten haben versucht (oder sind dazu aufgefordert worden), einen möglichst interessantes Image bei der Auswahl zu suggerieren, um den Zuschlag für die erste Staffel zu erhalten. Während sich Porschefahrer Alex bei der Präsentation seiner Person nackt auf einem Motorrad ablichten lies, verwies die Kandidatin Jana auf ihre Erfahrungen als „Sextelefonistin“. 9 der die Bewohner „im Team“ eine spezifische geistige oder körperliche Tätigkeit durchführen mussten, um eine Aufstockung des geringen Haushaltsbudgets zu erreichen, wurde ihnen aufoktroyiert. Sogar die Themenvorschläge für Diskussionsrunden zwischen den Bewohnern im Container wurden vom „Großen Bruder“ vorgegeben.24 Bei sich abzeichnender Langeweile wurden Prominente ins Haus eingeschleust, um für Stimmung zu sorgen. Die Lebensbedingungen im Container können als einfach klassifiziert werden. Die Wohneinrichtung besaß den Charme einer Jugendherberge und die Versorgung mit Lebensmitteln fiel nicht gerade üppig aus. Der Haushaltsetat konnte jedoch nach erfolgreicher Konditionierung durch eine bestandene Wochenaufgabe durch die Kandidaten verbessert werden.25 Zudem gab es nur einmal am Tag eine Stunde warmes Wasser für die Dusche, wodurch die Bewohner gezwungen waren, ihre Körperpflege am „Fließband“ zu absolvieren. Das sogenannte Sprechzimmer hinter verschlossener Tür bot den Kandidaten einen Ort der Kommunikation mit den Fernsehzuschauern, bei dem die übrigen Mitbewohner ausgeschlossen blieben.26 Diese Rahmenbedingungen entsprachen nicht gerade den „realen“ Verhältnissen im Alltag.27 Die Protagonisten im Big-Brother-Haus befanden sich bis zu 100 Tagen auf einer öffentlichen Bühne, auf der sie die Mitbewohner und die Fernseh- bzw. Internetzuschauer durch ihr Agieren Der spätere Gewinner John widersprach bereits optisch gängigen Konventionen, da sein Körper stark tätowiert ist. Als „Kontrastprogramm“ fungierte hingegen die ehemalige Waldorfschülerin Jona, die als Ersatzkandidatin für den Container nachnominiert wurde und ihn nach kurzer Verweildauer bereits wieder freiwillig verlies. 24 Trotz der strukturellen Restriktionen haben einige Kandidaten zumindest versucht, sich Freiräume zu erkämpfen. Despina, die bereits nach wenigen Tagen als erste die „Wohngemeinschaft“ freiwillig verlies, hatte sich einen Vorhang gebaut, hinter dem sie nicht von den Kameras erfasst werden konnte, um sich einen Restbestandteil ihrer Intimsphäre zu bewahren. Aus „Sicherheitsgründen“ wurde sie jedoch genötigt, diesen Vorhang wieder abzunehmen. Weitere Bewohnerinnen (Kerstin, Jona) haben bereits vorzeitig, d.h. ohne Abwahl durch die Zuschauer freiwillig den Container verlassen. 25 Die Kandidaten haben ihr eigenes Brot gebacken und sich mit Eiern aus dem Hühnerstall im Garten versorgt. Der Sozialwissenschaftler Udo Göttlich hat während eines Workshops zum Thema „Big-Brother“ im Rahmen des DFGJahreskolloquiums „Theatralität“ an der FU-Berlin am 1.6.2000 zu Recht darauf hingewiesen, dass die extensiven Big-Brother-Vermarktungsstrategien in einem deutlichen Widerspruch zu dem Motto der Sendung „Back to basic“ stehen. 26 Der Kandidat Jürgen hatte dieses Forum strategisch genutzt, um durch gezielte „Showeinlagen“ das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Darüber hinaus hat er die Gelegenheit wahrgenommen, um Produkte mit Werbeaufdrucken (z.B. eine Spielzeugeisenbahn) in die Kamera zu halten. 27 Um für noch mehr Spannung zu erzeugen, sind in Hürth neben den bereits skizzierten Restriktionen für die Kandidaten weitere Einschränkungen der Lebensqualität vorgesehen. Die Fenster im Container waren von innen verspiegelt. Krisen und Konflikte sollten und sind publikumswirksam ausgetragen worden. Neudeutsch kann dies wohl als „Mobbing“ bezeichnet werden. Derartige Situationen sind durch die Spielregeln bereits strukturell angelegt worden. Trotz dieser verschärften Rahmenbedingungen hatten sich bereits im Vorfeld der ersten Staffel mehr als 20.000 potenzielle Kandidaten für „Big Brother“ beworben. 10 davon überzeugen wollten, sie nicht für die Abwahl aus dem Container zu nominieren.28 Insofern verfolgte jeder Bewohner eine spezifische Strategie, um einen möglichst das absolute hohen Zustimmungswert zu erreichen.29 Fazit „Inmitten der wunderbaren Warenwelt wird Kontrollsystem institutionalisiert, dessen Normierungsmacht über die Mattscheiben in die Wohnzimmer wirkt, wo allmählich eine Fernsehnation aus glücklichen Konsumenten begeistert die eigene Entmündigung und Ohnmacht bestaunt, sie per basisdemokratischer TEDAbstimmung sogar noch forciert. Die Masse normiert öffentlich Individuen, die zu Vorbildern für die Masse werden. Das perfekte Kontrollsystem.“ (Anja Mauruschat 1999, S. 22) Es ist dem Sendungskonzept von Big-Brother gelungen, eine Reihe von Nachrichtenfaktoren zu besetzten, die für die Berichterstattung interessant sind. Es erfüllt u.a. die Kriterien der Faktizität (Ereignishaftigkeit), der Personalisierung und der Konflikthaftigkeit, die strukturell durch die Spielregeln angelegt sind. Der Faktor Prominenz wird durch die Kandidaten selbst erfüllt und erfolgreich vermarktet.30 Die Fernsehlandschaft reagierte durch Anschlussdiskurse selbst auf die Sendung, indem sie durch Talkrunden, Parodien und Satiren sowie durch Stellungnahmen Prominenter das Thema Big-Brother in den Horizont rückte. „Big-Brother“ war ein Krisenexperiment für Kandidaten und Zuschauer. Es befriedigte die Selbstdarstellungsambitionen und Geldgier der Kandidaten und den Voyeurismus der Zuschauer. Das Konzept sollte die konventionellen Grenzen der Fernsehunterhaltung überschreiten und 28 Die Protagonisten im Container befanden sich in der paradoxen Situation, vom Anspruch her als soziales Wesen ohne Drehbuch aufzutreten, jedoch faktisch als strategischer Selbstdarsteller zu agieren. 29 Während die „Ballermann-Fraktion“ um Jürgen und Sabrina ständig für (mehr oder wenig gelungene) Stimmung sorgte, haben sich Andrea und John bis zuletzt zurückhaltend und gruppenkonform verhalten, um sich gute Chancen auf den Endsieg durch eine Nichtnominierung zu bewahren. Aufgrund seiner provokativen, polarisierenden und (vermeintlich) dümmlichen Art ist es Zlatko gelungen, sich wie kein anderer Kandidat erfolgreich zu vermarkten. Durch sein Verhalten und seine Sprüche hat er inzwischen „Kultstatus“ erreicht hat. Sein Album trägt – quasi als Authentizitätsversprechen – den Titel „Ich bleibe wer ich bin“. 30 Dabei stellt sich jedoch die grundlegende Frage, welche spezifischen Fähigkeiten die ehemaligen Bewohner auszeichnen, um diesen Grad an Prominenz zu erreichen. Offensichtlich scheint die regelmäßige Medienpräsenz, die durch eine offensive Marketingstrategien einer gezielten Imagebildung unterstützt wird, bereits auszureichen, um den Status eines Popstars zu erreichen. Musikalisches Talent scheint keine notwendige Voraussetzung zu sein, um eine Plattenkarriere zu starten, wie die Aufnahmen der Ex-Bewohner Verena, Alex und Zlatko und Jürgen beweisen. 11 dadurch einen zusätzlichen Anreiz bieten, dieses Programm zu konsumieren. Das ökonomisch relevante Gut der Aufmerksamkeit von Werbekunden ist durch zusätzliche Spannungseffekte geweckt worden. Aufmerksamkeit avanciert zur relevanten Größe von wirtschaftlichem Einkommen durch Einschaltquoten und Auflagenhöhen, die den ökonomischen Wert von Informationen bestimmt (vgl. Franck 2000, S. 90). Es wurden Reize geliefert, die emotionale Impulse bei den Rezipienten ausgelöst haben. Dies erfolgte z.T. über die Identifikation mit den Kandidaten, die sich freiwillig in einen überwachten Käfig haben einsperren lassen und bei der allabendlichen Rezeption von bis zu 7 Millionen Zuschauern schon fast zur „Familie“ gehörten. Die Sendung suggerierte eine Form der Authentizität, die jedoch nur vorgetäuscht war. Die Kandidaten von Big Brother standen unter einem enormen Konkurrenz- und Leistungsdruck, um die Gunst der Zuschauer und Mitbewohner zu erzielen. Der Wettstreit erinnert an politische Wahlkämpfe, in denen es darum geht, den Gegenkandidaten zu übertrumpfen, um den Wahlerfolg durch die Zustimmung der Öffentlichkeit zu erzielen. Faktisch wird eine Rolle gespielt, bei der es weniger um Glaubwürdigkeit als vielmehr um Erfolg durch inszenierte Imagebildung geht. Durch die Sendungskonzeption sollte der Eindruck vermittelt werden, dass die Überwachungskameras innerhalb der „Wohngemeinschaft“ authentische Ereignisse aufnehmen. Faktisch orientierte sich das Verhalten der Bewohner im Container an den „Spielregeln“ der Sendung. Die beabsichtigte Identifikation des Publikums mit den Protagonisten einer Fernsehshow verweist aber auch auf Formen gesellschaftlicher Differenzierung in Form von Individualisierung und Vereinzelung, in denen sich die Identifikation mit anderen nicht aus dem unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontext heraus erschließt, sondern durch medial präsentierte Protagonisten kompensiert wird.31 Es hat sich eine Tendenz der Enttabuisierung herausgebildet, indem das Private öffentlich wird. Zugleich ist eine Form der Entdifferenzierung entstanden, da sich das Private und das Öffentliche vermengen. Tabus und Diskretion fallen weg; nichts bleibt geheim. Die letzten Refugien der Privatsphäre werden zugunsten einer Tyrannei eines „Gefühlsexibitionismus und – voyeurismus“ aufgelöst, wie in der Zeit Nr. 47 vom 14.11.1997 zu lesen war. Jung und Müller-Dohm (1998) 31 Dazu ein kritischer Kommentar von Westerbarkey (1998, S. 312): „Wenn angeblich aufgeklärte Menschen zusehends ihre publizistische Aufmerksamkeit von großen sozialen, kulturellen und politischen Fragen auf banale Privatangelegenheiten verlagern, und dieses trotz aller multimedialen Bildungsofferten massenhaft, dann haben wir damit verständlicherweise Probleme, und Ursachenforschung ist geboten.“ 12 verweisen in diesem Kontext auf die soziale Funktion des Geheimnisses, das zwischenmenschlichen Beziehungen einen Attraktivitätsanreiz gibt. Sie fordern eine Ethik der Diskretion, bei der die Distanz erhalten bleibt.32 Insgesamt kann es m.E. nicht darum gehen, durch Zensureingriffe die Ausstrahlung von derartigen Sendungen zu verbieten Die Landesmedienanstalten als Aufsichtsorgane für die kommerziellen Anbieter haben ohnehin kaum eine Möglichkeit, Programme präventiv zu verbieten, sofern nicht gegen konkrete Gesetzte (z.B. in Form des Jugendschutzes) verstoßen wird. Bußgelder wegen moralisch anstößiger Programme oder gar ein Verbot entsprechender Sendungen hat es bislang faktisch nicht gegeben. Schließlich ist die Pressefreiheit – zu Recht – ein hohes Gut. Es ist aber zu betonen, dass sich die Pressefreiheit primär auf investigative und aufklärerische Formen der journalistischen Berichterstattung bezieht, um gesellschaftliche Missstände und Skandale aufzudecken. Der Verweis auf die Pressefreiheit durch die Programmacher von „Big Brother“ dient m.E. vielmehr dazu, der Sendung das Etikett des Verbotenen anzuheften, um das Interesse auf die Sendung zu steigern. Grundsätzlich ist m.E. eine Reflexion über eine Gesellschaft erforderlich, in der sich Fernsehzuschauer in einem hohen Maße mit Akteuren im Fernsehen identifizieren. Statt dessen findet eine – wenig konstruktive - öffentliche Debatte über den Sinn oder Unsinn des verhältnismäßig harmlosen Sendekonzeptes von „Big-Brother“ statt. Die Macher der Sendung können zumindest frohlocken. Jeder zusätzliche Artikel, jeder kritische Fernsehbeitrag im Vorfeld und während der Ausstrahlung forcierte die Neugierde, und wurde von den RTL II Programmachern u.a. in den Trailern und Berichten zu „Big-Brother“ dankbar aufgegriffen. Dadurch wird ein Mythos aufgebaut, der bei der Rezeption vermutlich schnell relativiert wird, da sich über weite Strecken der Dauerbeobachtung der Staffel gähnende Langeweile bei der „Alltags-Beobachtung der Kandidaten breit gemacht hat. Da aber an jedem Abend auf RTL II nur eine dreiviertelstündige Zusammenfassung (mit Werbeunterbrechungen) der „Tagesereignisse“ im Container gezeigt wurde, ist es den Programmachern gelungen, den Spannungsbogen der Serie über den gesamten Zeitraum von 100 Tagen aufrecht zu erhalten, zudem durch das bereits 32 Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Geheimnis zu den größten Errungenschaften des Menschen gehört. Das Recht auf eine individuelle Privatsphäre stellt ein fundamentales Menschenrecht dar und sollte respektiert werden. Eine Verletzung der Privatsphäre lässt sich m.E. mit dem Argument der Pressefreiheit nicht legitimieren. 13 skizzierte Eingreifen der RTL II-Regie in den „Alltag“ der Kandidaten dafür gesorgt wurde, zusätzliche Impulse zu liefern, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer aufrecht zu erhalten.33 Was macht eigentlich den Reiz der Sendung aus? Neben dem puren Voyeurismus, der kein eigenes Eingreifen erforderlich macht, wird den passiven Zuschauern durch das „Big-Brother“ Konzept der Eindruck vermittelt, dass sie das Programm via TV und Internet nicht nur rezeptiv konsumieren müssen, sondern durch ihre selektive Wahlentscheidung gegen bestimmte Kandidaten aktiv in das „Spielgeschehen“ eingreifen können. Während sich die Kandidaten durch ihr Verhalten unter millionenfacher Beobachtung blamieren können, gehen die Zuschauer kein Risiko ein. Sie entscheiden anonym und sind nicht in das Geschehen involviert. Sie dürfen entscheiden, wer das Haus verlassen soll. Zugleich müssen sie ihre Wahl weder rechtfertigen, noch begründen. Sie können sich bequem im Fernsehsessel zurücklehnen und ihren „Triumph“ auskosten, wenn der Kandidat das Haus verlassen muss, den sie nicht mehr sehen wollen.34 Fortsetzung folgt.... Es bleibt festzuhalten, dass in der ersten Staffel von „Big-Brother“ die von den Programmachern angekündigten Grenzen der Fernsehunterhaltung nicht überschritten worden sind. Der angekündigte Tabubruch fand nicht statt. Um das Erfolgsrezept von „Big-Brother“ aufrecht zu erhalten, sind innovative Formen erforderlich, um eine langfristige Zuschauerbindung an das Format zu erreichen. Dies wird und wurde zum Teil dadurch gelöst, dass die Rahmenbedingungen, unter denen die Kandidaten agieren, „härter“ werden. Aufgrund des großen kommerziellen Erfolges wurde das „Big Brother“-Modell in modifizierter Form zunächst in Holland fortgesetzt. • Die Produktionsfirma Endemol zeigte ab dem 13.2.2000 im Privatsender SBSG die Reihe „Der Bus“, wo elf Kandidaten 100 Tag lang in einem Spezialbus durch die Niederlande reisten und unter permanenter Kamerabewachung standen. Auch hier entschied das Publikum, in welcher Reihenfolge die Kandidaten den Bus verlassen müssen. Als Motivation, 33 Eine Untersuchung über die Selektionskriterien der Programmacher von RTL II für die Auswahl der Fernsehausschnitte der abendlichen Zusammenfassung wäre u.a. deshalb interessant, um zu beobachten, inwieweit die Selbstdarstellungsstrategien der Kandidaten zum Zuge gekommen sind. 34 Dabei sollte nicht verschwiegen werden, dass ein Anruf für die Abwahl des Kandidaten durch die Zuschauer 0,96 DM kostete. 14 sich der Fahrt anzuschließen, winkte ein Preisgeld von umgerechnet 880.000 DM, das der Kandidat erhielt, der als letzter den Bus verließ.35 • In einer von Endemol bereits produzierten „Spielshow“ mit dem Titel „Chained“ hat sich eine Frau mit Handschellen für fünf Tage an vier Männer ketten lassen, von denen sie alle 24 Stunden einen Kandidaten abwählen konnte, so dass hinterher nur noch ein Partner mit ihr übrig blieb, mit dem sie sich ggf. den Geldpreis teilen konnte. • SAT 1 hat eine modifizierte Form des Big-Brother-Prinzips einer „Psychoshow“ mit dem Titel „Inselduell“ abgedreht.36 Dort kämpften 13 Personen für sieben Wochen auf einer philippinischen Insel „ums Überleben“, die dann aufgrund der Nominierung ihrer Mitstreiter die Insel nach und nach verlassen mussten. Auch hierbei erhielt der Gewinner, der übrig blieb, eine Prämie von 250.000 DM.37 In der bereits abgedrehten Schweizer Version des „Inselduell“ mit dem Namen „Expedition Robinson“ hat die Gewinnerin sich darüber beschwert, dass sie spezielle TV-Szenen für die Kamera noch einmal nachstellen musste, da die Kameraeinstellung während der realen Szene wohl nicht optimal war....38 Literatur: Bastian, Till (2000): Scham. In: Die Woche vom 9.6.2000. S. 35. Bösel, Monika (1980): Lebenswelt Familie, Ein Beitrag zur interpretativen Familiensoziologie, Frankfurt am Main. Brosius, Hans-Bernd (Hrsg.) (2000). Kommunikation über Grenzen und Kulturen. Konstanz. Fischer-Lichte, Erika / Pflug, Isabell (Hrsg.) (2000): Inszenierung von Authentizität, Tübingen. Franck,. Georg: Jenseits von Geld und Information. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit. In: Kunstforum Bd. 148. Dezember 1999-Januar 2000, S. 84-94 Habermas, Jürgen (1983): Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983 Hoff, Hans (2000): Schlagzeilen-Schlacht. In: Die Woche vom 9.6.2000, S. 41. 35 Die Teilnehmer mussten sich jedoch mit einem Eigenanteil von 6000 Gulden in das „Spiel“ einkaufen. Durch diese finanzielle Vorgabe sollte verhindert werden, dass sie vorzeitig aus dem Bus aussteigen. 36 Für diese deutsche Serie hatten sich 18.000 potentielle Kandidaten beworben (vgl. Hoff 2000). 37 Makabererweise findet z.Zt. in unmittelbarer Nähe des Drehortes ein reales Geiseldrama statt. Der Programmchef von SAT 1, Fred Kogel, distanzierte sich von den Forderungen, dass das Inselduell aufgrund der aktuellenpolitischen Umstände dort nicht gedreht werden sollte, indem er sagte: „Es würde den Prinzipien des privaten Fernsehens grundlegend widersprechen, wenn wir uns auf die Seite derjenigen stellen würden, die meinen, sie hätten das Recht von Moral und Qualität gepachtet. Solange wir uns im rechtlichen Rahmen bewegen, sind wir vor allem unseren Zuschauern verpflichtet, und deren Meinung sind wir auch.“ (zit. nach Vieweg 2000, S. 20) 38 Die „Robinson-Variante“ des schwedischen Fernsehens hat sogar zu dem Selbstmord eines vom Publikum abgewählten Kandidaten geführt (vgl. Jessen 2000, S. 41) 15 Imhof, Kurt (1998): Die Verankerung der Utopie herrschaftsemanzipierten Raisonnements im Dualismus Öffentlichkeit und Privat. Einführung. In: Imhof, Kurt / Schulz, Peter: (Hrsg.): Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen. Opladen, S. 2524. Imhof, Kurt / Schulz, Peter: (Hrsg.) (1998): Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen. Opladen. Jessen, Jens (2000): Warten auf das Böse. Aber bei Big Brother“ wollte es sich noch nicht zeigen. In: DIE ZEIT Nr. 24 vom 8.6.2000, S. 41. Jung, Thomas / Müller-Dohm, Stefan (1998): Das Tabu, das Geheimnis und das Private – Vom Verlust der Diskretion. 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