das buch der guertel.indd - Trachten Informationszentrum
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Alexander Wandinger, Jana Cerno, Christian Aichner Das Buch der Gürtel Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern Das Buch eurer Vergangenheit, Menschen, ist nur ein Traumbuch, das das Widerspiel der Zukunft bedeutet. Jean Paul Alexander Wandinger Gürte mich, oh Herr Zur Kulturgeschichte eines archetypischen Kleidungsstücks Herrn Dr. Ewald Martin in Freundschaft Joachim Schuster war ein wandernder Riemergeselle. Seine Profession war die Herstellung von Geschirren für Zugtiere, Riemen aller Art und speziell die Fertigung von Schmuckgürteln. Er führte auf seinen Reisen von 4 5 1836 bis 1870 ein persönliches Wanderbuch mit sich, das seine Reisen und die unterschiedlichen Arbeitsplätze dokumentiert. Das unscheinbare Büchlein hat sich in dem braun marmorierten Schutzumschlag über die Generationen erhalten. Es ist ein Glücksfund und in seiner Weise einzigartig. 6 Das Wanderbuch des Joachim Schuster versetzt uns in eine Zeit, in der die Lebensumstände unserer Vorfahren gänzlich andere waren als die unseren. Die freie Berufswahl war so wenig ein Thema wie die individuelle Lebensführung an sich. Das familiäre Umfeld, in das ein Mensch hineingeboren wurde, bestimmte einen großen Teil seiner Zukunft. Tradierte gesellschaftliche Rollen, politische Konstellationen und gesetzliche Bestimmungen lenkten das Leben in vorgegebene Bahnen, unterbrochen allenfalls durch die Militärzeit, berufliche Stellenwechsel, Krankheit, Krieg oder Naturkatastrophen. Für Joachim Schuster lag es nahe, nach seiner Riemerlehre für Jahre auf die Wanderschaft zu gehen. Denn als nachgeborener Sohn des Riemermeisters Jakob Schuster mußte er seinen Lebensunterhalt in alleiniger Verantwortung verdienen. Das Elternhaus in Traunstein übernahm sein Bruder Thaddäus Schuster, der uns im Wanderbuch als einer der Arbeitgeber des wandernden Gesellen wiederbegegnet. Die große Reise seines Lebens, die Joachim mit 18 Jahren begann, ist durch Magistrate, Landgerichte und Polizeibehörden dokumentiert. Die bayerischen und österreichischen Beamten schrieben dem Gesellen ihre Bemerkungen anhand der Zeugnisse, die der 7 jeweilige Meister ausgestellt hatte, in sein Wanderbuch. Diese Eintragungen machten die Wanderbücher der Dienstboten und Handwerker zu einer Art Reisepaß, der Auskunft über Herkommen, Arbeitsstellen und persönliches Betragen gab. Hintergrund für die stark reglementierte und überwachte Migration dieser Bevölkerungsgruppen war die Furcht der Obrigkeit vor einem allzu freien Lebenswandel. Die Wanderung wurde als potentielle Bedrohung der bürgerlich-gesellschaftlichen Ordnung empfunden – sie hätte auch der Ausgangspunkt für eine Karriere als Landstreicher oder Vagabund sein können. Im Oktober 1836 beginnt Joachim Schuster seine Wanderung und reist über die Zollstation Saalbrücke nach Salzburg, dann nach Neumarkt im Flachgau am Wallersee, weiter nach Wels und Vöcklabruck. Erst nach drei Jahren kehrt er erstmals wieder über Gmunden nach Hause zurück. Viele der historischen Gürtel, die Riemer wie Joachim Schuster gefertigt haben, sind bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Es handelt sich um handwerkliche Meisterleistungen, die uns die Bedeutung des Sich-Gürtens vor Augen führen. 8 Der Gürtel repräsentiert eine Urform der menschlichen Kleidungskultur mit unverkennbar archetypischen Zügen. Seine ringförmig umschließende Gestalt – die er mit Krone, Ring, Hals- und Armreif gemein hat – ist ein Urbild. Ein archetypisches Symbol löst Grundassoziationen aus, die sich über die Zeiten in verschiedenen Kulturen ähneln und zu Elementarbegriffen verdichten. Der Kreis – und dazu wird der Gürtel in geschlossenem Zustand – ist ein Symbol der Ganzheit oder des Selbst. Wo das Motiv des Kreises auftaucht, ob in Träumen, religiösen Darstellungen oder in der Kleidung, weist es auf einen Aspekt des Lebens hin – die ursprüngliche Einheit. Gleichzeitig ist der Ring eine geschützte Zone. So steht auch Goethes Faust im Kreis, um vor übernatürlichen Mächten gefeit zu sein. Dort kann er ohne Gefahr den Zaubertrank der Hexe trinken, der ihm jugendliche Stärke verleiht. Wir können uns heute kaum noch in solche Vorstellungen hineinversetzen, weil die moderne Rationalität vieles entzaubert hat. Magische Kreise und Zaubergürtel existieren noch in Märchen und Sagen, kaum mehr als lebendige Wirklichkeit. Das Umlegen des Gürtels nur als praktische Handlung zu interpretieren, greift dennoch zu kurz. Die immer gleiche, ritualisierte Geste, die ihn schließt, macht den Gürtel zu dem Ring, worin der Mensch im Mittelpunkt steht. Das Verbinden zweier Enden zum Kreis entspricht der alchemistischen coniunctio oppositorum, der Verbindung des Polaren. Das Bild des Ouroboros, einer sich in den Schwanz beißenden Schlange oder auch eines Drachens, ist hierfür eine grandiose Metapher. Der tiefere Sinn der Alchemie spiegelt sich im Umlegen und Schließen des Gürtels. In einer Welt, die aus gegensätzlichen Prinzipien wie Mann und Frau, Geburt und Tod, Liebe und Haß, Tag und Nacht oder heiß und kalt besteht, ist das Verbinden eine nachgerade göttliche Handlung. Der gegürtete Mensch steht im Mittelpunkt eines Kreises und ist somit – zumindest im übertragenen Sinn – ganz und heil. In der Alchemie fungiert der Kreis, der einen Punkt umschließt, als Piktogramm für das Metall Gold, das in der Tradition der hermetischen Wissenschaft mit der Sonne als göttlichem Prinzip in Zusammenhang gebracht wird. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies ist das Bild der Entzweiung – also des nicht mehr Eins-Seins mit Gott. Der erste Versuch der beiden, sich nach dem großen Krach mit Gott und der Vertreibung aus dem Garten Eden nicht nackt und bloß – also ungeschützt – vorzukommen, bestand der Bibel zufolge im Bedecken ihrer »Blöße« mit Feigenblättern. Ich möchte nicht soweit gehen, zu behaupten, daß die Genesis umgedeutet oder die Modegeschichte vom Anfang der Menschheit an umgeschrieben werden müßte. Aber ich bin überzeugt, daß nach dem Sündenfall und der folgenden Scham über die eigene Nacktheit die Feigenblätter nicht auf Dauer mit den Händen oder gar durch den Heiligen Geist gehalten wurden. Adam und Eva taten vielmehr das, was einige indigene Bevölkerungsgruppen in Südamerika, Afrika und Australien heute noch tun: Sie banden sich – als erste vestimentäre Tat der Menschheit – eine Eingetragen in das Wanderbuch Register sub Nr. ……Folio….. Wanderbuch /: 32 Blätter enthalten:/ Für Schuster Joachim…… von Traunstein königl Landge= richts Traunstein……........im Isar……...Kreise gebürtig ein Riemer……Sohn von Profession ein Riemer…geboren im Jahre 1818 den Sechzehenten August Größe. 5´ 3´´ -,,……................ Gesicht. rund……................. Augen. schwarz…….............. Nase. klein……..................... Mund. breiten……................. Haare. dunklbraun……......... Sonstige Zeichen. Keine…….. Dessen Unterschrift Joachim Schuster Schnur oder ein Band um die Hüften. Daran lassen sich Blätter – gerne auch Feigenblätter – oder Tücher und Fransen befestigen. Diese für unsere Begriffe höchst unzulängliche Tracht steht tatsächlich für eine vollkommene Bekleidung. Der hochzivilisierte Mensch hat den sogenannten Wilden bis ins 20. Jahrhundert hinein oft als nackten Eingeborenen dargestellt und charakterisiert. Viele pseudowissenschaftliche Bildbände kolportieren diese Betrachtungsweise. Sogar die Missionare unterschiedlicher Konfessionen hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich in die modischen Belange der Heiden einzumischen, und ihnen die vermeintliche Nacktheit zu nehmen. In Wirklichkeit waren die mit europäischer Kleidung beschenkten »Wilden« nicht nackt. Sie wären es nur ohne die unauffällige Hüftschnur, die sie trugen, gewesen. In unserem Kulturkreis kennen wir das schützende Eingebundensein beispielhaft in Gestalt des »Fatschenkindes«. Noch bis um 1900 ist das feste Umbinden von Babys, das Einfatschen, üblich: Die Kinder wurden, beginnend unmittelbar nach der Geburt, etwa ein Jahr lang mit einem Stoffband – der Fatsche – umwickelt. Mit diesem Brauch war der Glaube verbunden, daß sich der wachsende Körper nur auf diese Weise gerade und nicht krumm entwickeln würde. Den tieferen, nicht nur symbolischen Grund des Wickelns, das wir bis in die Antike zurückverfolgen können, bildet wohl die Verlängerung des geschützten Zustands im Mutterleib – gewissermaßen ein verzögertes »auf die Welt Kommen«. 10 Der Mensch begreift sich ursprünglich als Teil der beseelten Natur mitsamt ihren numinosen Kräften. Um möglichen Gefahren und Schrecknissen zu begegnen, umgibt er sich mit einem schützenden Ring. Das kann eine Dornenhecke, ein Steinkreis, eine Stadtmauer und im übertragenen Sinn ein Gürtel sein. Die Situation des Umgebenseins kehrt der Mensch später um und zäunt als zweiten Schritt das Unfaßbare ein – und sich selbst damit aus. Gottheiten oder wilde Tiere werden fürderhin in Form von Tempeln und Gehegen eingegrenzt. Sehr anschaulich stellt sich diese Entwicklung in der Mutation vom Jäger und Sammler zum heutigen Zoobesucher dar. Kulturgeschichtlich gehören Gürtel zur erstgenannten Bewußtseinsstufe, die wir über die Jahrtausende bis heute in uns weitergetragen haben. Über einen so langen Zeitraum entstanden unzählige Varianten von Gürteln, die sich in Material, Form, Verzierung und Anspruch zum Teil erheblich unterscheiden. Von der einfachen Hüftschnur reicht das Spektrum über mehrgängige Perlengürtel aus Afrika und prachtvolle Silberarbeiten aus dem Kaukasus bis zum Nietengürtel der Punkmode. In Japan gibt es sogar eigene Lehrbücher für das korrekte Binden der komplizierten Obi-Schleifen zum Kimono. A uch in Bayern, Österreich und Südtirol hat sich eine einzigartige Gürtelkultur entwickelt. Das Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern hütet einen Gürtelschatz, der in seiner Qualität und Vielfalt einmalig ist. Das vorliegende Buch dokumentiert einen Teil dieser Sammlung – angereichert mit ausgewählten Leihgaben aus privatem und öffentlichem Besitz. Der Bestand des Trachten-Informationszentrums stammt fast zur Gänze aus der Sammlung von Dr. Ewald Martin, dem Autor des Grundlagenwerks »Mannsgurten«. Die Frauen- und Männergürtel unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht: Männergürtel bestehen immer aus Leder – das vom Rind, Hund, Pferd oder der Ziege stammen kann – und einer Metallschließe. Frauengürtel können auch ganz aus Metall gefertigt sein. Bis auf wenige Ausnahmen, die wie die Männergürtel eng anliegen, werden Frauengürtel schräg zur Seite oder nach vorne hängend getragen. Männergürtel dienen bis ins frühe 17. Jahrhundert primär zum Mitführen bzw. Tragen von Beuteln, Messern oder Dolchen. Diese Funktion tritt danach immer mehr in den Hintergrund, und um 1750 sind Männergürtel modisch bloß noch von marginaler Bedeutung. Nur im Militärwesen und in Form des Kavalierdegens spielt die Waffe, die am Gürtel hängt, weiterhin eine wichtige Rolle und lebt in der Dienstpistole am Gürtel in unserer Zeit weiter. Die Frauen tradieren dagegen ohne zeitlichen Bruch eine Sitte, die weit hinter das Mittelalter zurückreicht. Diese zeigt sich besonders augenfällig im Tragen von Schlüsseln, Feuerschlägern, Messern und anderen Accessoires am meist reich verzierten Gürtel. Frauengürtel sind weit stärker Traditionen und Überlieferungen verpflichtet als die Männergürtel, die im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur ihre überlieferte Funktion einbüßen, sondern zeitweise fast gar keine Rolle mehr spielen. Absolut rätselhaft ist vor diesem Hintergrund die Tatsache, daß der Gürtel um 1750 wie aus dem Nichts in der bäuerlichbürgerlichen Männerkleidung wieder erscheint, ohne auf Vorbilder aus der Mode des Adels oder der bürgerlichen Oberschicht zurückzugreifen. Im Regelfall steht das bäuerliche und bürgerliche Gewand in einer klaren Beziehung zur Gewandung der Oberschicht. Meist deutlich vereinfacht und zeitlich verzögert werden modische Elemente als abgesunkenes Kulturgut übernommen und entsprechend verändert. Das gilt sowohl für die allgemeine Mode als auch für die Trachtenkleidung. Die »Mannsgurten« bilden, ohne daß wir dafür über eine zufriedenstellende historische Erklärung verfügten, eine Ausnahme von der Regel. Um so mehr erstaunt die handwerklich brillante Ausführung der Artefakte und eine regionaltypische Gestaltung, die Trachtencharakter besitzt. T racht ist ein eigenständiger Komplex in der allgemeinen Mode und lebt von der Vorstellung, daß Kleidung und Accessoires unter anderem mit Tradition, Identität und Regionalität verbunden sind. Viele Jahrhunderte lang bedeutet Tracht primär das Getragene allgemein – die Bekleidung. Darüber hinaus verweist der Begriff auf den Kleidungskodex einer bestimmten sozialen Gruppe. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Tracht – quer durch alle gesellschaftlichen Schichten – auch ein Kennzeichen der jeweiligen Standeszugehörigkeit. Ob Patrizierin, Pfarrer, Magd oder Bauer, jeder trägt eine Kleidung, die seine Stellung innerhalb der Gesellschaft dokumentiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfährt der Begriff Tracht einen Bedeutungswandel. Er wird neben der regionalen Zuordnung zunehmend auf das bäuerliche Bekleidungsverhalten eingegrenzt. Dabei schwingt gleichzeitig eine Kategorisierung der Gesellschaft in oberschichtliche Elitenkultur und Volkskultur mit. Diese Einteilung verschleiert die Tatsache, daß sich zu jeder Zeit unterschiedliche Eigenkulturen innerhalb der Stände, Klassen oder Schichten herausgebildet haben. Das trifft auch auf das Landleben des späten 18. und des 19. Jahrhunderts zu und führt zu einem Spektrum divergierender, wenngleich oft sehr vager Vorstellungen darüber, was Tracht ist. Der Begriff löst eine Reihe von Assoziationen aus, die unser Bild des in Tracht gekleideten Menschen prägen. Einige der gängigen Klischees zielen auf ganz bestimmte Kleidungsstücke wie die Lederhose, das Dirndl oder eben den Gürtel. Die zu Weltruhm gelangten Sängergruppen aus dem Zillertal im 19. Jahrhundert sind so wenig ohne Ranzen vorstellbar wie der ausstaffierte Salontiroler in Wien oder Berlin. Die Flößer aus dem Isarwinkel präsentieren sich um 1900 ungeniert in den Joppen und Ranzen ihrer Großväter. So befördern sie die Vorstellung einer eigenständigen historischen Flößertracht, zu der auch der Geldgürtel gehört. In Wirklichkeit tragen sie eine bäuerliche Mode aus der Zeit um 1850. Ebenfalls um die Jahrhundertwende lassen sich Brauchtumsgruppen in wild 12 zusammengewürfelten Trachten ablichten. So werden zum Beispiel geschichtliche Ereignisse wie Bauernaufstände samt den vermeintlich zugehörigen Waffen theatralisch nachgestellt. Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, vermengt sich dabei Klischeehaftes mit authentischer Tradition. Ein zinngenagelter Gürtel mit Doppeladlermotiv aus der Zeit um 1760 wird bedenkenlos mit Gehrock und Weste der Zeit um 1860 kombiniert. Nicht einmal daran, daß der Doppeladler auf dem Kopf steht, schien sich jemand zu stören. Auf einem allegorischen Gemälde um 1870 gehen ein bäuerliches Kostüm und der bürgerliche Frauengürtel des 18. Jahrhunderts stillvergnügt eine Verbindung mit Versatzstücken anderer Epochen ein. Liaisons solcher Art befriedigen zwar – sonst fänden sie keine Resonanz – vorhandene Sehnsüchte und Bedürfnisse; kostümgeschichtlich stimmig sind sie nicht. Den Nährboden für diese »modischen Stilblüten« bildet der Historismus des 19. Jahrhunderts – eine Haltung, die in historischen Anleihen das eigene Selbstverständnis sucht. Nicht nur in der Bekleidung, auch in der Architektur und anhand vieler Kunstobjekte läßt sich dieses Phänomen beobachten; in unserer eigenen Zeit haben wir unter dem Namen Postmoderne einen vergleichbar eklektischen Umgang mit historischen Formen und Stilen kennengelernt. In beiden Fällen wird der »schöne Schein« zum Surrogat dessen, wonach die Menschen eigentlich, wenngleich vergeblich suchen: gelebte Tradition und Authentizität. Wenn wir über die Naivität dieses Strebens lächeln, vergessen wir gerne, wie sehr unsere Bemühungen in der Heimat-, Trachten-, oder Volksmusikpflege weiterhin dem Ideal des vermeintlich Echten verpflichtet bleiben. Wir sind Kinder unserer Zeit und tun uns oft schwer, die eigene Geschichte ohne romantisch beseelte Rückgriffe zu betrachten. Schon deshalb lohnt sich ein genauerer Blick auf die historischen Tatsachen, um nicht nur die Vergangenheit, sondern auch unsere eigene Gegenwart ausbalancierter und weniger vorurteilsbehaftet wahrzunehmen. D ie Gürtel in diesem Buch sind Relikte früherer Epochen. Sie wurden von Menschen hergestellt und getragen, die sich und ihre Umwelt unter Umständen gänzlich anders verstanden, als wir das heute tun. Wir sind weder in der bäuerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts aufgewachsen, noch haben wir einen bürgerlichen Riemer und Pfauenfederarbeiter wie Joachim Schuster auf seinen Reisen begleitet. Deswegen können viele Schlußfolgerungen, die wir vor dem Hintergrund unseres heutigen Erfahrungshorizonts ziehen, nur spekulativ sein. Die Quellenlage zum Umfeld der bürgerlichen und bäuerlichen Menschen ist dürftig. Das Leben und der Besitz des Adels wie der reichen Bürgerschaft sind wesentlich besser dokumentiert. So wissen wir, daß der Schmuckgürtel in der hochschichtlichen Mode des 18. Jahrhunderts höchstens noch eine marginale Rolle gespielt hat. Einen derartigen Bedeutungsverlust hat der Gürtel in der bürgerlichen und bäuerlichen Frauenmode nicht erlitten. Um 1750 beobachten wir freilich in der Welt der Bürger, Handwerker und Bauern – ohne daß wir eine zufriedenstellende historische Erklärung dafür hätten – auch bei den Männern ein verstärktes Bedürfnis, sich auffällig zu gürten: Neben den bereits für die Zeit davor beinahe durchgängig nachgewiesenen Frauengürteln sind ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in wachsender Zahl auch Schmuckgürtel für Männer überliefert. Viele dieser frühen Originalstücke sind datiert und erleichtern so die zeitliche Einordnung. Auch eine Aufteilung in Gruppen und die regionale Zuordnung ist anhand der großen Zahl an erhaltenen Gürteln und Querverweisen möglich. Riemer- und Sattlerwerkstätten, denen bestimmte Gürteltypen sicher zugeordnet werden können, sind sporadisch durch schriftliche Belege auszumachen. Das können aufgeleimte Firmenschildchen oder handschriftliche Vermerke sein. Durch diese frühe Form der Firmenwerbung ist uns zum Beispiel der Name Joseph Lughofer aus Saalfelden im Pinzgau bekannt, der auf obengenannte Weise um 1850 seine handwerkliche Existenz als Riemermeister auf der Rückseite eines Ranzenblatts dokumentierte. Seine Verwandtschaft kannte den Wert einer nachhaltigen Reklame ebenfalls und stickte um 1830/40 immer wieder Botschaften wie »Gemacht Mittersill« und »Verfertigt in Saalfelden« groß und breit auf die Schauseite ihrer Fatschen. Denselben Gürteltypus dekorierten die Lueghofers auch mit so phantasievoll abgewandelten Sprüchen wie »Gutten Morgen« oder »Guten Morgen« – der Reiz 13 welcher angewiesen wird, die= ses Wanderbuch jeder Orts= Obrigkeit zur Visirung vor= zulegen, und darin die Zeug= nisse über Arbeit und Aufführ= ung eintragen zu lassen, dann nachstehende Bestimmungen genauest befolgen den Achtzehenten Oktober Eintausend acht hundert Dreysig Sechs Königlich baÿerische Landgericht Traunstein Hacker Auszug aus den allerhöchsten Ver= ordnungen vom 11ten Oktober 1807. 16ten März 1808. und 2ten Juli 1812, dann dem königl. baÿer. Strafgesetz= Buche. 1.) Der wandernde Inländer darf ohne Bewilligung der vorgesetzten k. Kreisregierung die baÿer. Staadten nicht verlas= sen, eben so wenig über die ihm be= willigte Wanderungszeit ausblei= ben, und wenn ihm auch in das Ausland zu wandern erlaubt wird, in keine andere als in die ausdrücklich benannten Staaten zu wandern. liegt hier hauptsächlich in der wechselnden Orthografie bzw. Orthographie oder Ortografie; auch in dieser Hinsicht stehen wir unseren Vorfahren womöglich näher als uns lieb ist. Im Unterschied zur Familie Lughofer oder Lueghofer kann Joachim Schuster bis jetzt kein einziger Gürtel zweifelsfrei zugeordnet werden. Dafür gibt das Wanderbuch Aufschluß über die Stationen seines Wirkens als Riemer und Pfauenfederarbeiter. Anhand der Eintragungen lassen sich die Wanderbewegungen des Gesellen präzise auf der Landkarte nachvollziehen. Er arbeitete an Orten in Österreich wie Wels und Gmunden genauso wie in München, Miesbach, Tölz in Oberbayern. Immer wieder stand er bei Sattler- und Riemermeistern im niederbayerischen Rottal und dem Gäuboden ein. Joachim Schuster hat, je nach Auftragslage und nach der Finanzkraft seiner Kunden, sicher die unterschiedlichsten Arbeiten ausgeführt. Kurzfristige Aufenthalte und mehrjährige Stellungen wechseln sich auf den Reisen durch Bayern und Österreich ab, und es fällt auf, daß er nie ins benachbarte Tirol gewandert ist. Das liegt möglicherweise am regional unterschiedlichen Stil der Stickerei oder am Konkurrenzdruck durch andere Riemer, die zu seiner Zeit einen zahlreich vertretenen Berufsstand darstellten. Immer wieder kehrt Joachim in seine Heimat Traunstein zurück und arbeitet für seinen Bruder, den Sattlermeister Thaddäus Schuster, der die elterliche Werkstatt übernommen hat. Wie Joachim Schuster seine Arbeitsplätze, wechseln auch die Gürtel im Laufe der Zeit ihr Zuhause meist mehrmals, bis sie über den Handel in Sammlungen kommen. Nur sehr wenige Stücke blieben über Generationen in Privatbesitz. Das hat zwei Gründe: Zum einen wurden die prächtigen Schmuckgürtel als Teil der sogenannten Volkskunst bereits um 1900 Sammlungen einverleibt. Zum anderen wurden und werden Erbstücke, die in den Augen der Erben keinen ökonomischen oder gefühlsmäßigen Wert darstellen, bereitwillig veräußert. Der Besitz als solcher steht in vielen Kollektionen im Vordergrund, und von einer gründlichen Dokumentation des Artefakts wird eher abgesehen. Die historischen Originale erscheinen als reines Objekt ohne Geschichte. Bei privaten Sammlern wie bei Museen entwickelte sich erst spät das Bewußtsein, daß das Hintergrundwissen mit zum Gegenstand gehört. So stellt sich heute unter anderem die Frage nach der Verbreitung und den ehemaligen Eigentümern der Gürtel. In Aufzeichnungen mit volkskundlichem Hintergrund, wie der großartig aufschlußreichen »Bavaria« von Joseph Friedrich Lentner aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wird viele Dutzend Male von Gürteln berichtet. Neben Landschaft, Eßgewohnheiten, Bräuchen und Festen der Menschen sind ihre Trachten beschrieben. Überliefert ist in erster Linie die Tatsache, daß Frauen- und Männergürtel weit verbreitet waren, nicht wie diese genau aussahen. Wir müssen uns also mit Sätzen wie den folgenden zufriedengeben: »Senne und Hirtenbube tragen zum Hemde die lederne Kurzhose, Boanhösln und Bundschuhe, dazu eine lederne oder grüne Hosenkraxe und manchmal die Lederbinde.« (Lentner, Joseph Friedrich, Bavaria: Das Alpenwesen im bayerischen Hochgebirge) »Die älteste Männerkleidung dieser Gegend bestund in kurzen Hosen vom Loden oder Zwilch, in langen Röcken, des Winters von Loden; für die Feiertage im Sommer von schwarzer Zwilch oder weißem Barchent mit Haften besetzt; gelbe oder schwarze Lederhosen gehörten zur großen Festtracht, ebenso ein rothes Leibl grüne Halftern und mit Zinnstiften beschlagene oder mit Pfaufedern oder mit gefärbtem Pergament abgenähte Lederbinden waren allgemein üblich.« (Lentner, Joseph Friedrich, Bavaria: Oberbayern. V. Hauptgruppe. Mittleres Land zwischen Isar und Salzach) »Die schwarze Lederhose reicht unter’s Knie. Sie wurde ehedem von einer schwarzen silberbordierten Halse festgehalten und um die Lente gürtete der Mann eine mäßig breite abgenähte Lederbinde« (Lentner, Joseph Friedrich, Bavaria: Oberbayern. I. Hauptgruppe. Das Land zwischen Lech und Isar) »Bräute erscheinen noch in dunkler Kleidung; doch ist der früher auf Samt genähte Brautgürtel außer Übung gekommen« (Lentner, Joseph Friedrich, Bavaria: Oberbayern. IV. Hauptgruppe. Salzburger Land) »In älterer Zeit erschien die Braut ganz in der selben Kleidung, nur zierte sie der silberne feingegliederte Brautgürtel, und die hohe Krone aus Flitter, Glassteinen und Golddraht auf dem zurückgestrichenen Haare, dessen Flechten mit rothen Bändern durchwunden über den Rücken hinabfielen.« (Lentner, Joseph 15 Friedrich, Bavaria: Oberbayern. I. Hauptgruppe. Das Land zwischen Lech und Isar) »Die Braut muß bei der ganzen Ceremonie sehr ernsthaft sein. Sie ist schwarz gekleidet, mit dem silbernen Brautgürtel um die Hüften und trägt im Haar ein Kranl oder einen Kranz aus Rosmarin und künstlichen Blumen, daran eine blaue Masche mit einer Silbernadel festgesteckt.« (Lentner, Joseph Friedrich, Bavaria: Oberbayern. III. Hauptgruppe. Zwischen Inn und Salzach) Neben Texten besitzen wir Bildquellen wie Votivtafeln, Trachtengraphiken, Portraits und Photographien, die in ihrer Aussagekraft sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Votivtafeln vermitteln durch die stereotypen Abbildungen der Votanten meist nur den Gesamteindruck einer gerade vorherrschenden bäuerlichen Mode. Dagegen bemüht sich der Portraitist in der Regel darum, ein möglichst treffendes Konterfei des meist bürgerlichen Auftraggebers zu schaffen. In der Graphik wiederum finden sich wirklichkeitsgetreue Bilder von ländlichen Personen ebenso wie vollkommen realitätsferne Darstellungen. Drucke, die aus ethnologischem Interesse gefertigt wurden, unterscheiden sich erheblich von Blättern, die den großen Markt klischeehafter Trachtenbilder bedienten und einer bürgerlichen Romantisierung des Landlebens entsprachen. Die Photographie ist die jüngste Bildquelle. Erst um 1860 erobert sie den ländlichen Raum und hinterläßt uns wichtige Zeugnisse der Kleidungskultur unserer Vorfahren. Allerdings kennt auch das frühe 16 Lichtbild die vorgetäuschte Wirklichkeit in Form bewußt gestellter Situationen und Inszenierungen. Ob Abbildungen in erster Linie die Aufgabe haben, die Wirklichkeit für die Nachwelt festzuhalten, ist ohnehin nicht sicher. U m die Originalstücke, Texte und Bildquellen zu interpretieren, muß der innere Antrieb des Kleidungsverhaltens verstanden werden. Gewand und Accessoires sind eine subtile Ergänzung der menschlichen Sprache. Sie vermitteln Botschaften, um den Status, die Gruppenzugehörigkeit und die Persönlichkeit ihrer Träger zu bezeichnen. Daneben inszeniert sich der Mensch durch sein Gewand selbst und versucht damit, einem Idealbild von sich näherzukommen bzw. ein solches Idealbild zu vermitteln. Die »Botschaft« der Schmuckgürtel erschließt sich vor allem über ihre Motive. Zeichen, Symbole und Ornamente erlauben Rückschlüsse auf die gegürteten Menschen und ihre Zeit. Vieles davon bleibt freilich bloße Vermutung oder Hypothese; nur wenig darf als gesichertes Wissen gelten. Betrachten wir beispielsweise das Wappen des Salzburger Fürstbischofs Graf Schrattenbach, das zweifach auf einem Männergürtel um 1760 neben Doppeladler und Löwen in das Leder geprägt ist. Über Siegmund Graf Schrattenbach und seine Lebensumstände wissen wir einiges, sein Wappen kennen wir auch aus anderen historischen Zusammenhängen, und daran, daß es im Verein mit den heraldischen Tieren den fürstbischöflichen Machtanspruch in der absolutistischen Welt des 18. Jahrhunderts symbolisiert, besteht kaum ein Zweifel. Für ein tieferes Verständnis des Gürtels müßten wir allerdings auch wissen, wer ihn zu welchem Zweck getragen hat. Gerade in dieser Hinsicht tappen wir leider im Dunkeln. Es kann ein Verwaltungsbeamter der fürstlichen Saline ebenso gewesen sein wie ein bischöflicher Jäger oder ein Angehöriger des Salzburger Militärwesens. Auf Männergürteln aus der Zeit zwischen 1750 und 1800 finden sich weitere Abbildungen, die noch mehr Rätsel aufgeben. Hauptsächlich treten bis etwa 1770/80 Doppeladler, Steinböcke und Hirsche neben Löwen und Blumen zusammen mit religiösen Zeichen wie INRI oder den Namen Marias und Josephs auf. Als Einzelbeleg erscheinen sogar Sonne, Mond und Sterne zwischen zwei Löwen, die mit den Himmelszeichen zu spielen scheinen. Soweit es sich nicht um rein kirchliche Symbole, Jahreszahlen oder Monogramme handelt, haben alle diese Motive ihre Entsprechung in der hermetischen Wissenschaft, insbesondere der Alchemie. Die Sonne bedeutet das Gold, der Mond das Silber. Der gekrönte Doppeladler als Zeichen universaler Herrschaft mit Christussymbolik steht wie die verschlingenden Löwen oder der Steinbock als Tier mit astrologischem Charakter in einem komplizierten alchemistischen Bezugssystem. Für eine zufriedenstellende Deutung oder Erklärung der Motive auf den Gürteln ist aber selbst eine genaue Kenntnis dieses Bezugssystems nur von beschränktem Nutzen. Fast alle Symbole sind polyvalent und entfalten in mehreren, sich überlagernden Sinnzusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen. Die Rose etwa ist im Christentum ein Sinnbild für das Paradies, die dornenlose Rose für Maria, die Gottesmutter. In der Alchemie galt sie als Blume der Weisheit und des klaren Geistes. Der Doppeladler gelangte erst durch orientalische Vorlagen im 11. Jahrhundert nach Europa. Wenn wir ihn heute eng mit dem Hause Habsburg und Österreich verbinden, vergessen wir seine lange Geschichte, die weit in die Zeit vor Christi Geburt zurückreicht. Die Armenier kennen den Doppeladler als dynastisches Zeichen immerhin schon seit dem 4. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund dieser reichhaltigen Tradition wäre es dem Verständnis wenig dienlich, den Doppeladler ausschließlich als nationales Emblem der Donaumonarchie anzusehen. Er ist ein archetypisches Symbol, Stellvertreter für ein Dualsystem, gleichzeitig Darsteller und Versöhnender der Gegensätze. Auf den Gürteln ist der Doppeladler auch nicht mit dem Wappen des Heiligen Römischen Reichs dargestellt, sondern mit einem Herz. Auf die naheliegende Frage: welche Bedeutungen wurden von wem in welcher Zeit aufgrund welcher Vorbilder den verschiedenen Symbolen zugemessen? – gibt es angesichts dieser Gemengelage keine überzeugende Antwort. Zu sehr haben sich verschiedene vorbildhafte Ebenen bastardisiert. D ie gleichzeitige Verwendung antiker, alchemistischer und christlicher Symbole verwundert zunächst. Eine hypothetische Erklärung dieses Phänomens ergibt sich aus den Vorlagen, die von den 17 Handwerkern des 18. Jahrhunderts benutzt wurden. Den künstlerisch begabten Riemern standen Einblattdrucke und in seltenen Fällen illustrierte Bücher zur Verfügung. Dem Zeitgeschmack entsprechend kursierten in dieser Bilderwelt auch viele Zeichen aus der Alchemie und wurden kopiert. Gleichzeitig lebten Reste des Bildungsmonopols der Kirche im 18. Jahrhundert fort. Fromme Sprüche und teils gänzlich zusammenhangslose Buchstaben erweckten in einer nicht vollständig alphabetisierten Welt überdies den Eindruck, man könne lesen und schreiben. Selbst wenn sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen sind, war den religiösen und alchemistischen Zeichen wohl eine Art Restmagie zu eigen. Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, als die moderne Chemie im nüchternen Geist eines Lavoisier und seiner Nachfolger die Alchemie ablöst, verändert sich zugleich die geheimnisvolle Bilderwelt auf den Gürteln. Viele Symbole werden weiterhin benutzt, aber in spürbar anderer Art und Weise. Sie wirken beliebiger und in zunehmendem Maß als dekorative Versatzstücke. Befremdlich erscheint das alles nur auf den ersten Blick. Wir kennen ähnliche Phänomene auch aus unserer Zeit. In ein und demselben Haus geben sich das Kruzifix an der Wand, die maskottchenhafte Buddhastatue auf dem Fensterbrett und der pseudoindianische Traumfänger über dem Bett ein synkretistisches Stelldichein. Und ausgerechnet »auf der Gürtellinie« kommt es sogar dann zu einer Verschmelzung von 18 Zeichen aus unterschiedlichen Kulturen, wenn der Gürtel selbst durch Abwesenheit glänzt: Die umgangssprachlich als Arschgeweih bezeichnete und ursprünglich meist ornamental gestaltete Tätowierung oberhalb des Steißbeins, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Mode kam, wird im neuen Jahrtausend ohne tiefere Sinnfrage mit chinesischen Schriftzeichen und sich windenden Drachen kombiniert. Neben ihrer modischen oder schmückenden Funktion entfalten derlei Zeichen und Symbole einen latenten Schutzzauber. Das gilt selbst in einem so prestigeträchtigen Bereich wie dem der Automarken – beispielsweise für den Mercedesstern, die Emmy des Rolls Royce, den Jaguar auf der Haube der gleichnamigen Nobelkarosse oder den Dreizack im Kühlergrill des Maseratis. Inwieweit ein kleines grünes Krokodil am Poloshirt noch magische Kräfte ausstrahlt, sei dahingestellt. Bis in die Zeit um 1800 ist die Tierwelt auf den Riemen noch überschaubar – dafür begegnet uns auf den Männergürteln des 19. Jahrhunderts ein wahres Bestiarium: Löwe, Adler, Taube (Heiliger Geist) und andere Vögel, Hirsch und Hindin, Steinbock und Gams, Roß, Hund, Fuchs und Hase, Osterlamm, Stier und Ochs, um nur einige zu nennen. Die aufrecht stehenden Löwen fungieren jetzt eher als heraldische Begleitung des bayerischen Wappens, während springende Hirsche unbändige männliche Kraft und Dynamik zeigen. Löwe und Hirsch gemeinsam ist das oft in roter Farbe deutlich abgesetzte Geschlechtsteil. Ob es sich dabei um reine Konvention oder eindeutig zur Schau getragene maskuline Potenz handelt – oder womöglich beides –, bleibt damals wie heute dem Urteil der Betrachter überlassen. Weiter ins Ungewisse führt uns der Versuch einer Deutung der Spiralen, Granatäpfel, Tulpen und Lebensbäume, die auf Gürteln dargestellt sind. Allzu bedeutungsschwere Interpretationen erscheinen nicht angebracht, und so mancher vermeintliche Lebensbaum erweist sich bei näherem Hinsehen als stilisierte barocke Blumenvase von überwiegend dekorativem Charakter. Der Granatapfel und die Tulpe deuten auf einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang hin. Seit dem Mittelalter hat der Orient unseren Lebensraum stilistisch mit diesen und anderen Symbolen geprägt. Symbole sind – vor allem nach der Wanderung von einer Kultur in die andere – polyvalent. Es ist deshalb schwierig, ihre jeweils zutreffende Bedeutung zu erkennen. Der samengefüllte Granatapfel steht für die göttliche Liebe und Barmherzigkeit ebenso wie für die menschliche Zuneigung und Fruchtbarkeit. Die Tulpe begegnet uns dichterisch überhöht als Tulipan in barocken Sonetten, und ihre Zwiebeln waren einst von allerhöchstem Wert. Ob dies hingegen einem Rottaler Bauern in Niederbayern um 1800 ebenfalls bekannt war, ist die Frage. Auf seiner Prachtfatsche sah der gemeine Landmann jedenfalls lieber exotische Symbole als einen Krautkopf oder gar ein profanes Hausschwein. Im Gegensatz zur Sau, die nur einmal auf dem Ranzen eines Viehhändlers erscheint, sind Rösser – auch in Kombination mit Wägen – schon auf frühesten Gürteln häufig vertreten. Sie stehen vor allem für einen stolzen, reichen Bauernstand und können als berufsspezifische Abbildung gelten. Neben den vermögenden Bauern zeigen um 1760/70 vor allem Schmiede, Müller, Metzger und Schiffmeister ihren Berufsstand auf den Gurten. Bei der Suche nach geeigneten Darstellungsweisen entstanden Bilder mit hohem Wiedererkennungswert, die noch nach Jahrhunderten verständlich sind. Diese Signets sind graphische Meisterleistungen, die nur mit Zeichen und ohne erklärende Worte alles sagen, was zu sagen ist. Dabei wird zum Beispiel das unmittelbare Handwerkszeug eines Metzgers wie Messer und Hacke mit dem vieldeutigen Stierkopf verbunden. Anker, Ruderblatt und Haken kennzeichnen den Schiffmeister, und das Mühlrad mit der Haue den Müller. Während Rechen, Sense und Schaufel auf den Bauern hinweisen, bilden zwei gekreuzte Sensenblätter das schlichte Markenzeichen für einen Hammerherrn. Um 1830 kommen die Zeichen weiterer Berufsstände wie Brauer, Zimmerer und Schreiner mit ihren berufstypischen Werkzeugen hinzu. Äußerst selten – und nur auf einen kurzen Zeitraum um 1810 beschränkt – sind Gürtel, auf denen, wiederum berufsspezifisch, bewegte Szenen phantasievoll illustriert werden. Den Raum zwischen den bedeutungstragenden Symbolen, Signets, Jahreszahlen und Monogrammen füllen ornamentale Elemente aus. Die sich wiederholenden Muster haben hauptsächlich dekorative Funktion. Dabei akzentuieren, gliedern und rahmen sie die Darstellungen, 19 die in den Vordergrund treten sollen. In der Fläche wird das vor allem mit floralem Dekor erreicht. Im Randbereich dominieren Zierbänder in Form von Sternchen, Wellenlinie, laufendem Hund und geometrischen Mustern. Die ursprüngliche Aufgabe der Verzierungen verändert sich im 19. Jahrhundert, und die Ausschmückung tritt zunehmend in den Vordergrund. Das geht so weit, daß sprossendes und sich windendes Ranken- und Blütenwerk den ganzen Gürtel bedeckt und beherrscht. Dem Schließmechanismus wird unterschiedlich starke Beachtung zugemessen. Jedoch sind allen Gürteln eine oder mehrere Schnallen aus Zinn, Messing oder Silber gemeinsam. Sie bilden ein wesentliches Gestaltungselement vieler Gürtel und akzentuieren deren Anfang und Ende. Einige Gürtel ergeben erst in geschlossenem Zustand ein stimmiges Bild oder eine sinnvolle Jahreszahl. Andere besitzen eine prägende Mitte zwischen zwei gespiegelten Mustern, und manche lesen sich linear ähnlich einer Bildergeschichte. Je nach Ausführung der Gürtel werden die Schließen vorne, hinten oder seitlich versetzt getragen. Trotz der Kunstfertigkeit, mit der viele Schnallen gegossen, getrieben, graviert und punziert sind, bleiben sie im Gesamteindruck dem eigentlichen Gürtel in der Regel untergeordnet. Eine Ausnahme bilden bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schmucklose Lederriemen, deren auffälligster Bestandteil gerade nicht der Gürtel sondern die Schließe ist. Die Koppelschließen sind als Kastenschloß in Prägeform oder als 20 einfache Metallplatte wesentlicher Bestandteil vieler Uniformen und entstammen wohl auch der militärischen Mode. Über ihre emblematische Wirkung hinaus sind die Koppeln mit Schloß eine Art Schutzring, den der Soldat zur Stärkung seines Mutes dringend braucht. Das Schließen des Koppels begleitet ein metallisches Klicken. Hier drängt sich die Assoziation zum Sicherheitsgurt des Automobils auf: Er schließt ebenfalls hörbar und war in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als Bauchgurt ohne Schulterstück ebenso symbolisch – und im Hinblick auf seinen Schutzzweck wirkungslos – wie das Lederkoppel mit Schloß. Abgesehen vom Militär avancieren auffällige Gürtelschließen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Accessoire beim angestellten Jagd- und Forstpersonal. Ein beliebtes Motiv sind dementsprechend Darstellungen von Wildtieren und jagdlichen Szenen. Die finden sich außerdem – wie sollte es anders sein – auf Schließen mancher schneidiger Wildschützen im Alpenraum wieder. Diese Art feindlicher Übernahme von Emblemen der Berufsjägerschaft durch die Wilderer hat weitere Entsprechungen. Dazu gehören die Spielhahnfedern auf dem Hut, der grüne Kragen an der grauen Joppe und das Photo des Wildbratschützen mit seiner Büchse in der Hand. Im Unterschied dazu verwenden Bergleute zur festlichen Kleidung das Koppelschloß ganz legal, und seit dem späten 19. Jahrhundert tun dies auch zünftige Handwerker wie Zimmerer, Metzger oder Kaminkehrer. Darüber hinaus gebrauchen Pfadfinder, Cowboys, Freimaurer und Bundeswehrsoldaten die Koppelschließe bis heute – nicht zu vergessen die Pioniere der alpinen Gebirgsschützenkompanien. Da bei den Koppeln das prägende Element die Schließen sind, zeigen sie folgerichtig auch die Geschichten, Symbole, Wappen und Initialen, die wir sonst auf den Riemen finden. Sie sind mit gegossenen Reliefs garniert oder durch eingravierte Bilder und Ornamente verziert. Als Material dienen – neben Eisen für Nieten und Dorne – Messing, Silber und Zinn in unterschiedlichen Legierungen. So prominent ist die Schließe an den bäuerlichen und bürgerlichen Riemen des 18. Jahrhunderts sonst nicht. Unterschiedliche Verzierungen betonen hier die eigentliche Hauptsache – den Gürtel. In der Mitte des 18. Jahrhunderts kommt im Alpenraum ein meist Fatsche oder Binde genannter Gurt in Mode. Seine Form ist ein gleichmäßig breites Band mit Schnalle und Zunge. Der Schmuck dieser Binden besteht hauptsächlich aus einzelnen Zinn-Nieten, die teilweise mit farbigem Pergament und textilem Gewebe unterlegt sind. Die Verzierung von Leder mit Metallnieten ist um 1750 nicht grundsätzlich neu. Neu ist die Qualität der handwerklichen Ausführung – und das Phänomen des Schmuckgürtels in der bürgerlichen und bäuerlichen Gesellschaft dieser Zeit überhaupt. Eine vergleichbare Technik, die Einzelnieten aus Zinn in ornamentalen Mustern einsetzt, kennen wir nur von Gürteln und Patronentaschen aus Dalmatien und Bosnien-Herzegowina. Ob sich diese Traditionslinien räumlich und zeitlich gemeinsam oder unabhängig voneinander entwickelt haben, ist unklar. Für Verzierungen ist Zinn, da es sich leicht bearbeiten läßt und bei niedriger Temperatur gegossen werden kann, geradezu prädestiniert. Dank seiner Farbe, die dem Silber nahekommt, war es um 1750 – ähnlich wie das goldglänzende Messing – ein Ersatz für die unerschwinglichen Edelmetalle. Auch Fatschen mit Eisenstiften, die Messingoder Eisenscheiben auf dem mit geometrischen Mustern geprägten Leder halten, sind überliefert. Um die kleinen Stifte aus Zinn und Eisen zu befestigen, wird das Leder im gewünschten Muster für jede Niete mit dem Pfriem vorgestochen. Die Zinn-Nägel bestehen aus einem feinen Stift mit Kopf. Während der Kopf auf dem Leder sichtbar bleibt, wird der dünne Stift auf der Rückseite des Leders umgedrückt und der Nagel fixiert. Die Eisenniete besitzt dagegen keinen Kopf, sondern wird oben und unten verstiftet und hält so die Messing- und Eisenscheiben auf dem Leder fest. Aus dem einzelnen Zinn-Nagel entwickelt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein gerades Band aus Zinn, das mehrere nebeneinanderliegende Einzelnieten vortäuscht, und auf dessen Unterseite sich ebensoviele Stifte wie Nagelköpfe befinden. Dies bedeutet eine wesentliche Arbeitserleichterung für die Riemer, da die Löcher für die Stifte rationeller gestochen und folglich die Nieten schneller gesetzt werden können. Das Leder wird nicht mehr einzeln vorgestochen, sondern 21 mit dreieckigen Nadelstempeln perforiert, die aneinandergesetzt ein fortlaufendes Band ergeben. Anders als mit Einzelnieten, die sich unschwer auch zu gerundeten Linien anordnen lassen, ist mit den starren Nietenbändern ein frei wählbares Motiv nur eingeschränkt möglich. Dafür kann auf dem Leder leichter eine fast geschlossene Oberfläche aus Zinn geschaffen werden. Gleichzeitig zu den genagelten Binden werden vor 1800 auch kunstvoll bestickte und geprägte Gürtel getragen. Daneben finden sich Mischtechniken, die die verschiedenen Verzierungsarten auf einfallsreiche und bisweilen aufwendige Weise miteinander kombinieren. Auf manchen Gurten blitzen sogar – Edelsteinen gleich – gefaßte Glassteine und bunte Stanniolfolien in der silberfarbenen Oberfläche auf. Die schlichte Innenseite der Riemen ist mit einem Futterleder versehen, das flächig verleimt und an den Kanten aufgenäht ist. Bei einzelnen Stücken ist das Futterleder nur am oberen und unteren Rand mit einer Naht befestigt und bleibt zur Schließe hin offen. Auf diese Weise können zwischen Oberleder und Futter Geld oder Papiere geschoben werden. Ab etwa 1780 wird das Futterleder der genagelten Fatschen anstatt des bis dahin üblichen Leinenfadens mit schmalen Bändern aus Pergamentleder (Zirm) aufgenäht, die eine auffällige farbige Ziernaht ergeben. Die schmalen Lederstreifen sind meist in Grün gehalten und entsprechen dem Material, das um 1795 flächig für die Stickerei auf Gürteln eingesetzt wird. Um den Zirm durch 22 das dicke Gürtelleder stecken zu können, muß jedes Loch mit der Ahle vorgestochen werden. Die Pergamentlederbänder ermöglichen, bedingt durch Material und Technik, vollkommen neue Muster. Üblich sind Stickereien in weißer, grüner, roter und gelber Farbe. Im östlichen Bayern kombiniert ein unbekannter Riemer im ausgehenden 18. Jahrhundert das Pergamentband mit einem neuen Material – dem in feine Streifen geschnittenen Kiel von der Schwanzfeder des Pfaus. Der weiße Federkiel verfügt auch in geringer Breite noch über eine enorme Reißfestigkeit und ist wesentlich haltbarer als die Pergamentbänder. Charakteristisch für das Pfauenmännchen ist die Schleppe aus sehr stark verlängerten, 100 bis 150 cm langen Oberschwanzdeckfedern, die er zu einem prächtigen Rad aufschlagen kann. Diese Federn, die in der Mauser abgeworfen werden, eignen sich am besten zum Sticken. Der blaue Pfau stammt ursprünglich aus Indien, Sri Lanka und Pakistan. Dort lebt er bevorzugt im hügeligen Gelände des Dschungels. Seine Domestikation im Mittelmeerraum reicht in die Zeit der Antike zurück. Viele Belege – wie Turnierbilder oder Wappenbücher – zeigen, daß im Spätmittelalter die Pfauenfedern häufig Bestandteil ritterlicher Helmzieren sind. Ob die Federn damals noch aus dem Orient eingeführt werden oder bereits Pfauen an den mittelalterlichen Höfen heimisch sind, ist nicht eindeutig belegt. Wahrscheinlich finden die exotischen Tiere mit ihren auffälligen Federn erst in der Folgezeit in größerem Ausmaß Eingang in die herrschaftlichen Volieren und Gärten der barocken Adelshäuser. Im 19. Jahrhundert erweitert sich der Lebensraum der standorttreuen Vögel auf die großbäuerlichen Höfe Niederbayerns und Oberösterreichs. Woher der erste Federkielsticker seine Federn bezog, können wir nur vermuten, unbekannt war das Material um 1795 jedenfalls nicht. Wird der Federkiel anfangs noch sparsam verwendet, ersetzt er für kostbare, repräsentative Gurte seit ca. 1810 die Metallnieten fast gänzlich und verdrängt die Stickerei in Pergament weitgehend. Die ersten Fatschen, die ausschließlich mit Federkiel bestickt sind, lassen sich aufgrund ihrer Fundorte und der Namenszüge auf vielen Gurten eindeutig dem Gebiet zwischen dem oberbayerischen Chiemgau und dem niederbayerischen Rottal zuordnen. Daß der Riemergeselle Joachim Schuster ausgerechnet aus dieser Gegend stammt, ist bemerkenswert. Auf dem Schutzumschlag seines Büchleins bezeichnet er sich selbst als Pfauenfederarbeiter. Wenn er die Kielstickerei in seinem Elternhaus erlernt hat, dann spricht alles dafür, daß sein Vater, der Riemermeister Jakob Schuster, zu den allerersten Federkielstickern in Bayern gehörte. Joachim Schuster besitzt eine Qualifikation, die ihn aus der großen Schar seiner Berufskollegen heraushebt. Die Kunst, mit gespaltenen Federkielen auf Leder zu sticken, steht zwischen 1810 und 1870 bei einem relativ kleinen Kreis spezialisierter Handwerker in voller Blüte. Neben Schmuckgürteln werden besonders hochwertige Etuis, Brieftaschen, Beutel und andere Accessoires bestickt. Es handelt sich bei diesen Gegenständen um außergewöhnliche Luxusartikel, die sich ausschließlich vermögende Personen leisten konnten. Wo, wann und zu welchem Zweck die Technik des Federkielstickens sonst noch ausgeübt wurde, ist historisch ungeklärt. Es existieren einige wenige Vergleichsstücke orientalischer Provenienz, darunter zwei mit Federkiel und Roßhaar bestickte Lederschatullen. Vielleicht gab es zur Zeit der Türkenkriege im 18. Jahrhundert einen kulturellen Austausch, der die Fertigkeit der Stickerei mit Pfauenfederkiel bei uns einführte. Die Technik kann sich aber auch ohne orientalische Vorbilder entwickelt und etabliert haben. In ihrer Anfangszeit besticht die Federkielstickerei durch ihre bisweilen naive, dabei aber eindringlich plakative Darstellungsweise. Für die großräumigen Muster werden relativ breite Fäden in großflächigen Bildern verarbeitet. Im Laufe der Zeit entwickeln viele Riemer dann eine schier unglaubliche handwerkliche Perfektion, die sich in der filigranen Sticktechnik und einem sicheren Gefühl für Harmonie und Spannung manifestiert. Ihre Dynamik, die Feinheit der Kielfäden und die engstmöglich aneinandergesetzten Stiche erzeugen bei manchen Mustern den Eindruck flirrender Bewegung. Einige Riemer kombinieren den Federkiel mit Lahn (ein flach ausgewalzter Metalldraht), Pailletten und textilen Fäden. Sie entwickeln so eigene Mischtechniken, die ihren Erzeugnissen einen individuellen und werkstattypischen Charakter verleihen. 23 Um 1830 treten zwei weitere Grundformen des Männergürtels in Erscheinung: Zum einen ist das eine Fatsche, die nicht mehr auf der Innenseite gefüttert, sondern aus einem Stück Leder schlauchartig zusammengenäht ist. Zwei eingesetzte Keile unterteilen diesen Gürtel, und meist ist mittig eine rechteckige oder spitzovale Kartusche aufgenäht. Zum anderen entwickelt sich eine Gürtelvariante, die bis heute das Trachtenbild stilistisch am stärksten prägt – der Ranzen. Der Sprachforscher Johann Andreas Schmeller erklärt den Begriff Ranzen in seinem Bayerischen Wörterbuch schlicht als Ledersack. Das ist verständlich, da sich zu der Zeit, als Schmeller sein berühmtes Wörterbuch verfaßt, der gleichnamige Gürteltyp erst herausbildet. Der Wörterbuchdefinition entpricht letzterer dennoch ganz und gar. Zu seinem sackartigen Schlauch gehören noch das spitzovale Blatt – ein Lederstück, auf dem die Schnalle sitzt – und eine Zunge, die entweder auf den Schlauch oder einen eingesetzten Keil aufgenäht ist. Mit der Einführung des Blatts, das die Öffnung des Schlauchs verdeckt, verlagert sich auch der Schwerpunkt der Stickerei vom Gürtel hin auf das Blatt. Der Schlauch dient bei Bedarf zur Verwahrung von Geld oder Papieren. Speziell in der Gegend um Tölz sind Gürtel tradiert, die statt einem zwei aufgesetzte Blätter aufweisen. Ab 1870/80 verliert der Schmuckgürtel generell an Bedeutung. Bis um 1915 bleiben noch Geldranzen zur Aufbewahrung größerer Geldmengen in Gebrauch. Diese schlichten Gebrauchsgürtel, die auch als 24 Geldkatzen bezeichnet werden, benutzten vor allem Viehhändler, Metzger und Bauern beim Viehkauf. Die wenig oder gar nicht verzierten Geldranzen wurden häufig auch unter dem Hemd getragen. Beim Schwärzen, wie der bayerische Ausdruck für den Schmuggel lautet (man könnte auch vom kleinen Grenzverkehr sprechen), kamen die Geldranzen ebenfalls zum Einsatz. Auf der bloßen Haut getragen, waren die mit Münzgeld gefüllten Lederschläuche vor den Blicken der Grenzer verborgen. Mit der zunehmenden Akzeptanz des Papiergelds wurden Geldranzen überflüssig, da es ab dieser Zeit nicht mehr nötig war, größere Mengen an Münzgeld zu transportieren. Damit hätte die lange Geschichte der Männergürtel in Bayern, Österreich und Tirol eigentlich enden können. Daß dies nicht der Fall war, ist unter anderem den Trachtenvereinen zu verdanken, die an der Wende zum 20. Jahrhundert eine phantastische Konjunktur erlebten. Ihre Mitglieder entwickelten eine wahre Leidenschaft für die traditionellen Fatschen und Ranzen und trugen die alten Gürtel zu ihrer neuen Gebirgstracht. Weil historische Stücke nur begrenzt zur Verfügung standen, boten Trachtenhersteller aufgrund der großen Nachfrage um 1920 neue Gürtel an, die meist nicht mit Federkiel, sondern mit textilen Fäden bestickt waren. Abgesehen von einem Qualitätsverlust der in Konfektion hergestellten Ranzen traten nunmehr Alpenblumen wie das Edelweiß und der Almenrausch an die Stelle der überlieferten Motive. Ein Pendant zu dieser Entwicklung bildeten die Schützenkompanien in Tirol, die sich der Pflege historischer Trachten annahmen und so ihre Gürtelkultur weiterführten. Außerhalb von Bayern, Österreich und Tirol hat sich auch bei den Siebenbürger Sachsen in Rumänien eine eigenständige Gürtelkultur entwickelt. Die oben beschriebene Technik der Pergamentlederstickerei erhielt sich dort bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der Auswanderungswellen der Siebenbürger Sachsen, die ihre heimatlichen Dörfer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in großer Zahl Richtung Westen verließen, kamen unzählige Gürtel mit auf die Reise. Sie werden seit etwa 1990 vermehrt auf Flohmärkten, bei Antiquitätenhändlern und im Internet angeboten. Dabei firmieren sie oft als echte bayerische und tirolische Trachtengürtel mit Federkielstickerei. So landen sie bei Sammlern oder werden als Ersatz für historische Gürtel des alpinen Raums zur kurzen Lederhose, zum Trachtenkostüm und auf Volksfesten getragen. Diese »Zweitverwertung« fügt die Gürtel, die ihres ursprünglichen Kontexts verlustig gegangen sind, in ein neues kulturelles Umfeld ein. Die Siebenbürger Sachsen selbst tragen die historischen Kleidungsstücke und erhaltenen Gürtel ihrer Heimat insbesondere auf Festen und Trachtenumzügen, nicht mehr als modische Selbstverständlichkeit. Die prächtigen Frauengürtel aus den deutschsprachigen Siedlungen Rumäniens haben in ihrer Gestaltung keine gängige Ent-sprechung in Bayern, Österreich und Tirol. Sie bleiben im Gegensatz zu den Männergürteln ausschließlich der siebenbürgischen Tracht vorbehalten. Ihre Existenz ist an die gezielt durchgeführte Trachtenpflege gebunden. I n Bayern, Österreich und Tirol sind die Frauengürtel sowohl optionales Accessoire zur Tracht als auch Bestandteil der bewußten, teils auch institutionalisierten Trachtenpflege. Letzteres trifft vor allem auf das niederbayerische Rottal, den Bregenzer Wald, Teile Südtirols, Kärntens und des angrenzenden Sloweniens zu. Dort gehören Frauengürtel bis heute zur festtäglichen Tracht und weisen fast alle Verzierungstechniken auf, die wir schon von den Männergürteln kennen. Darüber hinaus existieren Flechtarbeiten aus Leder und Gürtel, die ganz aus Metall gefertigt sind. Speziell in Oberbayern hat sich nur eine einzige, zudem selten benutzte Form des Frauengürtels erhalten. Es handelt sich um die sogenannte Brautkette, die im Isarwinkel, im Chiemgau und im Rupertiwinkel ausschließlich zur Hochzeit getragen wird. Die kostbaren alten Ketten werden in der Familie weitergegeben und bleiben in der Regel über Generationen hinweg »auf dem Haus«. Die Hochzeiterin leiht sich den Gürtel gegen ein geringes Entgelt nur für den Tag der Hochzeit von den Eigentümern aus. Zwei durch einen Bügel verbundene Kettenstücke charakterisieren die häufigste Machart dieser Gürtel. An die Bügel wurden im 18. Jahrhundert Bestecke oder Schlüssel gehängt, heute tritt an deren Stelle meist eine Seidenschleife. Beim Tragen liegt die Brautkette in der Regel auf der linken Seite in Taillenhöhe, während sie auf der 25 rechten Seite mit dem Bügel als tiefstem Punkt bis unter die Hüfte reicht. Die Ketten ohne Bügel hängen vorne mittig über Rock und Schürze hinab. Der Verschluß der Kette ist in beiden Fällen vorne zu sehen. Eine Öse oder ein kleiner Bügel markiert das eine Ende der Kette, ein Haken das andere. Der Gürtel selbst besteht aus schlichten Ösenketten und unterschiedlich gestalteten, gegossenen, getriebenen oder gedrückten Kettengliedern. Die Oberfläche der Kettenglieder ist häufig auch in abstrakten Mustern punziert, ziseliert, graviert oder geflächelt. Als Material dient versilbertes oder vergoldetes Messing, sehr selten auch massives Silber. Bei einigen Stücken sind farbige Glassteine in die Kettenglieder gefaßt. Die hier beschriebene Form hat sich im 17. Jahrhundert entwickelt und basiert ihrerseits auf älteren Vorbildern, die mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Gürtel dieser Art sind bis ca. 1800 in der bürgerlichen Frauenkleidung nachweisbar und neben den Halsketten oder dem Miedergeschnür ein Bestandteil des Schmucks vermögender Frauen. Nach dem Aufkommen der hoch taillierten Empiremode um 1800 hat der Frauengürtel in der städtischen Mode keine Bedeutung mehr, bleibt aber im bäuerlichen Umfeld als Brautkette erhalten. Eine klare Trennlinie zwischen bäuerlichen und bürgerlichen Frauengürteln ist schwer zu ziehen, weil sich beide in ihrer Gestaltung nicht grundlegend unterscheiden. Nur wenige Stücke sind aufgrund ihrer aufwendigen Verarbeitung mit Gewißheit der städtischen Schicht zuzuordnen; sicher zur 26 bäuerlichen Welt dagegen gehören Ketten, die ihrer Machart nach eindeutig aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen. Es läßt sich bei vielen historischen Originalen nicht mehr feststellen, ob es sich ganz allgemein um Frauengürtel handelt – oder um spezielle Brautgürtel, die das erste und vielleicht einzige Mal zur Hochzeit angelegt wurden. Die Problematik der Zuordnung sei beispielhaft am jüdischen Brautgürtel, dem Schiwlanot, illustriert: Diese kunstvoll gefertigten silbernen Gürtel gelten als rituelle Objekte, die bei der jüdischen Hochzeitszeremonie von der Braut getragen wurden. Die Braut, als Kalla bezeichnet, und der Bräutigam, der Chatan, standen gemeinsam unter dem Trau-Baldachin, der das Brautgemach verkörperte. Ebenso wie der Ring, den der Bräutigam der Braut an den rechten Zeigefinger steckte, symbolisierte der Gürtel die Verbindung der beiden Ehepartner. Neben Brautgürteln aus gut dokumentierten Judaica-Sammlungen, die authentische Ritualgegenstände darstellen, werden allerdings auch Frauengürtel dem jüdischen Kulturkreis zugeordnet, die in Wirklichkeit eindeutig Bestandteil der allgemeinen bürgerlichen Mode im 19. Jahrhundert waren. Daraus ergeben sich zwei Schlußfolgerungen. Erstens: es handelt sich, der anders lautenden Zuschreibung zum Trotz, wahrscheinlich nicht um genuin jüdische Brautgürtel. Zweitens haben jüdische Frauen – der Mode ihrer Zeit folgend – vermutlich die gleichen Schmuckgürtel getragen wie andere vermögende Bürgerinnen auch. Um weiteren Spekulationen Raum zu geben, ist in diesem Buch zu guter Letzt ein Frauengürtel abgebildet, der aus einer jüdischen Familie Salzburgs stammt – in seiner Form dagegen auffällig an orientalische Vorbilder erinnert. Die Genese der Frauengürtel erscheint auch sonst sehr komplex. Während die Entwicklung der Männergürtel, die dieses Buch vergegenwärtigt, erst vor rund 250 Jahren begann, können Schmuckgürtel für Frauen auf eine ungleich längere Geschichte zurückblicken. Abgesehen davon unterscheiden sich die meisten Frauengürtel in einem wesentlichen Punkt von den Männergürteln: Sie werden mit separaten Anhängern kombiniert. Die Sitte, Besteckköcher und eingehängte Riemen, die mit Schlüssel, Messer und Feuerstahl kombiniert sind, am Gürtel zu tragen, geht auf uralte Vorbilder zurück. Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens – Spinnwirtel, kleine Werkzeuge sowie Beutel und Amulette – werden seit Jahrtausenden am Gürtel mitgeführt. Gürtelgehänge, die heute noch gebräuchlich sind, wie Messer, Feuerschläger und Schlüssel, sind durch Grabungsfunde aus dem frühen Mittelalter gut belegt. In dieser Zeit – und wohl auch davor – bilden sie einen typischen Bestandteil der Tracht von Frauen und Mädchen. Noch im 16. Jahrhundert hingen unter anderem Kämme, Toilettenbestecke, Scheren, Schlüssel und mehrteilige Beutel am Gürtel der Frauen. Auch Männer pflegten bis in diese Zeit Taschen und Waffen am Riemen zu befestigen. Von den bürgerlichen Frauen wurde diese Sitte bis um 1800 weitergeführt, im ländlichen Umfeld auch länger. In der Tracht der bäuerlichen Gesellschaft haben sich Gürtelanhänger nur sehr eingeschränkt bis in die Gegenwart erhalten. Im Gegensatz zu den Brautgürteln aus Südtirol, die in der Regel mit Besteckköchern überliefert sind, werden an den bayerischen Brautketten ausnahmslos Seidenschleifen angebracht. Einiges spricht dafür, daß hier die Besteckköcher im ländlichen Umfeld auch im 19. Jahrhundert bereits weitgehend fehlten. Das liegt unter Umständen daran, daß die Brautketten aus der bürgerlichen Mode schon ohne Anhänger übernommen wurden, oder die Frauen das Mitführen von eigenem Eßbesteck als unmodern empfanden. Dagegen sind zum Beispiel die Rottaler Frauengürtel und die schmalen Riemen der Bregenzer Wälderinnen mit den Verschlüssen in Silberfiligran auch in der Vergangenheit ohne zusätzliches Besteck in Gebrauch. Ihnen fehlt dementsprechend jede Vorrichtung zum Einhängen der Anhänger. Ganz anders verhält es sich mit den mehrteiligen Gürtelgehängen, die bis heute in Teilen Südtirols und Kärntens verbreitet sind. Sie sind entweder Teil eines Gürtels oder werden als eigenständiges Accessoire im Rockbund eingehängt. Die Lederriemen sind gleich den Männergürteln mit Federkiel, Nieten und Mischtechniken verziert, oder geflochten. An den Riemen hängen neben Besteckköchern mit Messer, Gabel und Wetzstahl auch Einzelmesser, Feuerschläger und Schlüssel. Diese Anhänger werden gerne als zutiefst symbolträchtig eingeschätzt. Die Schlüssel gelten dann als Insignien für die 27 hausfrauliche Gewalt, die Feuerschläger als Zeichen für die Hüterin des Herdfeuers, und das Messer als Werkzeug zur Verteilung der Lebensmittel. Doch hinter die allzu einseitige Betonung des Symbolgehalts ist ein Fragezeichen zu setzen. Zunächst haben diese Anhänger einen klaren praktischen Nutzen. In der Folge entwickeln sich Gebrauchsgeräte, die über Jahrhunderte weg sichtbar am Gürtel getragen werden, zusätzlich zu einer Form von Schmuck. Wenn sie im praktischen Gebrauch nicht mehr vonnöten sind, leben sie dennoch als Zierelement weiter. Damit soll den Anhängern keinesfalls ihr Symbolwert abgesprochen werden. Differenziert betrachtet erweisen sich viele Elemente des Kleidungsverhaltens als Objekte, deren Hintergrund geheimnisvoll und profan zugleich sein kann. Oft aber beruht der Eindruck von Tiefe und Rätselhaftigkeit einzig auf einem Mangel an Wissen, gepaart mit einem entsprechenden Übermaß an Phantasie. Jedenfalls bewegen sich einige hartnäckig verbreitete Geschichten, die mit dem Frauengürtel zu tun haben, auf völlig ungesichertem Terrain. Stellvertretend für solche Legendenbildungen möchte ich den Mythos des sogenannten Keuschheitsgürtels näher betrachten. Was das Bild betrifft, das man sich vom »mittelalterlichen« Keuschheitsgürtel zu machen pflegt, ist der historische Befund eindeutig: In der Welt der Ritter und Edelfräulein hat es derartige Keuschheitsgürtel nie gegeben. Die vermeintlichen Originale haben sich als Machwerke aus dem 19. Jahrhundert erwiesen und sind entweder dubiosen 28 Quellen nachempfunden oder verdanken sich diffusen sexuellen Neigungen. Da aber fast jeder Geschichte ein wahrer Kern innewohnt, lohnt es sich, der Assoziation Gürtel und Keuschheit weiter nachzugehen. Und tatsächlich ist das Lösen des Gürtels in der Antike eine häufig gebrauchte Metapher für den Beischlaf. Das Lösen der Haare und des Gürtels sind das äußere Zeichen für die Bereitschaft zum Liebesspiel. Im Gegensatz dazu fungiert nach katholischem Verständnis der Gürtel – bezeichnenderweise der des Mannes – eher als Schutz zwischen Mann und Frau – wenn nicht als Schutz des Mannes vor der Frau. Das wird jahrhundertelang unverblümt ausgesprochen, allerdings durch die lateinische Sprache dem profanen Verständnis gleich wieder entzogen. Das Gebet zum Anlegen des Cingulums (Gürtel), das beim Ankleiden des Priesters vor der Messe gesprochen werden mußte, lautete bis zum 2. Vatikanischen Konzil im lateinischen Original: »Praecinge me, Domine, cingulo puritatis, et exstingue in lumbis meis humorem libidinis; ut maneat in me virtus continentiae et castitatis.« (»Gürte mich, oh Herr, mit dem Gürtel der Reinheit, und lösche aus in meinen Lenden den Saft der Wollust; auf daß die Tugend der Enthaltsamkeit und Keuschheit in mir bleibe.«) Dieses Gebet stammt dem Sinn nach aus dem Hochmittelalter. Das ist die Zeit, in der sich die Kirche zunehmend als moralische Wächterin geriert. Die gesamte damalige asketische und klösterliche Strömung der Kirche, ihre Verachtung des Weltlichen und »Leibhaften«, neigt auch zur Verdammung der Sexualität, die es zu disziplinieren galt. Antike Symbole und Traditionen wurden dementsprechend korrigiert und christlich umgedeutet. Dieses Schicksal bleibt auch dem Gürtel nicht erspart, der sich als stachelbewehrter Bußgürtel seit dem Mittelalter gegen den eigenen Träger wendet und die Abtötung des Fleisches zum Zweck hat. In der Pervertierung – wörtlich: Umkehrung – seiner ursprünglichen Funktion, Schutz zu bieten und Mut zu machen, wird er zum Instrument der Kasteiung. Der Gürtel der Göttin Aphrodite wiederum, in der griechischen Mythologie noch Hort ihres Liebeszaubers, erfährt eine kirchlich gesteuerte Verschiebung hin zum Mariengürtel. Der Gürtel der Gottesmutter Maria taucht in der theodosianischen Epoche, zur Zeit der christlichbyzantinischen Kaiserinnen auf. Er wird nach Konstantinopel gebracht und dort als eine der wichtigsten Reliquien hoch verehrt. Ob es sich wirklich um den Originalgürtel der Jungfrau handelt, sei dahingestellt. Zu den Insignien der damaligen Kaiserinnen jedenfalls gehört ein Prunkgürtel, in dem symbolisch das antike Aphrodite- bzw. Venusmotiv weiterlebt. Die christliche Kaiserin hatte Teil an der herkömmlichen Macht einer Muttergottheit. Wie ihre Vorgängerinnen war sie hilfreiche Schutzherrin der Frauen, Kinder, Familien und Häuser. Wenn dann auf späteren Darstellungen Maria als Himmelskönigin auftritt, ist der gemmenbesetzte kaiserlich-göttliche Gürtel oftmals auch Teil ihrer Ausstattung. In der Marienmystik des Hochmittelalters spielt der Gürtel der königlichen Mutter und Braut Christi eine zentrale Rolle. Auch in den Bildern, die den Aspekt der Fruchtbarkeit betonen, bildet der Gürtel ein wichtiges bildsprachliches Element. Der Aspekt der Muttergöttin ist von der Marienfigur gar nicht zu trennen. In der italienischen Sprache hat das Wort »incinta« – also umgürtet sein – übrigens heute noch die Bedeutung von Schwangerschaft. D iese weitausholenden Betrachtungen wären dem Pfauenfederarbeiter Joachim Schuster wohl eher suspekt gewesen. Er mußte die Gürtel als Handwerker pragmatischer betrachten – in erster Linie als Mittel zum Broterwerb. Doch mit den nüchternen Einträgen in seinem Wanderbuch sind unzählige Geschichten und Lebenslinien verbunden, die ihrerseits weit in die Vergangenheit und Zukunft reichen, wenngleich wir möglicherweise nie in der Lage sein werden, auch nur einer von ihnen nachzugehen. Immerhin hat ein österreichischer Zeitgenosse und Kollege von Joachim Schuster einen Zettel gut versteckt in den Schlauch einer Fatsche eingenäht. Darauf geschrieben sind sein Name, Beruf, die Herkunft und das Datum: Karl Ellinger, Riemergeselle von Ottensheim in Oberösterreich Tamsweg 7. April 1839. Ihm war es wichtig, daß er und sein Werk nicht ganz getrennt wurden, und daß es einen persönlichen Verweis auf ihn als Handwerker gab. Anläßlich der Restaurierung des Gürtels rund 29 [Zur Reise] [nach] Traunstein [Salzburg] 15. Mai 1859. (Unterschrift) KkGrenzposten (Unterschrift) Produzent stand seit letztem Visa bei dem bgl. Riemermeister Thadä Schuster dahier in Arbeit, und hat sich laut Zeugnisses die vollste Zufriedenheit in jeder Beziehung erworben. Traunstein am 26ten März 1860 Stadtmagistrat Traunstein Frantz Nr 2604 Nach Aibling über Rosenheim auf der Hauptstrassen. Am 26. März 1860 Kgl.Landgericht Traunstein hundertfünfzig Jahre später hat ein Federkielstikker aus dem Salzburger Land dieses Stück Papier tatsächlich wieder entdeckt. Historische Gürtel sind nach langem Gebrauch und einem natürlichen Alterungsprozeß oft in sehr desolatem Zustand. Dabei hat ein Gürtel in gebrauchtem und gealtertem Zustand häufig einen eigenen Reiz. Seine Geschichte spiegelt sich in Brüchen und Knicken, Löchern, Verfärbungen, Schmutz, sowie Fraß- und Fehlstellen. Dazu gehören auch frühere Reparaturen und eventueller Pfusch. Diese Spuren sind wie ein Text, der Geschichten aus der Vergangenheit erzählt. Die über lange Zeit entstandene Patina gibt alten Stücken einen unnachahmlichen Charakter und morbiden Charme. Ein Museum hat freilich naturgemäß andere Ansprüche als eine Privatperson, die ihre ererbte oder neu erworbene Antiquität unter Umständen wieder benutzen und tragen will. Deshalb kann immer nur im Einzelfall entschieden werden, wie ein Objekt erhalten werden soll. Abgesehen von der klimatisch passenden Aufbewahrung in geschlossenen Behältnissen, die unstrittig ist, gibt es sehr unterschiedliche, zum Teil auch kontroverse Auffassungen über die Behandlung der historischen Originale. Vom reinen Konservieren des Ist-Zustands bis hin zu einer fast vollkommenen Erneuerung existieren eine Reihe mehr oder weniger legitimer Zwischenstufen. Die Restaurierung von Gürteln gestaltet sich aufgrund der verschiedenen Materialien, die miteinander verarbeitet sind, schwierig. Denn Leder, Metall, textile Fasern, Glas und Lack reagieren sehr spezifisch auf Nässe, Lösungsmittel, Fette und mechanische Belastungen. Nach einer unsachgemäßen Durchfeuchtung und Rückfettung des Leders zeigt sich beispielsweise eine Korrosion der Metallteile des Gürtels mitunter erst Monate später. Gürtel sind außerdem Accessoires, bei deren Herstellung aufgrund der zahlreichen Materialien mehrere Berufsgruppen mitwirken. Das sind im wesentlichen Gerber, Riemer, Zinngießer, Goldschmied, Silberarbeiter, Gürtler und Weber. Einige dieser Berufe, wie der des Silberarbeiters oder des Gürtlers, dessen Aufgabe vor allem die Herstellung von Beschlägen, Schnallen und Gliedern für Gürtel ist, werden immer seltener. Der Beruf des Riemers ist im Sattlergewerbe aufgegangen, und die Federkielstickerei galt auch früher nicht als eigenständiger Beruf sondern als Zusatzqualifikation der Riemer und Sattler. Um 1900 hatte der Beruf des Riemers eigentlich schon zu existieren aufgehört. Manche Techniken, wie die Herstellung von Fatschen, die mit tausenden Zinnstiften verziert sind, waren gänzlich in Vergessenheit geraten und mußten erst wieder neu erlernt werden. Das Wissen um die Federkielstickerei wurde von ein paar Betrieben in Nord- und Südtirol bis ins 20. Jahrhundert weitergetragen. Mitte des 20. Jahrhunderts war hauptsächlich noch ein Mann als professioneller Federkielsticker tätig – der Sarntaler Johann Thaler (1913–1979). Sein besonderes Verdienst ist die Ausbildung weiterer professioneller Riemer, die sich in der Folge selbständig machten. Mit der Werkstätte Thaler gewinnt das Federkielsticken nach dem zweiten Weltkrieg über die Grenzen des Sarntals hinaus an Popularität. Mittlerweile gibt es in Bayern, Österreich und Südtirol wieder professionelle Riemer, die zum Teil auf höchstem Niveau die Tradition der Schmuckgürtel weiterführen. Dabei darf und soll sich die überlieferte Formensprache auch in Zukunft immer weiter entwickeln. Denn zu jeder 31 Tradition, die außer einer Vergangenheit eine Zukunft haben möchte, gehört der Mut, wenn nötig mit dem Altvertrauten zu brechen. Und vielleicht hat der Gürtel mit seiner uralten Geschichte den größeren Teil seiner Evolution ja noch vor sich. 32 h c o n d l o G r Ihr sollt wede r e b l i S pfer in u K h c no 49 Ranzen, Oberösterreich um 1850 Leder, Federkiel, vergoldeter Silberlahn auf Textilseele, Pailletten, Messingschnalle Ranzen 98 x 19 cm Blatt 34 x 19,5 cm Sammlung Grübl, Eben im Pongau in euren Gürteln haben, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Mt 10, 9-10 51 Bauer aus der Gegend von Oberaudorf im Inntal um 1800 Aquarell über Bleistift von Ludwig Neureuther Staatliche Graphische Sammlung München Laurin legte den Wundergürtel um und stürzte sich in den Kampf. Doch er schien zu verlieren und zog die Tarnkappe über. Als er zwischen den Rosen herumlief, verriet ihn die Bewegung der Rosen. Er wurde gefangen genommen und der Gürtel zerstört. Laurin verfluchte den verräterischen Rosengarten: Weder bei Tag noch bei Nacht sollte ein Mensch jemals wieder den Rosengarten sehen können. Aber Laurin vergaß die 246 Dämmerung, und deswegen glüht der Rosengarten bei Sonnenauf- und -untergang in einem rötlichen Licht. Fatsche Detail, Oberbayern datiert 1804 Leder, Zinn-Nieten, Stanniol, Pergament, textiles Gewebe, Messingschnalle mit Eisendorn Fatsche 104,5 x 9 cm Privatbesitz, TIZ Fatsche, Oberbayern datiert 1804 Leder, Zinn-Nieten, Stanniol, Pergament, textiles Gewebe, Messingschnalle mit Eisendorn Fatsche 104,5 x 9 cm Privatbesitz, TIZ Laurinssage 248 250 251 252 253 Zona, 291 war ein Gürtel, wie ihn ehemahls das Frauen-Volck um den Leib trug, die Kleider damit zum selbigen zusammen zu gürten. Die Bräute hatten dergleichen von weisser Wolle ohne allen Knoten, welchen Gürtel so dann der 293 Frauengürtel 17. Jahrhundert Silber vergoldet, Messing versilbert Kette 102 x 2 cm Sammlung Martin, TIZ Pärchen aus Lenggries um 1825 kolorierte Lithographie von Joseph Freiherr von Lipowsky »Bauern-Bursche und BauernMädchen von Längries« TIZ Frauengürtel 18. Jahrhundert Messing versilbert Kette 101 x 1,2 cm Rosette Ø 3,7 cm Sammlung Martin, TIZ Frauengürtel 18. Jahrhundert Messing versilbert Kette 99 x 1,2 cm Rosette Ø 3,4 cm TIZ Bräutigam auflösete, wenn er mit selbiger zu Bette gehen wolte. Zedlers Universal-Lexicon 294 295 Frauengürtel, Salzburg um 1800 Silber, Silber vergoldet, Flußperlen, Smaragde aus dem Habachtal Der Gürtel stammt aus dem Besitz einer jüdischen Familie in Salzburg. Privatbesitz 322 323 Es stirbt niemand so arm, daß er nicht etwas hinterließe. Blaise Pascal 324 Dank für die finanzielle Unterstützung: Stephan Biebl, Schädlingsbekämpfung, Benediktbeuern Brauerei Aying, Aying Flemmich Otto KG, Seidenweberei, Wien Hennrich Anita, Bad Tölz EdMeier, München Müller Elektrobau, Gaißach Pavlakovich Hartmut, Gold- und Platinschmiede Salzburger Heimatwerk, Salzburg Schäffler Elfriede, Bad Wiessee für fachmännischen Rat und kollegialen Austausch: Walter Grübl, Salzburger Federkiel-Stickerei, Eben im Pongau Herbert Rieger, Federkielstickerei, Hebertsfelden Familie Thaler, Federkielstickerei, Sarntheim Wilfried Weiss, Zinnstiftranzen, Kramsach sowie an alle weiteren privaten und öffentlichen Leihgeber, die zum Gelingen dieses Buchs beigetragen haben Herausgegeben vom Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern Benediktbeuern, München 1. Auflage 2008 Projektleitung, wissenschaftliche Dokumentation und für den Inhalt verantwortlich: Alexander Wandinger Konzeption und Realisierung: ac.cc aichner cerno corporate communications Christian Aichner, Jana Cerno München Zeichnungen: Jana Cerno Anthologie: A K und Chr. Aichner Photos (Gürtel): Dirk Tacke, München Anzeigen: ac.cc, Christian Aichner, Jana Cerno (nicht: HypoVereinsbank, Staatl. Graphische Sammlung München) Lithographie: Serum Network GmbH, München Christian Albrecht, Verena Tutzer Druck: Eberl Graphische Betriebe, Immenstadt 336 Bindung: VVB Attersee GmbH, St. Georgen, Österreich Gesetzt aus der Wilke Postscript von Adobe Systems Inc., gedruckt auf PhoeniXmotion Xantur, 170 Gramm der Papierfabrik Scheufelen Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-9808527-1-5 Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern Michael-Ötschmann-Weg 2 83671 Benediktbeuern Telefon 08857-88833 www.trachten-informationszentrum.de [email protected]