Christustag 7. Juni 2012 – 56. Ludwig-Hofacker
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Christustag 7. Juni 2012 – 56. Ludwig-Hofacker
Christustag 7. Juni 2012 – 56. Ludwig-Hofacker-Konferenz Weingarten Jesus verändert Menschen (Markus 10, 46- 52) Werner Baur „Tapetenwechsel“ empfehlen wir Menschen, die einmal aus ihrem Alltagstrott herauskommen sollten. Neues sehen und hören, auf andere Gedanken kommen, inspiriert werden, Perspektiven gewinnen! Wer den Tapetenwechsel wörtlich nimmt, bestellt den Maler und gönnt sich eine Veränderung seiner vier Wände. Veränderung tut gut. Ich lerne meine Welt mit neuen Augen sehen, gewinne Lebensfreude und werde vielleicht wieder dankbarer. Luftveränderung gibt es auf ärztliche Anordnung, wenn Bronchienentzündung oder allergische Reaktionen chronisch geworden sind. Bei körperlichen Beschwerden oder seelischen Leiden sehnen wir uns Veränderung herbei. Heilung ist gefragt. Gut ist was hilft! Wir haben aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass Veränderung stresst, Ängste auslöst. Der wachsende Veränderungsdruck im Beruf, ständige Neuerung und Umstellung setzen uns heute zu. Veränderung kann krank machen. Für manche unter uns wäre es hilfreich und not-wendig, wenn in unseren Alltag in Beruf und Familie mehr Konstanz, mehr Ruhe käme. Der Gedanke an Veränderung, der Appell zur Veränderung löst Widerstände aus. Veränderung nein danke! Es reicht! Lass mir meine Ruhe! Auch als Kirche, als Christen in unseren Gemeinden stehen wir mitten in umfassenden Veränderungsprozessen. Demographischer Wandel, Säkularisierung, Globalisierung, Individualisierung, Entsolidarisierung, biblische Analphabetisierung machen auch vor der Kirche nicht halt. Die Zahl der Kirchenmitglieder wird jährlich geringer. Nicht in erster Linien wegen Kirchenaustritten, sondern weil weniger Kinder geboren und getauft werden. In vielen Gemeinden hat der Gottesdienstbesuch an „normalen“ Sonntagen schleichend, aber deutlich nachgelassen. Weniger Kirchenmitglieder, weniger Gottesdienstbesucher, weniger Taufen, weniger Trauungen, immer weniger biblisches Grundwissen, geringeres Kirchensteueraufkommen – zumindest in absehbarer Zukunft! Weniger, weniger, weniger! Wohin soll das führen? Veränderung ist doch notwendige. Pfarrplan, Finanzplan, Immobilienplanung, Personalstrukturplanung. Viele unter uns sind über den Strukturdebatten müde geworden. Aber wie kann man aus der Resignation und Frustration heraus Gemeindeleben gestalten, dem Auftrag von Kirche gerecht werden? Auf was oder wen setzen wir unsere Hoffnung – unsere Hoffnung für uns, unsere Familie, unsere Kirche? Wird unsere Hoffnung und unsere Zuversicht von dem genährt was wir haben, womit wir gut Erfahrungen gemacht haben? Geben uns unsere Strukturen und Gremien, das Kirchensteueraufkommen, unsere Rücklagen und Ersparnisse Sicherheit und Zuversicht? Beschäftigen tun sie uns alle mal! Als Evangelische Landeskirche verwenden wir auf Briefköpfen, mit unserer Wort-Bild-Marke, auf Kirchenfahnen die Farbe lila. Lila seht für Buße, für Veränderung. Aber sind wir deshalb schon Expertinnen und Experten der Veränderung, der Umkehr, des Neuanfangs? Mit dem aktuellen Veränderungsdruck tun wir uns auf allen Ebenen momentan schwer. Wir würden viel lieber an dem Bestehenden, dem Vertrauten festhalten. Die unausweichliche Veränderung, die würden wir gerne verhindern oder wenigstens aufhalten. Zur offensiven Gestaltung und Innovation fehlen uns manchmal die Perspektive, der Mut und die Zuversicht. Wir brauchen aber eine Perspektive, eine Vorstellung von dem wie es weitergehen kann, wie wir unserem Auftrag als Kirche in veränderter Situation in Gesellschaft und Kirche gerecht werden können. Wir brauchen eine Vision, die wir uns nicht einfach ausdenken, die wir nicht haben, sondern die uns hat. Wir brauchen eine Vision, von der wir ergriffen sind, die uns hoffnungsvoll stimmt und mit Zuversicht erfüllt. Gott schreibt auch heute noch Veränderungsgeschichte mit seiner Kirche, mit uns. Er schenkt Veränderung, macht Veränderung möglich. Dessen bin ich gewiss! Der Blick in die Bibel, das Hören auf Gottes Wort macht gewiss. Wir lassen uns heute Morgen auf eine spannende, eine wunderbare neutestamentliche Veränderungsgeschichte ein. Die Heilung vom blinden Bartimäus kennen wir in- und auswendig. Von den Eltern, den Großeltern, im Kindergottesdienst und im Kindergarten, in der Jungschar und im Religionsunterricht haben wir sie erzählt, in Bibelstunden, Vorträge oder Predigten ausgelegt bekommen. 1 Darf ich Sie fragen: „Wann haben Sie diese Geschichte das letzte Mal ihren Kindern, ihrem Enkel- oder einem Nachbarskind erzählt?“ Warum ich das frage? Ich komme darauf zurück. Die Heilung eines Blinden bei Jericho Lukas 10, 46 – 52 nach Martin Luther 46 Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. 47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 48 Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! 50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 51 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde. 52 Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege. Tapetenwechsel reicht dem blinden Bartimäus an Veränderung nicht aus. Mit einer Kur in einem auch noch so exklusiven und teuren Luftkurort ist es für ihn nicht getan. Für die Menschen in Jericho, dem Ort in dem Bartimäus lebt, für die Pilger, die auf der Durchreise Bartimäus am Straßenrand sitzen sehen, ist seine Situation Gott gegeben, unveränderbar. Bartimäus gehört mit seinem Bettlermantel und seiner Almosenschale zum Straßenbild der Stadt. Und so wie Bartimäus zu Jericho gehört, so gehört der Bettlermantel zu Bartimäus. Den schweren Mantel spürt er auf seinen Schultern. Dieses Kleidungsstück bietet ihm Schutz. Hinter diesem Panzer kann er sich vor neugierigen Blicken bergen. Den Mantel vergisst Bartimäus nicht. Er ist ihm Wegbegleiter an kühlen und an heißen Tagen. Als Bekleidungsstück der Armen steht der Mantel sogar unter dem besonderen Schutz der Tora. „Du sollst dem Armen sein Pfand zurückgeben, wenn die Sonne untergeht, dann kann er in seinem Mantel schlafen. So wirst du gerecht sein vor dem HERRN, deinem Gott.“ (5.Mose 24,13) Am Straßenrand - in seinen Mantel gehüllt - sitzt Bartimäus tagaus, tagein mit vielen anderen Bettlern. Hier kommen die vielen Pilger auf ihrem Weg nach Jerusalem vorbeikommen. Sie haben von Jericho noch eine letzte, schwere Tagesetappe vor sich. 25 km sind es aus der Jordantalsenke hinauf nach Jerusalem. Schwieriges Gelände. 1000 Höhenmeter müssen überwunden werden. Aus Angst vor Überfällen durch räuberische Gruppen geht man in Gruppen. Zum bevorstehenden Passahfest pilgern besonders viele Menschen nach Jerusalem. Es ist eine „gute Zeit“ für Bettler. Die Pilger sind auf diesem letzten Wegstück ihrer geistlichen Reise nach Jerusalem mildtätig gestimmt, in Geberlaune. Für Bartimäus und seine Familie fällt jeden Tag einiges ab. Aber was heißt „gute Zeit“? An Bartimäus Blindheit, seinem Isoliert-sein ändern die Almosen der Pilger nichts. Vom Mitleid kann man nicht leben. Der Klang fallender Münze bringt keinen Glanz, kein Licht in die bedrängende Lebensgeschichte von Bartimäus – dem Sohn des Timäus. Bartimäus hat einen Namen, der keiner ist. Wir erfahren durch den Namen Bar-timäus „nur“, dass er, der Blinde, der Sohn des Timäus ist. Immerhin weiß man, wohin er gehört – in das Haus des Timäus. Von außen betrachtet ist das für die Situation eines Blinden ja schon etwas – wenn andere wissen wohin man gehört und in welches Haus man notfalls gebracht werden muss. Und zugleich steht diese Namensgebung für Abhänigkeit, für fehlende Autonomie. Aber nicht nur Bartimäus führt ein Leben, das auf andere Menschen angewiesen ist. Die uns im Markusevangelium überlieferte Heilung des Blinden ist eine Geschichte, in der Namen eine besondere Bedeutung haben. Namen sind nicht Schall und Rauch! Ja - ein biblischer Name steht für das Heil, für Heilsgeschichte. Dieser Name wird in der Bartimäusgeschichte unüberhörbar laut angerufen. „Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ 2 Jesus von Nazarath! Woher kennt Bartimäus Jesus von Nazareth? Was sagt ihm dieser Name unter den hunderten von Namen, die er hört und kennt? Wie kommt er dazu diesen Jesus von Nazareth mit „Jesus, du Sohn Davids“ anzureden? Dass blinde Menschen eine ganz außerordentliche Wahrnehmung haben – ein feines Gehör und Gespür – das wissen wir vielleicht. Wir haben einen Bekannten, der ist Dozent an einer Ausbildungsstätte. Durch einen tragischen Unfall ist er völlig erblindet. Beeindruckend wie er mit seinem Leben, in Alltagssituationen zurechtkommt – zum Beispiel mit seinem Weg zur Arbeit, den er über 4 km lang durch ein Waldgebiet zu Fuß zurücklegt. Noch erstaunlicher was er, der Blinde, einem mitteilen kann - über das Wetter, die Stimmung der Natur oder die Gemütsverfassung seines Gegenübers. Allein durch Händedruck und ein paar gewechselte Worte bekommt er mit, dass man wohl schlecht geschlafen hat oder angespannt und nervös ist. Beeindruckend die feine Sinneswahrnehmung von Menschen, die mit der Schädigung eines Sinnesorgans leben müssen. Wie und woher kam Bartimäus zu seinem Wissen über den Wanderprediger Jesus von Nazareth. Dass eine besondere Pilgerschar in die Stadt gekommen ist – Jesus von Nazareth mit seinen Jüngern - das hat sich herumgesprochen. Und natürlich ist auch das an Bartimäus Ohr gedrungen. Aber woher kennt Bartimäus Jesus? Wodurch erkennt er Jesus als den, der seine Hilfe, seine Rettung ist? Wie kommt er dazu, ihn als Sohn Davids, als den Gesalbten, den Messias anzusprechen? Den Wanderprediger und Zimmermanns Sohn aus Nazareth kannten viele. Dort wo er mit seiner Schülerschaft aufgetaucht ist, war er in der Regel nicht zu übersehen. Denken wir nur an die 5000, die ihm am See Genezareth bis in den Abend hinein zugehört haben und für die, die Jünger dann noch etwas zu essen organisieren sollten. Bartimäus kennt Jesus vermutlich vom „Hören-sagen!“ Nur vom „Hören-sagen“, fragen wir vielleicht? Er hat sicher schon so manche Geschichte von Jesus gehört. Vielleicht hat er - gerade weil er als Blinder vom religiösen Leben, dem Tempelkult, von den Opferritualen im Tempel, ausgeschlossen war – sich besonders dafür interessiert, für die Geschichte und Geschichten Israels und seinem Gott, für die Geschichte der Könige des Volkes und des Königs, aller Könige, der kommen soll sein Volk zu erretten. "Er selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet". So wird der verheißene König in Jes 35, Vers 4 b folgende durch den Prophet Jesaja angekündigt. Paulus sagt der Glaube kommt aus der Predigt, aus dem Gehörten. Glaube hat mit dem Hören zu tun. Das Geheimnis des Glaubens, des Erkennens und Vertrauens liegt im Hören. So wird ein Blinder mit seinem feinen Gehör, mit dem was er über diesen Jesus aus Nazareth gehört hat, zum Schauenden. Bartimäus bekommt in seiner ausweglosen Lebenssituation den Hoffnungsschimmer und Durchblick auf das was ihm, was uns verheißen ist – Rettung. Der Name Jesu ist Programm – Gott rettet! Vielleicht hat Bartimäus bei irgendeiner Gelegenheit aus Gesprächsfetzen einige der Ich-bin-Worte Jesu aufgeschnappt. Vielleicht klingen diese oder andere Worte bei ihm an, als er hört, Jesus von Nazareth ist in der Stadt. „Sei getrost, ich bin's; fürchte dich nicht! Ich habe dein kyrie eleison, dein Herr erbarme dich gehört!“ So hat es Petrus, so haben es die Jünger gehört. So gibt sich Jesus, uns zu erkennen: Wenn Du ausgelaugt, kraftlos, innerlich ausgebrannt, leer bist – „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ In seinem Wort, dem lebendige Wort gibt sich Jesus zu erkennen, wenn du orientierungslos geworden bist, auf der Stelle trittst, im Dunkeln tapst, nicht ein und aus wisst – „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Wenn Türen zuschlagen und sich keine auf tut, wenn Wege sich als Holzwege erweisen und in heilloser Verstrickung enden – „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden.“ Wenn Du dich vergessen fühlst und verlassen bist – „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Jesus und sein himmlischer Vater – unser Vater – werden erkennbar in der einzigartigen Geschichte vom verlorenen Sohn, der Geschichte vom barmherzigen Vater. Aus Michael, einem der Drittklässler, ist es nur so herausgeplatztm, als ich diese Geschichte der Klasse erzählt habe: „So a`n Vadder wed i au han!“ Wissen Sie, warum ich Sie eingangs gefragt habe, wann Sie das letzte Mal diese oder eine andere biblische Geschichte erzählt haben? Mit dem Erzählen biblischer Geschichten legen Sie den Grundstock des Glaubens, einen Nährboden der Hoffnung! Ohne Beziehung und ohne Geschichten kann der Mensch nicht leben! Biblische Geschichten stiften Beziehung. Sie setzen in Beziehung. Sie wecken Vertrauen, geben Hoffnung. Biblische Geschichten machen fit für das Leben. Pflegen Sie das Erzählen. Entdecken Sie die Faszination des Erzählens. Erzählen ist eine Kultur und kein „Kinderkram“. Wenn heute Kinder 3 aufwachsen, ohne dass sie Geschichten erzählt bekommen haben – biblische Geschichten - dann ist das mehr als nur dramatischer Kulturverlust! Die Bibel ist nicht zufällig ein, nein das Erzählbuch des Glaubens! Bücher voller Geschichten mit dem und von dem einen und einzigarten Gott des Lebens, von Jesus, dem heruntergekommenen, Mensch gewordenen Sohn Gottes, unserem Herrn! Unterschätzen wir das „Hören-sagen“ nicht! Das Sagen und das Hören haben eine ungeheure Wirkung. Sprache beschreibt nicht nur Wirklichkeit. Sprache schafft Wirklichkeit. Gott schafft dadurch, dass er spricht. Darin liegt auch das Geheimnis der Predigt, durch die wir neue Hoffnung und Zuversicht bekommen, neues Vertrauen wagen. Vor einigen Wochen hat eine Auktionsveranstaltung Schlagzeilen gemacht. Ein mit Kreide gemaltes Bild hat zu dem unvorstellbaren Preis von 120 Mio Dollar den Besitzer gewechselt. So etwas gab es noch nie. Welches imposante, farbenprächtige Bild wollte der Bieter unbedingt haben? Das Bild trägt den Titel „Der Schrei“. Es stammt von dem bekannten norwegischen Maler Edvard Munch. Auf dem Bild ist mit groben Pastellkreidestrichen eine Landschaft mit einem See dargestellt. Über eine Brücke gehen zwei Männer. Ihnen folgt in größerem Abstand eine Frau. Sie hat sich von ihren Begleitern ab- und dem Betrachter des Bildes zugewandt. Die schmalen, langen Hände sind an das blasse Gesicht gepresst, der Mund ist zu einem angstvollen Schrei weit geöffnet. Es ist ein Schrei ins Leere. Die beiden Begleiter auf dem Bild reagieren nicht. Ein existenzieller Schrei ohne Antwort. Kein schönes Bild. Ein Bild für bedrängtes Leben? Edvard Munch selbst wusste, was Angst, Einsamkeit und Leid bedeuten. Früh verstarben seine Mutter und älteste Schwester. Ungehörte oder überhörte Schreie nach Veränderung, nach Leben, die gab und die gibt es. Nicht gestört werden, überhören was einen ins Fragen bringt und worauf man selbst keine Antwort hat. Lassen wir uns stören? Würden wir uns trauen, die Angst und Verzweiflung unseres Lebens in einem unüberhörbaren Schrei preiszugeben? Bibeltext Vers 47, 48: „Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Bartimäus schreit, wie er noch nie im Leben geschrien hat. Nicht nur einmal – vorsichtig, zaghaft. Nein mehrmals, laut, immer wieder und wieder. Stellen wir uns die Situation vor. Da ziehen Pilger in Gruppen an der Ausfallstraße von Jerchio an einem Schreihals vorbei, der nicht aufhören will zu schreien. Er hat schon einen knallroten Kopf von seinem Gebrüll. „Sei still! Halt den Mund!“ fahren ihn die Passanten an. Aber hier lärmt und poltert kein Drunken- und kein Witzbold. Da ist einer bei dem geht es um alles oder nichts. Wenn der in der Stadt ist, der die Rettung ist – Jesus, Gott rettet, dann geht es um das Leben. Sein Schreien ist ein Schrei nach dem, der das Leben ist. Wenn es um das Leben geht, lässt man sich nicht den Mund verbieten. Bartimäus lässt sich nicht einschüchtern. Der Sohn des Timäus fragt nicht danach was die Nachbarn sagen, was andere über ihn denken. Bartimäus achtet nicht auf den Ruf der Familie. Sein Ruf gilt dem Sohn Davids, dem Gesalbten. „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ „Kyrie eleison – Herr erbarme dich!“ Das ist nicht nur eine liturgische Formel für den gottesdienstlichen Gebrauch. „Kyrie eleison – Herr erbarme dich!“ ist der Ruf menschlicher Lebenswirklichkeit. Diesen Ruf lehrt das Leben. Diesem Ruf verschließt sich Jesus nicht. Dieser Ruf bleibt vor Gottes Thron nicht ungehört! Das große Halleluja wird am Ende der Zeit gesungen. Das „Kyrie eleison“ wird in der Zeit und zu allen Zeiten gesungen, gebetet, gefleht, gestammelt und geschrien. „Und Jesus blieb stehen!“ Wenn alle wegschauen, wenn alle weiterziehen, Jesus bleibt stehen! Er sieht nicht nur unsere Not. Er kennt unsere Not! Er kennt alle Nöte und Tiefen des Lebens, er der heruntergekommene Gott. „Siehe so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab. Auf dass alle, die an ihn Glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ Das ist das Programm, das in dem damaligen Allerweltsnamen, dem Namen für alle Welt „Jesus“ verkörpert, lebendig geworden ist! Gott rettet! Bibeltext Vers 49 ff Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 4 Jesus hört Bartimäus rufen, bleibt stehen und wendet sich … nicht Bartimäus zu, sondern denen, die Bartimäus zum Schweigen bringen wollten. Ihnen gibt er den Auftrag, ihn zu rufen. Die, die im Weg standen, werden zu Wegbereitern. Was für eine Wendung in der Geschichte. Damit hätte niemand gerechnet. Sie? Ich? Rechnen wir mit solchen Veränderungen? Trauen wir Menschen einen solchen Sinneswandel, eine solche Veränderung zu? „Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!“ Aus dem barschen, abweisenden Ton wird eine freundliche Tonlage. Die Verärgerung und Missachtung weicht der Ermutigung. „Sei guten Mutes, steh auf! Er ruft dich.“ Veränderung ist möglich – auch und gerade dort wo wir nicht oder nicht mehr mit ihr rechnen und dort, wo wir Menschen Veränderung nicht mehr zutrauen. Fehlendes Zutrauen, mangelndes Vertrauen legt fest, verhindert Veränderung. Vertrauen, Glaube, Hoffnung macht Veränderung möglich. „Sei guten Mutes, steh auf! Er ruft dich.“ Bartimäus lässt sich das nicht zweimal sagen. Er springt auf, wirft den Mantel ab und geht auf Jesus zu. Ist der Hinweis auf den Mantel ein erzählerisch ausschmückendes, aber im Grunde unwesentliches Detail? Mit Sicherheit nicht. Biblische Erzählungen haben eine Tiefe und unaufdringliche Anschaulichkeit, die sich dem Hörer und der Hörerin meist intuitiv erschließt. „Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.“ Bartimäus lässt mit dem Mantel das zurück, was ihm bisher Sicherheit und Schutz geboten hat. Er ist voller Erwartung, Hoffnung und Vertrauen in Jesus, den Gesalbten Gottes. Bartimäus setzt alles auf eine Karte. Er braucht keinen Mantel mehr, an dem er festhält. Er vertraut darauf, dass er gehalten wird. „Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.“ Ist das nicht klar was Bartimäus will und braucht. Wozu diese Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Wüssten wir es, wen wir gefragt wären? Keine nichtigen Wünsche, keine Nebensächlichkeiten des Lebens. unsere einmalige Chance verspielen. Ob ich es wagen kann, meinen Schutzmantel, meine schützende und vielleicht zugleich drückende Panzerung Jesus gegenüber vorsichtige zu öffnen, abzulegen, mich seiner heilsamen Zuwendung und Geborgenheit auszusetzen? Machen mich meine Schutzmassnahmen gar unsensibel für gute Begegnungen und wohltuende Worte? Hören wir Jesu seelsorgerliche Frage an uns: „Was willst Du, dass ich Dir tun soll!“ Ich lade uns ein, in einer kurzen Zeit der Stille und des Gebets seine Worte zu hören, ihnen nach zu sinnen und vor Jesus zu treten. „Fürchte Dich nicht! Was willst Du, dass ich Dir tun soll!“ Kurze Zeit der Stille Die Antwort, die Bartimäus gibt, beginnt mit der ehrfürchtigen Anrede „Rabbuni – Meister, dass ich wörtlich - „aufblicken, aufschauen kann“. Nicht „nur“ sehen, sondern aufsehen, nicht nur schauen, sondern aufschauen können – das ist der innigste Wunsch, die Bitte des Bartimäus. Aufsehen, das ist eine befreiende, eine freimachende Bewegung, ein Sehen, das mich in Beziehung setzt. Aufsehen ist eine Ausdrucksform des Glaubens. Zum Aufsehen auf den Gekreuzigten und Auferstandenen sind wir eingeladen. Zur Gottesbeziehung sind wir berufen. Und Jesus rührt keinen Brei aus Speichel und Erde an. Er berührt Bartimäus nicht einmal. Er sagt nur noch: „Geh! Dein Glaube hat Dir geholfen!“ oder „Dein Glaube hat Dich gerettet!“ Der Glaube, das Vertrauen rettet. In der Beziehung, im Aufsehen auf Jesus finden wir unser Heil, in IHM liegt unsere Rettung. Ein Verhältnis und nicht irgendein besonderes Verhalten definiert unser Christsein, unsere Geborgenheit in Christus. Nicht wir allein, sondern ER mit uns, in uns und um uns! Rettung umfasst das ganze Leben und nicht nur die Heilung von einem Gebrechen. Rettung erfahren wir nicht irgendwann am Ende der Zeit. Sie ist in Jesus Christus - heute und in alle Ewigkeit - gegenwärtig und umfassend geschehen. Bartimäus – der Sohn des Timäus – ist nicht mehr nur durch seine Herkunftsfamilie bestimmt und gehalten. Bartimäus lässt sich ganz auf die neue Beziehung – seine Christusbeziehung – ein. Jesus sagt ihm „Geh!“. Bartimäus ist befreit und frei zu gehen. Und was tut er. Er geht und folgt Jesus nach. Er geht nicht weg, um die ihm neu eröffneten beruflichen und familiärer Möglichkeiten und Chancen zu nutzen. Er geht nicht weg, um nachzuholen, auf was er bisher verzichten musste. Bartimäus geht mit Jesus - ein wunderbares Bild für die neue Beziehung und ihre Bedeutung für Bartimäus und sein Leben. Was 5 glauben Sie, was und wovon würde Bartimäus uns heute im Rückblick berichten? Würde er den Moment seiner Heilung nochmals schildern? Würde er uns berichten, was sein Weggehen, seine Jesusnachfolge für seine Familie bedeutet hat? Würde er begeistert davon berichten, was er am darauffolgenden Tag, zusammen mit den Jüngern, beim Einzug von Jesus in Jerusalem erlebt hat? Oder würde ihm noch das Entsetzen ins Gesicht geschrieben sein, wenn er von der Verurteilung und der Hinrichtung Jesu berichtet, die er hautnah er- und hilflos durchlebt hat? Würde er von der maßlosen Enttäuschung der verängstigten Jüngerschar berichten, die sich nach dem Begräbnis von Jesus in Häuser zurückgezogen und eingeschlossen haben? Auf wen nur haben er und die anderen Weggefährten ihr ganzes Vertrauen, ihre Hoffnungen gesetzt? Bartimäus würde uns als Zeuge dieser Ereignisse dies alles erzählen, aber er würde uns zuallererst bezeugen, dass Jesus lebt. Bartimäus ist durch alle Tiefen des Lebens hindurch zum Osterzeuge, zum Zeuge des auferstandenen und lebendigen Herrns geworden. Bartimäus Geschichte mit Jesus ist eine Ostergeschichte! Gottes Geschichte mit uns ist Ostergeschichte. Gott schreibt Ostergeschichte – die Geschichte des unvergänglichen Lebens - auch für uns! Veränderung ist nicht nur möglich. Veränderung ist geschehen! Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen! Werner Baur , Mössingen 07. Juni 2012 6