Durst_files/DIE DURSTIGEN-MaterialMAPPE

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DIE DURSTIGEN VON WAJDI MOUAWAD / IN ZUSAMMENARBEIT MIT BENOÎT VERMEULEN / AUS DEM FRANKOKANADISCHEN VON ULI MENKE Materialmappe zur Inszenierung Regie: Sonja Wassermann Bühne: Eckhard Reschat Schauspiel: Markus Achatz, Sarah Rebecca Kühl, Philipp Strobl Technik: Wolfgang Franz Foto: Dominik Achatz Theater WalTzwerk Koproduktion mit dem Stadttheater Klagenfurt www.waltzwerk.at Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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ÜBERSICHT: Einleitung Der Autor Das Stück Struktur und Aufbau des Stückes Entstehung des Textes Schönheit / Lebensdrang / Eros Offener Brief des Autors Theaterpädagogische Anregungen S.3 S.4 S.6 S.8 S.9 S.10 S.12 S.15 Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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EINLEITUNG: Liebe Lehrerinnen und Lehrer, wir vom Theater WalTzwerk haben in dieser Materialmappe Informationen und Anregungen gesammelt, die ihren Schülern helfen können, den Theaterbesuch zu intensivieren. Mit dem Jugendstück DIE DURSTIGEN steht diesen Herbst ein sehr anspruchsvolles Stück Jugendliteratur auf dem Programm, welches die Sinnsuche der Jugendlichen radikal in den Mittelpunkt stellt mit all den Zweifeln, pochenden Fragen, Leidenschaften und Verlusten. Welche Kraft treibt uns Menschen an, warum existieren wir und was machen wir, wenn wir unseren Lebensdrang verlieren? Das sind Fragen, die sich die Menschheit seit Jahrhunderten stellt und mit denen sich auch die beiden Hauptfiguren -­‐ jede auf ganz eigene Art -­‐
kompromisslos auseinandersetzen. Wir hoffen, mit den folgenden Seiten Lust und Begeisterung für den Theaterbesuch im Jazz-­‐Club Kammerlichtspiele zu wecken und freuen uns, sie dort begrüßen zu dürfen! Die theaterpädagogischen Anregungen können zur Vor-­‐ oder Nachbereitung genutzt werden! Das Stück DIE DURSTIGEN empfehlen wir ab 14+! Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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DER AUTOR: Wajdi Mouawad wurde 1968 im Libanon als Kind einer wohlhabenden christlichen Familie geboren. 1977 flieht seine Familie vor dem Bürgerkrieg nach Frankreich und lässt sich in Paris nieder. 1983 beschließen seine Eltern nach Kanada zu ziehen, wo sie sich in Montréal im Bundesstaat Quebec niederlassen. Dort absolviert er eine Schauspielausbildung an der „Ecole Nationale du Canada“. Im Alter von 16 Jahren beginnt Mouawad zu schreiben. Er verfasst vor allem Theaterstücke. Nach ersten Erfolgen in der Theaterszene Kanadas erhält er mehrere Autorenstipendien an französischen Theatern. 1999 wird er auch in Europa bekannt, nachdem sein Stück „Littoral / Küstengebiet“ auf dem bedeutenden „Festival d´Avigon“ aufgeführt wird. In den folgenden Jahren Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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schreibt er mehrere Theaterstücke und Romane, die in viele Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt aufgeführt werden. Er erhält einige Preise und bekommt 2002 von der französischen Regierung eine Auszeichnung für sein Gesamtwerk. Als er 2005 mit dem „Prix Molière“ als bester französischsprachiger Autor geehrt werden soll, löst Mouawad einen Skandal aus: Er will den Preis nicht annehmen, um gegen die Gleichgültigkeit und die Ignoranz zeitgenössischer Stücke zu protestieren, die er bei vielen Inszenierungen sieht. 2007 wird Mouawad künstlerischer Leiter des „Theatre Francais“ am „Centre National des Arts“ in Kanada. Nebenher arbeitet er weiter als Schauspieler, Autor und Theaterregisseur. Niemand weiß genau wo Wajdi Mouawad heute lebt. Auf diese Frage hin antwortet er nur, dass er da wohnt wo die Arbeit ihn hintreibt. Er verweilt immer dort wo er mit Inszenierungen beauftragt ist. Es scheint, als hätten es die aufeinanderfolgenden Exile ihm unmöglich gemacht sesshaft zu werden, um nicht noch mehr Trennungsschmerz und Verlust zu erleiden. Er wirkt dem „Entwurzeltwerden“ vor, indem er sich gar nicht erst verwurzelt. Diese Gefühle ziehen sich durch viele seiner Stücke. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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DAS STÜCK Das Stück „DIE DURSTIGEN“ erzählt von der Sinnsuche zweier Menschen: dem jugendlichen Murdoch und seinem Jugendfreund Boon. Boon ist inzwischen Mitte Dreißig und arbeitet als Gerichtsmediziner. Auf seinem Tisch landet ein merkwürdiger Fall. Er soll zwei Leichen identifizieren, die in einem Fluss gefunden wurden. In einem der beiden Toten erkennt er seinen Jugendfreund Murdoch wieder, der 15 Jahre zuvor auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist. Die Identität der zweiten Leiche, die Murdoch eng umschlungen hält, bleibt zunächst ein Rätsel. Als der 17-­‐jährige Murdoch am 6. Februar aufwacht hat er eine für ihn aufwühlende Erkenntnis: „Als ich heute Morgen aufgestanden bin habe ich kapiert, dass die Dinge, all die Dinge die einen Sin für mich hatten, gestorben sind. Es ist frappierend die Mechanik einer Welt zu sehen, die so lange magisch gewesen ist!“ Die Suche nach Sinnhaftigkeit hinter dem Alltäglichen erzeugt in ihm Rebellion und einen wütenden Aufschrei gegen die ihm begegnende Leere und Gleichgültigkeit in der Welt. Doch es gibt keinen Widerhall. Die Menschen in seiner Umgebung wenden sich von ihm ab. Auch in der Schule gibt es auf seine drängenden Fragen keine Antworten. Er findet keinen Daseinsgrund, nichts an das er glauben kann. Boon erinnert sich an diesen letzten Tag, an dem Murdoch von seinem Aufstehen am Morgen bis zu seinem Verschwinden ununterbrochen redete Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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und es unmöglich war ihn zum Schweigen zu bringen. Diesen Jungen nun hat Boon 15 Jahre später wiedergefunden. Mit Murdochs Leiche kehrt die Erinnerung an ein prägendes Erlebnis aus seiner Jugend zurück. „Murdoch hatte sofort eine weitere Leiche wieder auftauchen lassen: meine eigene, die des Jugendlichen der ich mal war.“ Boon wollte Schriftsteller werden. Doch als sein selbst geschriebenes Theaterstück in der Schule verlacht wird und sein Bruder, der eigentlich an seine schriftstellerischen Qualitäten glaubte, ihm deswegen ins Gesicht spuckt ist Boon zutiefst verletzt und gekränkt. Er begräbt seinen Traum Schriftsteller zu werden. „An jenem Abend habe ich mich diskret umgebracht und beerdigt, auf meine Art und blieb dabei am Leben, denn ich wollte nicht verschwinden. Ich habe das Leben zu sehr geliebt“. Die Rückbesinnung auf seine Jugend und die Erinnerung an die verloren gegangenen Träume lassen Boon mit seinem jetzigen Leben hadern. Erneut begegnet er der Kraft der Poesie, die ihn letztlich zur Auflösung des Rätsels und zur Identifizierung der zweiten Leiche auf seinem Tisch führt. „Die Durstigen“ wurde 2010 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
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STRUKTUR UND AUFBAU DES STÜCKES: Die Hauptfigur Boon führt uns durch das Stück. Wir sehen Boon wie er durch den Fund von zwei nicht identifizierbaren Leichen in seine Vergangenheit katapultiert wird. In Rückblicken sehen wir die Figur Murdoch und seinen Jugendfreund, der am 6. Februar aufwachte und nicht mehr aufhörte zu reden. Zwischen den Rückblicken sieht der Zuschauer eine weitere Figur namens Norwegen auftauchen. Im Laufe des Stückes wird deutlich, dass es sich dabei nur um eine fiktive Figur handelt und diese aus dem selbstverfassten Theaterstück des jugendlichen Boon stammt. Die Figuren erzählen ihre Geschichten meist in Monologen, die sich abwechseln und direkt an das Publikum richten. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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ENTSTEHUNG: „Die Durstigen“ ist ein poetisches und kraftvolles Stück über die Suche nach der eigenen Identität. Es erzählt vom Durst nach Sinn und Liebe, von Enttäuschungen und verloren gegangenen Träumen. Realität und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit sind dabei kunstvoll miteinander verwoben. Entstanden ist das Stück 2005 in enger Zusammenarbeit mit dem im Libanon geborenen frankokanadischen Autor und Regisseur Wajdi Mouawad und dem kanadischen Jugendtheatermacher Benoît Vermeulen. Die Grundidee für „Die Durstigen“ entwickelte sich aus vielen Gesprächen der beiden Theatermacher über das, was sie in ihrer eigenen Jugend beschäftige und was der Ursprung ihrer Wünsche und Sorgen war. „Eines Tages fragte Wajdi mich: „Warum stehst du morgens auf?“ Und los ging’s! Da war sie die Sorte Frage, deren Antwort automatisch eine neue Frage nach sich zog, die uns unweigerlich fortriss in einen Bereich, der zunehmend existentiell wurde: „Für die Arbeit.“ „Wozu diese Arbeit machen?’“ ‚ „Aus Leidenschaft.“ „Wozu dieser Drang nach Leidenschaft?’ ‚Um sich lebendig zu fühlen.“ „Warum dieses Bedürfnis sich lebendig zu fühlen?“ Diese Frage-­‐Antwort-­‐Spirale führte beide zu ihren eigenen Grenzen, und anstatt zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen kamen sie zu der Überzeugung, „dass alle Menschen durch einen unstillbaren Durst nach Unendlichkeit vereint sind, und wenn dieser Durst vergessen wird es damit endet, dass man früher oder später davon eingeholt wird.“ Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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SCHÖNHEIT/ EROS / LEBENSDRANG In dem Stück DIE DURSTIGEN bekommt Murdoch die Aufgabe eine Umfrage bei den Menschen seines Viertels durchzuführen, um ihre Wahrnehmung für DAS SCHÖNE besser kennenzulernen. Doch was ist überhaupt Schönheit und was bezeichnen wir als schön? Schönheit ist zuerst einmal ein abstrakter Begriff und kann für Menschen eine unterschiedliche Bedeutung haben. Unser persönliches Empfinden von Schönheit hängt z.B. auch von gesellschaftlichen Prägungen und Konventionen ab. Die Mode-­‐ und Werbewelt arbeitet gezielt mit diesen Empfindungen und versucht, ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit als allgemeingültig hinzustellen. Wenn wir im Alltag etwas als schön bezeichnen wie z.B.: ein schöner Mensch, ein schönes Bild, schöne Kleidung, schöne Musik oder auch eine angenehme Berührung, dann hat dies ein äußerer Eindruck bewirkt, der ein schönes Gefühl in uns erzeugt hat . Schönheit gibt es auch in der Sprache. So können wir z.B. auch ein sehr trauriges Gedicht in seiner Schönheit wahrnehmen und als schön bezeichnen, oder ein inspirierendes Gespräch als ein schönes Gespräch wahrnehmen. Seit der Antike gehört das Staunen über Schönheit zu den wichtigsten Themen der Philosophie. Schon Platon beschäftigte sich in seinem Werk DAS GASTMAHL damit, wie Schönheit auf die Menschen wirkt und forderte von seinen Figuren Lobreden, die den Gott EROS würdigen sollten. EROS ist in der griechischen Mythologie der Gott der Erotik und des Begehrens, wird aber auch in der antiken Philosophie als kosmische Kraft Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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bezeichnet, die den Menschen antreibt. Eros könnte also auch als Lebensdrang bezeichnet werden. Die Kraft, die uns antreibt weiter zu leben. Die Priesterin Diotima erklärt im Stück DAS GASTMAHL ihrem Gesprächspartner Sokrates, dass grundsätzlich jeder Mensch nach Schönheit strebt. Die Seele des Menschen sei dem Schönen zugeneigt, sagt sie. Zuerst erkenne der Mensch die Schönheit in einem physischen Körper und begehre diesen. Dann erst erkennt er die Schönheit in allen Körpern. Durch die Liebe zu den schönen Körpern kommt er zu der Schönheit der Seelen und bevorzugt diese dann. Habe der Mensch diese erkannt, so komme er zum Erkennen des Schönen in den Institutionen, in den Gesetzen sowie im Staat. Die nächste Stufe sei das Erkennen von Schönheit in den Wissenschaften, sowie im Erkenntnisprozess, im Geist selbst. Darauf folge die Erleuchtung: das Erkennen und die Bewunderung für die Idee des Schönen. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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OFFENER BRIEF AN MEINE ALTERSGENOSSEN:
Von Wajdi Mouawad
Wir sind dreißig Jahre alt und haben bestimmt etwas zu sagen. Aber was? ... Als wir noch Kinder waren spürten wir, dass das Dasein einen höheren Sinn hat, der uns aus dem Alltagstrott herausreißen kann. Solange wir darauf warteten aktiv an den Bewegungen dieser Welt teilzunehmen, träumten wir von Zauberern und schrecklichen Wölfen. Wir hatten Angst vor der Dunkelheit und die Nacht entzündete unsere Vorstellungskraft. Aus diesen unschätzbaren Träumen und Ängsten heraus entstand unser Verhältnis zur Welt; und aus diesem erträumten Verhältnis haben wir instinktiv gelernt zu denken. Aber seit unserer Geburt schwebt eine Frage über unseren Köpfen, ohne dass wir von ihr gewusst hätten. Ohne dass uns jemand etwas gesagt hätte. Und nun, am letzten 11. September, ist diese Frage heruntergestürzt, hat uns die Kehle durchschnitten und hat sich uns erbarmungslos gestellt: Haben unsere Ideen, die wir aus unseren Kinderträumen geschlussfolgert haben, in einer Welt, in der alles schon im Vorhinein entschieden zu sein scheint, noch einen Wert? ... Es geht hier weder darum, Anklage zu erheben, noch die Schuldigen zu finden, oder wem auch immer den schwarzen Peter zuzuschieben, sondern darum, auf empfindsame, emotionale Art von der Verwirrung zu reden, in der wir uns befinden, seit wir mit dreißig Jahren die Welt angeschaut haben und wir vor der Unmöglichkeit stehen, sie zu verstehen. ... Der Mensch ist eine Kette von Gen-­‐Codes. Wir haben sie entschlüsselt. Wir können sie jetzt auseinander nehmen und wieder zusammensetzen. Dadurch wird die metaphysische Dimension des Menschen und die großen Herausforderungen seiner Geschichte (Tod, Krieg, Schmerz, Kummer und Liebe) plattgewalzt, diese Generation hat uns in eine grauenhafte binäre Logik hineingetrieben, die besagt, dass man glücklich ist, wenn man glücklich ist, und unglücklich, wenn man unglücklich ist. Diese Generation hat am Ende selbst daran geglaubt, dass sie moralisch und tugendreich sei, weil sie ständig Selbstverständlichkeiten herausposaunt: Krieg ist schlecht und Kunst ist wichtig. Diese philosophische Bigotterie hat uns die Begeisterung geraubt. Diese Generation, unsere Elterngeneration, hat uns zu Touristen gemacht, die am Strand unseres Lebens angespült wurden. Die Leidenschaft und die Begeisterung sind auf hoher See, da, wo die Wellen hochschlagen und der Himmel in Aufruhr ist. Diese Generation sagt uns, dass dort der Tod, das Unglück lauert. Dort ist die Einsamkeit. Dort, auf hoher See, schläft man schlecht und das Wasser ist nicht so sauber. Bleib hier, denn dort bleibt dir nichts. Die Generation, die uns vorausgeht, unsere Elterngeneration, hat uns richtig Schiss gemacht. Du, der du die Welt gerade entdeckst, wisse, dass die Welt ein Strand ist, von dem man besser nicht wegläuft. Wenn du dableibst, hast du die Sonne, hast du die Welt und bist du ein Musterbild des größten Erfolgs der Freiheit und des Spaßes. Das Glück. Du wirst in Frieden leben. Jetzt aber hat sich der Zyklon erhoben und das Chaos, das dort, auf hoher See war, kommt auf uns zu, bäumt sich über unseren Köpfen auf und wird sich auf diesen geschützten Strand stürzen. Wir sind dreißig und entdecken das Entsetzen… Entsetzen… ... Ich schreibe nur an meine Altersgenossen. Ich sage, seien wir geduldig, denn diejenigen, die glauben, dass das Glück sieben Tage in der Woche zu haben ist, und dass dort alles zu haben ist, sogar ein Freund, werden bald tot sein. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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Was immer kommen mag, in vierzig Jahren werden die, die heute die Welt regieren, tot und begraben sein. Und die Welt wird dann in unseren müden und erschöpften Händen liegen. Wir werden im goldenen Zeitalter sein, die letzte Generation, die eine Erinnerung an das vergangene Jahrhundert im Gedächtnis bewahrt. Wieviel Aufmerksamkeit werden wir unsererseits dem Wohl der Welt schenken, kurz bevor wir sie verlassen werden? Ich spreche zu meinen Altersgenossen, und ausschließlich zu ihnen, dass wir wieder werden lernen müssen, dem Chaos ins Auge zu blicken und keine Angst zu haben. Ein Leben, das unseren Kinderträumen fremd ist, ist im Anmarsch. Auch wenn keiner dieses Leben will, so will auch keiner ein Dasein, das drei Viertel von uns dazu zwingt, ihr Leben hinter einer Registrierkasse oder aufgrund von Autobomben zu opfern. Man hat uns beigebracht, Krieg sei etwas Schlechtes, das es nie geben dürfe, damit immer nur Freiheit entstehe. Heute ist diese Freiheit bedroht, deshalb müssen wir Krieg führen. Wenn er erst gewonnen ist, werden wir die Freiheit von früher wieder finden, und diese Freiheit scheint das Erbe zu sein, das unsere Eltern uns gerne vermachen würden. Aber was hat es mit dieser Freiheit genau auf sich? ... Die Ereignisse, die kürzlich stattgefunden haben, sind mit anderen Ereignissen aus der Vergangenheit verknüpft und sind dazu da, uns daran zu erinnern, dass keine Gesellschaft ihr Glück und ihre Entwicklung darauf aufbauen kann, dass sie eine Welt schafft, die auf dem Blut ferner Gesellschaften gegründet ist. Ich schreibe an meine Altersgenossen. Ich schreibe ihnen in allen Sprachen, um zu sagen, dass unsere Generation Wunder braucht, denn wir werden uns bald um diese zusammenstürzende Welt kümmern müssen. Wenn heute kein Ausweg möglich zu sein scheint, wenn heute der Traum einer vielfältigen Welt im Sterben liegt und wenn es uns heute so vorkommt, als wäre die Philosophie, die Kunst und das Denken völlig nutzlos dabei, uns von unserer Angst zu befreien, die von nun an unser aller Los ist, dann wird es an uns liegen, in zukünftigen Zeiten die Idee einer fröhlichen Solidarität wieder hochzuhalten, indem wir versuchen, die Welt zu bremsen. Und jenen, die voller Ironie eine Welt aufgebaut haben, die sie selbst nicht wollen, jenen, die uns etwas von Erfahrung erzählen werden, und uns sagen, dass wir verstehen werden, wenn wir erst größer sind, wir werden sie bitten, kurz zu schweigen. Zu schweigen und zuzuhören. Wir werden ihnen sagen, dass sie der Wut der Jugend zuhören sollen, die sie zu Unterlegenen der Unterlegenen machen wird. Voller Verständnis werden wir zu uns sagen: „Die Jugend ist auf euch wütend. Sie verlässt diesen sterilisierten Strand, an dem ihr sie eingesperrt habt. Und wie Vergil einst, schifft sie sich auf Segelbooten ein, um zu den endlosen Weiten aufzubrechen, wo Begeisterung noch möglich ist. Die Jugend ist wütend. Sie zieht los und überlässt euch Touristen eurem eigenen Leben, eurer eigenen Ironie. Sie geht und die Sonne geht mit ihnen.“ Wir werden ihnen sagen, die Sonne nicht mehr zu suchen, dass die Sonne zurückkommen wird, aber nicht für sie. Vollgestopft mit Zarathustras Worten, werden wir ihnen auch sagen, dass das Böse, das sie uns angetan haben, schlimmer ist als Mord, wir werden ihnen sagen, dass sie uns des Unersetzlichen beraubt haben, das sie die Visionen unserer Jugend getötet haben, die Visionen unserer größten Wunder getötet haben. Wir werden ihnen sagen, dass sie uns unsere Spielkameraden weggenommen haben und dass wir den Mond zu ihrem Gedächtnis begrünen werden. Von jetzt an müssen wir uns im Bewusstsein unseres eigenen Todes sprechen. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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Aus: frictions théâtres_écritures n°5, Winter 2002 (Originaltitel: Lettre ouverte aux gens de mon âge) aus dem Französischen von Uli Menke. Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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THEATERPÄDAGOGISCHE ANREGUNGEN:
Gesprächsanregungen:
-Wie hat euch das Stück gefallen?
-Was haltet ihr von der Inszenierung?
-Wie hat euch die Bühne gefallen? In welchen Räumen spielte das Stück?
-Was hat euch am besten gefallen?
-Was hat euch nicht gefallen?
In dem Stück bekommt Murdoch folgende Aufgabe:
„Führt bei den Leuten in eurem Viertel mit einem audiovisuellen
Aufnahmegerät eine Umfrage durch, um ihre Wahrnehmung des Schönen besser
kennen zu lernen, und stellt eure eigene Schlussfolgerung in Form einer
Theateraufführung dar!“
- Schreibe ein Gedicht oder eine kurze Erzählung mit dem Titel:
„Das Schöne“
- Was bedeutet für dich Schönheit? Was bedeutet für dich Hässlichkeit? - Welche Philosophen haben den Begriff von Schönheit geprägt und was verstanden sie darunter? - Was bedeutet für dich Schönheit in der Kindheit, in der Jugend und im Erwachsenenalter? - Woher kommt dein Wunsch, intensiv zu leben? - Wo suchst du nach Erfüllung? Was wäre für dich ein erfülltes Leben? - Was ermutigt dich, deinem Leben zu trauen? - Warum heißt das Stück DIE DURSTIGEN? - Was ist überhaupt Durst? Beschreibe das Gefühl. - Beschreibe den Lebensdurst der drei Figuren in dem Stück! Theater WalTzwerk / 0676/ 57 44 833 / www.waltzwerk.at [email protected]
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- Was glaubst du, fehlt den Figuren in ihrem Leben? Beschreib die Figur Norwegen! - Was entdeckt Norwegen in ihrem Bauch? - Wofür könnte diese Metapher stehen? - Was könnte Norwegen mit folgendem Satz meinen: „Viele Menschen nehmen es hin, mit der Hässlichkeit zu leben, einige lehnen es
ab.“
Falls auch Sie mit ihren Schülern und diesem Text arbeiten wollen, können Sie
diesen hier anfordern:
www.verlagderautoren.de
Wir bedanken uns für das Interesse an unserer Arbeit und freuen uns auf ein
Wiedersehen!
Ihr Theater WalTzwerk
Markus Achatz, Sarah Rebecca Kühl, Maximilian Achatz, Peter H. Ebner
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