Die erste Stufe oder der General treibt Unfug

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Die erste Stufe oder der General treibt Unfug
Die erste Stufe
oder
Der General treibt Unfug
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades eines Diplom-Ingenieurs
der Fachrichtung Architektur
von
Lisa Rossian und Christoph Schwarz
Technische Universität Graz
Erzherzog-Johann Universität
durchgeführt am Institut für Gebäudelehre
Begutachterin
Univ.-Ass. Dipl.-Ing. Dr.techn. Ulrike Tischler
Graz, 2004
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„Nobody in Panama City only turns up once. Like a play with a small cast the same
actors were always reappearing in different roles.”
Graham Greene, Getting to know the General
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INHALTSANGABE
Prolog
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Mein lieber König
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Panamaland
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Monsieur de Lesseps baut keinen Kanal
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Der erste Präsident und ein Kanal
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Hipólito
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Die Kanalübergabe
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Der General und Graham Greene
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Grabgespräche
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Manuel Noriegas Zellenmonolog
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CNN
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Die Marionettenregierung
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Wahlkampf 2004
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Die Hitchcock´sche Konstante
83
Meer
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Die Barrios von Panama City
99
El Mercado de los Mariscos
109
El Mercado Publico
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El Chorrillo, Teil 1
125
El Chorrillo, Teil 2
137
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Prolog
Du gibst Unwissen von dir. UNsinniges, UNinteressantes, UNzusammenhängendes,
UNnützes Wissen. Was soll ich damit anfangen?
Mach damit, was du möchtest.
Wissen ist dazu da, es weiterzugeben.
Wissen ist dazu da, es für sich zu behalten.
Warum konntest DU es nicht für DICH behalten?
Ich habe es aufgedeckt. Ich bin der Oberkellner des Wissens – ich habe aufgedeckt,
also muss ich auch servieren.
Ich habe nichts von deinem Geschwätz bestellt. Ich wollte nicht aperitifisch wissen,
dass der wohl gigantischste Passagier, der je den Panamakanal durchquert hat,
King Kong war, als ihn die „Wanderer“ von seiner Schädelberginsel im Ostindischen
Meer nach New York schiffte, um dort seinen finalen Showdown durchzuführen,
und ich wollte nicht hors-d’oevrisch wissen, dass Richard Halliburton, der 1928
den Kanal durchschwamm, aufgrund seiner 63 Kilogramm Körpergewicht nur 36
Cents Durchfahrtsgebühr zahlte, ob brustschwimmend oder im Schmetterlingsstil.
Der Hinweis, dass King Kong mindestens das 30-fache bezahlt haben muss, und
dass er billiger durchgekommen wäre, wenn sich D.W.Lovelace dazu durchgerungen
hätte, seinen Schundroman zwei Jahre früher zu schreiben, bevor 1974 die Gebühr
pro Ladegewichtstonne von 90 Cents auf 1,08 Dollar erhöht wurde, war das
verachtenswerte Salatblatt am Rand des Tellers.
Ich wollte auch nicht, dass du mir als Hauptgang Tupperware hinstellst – um es
nach deiner verqueren Analogie auszudrücken – indem du mir erzählst, der gute
alte erfindungsreiche Tupper habe sich damals die Isla San José gekauft, um dort
ein Ferienresort hochzuziehen, sei aber unverrichteter Dinge wieder abgerückt,
nachdem er feststellen musste, dass sein Paradies vor Rückständen der USamerikanischen Chemiewaffentests nur so triefe und das ja nun wirklich nichts mit
seinem keimfreien Plastikidealismus gemein habe. Dann das fette Dessert, dass du
der in Panama City zur Miss Universe 2003 beförderten Miss Panama, hart genuger
Schicksalsschlag, wünschen würdest, sie könne irgendwann wieder so ein normales
Leben führen wie ihre russische Vorgängerin, die aufgrund ihrer Freude-am-LebenGewichtszunahme frühzeitig aus dem Amt gestoßen wurde. Und zum Abschluss
deiner Informationen und meines Magens der Käse, dass der Bau der panamaischen
Interozeanischen Eisenbahn als Reaktion auf den kalifornischen Goldrausch erfolgte,
um die Transportzeiten von West nach Ost zu beschleunigen, und folglich Leute
wie….Lucky Luke oder die Daltons….maßgeblich daran beteiligt waren/in Folge
arbeitslos wurden….
Aber du hast mich gebeten, dir etwas über Panama zu erzählen, und nichts
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anderes habe ich getan. Du wolltest etwas über den Panamakanal erfahren, über
die Geschichte, über die Menschen und über das Land. Es kommt alles vor. Und
es sind die Unwichtigkeiten, entschuldige, UNwichtigkeiten, banale, belanglose
Geschichten, die das Große Ganze erst interessant machen.
Bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla
bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla
bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla
bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla
bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla bla und
anschliessend der Vortrag über die kleinen großen Dinge, das unterschätzte Nichts
und die Überbewertung von Daten und Fakten, der erste Schritt macht den Weg und
das schwächste Glied die Kette zunichte bla bla.
Jetzt hör aber auf, schließlich hast du dir alles gemerkt!
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Santa Maria de Belén, Irgendwo in Asien, 16. April 1503
Mein lieber König,
Am dreihundertunddreißigsten Tag meiner nunmehr vierten Reise in Deinem Dienste,
die wie all die vorangegangenen Fahrten unter dem Zeichen der Entdeckung eines
Seeweges nach Indien stand, einem Weg für Deine so zahlreichen und stattlichen
Flotten, muss ich Dir meine baldige Heimkehr an die Küsten Spaniens ankündigen.
Ohne Umschweife will ich Dir gestehen, dass das Vorhaben gescheitert ist; nach
meinen neuesten Erkundungen gibt es jenen Wasserweg nicht.
An den Insulis Indie angekommen, segelten wir darauf stets Richtung Süden,
entlang der asiatischen Küste. Wochenlang verfolgten unsere Blicke zu Seiten
Steuerbords den Verlauf der Gestade, während sich von Osten die endlose See um
uns gischtete, die beidseitigen Horizonte so verschieden wie sie nur sein können,
doch eins in ihrer natürlichen Wildheit. Aber es tat sich vor uns kein Seeweg auf, der
uns gen Westen die Durchfahrt erlaubt hätte, kein Anzeichen einer Schleuse und
kein Ende der Landmasse.
Niemals bin ich mit leeren Händen zu Dir zurückgekehrt, und wenn ich denn keinen
Seeweg gefunden habe, so habe ich dir doch, neben den ganzen Eroberungen
unter deiner Krone, auch Reichtümer mitgebracht, die ich vor Ort erbeutete. Dieses
Mal wollte ich Dir das königlichste aller Mitbringsel darbieten. Auf den Insulis Indie
erfuhren wir von einem sagenhaften Goldland im Süden des Kontinents, glänzende
Erde würde uns erwarten, wohin wir unseren spanischen Fuß auch stellen. So gingen
wir, den Südkurs bis dahin streng beibehalten, schließlich vor Anker und an Land.
Hier gründete ich Dir eine neue Siedlung, die unter deiner Krone gedeihen möge:
Santa Maria de Belén. Sie sollte uns als Ausgangspunkt für unsere Expeditionen
dienen, die wir auf der Suche nach Deinem Gold führen wollten, ebenso wie sie den
Grundstein für eine neue Kolonie, Deinem Reiche untertan, legen sollte.
Doch als welch ein dummes Gewäsch stellte sich die narrende Rede vom Goldland
heraus! Nichts als harten Steinboden und nachgiebigen Sumpf fanden wir im
Landesinneren vor, am einen wie am anderen Ort nur schlechtgesinnte Tiere.
Hier lauern einem fletschende Raubkatzen auf, dort blutdürstende Moskitos und
Krokodile, und wären wenigstens die Einheimischen freundlich und wohlgesonnen,
ach was, umgänglich zumindest! Aber selbst die können uns nicht leiden. Kleine,
dunkelhäutige Gesellen sind sie, die unsere Sprache nicht beherrschen noch
verstehen; ihr gezieltes Zuwiderhandeln auf jeden unserer Befehle jedoch lässt
mich arg daran zweifeln. Darüber hinaus haben wir knapp ein Dutzend Mann an
Krankheiten verloren, ein weiteres Dutzend liegt gelbglühend in den Betten und
wartet auf die Erlösung. Wo sie sich ansteckten ist uns ein Rätsel, sie schwören
allesamt darauf, keinen intimen Kontakt mit Einheimischen gepflegt zu haben, in
Wahrheit sagen sie, sie würden drauf pfeifen. Wir versuchen sie zu erretten, allein es
scheint uns zu misslingen. Die Kost, die wir ihnen vorsetzen können, die wir alle hier
vorgesetzt bekommen, lässt einen mehr erkranken denn gesunden. Sie lässt stark
zu wünschen übrig und ist mangelhaft. Die Eingeborenen verschwenden keine Zeit
darauf, uns die Zubereitung ihrer merkwürdigen Knollen zu erklären. So bleibt uns
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nur der Fisch, des Seefahrers kulinarischer Feind.
Das Alles macht mich des Suchens nach Gold überdrüssig, vielmehr noch, es
verleidet mir, noch einen Tag länger hier zu bleiben. Ich packe die kränkelnden
Seemänner ins Heck und werde Befehl geben, die Segel in den heimwärtsführenden
Wind zu spannen. Wenn es denn günstig bläst, werden wir in nicht weniger als
neunzig Tagen in Spanien anlegen und ich werde Dir genauen Bericht erstatten, so
Gott helfe und ich weder der Krankheit erliege noch den Stürmen des Meeres.
Auf bald, Dein Cristóbal Colón
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Panamaland
Vorwärts und rückwärts, mehr Bewegungsmöglichkeiten gibt es in Panama nicht,
der Seitwärtsschritt bleibt den Krebsen vorbehalten. Wie kann das sein, wirst du
dich fragen, immerhin ist die Welt in Breitengrade und Längengrade aufgeteilt, und
alles, was nicht nur seiltänzerisch auf einer dieser Linien balanciert, ist ein Land oder
ein Meer und bereits graphisch zweidimensional, und dann wirst du darauf pochen,
dass jedes Land, und somit auch Panama, schon allein deswegen auch noch eine
dritte Dimension hat, weil es sich aus dem Meer erhebt und sich die Z-Koordinate
hochrankt, und selbst ein Einäugiger ohne räumlichem Vorstellungsvermögen vermag
sich in alle Richtungen zu bewegen. Ich will dir nicht widersprechen und muss es
doch, auch wenn dein Einwand seine Richtigkeit hat; du hast meine Übertreibung allzu
wörtlich genommen, denn dass ich selbst in Panama imstande war, mich um meine
eigene Achse zu drehen und meinen rotierenden Fuß zu jeder Seite hin abzustellen,
das schien mir keiner Erwähnung wert. Aber das Land mit dem Auto zu bereisen ist
eine lineare Angelegenheit, die nur zwei Richtungen zulässt, denn ein und dieselbe
Straße erschließt ganz Panama – soweit es überhaupt erschlossen ist. Ein Großteil
des Landes ist undurchdringlicher Dschungel, ein wuchernder Nebeneffekt der
tropischen Klimazone, in dem es kein Fortkommen gibt, außer für würmerjagende
Beutelratten und beutelrattenjagende Raubkatzen und raubkatzenjagende Indios,
die sich allesamt geschmeidig zwischen den Luftwurzeln dem Geruch und den
Fährten nach verfolgen, doch für die Starre einer Karosserie gibt es weder Weg
noch Ziel. Noch bevor du das Ende der Straße freigeschlagen hast, werden sich die
Pflanzen über ihren Anfang stülpen, bevor du das Kiesbett eingefüllt hast, treiben
die ersten Keime bereits darin aus, bevor du die Asphaltdecke verlegt hast, springen
schon Horden von Brüllaffen über deinem Kopfe hinweg durch die Baumkronen, und
wenn du dann fertig bist und dich nach deiner Straße umblickst, wirst du sie nicht
wiederfinden. Wenn du glaubst, die Interamericana, eben jene von West nach Ost
verlaufende einzige Straße, würde sich davon unbeeindruckt zeigen, dann bist du
auf dem Holzweg, und während ich noch über meinen gelungenen Wortwitz lache,
stell du dir das Ausmaß der pflanzlichen Beeinträchtigung vor, die den Asphalt
beliebig knickt und faltet, ihm gierig Stücke aus den Seiten beißt und schließlich
kurz vor Kolumbien das Vorhaben zum Scheitern brachte, eine transkontinentale
Verbindung von Alaska nach Feuerland zu bauen.
Auf eben jene Interamericana schwenkte ich in Panama City ein, ich fuhr auf der
Puente de las Americas über den Kanal und sah die Containerschiffe unter mir
geduldig auf die Einfahrtserlaubnis warten, ich fuhr durch die karge Landschaft
von Coclé und sah riesige graue Wolkenberge, die sich beim Näherkommen
jeder Illusion entledigten und als echt herausstellten, echte unglaubwürdige
Berge, ich fuhr gemächlich auf der lochfreieren Überholspur, bis sie verschwand
und mich hinter morschen Huhn- und Bananen-LKWs einordnete, die sich nicht
scherten um den Zustand des Straßenbelags und Stoßstangen wie Geflügel in alle
Richtungen warfen, ich fuhr, um anderen Leuten den Nachmittag zu verschönern
und Abwechslung zu bieten, die in ihren Plastikstühlen vor der Haustür saßen und
den Verkehr beobachteten, manche saßen im Haus und hatten sich den Fernseher
so neben den Eingang gestellt, dass sie beides überblickten, die Straße und die
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Telenovela, aber was war schon ein absehbares Liebesdrama gegen eine meiner
absehbaren Pannen, wenn mein Kühlwasser überkochte sanken die Einschaltquoten
und mein Fluchen wurde zum Hauptabendprogramm. Ganze Familien klatschten
johlend in die Hände, wenn ich im Schlepptau eines Lastwagens an die nächste
Werkstatt gezogen wurde, es gab keinen Kopf im Umkreis von zehn Kilometern,
der nicht unter meiner Motorhaube gesteckt und mit fachkundiger Miene Ayayay, es
bastante caliente gesagt hätte, und diese Umkreise überlappten sich immer mehr,
je weiter ich mich auf der Interamericana fortbewegte. Am Anfang schuf Gott die
Straße, am zweiten Tag erschuf er die Pflanzen, auf dass sie ab dem dritten Tage den
Asphalt spröde werden ließen und die Zunft der Mechaniker hervorbrächten; was er
dazwischen anfertigte, berührt mich nicht, aber mein Auto schuf er am siebten Tag,
dabei hätte er doch ruhen sollen. Aber ich will kein weiteres Wort über den Zustand
der Straßen verlieren, denn eine Beschreibung all jener abzweigenden Schotterwege,
auf denen Löcher groß wie Tierfallen die Fahrt zu einem einzigen Ausweichmanöver
gestalteten, würde mich zu keinem Ende bringen.
Jede weitere Stadt neben Panama City kam nur schwerlich über die Ausmaße eines
Dorfes hinaus und war ein Abziehbild ihrer Nachbarstadt. Die Lücken zwischen
Kirche, Markt und Busbahnhof waren mit Schuluniformen und Plastiktieren
aufgefüllt, die sich vor den Geschäften auf dem Gehsteig stapelten, und die
gelegentlichen Lücken wiederum, die sich zwischen diesen Ramschläden auftaten,
füllten die kleinen Schiebewägen, von denen aus Kokosmilch und Rohrzuckersaft
verkauft wurde. Außerhalb der Stadt aber, wo der Dschungel kaum Freiräume ließ,
stieß man auf nicht viel mehr als chinesische Supermärkte, in denen Kondensmilch
und Macheten die Verkaufsschlager darstellten.
Die zwei Jahreszeiten, die den Rhythmus der Natur vorgaben, waren mir albern
erschienen, solange ich mich in der Stadt aufgehalten hatte, denn sie zeigten keine
Unterschiede in der Temperatur, sondern variierten bloß die Feuchtigkeit. Aber
außerhalb der Stadt, inmitten von Dschungel und wuchernden Ebenen, konnte
man das Wasser in den Pflanzen rauschen hören. Mit einem Schlürfen sogen es die
Wurzeln aus der Erde, und selbst das entfernteste Blatt gierte danach und füllte sich,
bis der Baum voller kleiner Kugeln hing. Daran lag es vermutlich, dass selbst nach
der darauf folgenden achtmonatigen Trockenzeit nicht eine Pflanze verwelkt oder
verdörrt war, vielleicht schaffen sich aber auch Pflanzen, die sich schon über der
Erde so hemmungslos ausbreiten, auch unterirdische Vorratskammern, indem sie
sich mit ihren Wurzeln Hohlräume schieben und Flüssigkeit horten.
Die Einwohner Panamas störten sich im Gegensatz zu mir nicht im Geringsten am
Regen. Wenn ein Wolkenbruch niederging, und man muss wissen, dass es keine
Nebenformen oder Unterarten von Regen gab, kein Nieseln und keinen leichten,
anhaltenden Regen, sondern immer nur Regen in dieser einen Form, kurz und
gewaltig, dann stand das Leben eben für die Dauer des Unwetters still. An der
Karibik wurde das Schlagen der Tropfen mit Reggae übertönt, in den kleineren
Städten im ganzen Land waren die Lokale bis zum letzten Platz besetzt, und die
Eingeborenenstämme zogen sich in ihr Sitzungshaus aus Bambus zurück und
beratschlagten, während in ihrer Mitte in fünf parallel schwingenden Hängematten
die Dorfältesten schliefen. Ich hingegen war bis zum letzten Tag meines Aufenthalts
nicht im Besitz eines Schirmes, einen Regenmantel hielt ich für schweißtreibend und
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einen Plastiksack für unschön, und es dauerte eine Zeit, bis ich einer Musestunde
unter einem baufälligen Balkon etwas abgewinnen konnte. Das Leben in Panama
geht gemächlich vor sich; man ist schnell verleitet zu behaupten, Gemächlichkeit
wäre eine Eigenschaft, die man sich leicht aneignen könnte, denn sie ist ohne Zweifel
wünschenswert. Aber dennoch wird es zu einer Frage der Übung, wenn es darum
geht, seine Wege, wenn man sie erst einmal für dringend erachtet hat, unverdrossen
zu unterbrechen und dem Wetter nicht nachzutragen, wenn die Erledigung erst am
nächsten Tag gemacht werden kann.
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Monsieur de Lesseps baut keinen Kanal
Auf dem Dielenfußboden hatten sich gläserne Pfützen gebildet, die sich keiner
besonderen Entstehungsgeschichte bewusst waren, sie waren einfach ihrer
begrenzten Logik gefolgt und hatten sich von der Wärme, die hier im Haus herrschte,
aus ihrer ursprünglichen Schneeklumpenform schmelzen lassen. Weder wussten
sie, welchem Umstand sie es zu verdanken hatten, dass sie nun in den nächsten
Aggregatzustand eingetreten waren, noch wer sie hierher gebracht hatte. Sie hatten
sich einfach in das erstbeste Profil gesetzt, das auf sie getreten war, und hatten den
Mann über den Schuhen ohne bestimmtes Ziel durch Paris getragen.
Zur gleichen Zeit ereignete es sich, dass sich auch am Parkettboden des
benachbarten Salons Wasser sammelte, das in kleinen Tropfen herabfiel. Aber
es war kein schimmerndes Badewasser, das von einer vergessenen Wanne der
Dachgeschoßwohnung herrührte, und auch kein nach Hagebutte duftendes Wasser
aus einer umgekippten Teekanne, die sich über den Tischrand entleerte. Vielmehr
waren es Tränen, und der Mann, aus dessen Augen sie flossen, hieß Ferdinand de
Lesseps. Monsieur de Lesseps saß in seinem Lehnstuhl, den weißhaarigen Kopf auf
die Hände gestützt, und ließ seine Trauer ungehindert gewähren. „Es ist unmöglich.
Es ist beschämend, “ wiederholte er unablässig, während seine Frau lautlos neben
ihm stand und nicht versuchte, ihn zu beruhigen. Er soll sich in Ruhe ausweinen,
dachte sie sich, den Arm auf seine Schulter gelegt, nichts, was ich zu ihm sage,
könnte ihm jetzt mehr von Nutzen sein als mein stilles Verständnis. Um zu begreifen,
was vorgefallen war, dass wir hier einen Mann von 83 Jahren, dessen Gesicht nicht
von Spuren der Verhärmung oder des Unglücks gefaltet ist, sondern für gewöhnlich
stolze und zufriedene Linien aufweist, beim Weinen beobachten, muss man wissen,
was sich im Laufe dieses Tages und der ihm vorangegangenen zugetragen hatte.
Ferdinand de Lesseps war ein Mann von großem Genie, aber was nützt der
aufgeweckteste Geist unter misstrauischen Geistern wie den unseren, wenn man
nicht die Gabe zur Überzeugung besitzt. Nun, in Bezug auf Ferdinand de Lesseps
bleibt diese Frage eine rein rhetorische, denn wenn man behaupten kann, dass er
etwas in noch größerem Ausmaß besaß als Genie, dann war das die Fähigkeit,
andere Menschen für seine Ideen zu gewinnen. Er hatte die nötige Selbstsicherheit,
in der man seine guten Absichten lesen konnte, genauso wie seine Zuversicht und
sein Gottvertrauen, und diese Ausstrahlung hatte eine magnetisierende Wirkung
auf die Leute. Er hatte sich einen Namen als großartiger Ingenieur gemacht, der
den Bau des Suezkanals in Angriff genommen und vollbracht hatte, trotz aller
topographischen und finanziellen Schwierigkeiten. Nun hatte er sich daran gewagt,
neue Maßstäbe in der Geschichte des Kanalbaus zu setzen: die Verbindung des
Pazifischen Ozeans mit den karibischen Ausläufern des Atlantik. Die Bauarbeiten
des Panamakanals waren schon seit längerem im Gange, und Ferdinand de Lesseps
hatte verkünden lassen, die bisher hervorgebrachten Anstrengungen könnten als
mehr als die Hälfte aller notwendigen Anstrengungen betrachtet werden. Allein, seine
Sicht der Dinge war reine Fiktion. Das Datum der Fertigstellung, sagte er auch, hätte
sich ein wenig verzögert, und die ursprüngliche Kostenschätzung von1,200,000,000
Francs wäre zu niedrig angesetzt worden, aber derlei Ankündigungen blieben
unwidersprochen. Hinzu kam, dass im Dezember des Jahres 1885 ein Orkan über
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die Karibik raste, der zuhauf Schiffe an die Küste warf, fünfzig Seeleute ertrinken
ließ und gewaltige Regenschauer mit sich brachte, die den Fluss Chagres innerhalb
weniger Stunden um dreißig Fuß ansteigen ließen, wodurch Meilen der Bahnlinie und
der Kanalgrabungen überflutetet wurden und unter all dem Schlamm den Anschein
erweckten, als gäbe es von einer Baustelle dieser Dimension nicht die geringste
Spur. Die Skeptiker zuhause in Frankreich nährten sich mit Schlagzeilen, die das
fürchterlichste finanzielle Desaster des 19. Jahrhunderts proklamierten und die
Unternehmung als unverzeihlichen Humbug beschimpften. Und doch, de Lesseps,
heiter wie immer, erinnerte daran, dass es beim Bau des Suezkanals nicht ein Jahr
ohne Krise gegeben hätte. Die Karawane würde weiterziehen.
Um die fehlenden 600 Millionen Francs aufzutreiben, sollten Kanalanleihen
mit beigefügten nummerierten Tickets verkauft werden, von denen einige, die
gewinnbringenden Tickets, große Geldsummen wert wären. Genau jene Art
der Lotterie-Aktien hatten im letzten Jahr des Suezkanals, als das Ausstellen
herkömmlicher Schuldverschreibungen nicht ausgereicht hatte, um genügend
Kapital zur Fertigstellung der Arbeit einzutreiben, den Kanal gerettet. Darüber
hinaus besaßen die gleichen Pfandbriefe jetzt den doppelten Wert. Das einzige,
was noch ausstand, war die Genehmigung der Regierung. Den ganzen Sommer
über trafen Petitionen der Panama Aktionäre in der Abgeordnetenkammer ein,
um das Vertrauen, das die Leute in Monsieur de Lesseps hegten, zu bekunden.
Und um noch die letzten Bedenken über die Situation am Isthmus zu zerstreuen,
erklärte der Ingenieur, er würde ein weiteres Mal nach Panama gehen, um nach dem
Rechten zu sehen. Als er zu dieser, seiner zweiten Reise an den Isthmus aufbrach
– zu seinem ersten tatsächlichen Blick auf den Panamakanal – war Ferdinand de
Lesseps achtzig Jahre alt. Und der Ansicht seiner tausenden Aktieninhaber nach
war genau das die kritische Ziffer in der Gleichung, wichtiger als jeder Aktienkurs
oder alle Ausgrabungsstatistiken. Es war keine Gesellschaft, an die sie glaubten,
oder ein Kanal durch Panama, sondern einzig dieser außergewöhnliche Mensch. Für
sie war er la grande entreprise. Die unverblümte Frage war also, wie lange konnte
diese sterbliche Hülle noch andauern und Großtaten vollbringen?
Nach zwei Wochen in Panama, in denen de Lesseps die Moral wieder hergestellt
hatte und von der Bevölkerung bejubelt worden war, als er mit wehendem Mantel in
prächtigen Farben den Hügel bei Culebra hinaufgaloppiert war, verkündete er in Paris
seinen guten Glauben an die schnelle Vollendung der Arbeiten. Aber in praktisch
dem gleichen Atemzug, leicht und stillvergnügt, als würde er eine vorteilhafte und
wünschenswerte Wendung der Ereignisse ankündigen, gab er zu, dass Panama eine
zehnfach schwierigere Unternehmung darstellte als Suez.
Der Rousseau-Report erschien wenig nach de Lesseps´ Rückkehr. Rousseau, ein
anerkannter und hochgestellter Ingenieur, hatte den Kanal etwa zur gleichen Zeit
begutachtet und nun einen Bericht über die Fortschritte in Panama veröffentlicht.
Den Kanalbau jetzt einzustellen wäre undenkbar, schloss er. Es würde ein Desaster
darstellen, nicht bloß für tausende Aktionäre, sondern auch für das Ansehen
Frankreichs. Die Fertigstellung wäre aber sowohl zeitlich als auch finanziell nur
dann möglich, wenn die Kanalbaugesellschaft radikalen Abänderungen ihrer Pläne
zustimmen würde. Und die einzige mögliche Modifikation wäre, das Vorhaben eines
Kanals auf Meeresniveau fallen zu lassen, solange dazu noch Zeit sei. Man muss
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wissen, dass Ferdinand de Lesseps ein Axiom hatte, einen Grundsatz, in dem er
sich nicht widersprechen ließ, und das war eben jener Traum eines schleusenfreien
Kanals auf Seehöhe. Genau das war für ihn auch der Grund gewesen, Panama den
anderen möglichen Standorten vorzuziehen, weil er es hier für machbar hielt. Nun
aber behauptete Rousseau, die Hoffnungen, die Ferdinand de Lesseps schürte,
wären ohne Begründung – hinsichtlich Zeit, Geld und, was am wichtigsten wäre,
des Kanals, den er den Franzosen all die Jahre verkauft hatte.
Man kann verstehen, weswegen der alte Monsieur de Lesseps so verzweifelt auf
seinen Fußboden weint, schon an dieser Stelle der Geschichte, denn immerhin zerfiel
sein Traum jäh in Unmachbarkeit und wurde obendrein als Eselei der ersten Sekunde
abgetan. Aber aus allein diesem Grunde vergoss er keine Tränen, dazu war sein
Gemüt zu zuversichtlich und sein Glaube an eine wunderbare Schicksalsfügung, die
auf irgendeine Weise die Krise lösen und den Kanal auf Meeresniveau ermöglichen
konnte, zu stark. Nein, es kam noch weitaus schlimmer.
Die Geldreserven in Paris schrumpften zusehends, und seit der Rousseau-Report
sich für einen Schleusenkanal stark gemacht hatte, war die Regierung nicht bereit,
das System der Lotterie-Anleihen zu unterstützen, bevor nicht der alte Kanalplan
verworfen war. Jeder Tag, den sich die Entscheidung hinauszögerte, war ein Tag von
enorm kostspieligen, verschwendeten Anstrengungen am Isthmus. Philippe BunauVarilla, ein Ingenieur und Mitglied von de Lesseps´ Gesellschaft war es schließlich,
der auf die Lösung des Problems kam. Sein Vorschlag war, die Kanallinie in eine
Serie von künstlichen Becken aufzugliedern und diese mit Schleusen zu verbinden.
Man würde das Ausgrabungsmaterial einfach wegflößen können, anstatt es wie
bisher umständlich über die Bahnlinie abzutransportieren, und beizeiten diesen
Kanal zu einer ununterbrochenen Passage auf Meeresniveau verwandeln. Das
Geniale aber dieses Vorschlags und sein enormer Wert zu jenem Zeitpunkt war nicht
seine technische Raffiniertheit. Es war das Grundprinzip, dass ein Schleusensystem
nur ein vorübergehender Schritt auf dem Weg zum alten Endziel eines Kanals auf
Seehöhe sein musste. Es stellte keinen Verrat an de Lesseps´ Traum dar und bot ihm
eine ehrenvolle Alternative.
Mit diesem Plan konnte sich Ferdinand de Lesseps anfreunden, und so schrieb er
wenig später zwei Briefe: einer ging ans Finanzministerium und bat ein weiteres Mal
darum, Lotterie-Anleihen verkaufen zu dürfen. Der andere war an seine Aktionäre
adressiert und enthielt die bewegende Ankündigung, dass er an diesem Morgen
Alexandre Gustave Eiffel verpflichtet habe, die Schleusen, die Panama den Schiffen
aus aller Welt öffnen würden, zu gestalten und zu bauen. De Lesseps betrachtete
den Namen Eiffels als eine goldene Bereicherung. Gerade hatte er den Eiffelturm
für die Weltausstellung 1889 geplant, als größtes Bauwerk der Erde. Für die große
Mehrheit der Franzosen stellte der Turm, genauso wie der Kanal in Panama, eine
kräftige Bestätigung des französischen Genies dar, französische Überlegenheit
in der Kunst der Zivilisation. Eiffel selbst schien es der perfekte, brillante Streich,
voranzuschreiten und sich mit de Lesseps zu verbünden, der sich von derlei
Verkündungen in unglaublicher Weise aufs Neue antreiben ließ, auch wenn er sie
selbst eingefädelt hatte. Er erklärte ein weiteres Mal in positivem, vertrauensvollen
Ton, dass noch 600 Millionen Francs zur Fertigstellung nötig wären, um einen
Kanaltypus zu bauen, von dem er immer schon gelehrt hatte, ihn als minderwertig
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und daher unakzeptabel anzusehen. Jedem anderen hätte man vermutlich seine
Pläne um die Ohren geschmissen, aber als schließlich auch noch die Kammer die
Lotterie billigte, stiegen die Aktien augenblicklich.
Wenn der nun folgende Rest der Geschichte erst gelesen ist, was gäben wir darum,
dass sie an dieser Stelle geendet hätte. Wir wären der beruhigenden Überzeugung,
Monsieur de Lesseps´ Tränen waren vorübergehend und die Frau der Stille könnte
ihren tröstenden Arm wegnehmen, um ihn als liebenden Arm wieder auf die Schulter
ihres Mannes zu legen.
An dem Morgen, da die Anleihen auf den Markt gestellt wurden, gab jemand in
Paris ein Telegramm an jede Hauptstadt auf, an London und an New York, in dem
er verkündete, Ferdinand de Lesseps wäre verstorben. Kein Funken Wahrheit war
daran, die Kanalbaugesellschaft sandte einen sofortigen Widerruf aus, aber der
Schaden war schon angerichtet. Börsenspekulanten stießen zwei Tage später ihre
Aktien ab und der Preis verfiel. Die Wertpapiere konnten jetzt für hundert Francs
weniger erstanden werden als angedacht war, und am Ende waren von den zwei
Millionen Anleihen nicht einmal die Hälfte verkauft. Man muss nicht viel Ahnung
von Wirtschaftsmathematik haben um zu erkennen, dass dies eine klare Niederlage
bedeutete – Ferdinand de Lesseps aber sah die Mathematik auf seine Weise. Wenn
es auch stimmte, dass nur 800,000 Anleihen verkauft worden waren, so waren sie
doch von 350,000 Personen unterzeichnet worden, und das bedeutete für ihn nichts
anderes als 350,000 Männer und Frauen, die immer noch glaubten, die immer
noch hinter ihm und der Ehre Frankreichs standen. Der Verkauf der Anleihen hatte
gezeigt, dass nach acht Jahren, nach all den Rückschlägen, den durch Gelbfieber
verlorenen Menschenleben, seine Beliebtheit größer war als je zuvor. Bei einem
darauffolgenden Zusammentreffen der Aktionäre war er bejubelt worden wie noch
nie, schon seine bloße Anwesenheit hatte eine magnetisierende Kraft. Er war
inspirierend, herzzerreissend, stattlich, all das gleichzeitig; er war die Stimme der
Autorität, das zeitlose personifizierte Wahrzeichen französischer Begeisterung und
Größe. Er appellierte an alle Franzosen, deren Vermögen bedroht war, sie sollten
sich entschließen, denn das Schicksal läge in ihren eigenen Händen.
Am letzten Tag des Verkaufs, dem 12. Dezember 1889, für den der Ausgabestop
der Aktien festgelegt worden war, drängte sich eine aufgeregte Menge in die Büros
der Kanalgesellschaft. Als de Lesseps unerwartet auftauchte und für eine Sensation
sorgte, machte man ihm den Weg frei und er kletterte auf einen Tisch am Ende des
Raumes. Er winkte um Ruhe. „Meine Freunde, die Subskription ist sicher!“ gab er
unter Tränen bekannt. „Unsere Gegner sind besiegt! Wir benötigen keine Hilfe von
Financiers, denn ihr habt euch durch euren eigenen Einsatz gerettet! Der Kanal
steht!“
Die Mengen, die sich am nächsten Morgen in die Gesellschaftsbüros in der
Rue Caumartin drängten, waren gekommen, um einen Siegeszug abzuhalten.
Wiederholte Rufe verlangten nach Ferdinand de Lesseps, vielleicht eine Stunde
lang, bis sich jemand durch die Menschen bewegte und auf den altbekannten Tisch
kletterte. Der Sohn Charles de Lesseps stand an eben jener Stelle, an der vortags
sein Vater den Triumph verkündet hatte, und sagte Ich weiß, Sie wollen Monsieur de
Lesseps sehen, woraufhin ihm ein Getöse der Zustimmung entgegenschallte. „Mein
Vater wird immer erfreut sein, Sie zu sehen, aber ich denke, Sie alle warten auf mehr
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Informationen. Wir sitzen bei einem wichtigen Vorstandstreffen zusammen, das ich
für einen Augenblick verlassen habe, um hierher zu kommen. Ich weiß nicht, auf
welche Entscheidung diese Besprechung hinauslaufen wird, aber ich werde Ihnen
alles sagen, was ich weiß.“ Die Menge war plötzlich still geworden. Er musste seine
Stimme kaum anheben, um gehört zu werden.
„Ich werde vollkommen offen zu Ihnen sein, nur machen Sie mich nicht dafür
verantwortlich, wenn Sie morgen etwas anderes erfahren. Wenn Sie gerne noch eine
Stunde abwarten würden, werde ich Sie das ganze Ergebnis unserer Beratungen
wissen lassen, aber würden Sie lieber gleich erfahren, was ich Ihnen mitteilen
kann?“
Alle stimmten diesem Vorschlag zu. Er fragte, welche Art von Information sie gerne
hätten, und nachdem er darum gebeten worden war, das Ergebnis der Subskription
mitzuteilen, fuhr er in einem bedachten Ton fort. Die Subskription, sagte er, umfasste
soweit 180,000 Aktien. „Das liegt unter dem Minimum, das Monsieur de Lesseps
festgelegt hat, daher werden wir morgen mit der Rückerstattung der Einzahlungen
beginnen. Sie sehen, ich sage Ihnen genau, wie die Dinge stehen.“
Die Leute begannen zu murmeln, dass…ja, dass das die beste Lösung sei; ja, es
müsse eine andere Subskription geben. Es war, als ob sie den Sinn seiner Aussage
nicht verstanden hätten. Viele Leute waren so verwirrt, dass sie wie angefroren
dastanden, nichts sagend, ohne jeden Ausdruck auf ihrem Gesicht. Als jemand
letztendlich fragte, wie sich das Bild über Nacht so drastisch geändert haben
konnte, antwortete Charles: „Mein Vater ist im Geiste jünger als ich es bin. Seine
Aussagen tätigte er aufgrund eines hoffnungsvollen Berichts, den ich ihm erstattet
hatte. Das Ergebnis ist der Bankrott oder die Auflösung der Gesellschaft.“ Am
Morgen danach schob die Gesellschaft die Auszahlungen auf und bat die Regierung
um ein dreimonatiges Moratorium für Rechnungen und Verzinsung, sodass eine
neue Gesellschaft gegründet werden könne, um die Arbeit fortzuführen.
Es war ein Reporter von Le Figaro, der nur zehn Minuten nach der Abstimmung
der Abgeordnetenkammer ausrichtete, wie das Ergebnis lautete. De Lesseps
wurde furchterregend blass und konnte nur flüstern: „Das ist unmöglich! Das ist
beschämend!“
Nun wissen wir, weswegen an jenem Abend im Dezember die Wohnung von
Ferdinand de Lesseps sich mit Tränen flutete. Die Pfütze der Schneeschmelze und
die Pfütze der Trauer trafen sich womöglich an der Schwelle zwischen den beiden
Räumen, während der Atlantik und der Pazifik sich immer weiter voneinander
entfernten.
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Der erste Präsident und ein Kanal
Der Ingenieur Ferdinand de Lesseps war nicht der einzige gewesen, der dem
Scheitern eines Kanalbaus unter französischer Flagge nachgeweint hatte. Der
Generaldirektor der Kanalbaugesellschaft tat es ihm gleich, als er mitansehen
musste, wie alles in den Konkurs schlitterte, doch noch bevor seine Tränen
versickert waren, wobei sich eben jener Philippe Bunau-Varilla lediglich zu einer
Art platonischer Tränen hatte hinreißen lassen, die nur den Geist, nicht aber die
Augen verwässerten, hatte er den Beschluss gefasst, seine Landsleute um sich
zu scharen und die Arbeiten fortzusetzen. Es war nun einmal nicht seine Art, sich
auf unbestimmte Zeit in Selbstmitleid zu baden, und so verhielt er sich gegenüber
dem großen Abenteuer Panama bald nicht weniger leidenschaftlich als in früheren
Jahren. Jetzt war er Mitte Vierzig, ein wenig beleibter als zuvor, der Haaransatz hatte
sich in Richtung Hinterkopf zurückgezogen, und was an Haaren noch da war, legte
er streng an den Kopf. Er hatte sich auch einen gewissen starren Blick ungestümen
Stolzes zugelegt. Seine Erscheinung war makellos, stocksteif und unbeirrbar. Ein
übertriebener Schnurrbart dominierte nach wie vor sein Gesicht, nur dass er nun
mit gewachsten Spitzen in den Himmel zeigte und übertrieben ornamental wirkte.
Roosevelt nannte es die Aufmachung eines Duellanten. Er hatte eine Obsession
für die erste Person Singular in allem, was er schrieb, die selbst dem tolerantesten
modernen Leser so absurd einseitig erschien, so aufgebläht von Selbstinteresse,
dass es lachhaft wirkte. Wer auch immer ihn angriff oder seiner Sichtweise zu
widersprechen wagte, wurde von ihm als niederträchtig, geistig umnachtet oder
einfach nur dumm dargestellt. Diejenigen aber, die die Dinge so sahen wie er, waren
Gentlemen von äußerster Größe, ungewöhnlich intelligent und geprägt von einem
enormen Sinn für moralische Lebensinhalte.
Philippe Bunau-Varilla hatte die Vision eines französischen Schicksals, dass es
immer noch zu schaffen sei, dass Frankreich den Panamakanal baut. Doch die
finanziellen Schwierigkeiten bestanden nach wie vor, und so eilte er nach St.
Petersburg, um Zar Alexander III davon zu überzeugen, dass Russland das Kapital
zur Vollendung des Kanals stellen sollte. Die französische Regierung war erstaunt
über das, was er zu berichten hatte, und hoch interessiert, aber als die russische
Regierung kurz danach zerfiel und Alexander III ermordet wurde, stand er wieder
am Anfang. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihm nicht in den Sinn gekommen, die USA
könnten in Panama das Kommando über den Kanalbau übernehmen, doch nun,
da die ganze Welt vermutete, der Kanal würde in Nicaragua gebaut werden, wie
es die alte amerikanische Lösung vorsah, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die
Verhandlungen mit Amerika zur Übernahme der französischen Kanalpläne.
Verehrtes Publikum, sprach er zu seinen Zuhörern, die er in nahezu allen größeren
Städten Amerikas von den Vorteilen einer Panamaroute zu überzeugen gedachte,
Ich beteuere Ihnen meine Unabhängigkeit. Ich vertrete hier keine privaten
Interessen, sondern sehe meine Aufgabe darin, eine großartige und noble Mission
zu verteidigen, die mir viele glückliche Jahre des Kampfes und der Gefahr beschert
hat, während denen ich mich nicht ein einziges Mal an ein Gefühl der Verzweiflung
erinnern kann. Das ist nicht gelogen, dachte sich Bunau-Varilla nach diesem Auftakt,
meine einzige Verzweiflung betraf schließlich den vermeintlichen Zusammenbruch
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des Projekts, während ich dem Projekt selbst stets Hoffnung entgegenbrachte. Aber
es wird besser sein, ich behalte die Tatsache für mich, dass ich Aktionär der neuen
Gesellschaft bin.
Bauen Sie einen Kanal in Panama, so misst er nur ein Drittel der Länge eines Kanals
in Nicaragua. Das bedeutet weniger Kurven, weniger Ausgrabungen, weniger
Schleusen, mit einem Wort: weniger Geld. An dieser Stelle hielt er inne und sah sich
die rechnenden Gesichter im Publikum an, während er zufrieden seinen Schurrbart
tanzen ließ. Immer schon hat eine unsichtbare Kraft Männer dazu verleitet, in
Panama zu bauen, fuhr er fort. Was mit dem spanischen Goldpfad begonnen hatte,
führte unweigerlich zum Bau der Interozeanischen Eisenbahn und zum Kanal des
Monsieur de Lesseps. Alle zeitweiligen Überlegungen, woanders zu bauen, haben
sich nach kurzer Zeit im Sand verlaufen und lenkten die Bestrebungen wieder
zurück nach Panama, und so wird es auch in der Zukunft sein. Die größte Wirkung
aber erzielte er mit einem eher zufälligen Punkt seiner Rede, der aus technischer
Sicht völlig nebensächlich war, als er davon sprach, dass es in Panama nicht einen
einzigen Vulkan gab, ob aktiv oder inaktiv, der sich näher als 180 Meilen an der
Kanallinie befand, wogegen es keinen Flecken auf dem Globus gab, der so voll
war von Vulkanen wie Nicaragua. Er erinnerte an den Ausbruch des Coseguina ein
paar Jahrzehnte zuvor, der zwei Tage hindurch alle sechs Minuten genug Asche und
Gestein hinausgeschleudert hatte, um einen Kanal durch Nicaragua aufzufüllen.
Interessant, diese Reaktionen, dachte Phillipe Bunau-Varilla bei sich und begann,
den Humbug auszuschlachten, indem er die Bevorzugung der Nicaragua-Route
gegenüber der in Panama als genauso unsicher verwarf, als würde man sich für
eine Pyramide entscheiden, die auf ihrer Spitze ruhte anstatt auf ihrer Basis. Er
veröffentlichte ein Pamphlet mit dem Titel Panama oder Nicaragua?, ließ tausende
von Kopien anfertigen und verschickte sie an alle Kongressabgeordneten, alle
Präsidenten aller Staaten, an tausend Bankpräsidenten, hunderte Schiffseigner, an
bekannt wohlhabende Kaufleute, an die Herausgeber viertausender verschiedener
Zeitungen und Magazine, hunderte von Handelskammern und an jeden, dessen
Name ihm einfiel.
Und doch schien es, als hätten alle Bemühungen nichts geholfen, denn die
Kommission, die mit der Prüfung der Routen beauftragt worden war, hatte sich für
Nicaragua entschieden. Ob Philippe Bunau-Varilla in diesem Moment ein weiteres
Mal der Verzweiflung nahe war, wissen wir nicht, aber wie wir ihn inzwischen kennen
schmiedete er eher bereits neue Pläne anstatt sich einer wehleidigen Gefühlsregung
hinzugeben, als er ein Telegramm eines Reporters der Chicago Times erhielt.
VERTRAULICHE INFORMATION – STOP – KOMMISSION SENAT AKZEPTIEREN
WOMÖGLICH ANGEBOT 40 MILLIONEN – STOP – UNBEDINGT NICHT HÖHER
– STOP – HANDELN SCHNELL.
Sofort eilte er zum Aktionärstreffen und verlangte, dass ein Preis festgelegt werden
müsse. Die Zeit liefe davon, und gestern hätten sie vielleicht noch 60 oder 70
Millionen verlangen können, aber heute mussten sie sich mit 40 Millionen zufrieden
geben. Und noch bevor alles entschieden war, wobei verraten sei, dass es zwar
überhastet von Bunau-Varilla gewesen sein mag und man ihm seine Zuversicht
nachsehen möge, aber schließlich fiel die Entscheidung auch tatsächlich zugunsten
des Verkaufs aus, sendete er ein Antworttelegramm an die Amerikaner, in dem er
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verkündete:
BESCHLUSS BEINAHE SICHER - STOP – DEFINITIVER ANGEBOTSPREIS 40
MILLIONEN WIRD MORGEN TELEGRAPHIERT UND MONTAGS OFFIZIELL
PRÄSENTIERT – STOP – VARILLA.
Auf der anderen Seite des Ozeans, genauer gesagt, am Ozean selbst, doch vor
den Küsten Amerikas, unternahm zwei Jahre später Dr. Manuel Amador Guerrero
eine Schiffsreise nach New York. Er wollte sich dort unter allen Umständen mit
William Nelson Cromwell treffen, dem Mann, der für den Verkauf der begonnenen
französischen Kanalarbeiten an die USA verantwortlich war und der ihn nebenbei
zum Präsidenten machen sollte. Denn nach wie vor war Panama nichts weiter als
eine unbeachtete Provinz Kolumbiens, aber Amador wusste, es würde nicht so
bleiben. Immerhin war er Mitglied des geheimen Kreises, in dem man sich auf den
näher rückenden Tag der Revolution vorbereitete, und so wie sich die Kolumbianer
zierten, einen Vertrag mit den USA über den Kanalbau auszuhandeln, standen die
Chancen für die verhandlungswilligen Revolutionäre ausgezeichnet. Als Manuel
Amador dummerweise während der Überfahrt das Geld ausging, wäre beinahe
alles gescheitert, Man wird mich von Bord werfen und ich werde niemals Präsident,
befürchtete er, doch er sah zwei Möglichkeiten, wie er seine Weiterreise finanzieren
könne, als Schiffsmaat Kartoffeln schälen und die Decks schrubben oder am
Spieltisch sein Glück versuchen. Die erstere der beiden Lösungen schien ihm eines
angehenden Präsidenten doch ein wenig zu unwürdig, und so nahm er sein letztes
Geld und beschloss, beim Poker zu gewinnen. Vermutlich lag es an seiner wilden
Entschlossenheit, dass dieser Plan tatsächlich aufging, man stelle sich vor, er hätte
sich zögerliche Gedanken über Wahrscheinlichkeit und Glück erlaubt.
Die Erfüllung seiner Mission verlangte von Manuel Amador größte Vorsicht. Es galt,
keinen Verdacht zu erwecken, der die geplante Revolution den Kolumbianern verraten
hätte, denn würde bekannt werden, dass sich der Doktor zu William Cromwell begab,
um mit ihm die nötige Unterstützung der USA auszuhandeln, also Waffen und Geld
aufzustellen und militärischen Rückhalt einzufordern, dann hätte Kolumbien
sofort sein Militär mobilisiert, um alles zu zerschlagen. Also hatte er ein getürktes
Telegramm seines in den Staaten lebenden Sohnes in der Tasche, das ihn mit den
Worten Ich bin krank. Komm. aus anderen, verständlichen Gründen herzitierte. Doch
die Gespräche mit Cromwell verliefen alles andere als zufriedenstellend, anders
als gewohnt zeigte sich William Cromwell unerwartet rüde und teilnahmslos und
verweigerte weitere Gespräche mit den Verschwörern Panamas, was sich Amador
beim besten Willen nicht erklären konnte. Schließlich wusste er nicht, dass bereits
am Tag zuvor ein anderer Panamese, ein Handelsmann namens Duque, der, wie es
der Zufall will, durch sein Pech am Pokertisch zum Hauptfinancier Amadors Reise
geworden war, mit Cromwell die gleiche Sache zu einer positiven Antwort gebracht
hatte, um am nächsten Tag schon den kolumbianischen Botschafter in alles
einzuweihen und ein falsches Spiel zu treiben. Nur ein einziges Wort telegraphierte
Amador zu den in Panama auf Antwort wartenden Freunden – Enttäuscht.
Nicht nur, dass seine Mission fehlgeschlagen hatte, es ging ihm auch das erspielte
Geld wieder aus, denn selbst die billigste Absteige in New York überstieg seine
kühnsten Träume vom natürlichen Zusammenhang zwischen Preis und Leistung.
Frustriert und mit der Ratlosigkeit der Verzweiflung machte Manuel Amador sich
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auf, sein letztes Geld in ein feudales Frühstück im Waldorf Astoria umzusetzen, aber
wieder kommen wir an einen Punkt, wo uns das Schicksal eines Besseren belehrt,
denn weder musste er einen dreifach nobler bekleideten Kellner um Vergebung
für das ausbleibende Trinkgeld bitten, noch war seine Enttäuschung von längerer
Dauer. In der Hotellobby traf Manuel Amador unvermutet auf jenen Mann, von
dem wir bereits um seine unerschütterlichen Ambitionen den Kanalbau betreffend
wissen, Philippe Bunau-Varilla. Die beiden kannten einander bereits aus früheren
Begegnungen am Isthmus, doch heute sollte es das erste Mal sein, dass sie sich
unterhielten. Im Hotelzimmer Bunau-Varillas klagte Manuel Amador sein ganzes
Leid und ging in seiner Entrüstung sogar so weit, dass er Cromwell töten würde,
sollten seine Freunde in Panama auffliegen und hingerichtet werden. Er hielt einen
Betrag von 6 Millionen Dollar für nötig, um die Kosten für die Kriegsschiffe und alle
weiteren militärischen Notwendigkeiten abzudecken. Phillipe Bunau-Varilla musste
nicht lange überlegen, ob es moralisch recht wäre, sich als Außenstehender für eine
Revolution stark zu machen, denn die Rechtfertigung fand er in der offensichtlichen
Politik kolumbianischer Piraterie, die nur auf die Zerstörung kostbarer französischer
Arbeit abzielte, und so versicherte er Amador, er werde die weiteren Dinge in die
Hand nehmen.
Wenig später, nachdem Bunau-Varilla sich mit Präsident Roosevelt getroffen hatte,
der zwar, wie in der Politik üblich, nur kryptische Andeutungen von sich gegeben
hatte, aus denen der Franzose aber herausgehört hatte, dass die Amerikaner
sich bereit erklärten, als Schutzmacht zu fungieren, berichtete er dem wartenden
Amador, es wäre demnach nicht notwendig, Kriegsschiffe zu kaufen. Die einzige
Investition, die zu tätigen sei, wären 100.000 Dollar, die als Bestechungsgeld an die
in Panama stationierten kolumbianischen Generäle auszuzahlen wären, wobei sich
Bunau-Varilla sogar bereit erklärte, diese Summe aus eigener Tasche vorzustrecken.
Doch nachdem er die militärischen Schachzüge mit dem amerikanischen
Staatssekretär ausgehandelt hatte und Amador ein weiteres Mal von den erreichten
Fortschritten berichtete, knüpfte Bunau-Varilla noch eine Bedingung an – er sollte
zum panamaischen Botschafter in Washington ernannt und darüber hinaus dazu
autorisiert werden, die Kanalverträge auszuhandeln.
Man kann sich Amadors Freude vorstellen, als er seine Mission in die richtigen
Bahnen geleitet sah, und eiligst ließ er seine Frau einen ersten Entwurf für
die Flagge der neuen Republik Panama nähen, während er selbst sich der
Unabhängigkeitserklärung widmete. An dem Tag nun, da die eigentliche Revolution
stattfand, am 3. November 1903, war vom vermuteten Schlachtgetümmel nichts zu
sehen. In den Häfen von Panama City und Colón lagen kampfbereite amerikanische
Schlachtschiffe, die so furchterregend viel größer waren als die anrückenden
kolumbianischen Kutter, dass diese umgehend kehrtmachten, bevor sie sich noch
auf zehn Seemeilen genähert hatten. Das einzige Vorkommnis dieses ersten Tages
der Revolution ereignete sich in der Abenddämmerung, während der Gemeinderat
gerade dabei war, die Junta um Amador formell anzuerkennen. Das kolumbianische
Kanonenboot Bogotá feuerte fünf Geschoße nach Panama City ab, wobei ein
chinesischer Ladeninhaber, der sich gerade zu Bett begeben hatte, und ein Esel
ums Leben kamen, aber als von der Küste aus die Antwort mit schwerem Geschütz
erfolgte, verzog sich das Boot in eine nahegelegene Bucht und wurde nie wieder
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gesehen. Auch die kolumbianischen Truppen an Land vermochten nichts gegen die
Revolution auszurichten. Man versagte ihnen einfach die Benutzung der Eisenbahn,
um sich zusammenzurotten, und so blieben sie in den Städten Colón und Panama
City derart in der Minderheit, dass sie nicht einmal daran zu denken wagten, sie
könnten etwas gegen die Amerikaner ausrichten. Und diejenigen, die den Versuch
unternommen hatten, sich durch den Darién anzupirschen, hatten genug mit dem
Dschungel selbst zu kämpfen, sodass sie unverrichteter Dinge wieder umkehrten.
Obwohl der damals noch gültige Vertrag zwischen den USA und Kolumbien eine
unantastbare Souveränität Kolumbiens festhielt, berief Roosevelt sich auf die
Verletzung jener Klausel, in der bestimmt war, dass der Bau eines Kanals am
Isthmus auf jeden Fall gesichert werden müsse. Der Bau des Panamakanals hätte nie
stattgefunden, wenn ich nicht zugepackt hätte, denn wenn ich nach den traditionellen
oder konservativen Methoden gearbeitet hätte, wäre ich von einem beachtenswert
umfangreichen Staatspapier aufgehalten worden, das auf mehreren hundert Seiten
dem Kongress alle Details geschildert hätte und erst auf dessen Zustimmung warten
hätte müssen. In diesem Fall wären haufenweise exzellente Reden zu diesem Thema
gehalten worden, die Debatte würde zu diesem Zeitpunkt noch geistvoll weiterlaufen,
und der Beginn der Kanalbauarbeiten läge fünfzig Jahre in der Zukunft. Zum Glück
entwickelte sich die Krise zu einem Zeitpunkt, da ich ungehindert handeln konnte.
Daher nahm ich den Kanal, ich begann mit dem Kanal, denn Bunau-Varilla brachte
ihn auf einem silbernen Tablett zu mir, und ich verließ den Kongress, der nun nicht
über den Kanal debattierte, sondern über mich.
Dr. Manuel Amador Guerrero wurde also Präsident von Panama, sein nicht sehr
einfallsreicher Spitzname, der im Gegensatz zu den meisten in Panama entwickelten
Spitznamen nicht auf irgendeiner physiognomischen Benachteiligung beruhte,
sagte es ohnehin schon aus, El Presidente. Monsieur Bunau-Varilla wiederum
wurde wie versprochen zum panamaischen Vertrauensmann in Washington
und reiste ein weiteres Mal zu Staatssekretär Hay nach New York, um den
Kanalvertrag auszuhandeln. Doch sein Verhandlungsgeschick war von seiner
fixen Idee beeinträchtigt, die Vorarbeit von Ferdinand de Lesseps zu keinem allzu
tragischen Ende zu führen, und so, um eine Ratifizierung durch den amerikanischen
Senat abzusichern, ließ er den Vertrag sehr vorteilhaft für die USA ausfallen. Eine
Gesandtschaft aus Panama war auf dem Weg nach New York, unter ihnen Manuel
Amador, die Bunau-Varilla ausrichten ließ, er solle mit der Unterzeichnung unbedingt
auf ihre Ankunft warten. Aber der arme Bunau-Varilla war durch den Druck, den
Staatssekretär Hay und seine eigene Ungestümheit auf ihn ausübten, so nervös,
dass er zwei Stunden vor dem Eintreffen der Panamesen seine Unterschrift als
voll befugter Verhandlungsberechtigter hinkritzelte. Natürlich war die panamaische
Delegation höchst unzufrieden mit all den Rechten, die der Vertrag den Amerikanern
einräumte, noch unzufriedener aber mit Phillipe Bunau-Varilla. Aber an die
Verweigerung einer Ratifizierung war nicht zu denken, denn Bunau-Varilla drohte mit
dem Abzug der amerikanischen Truppen, was die Republik Panama ohne Zweifel
wieder zurück zu Kolumbien geführt hätte. So war es nicht Manuel Amador und
das frisch gegründete Panama, die als wahre Sieger der Revolution hervorgingen,
sondern zwei vermeintlich Außenstehende: Phillipe Bunau-Varilla und Theodore
Roosevelt.
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Hipólito
„Wie ein Gockel gehen sie, wie ein Gockel stehen sie“ sagte Hipólito, stützte seine
Hände in die Hüften, beugte seinen Oberkörper vor und setzte ellbogenflatternd
einen Fuß vor den anderen.
„Hipó, Pólito, Pollito, Pollo, vergiss nicht zu gackern!“ Und wahrend Hipó, Pólito,
Pollito, Pollo gackerte, immer wieder stehenblieb und ruckartig den Kopf reckte und
einen Hahnenschrei zum Richtungswechsel seines Tanzes ausstieß, krümmten sich
seine Freunde vor Lachen, bogen sich und verdrehten sich und fielen schließlich vor
Lachen von der Regentonne.
„Macht Platz für mich, hier kommt der allesbegluckende Gringo-Gockel, der
mächtigmächtigste Gringockel, der schnuckelige Grin-GoGo-ckel, ich tanze für
euch GoGo, denn ich bin die Prostituierte, die jeder hier haben will!“ Hipólito folgte
seinem Wandel choreographisch, strich sich jetzt mit einer Hand über die Brust,
weiblich schon und nicht mehr Hühnchen-, und tätschelte mit der anderen seinen
Hintern, während er sich in lasziven Windungen Raúl näherte. Die Jungfrau Carmen,
der die Kirche geweiht war und somit bestimmt auch der Seiteneingang, unter dem
wir uns befanden, verabschiedete ihre Jungfräulichkeit.
„Venga, mamita, I love you! Ich gehöre dir!“ Raúl breitete seine Arme aus und wartete
mit geschlossenen Augen und einem Grinsen auf Stunden-Hipólito. Doch der,
chamäleonisch, wechselte abermals seine Farbe. Vom Hähnchen zur Prostituierten
zum Pólitologen.
„Así!“ fuhr Hipólito wütend auf und stieß Raúl mit den knöchernen Fingern gegen
die Stirn. „Das ist es! Die Parabel der panamaischen Geschichte! Die Hure Amerika
bietet ihre Dienste an, und ohne zu fragen, was die Nacht kostet, legen wir uns
mit ihr ins Bett. Querverweis: Centenario. Oh, hundert Jahre Unabhängigkeit von
Kolumbien. Wir könnten ebensogut die hundertjährige Abhängigkeit von den USA
feiern! 1903: Panama löst sich von Kolumbien. Aber unter welchen Bedingungen?“
Hipólitologito sprang auf die zweite, die oberste Stufe des Kirchenaufgangs,
entfaltete eine imaginäre Schriftrolle und versetzte seine Stimme mit notarieller
Trockenheit.
„Die Republik Panama gestattet den USA auf ewige Zeit die Benutzung,
Eingemeindung und Kontrolle über eine je 5 Meilen breite Landzone beidseitig des
noch zu konstruierenden Kanals, den Bau, Unterhalt, Betrieb und Schutz des Kanals.
Die Republik Panama überträgt den USA alle Rechte, Befugnisse und Amtsgewalten
innerhalb der erwähnten Landzone.“
Dramaturgische Pause. Er hob die Augenbrauen und den Zeigefinger, verbot auf
diese Weise jeden Zwischenruf und verlangte Stillschweigen und Aufmerksamkeit.
Dann stieg er die Stufen herab, drehte sich um, drehte sich in Richtung des
unsichtbaren Theodore Roosevelt, der er gewesen war, der immer noch auf dem
obersten Treppenabsatz stand und auf Antwort wartete, und Hipólito ließ die
Schultern nach vorne fallen, ließ den Kopf nach vorne fallen, ließ den Oberkörper
nach vorne fallen, fiel in seiner ganzen Demut fast vorneüber und sagte kopfnickend
„Sí, Señor, jawohl, Señor, überaus gerne.“ Dann schnippte er mit dem Finger, als
wäre ihm, dem personifizierten Panama, gerade eine gute Idee gekommen, ein
blendender Gedanke, und fügte hinzu: „Und weil uns unsere Unabhängigkeit so viel
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wert ist legen wir noch eins drauf: Interveniert und dirigiert und schickt euer Militär,
wann und wo immer ihr seht oder auch nur zu sehen meint, dass unsere öffentliche
Sicherheit gefährdet ist.“
Hipólito blickte fragend um sich, fragend und kopfschüttelnd und die Schultern
angehoben, dann pfiff er durch die Zähne, ließ seine ganze Luft langsam
herausströmen, bis seine Schultern in das entstandene Luftloch absackten, pfiff und
pfiff und pfiff sich so luftleer und winzig, dass er nicht mehr zu sehen war. Und ich
dankte seiner ausgepusteten Hülle nochmals, dass er mich mit dem Regenschirm
vor dem Wolkenbruch bewahrt und unter das Kirchendach geführt hatte, und
setzte mit hochgezogenen Hosenbeinen meinen Weg durch die postregentischen
Strassenflüsse fort.
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Die Kanalübergabe
Es ist Ihrer, sagte Jimmy Carter und breitete die Arme aus, um der Präsidentin
Panamas, Mireya Moscoso, die Größe des Geschenks zu verdeutlichen. Ein Kanal
ist nun einmal nicht so leicht und handlich zu übergeben wie ein Pferd oder ein Sack
voll Geld, und ebenso wenig lässt er sich mit der linken Hand dankend in Empfang
nehmen, während die Rechten sich schütteln. Aber auch wenn Mireya Moscoso
nicht einmal einen symbolischen Bootswimpel oder eine Miniaturschleuse und
somit eigentlich nichts entgegennahm, aus der bescheidenen Sicht derer bemerkt,
deren Geschenke bisher immer noch klein genug waren, um sie anzufassen, so
war sie doch weit davon entfernt, die leeren Hände verlegen in den Rocktaschen
zu vergraben. Sie hob sie stattdessen so hoch in die Luft, dass ihr korrektes
Kostüm den Bauchnabel freizulegen drohte, und unter den zweitausend geladenen
Gästen jubelten so unterschiedliche Gestalten wie Fidel Castro, Marlon Brando
und zahlreiche Staatsoberhäupter der südamerikanischen Welt pünktlich zur
vertraglich fixierten Übergabe am Jahresende 1999. Hingegen waren der amtierende
Präsident Bill Clinton und seine Außenministerin Madeleine Albright der Zeremonie
ferngeblieben, um ihren Unwillen auszudrücken, den die Aufgabe der Kontrolle über
die strategisch noch immer nicht ganz unwichtige Wasserstraße in ihnen hervorrief.
In den letzten Jahren, als die amerikanische Regierung mit Schrecken feststellen
musste, dass ihnen die Zeit am Isthmus davonlief, hatten sie zahlreiche Hintertüren
gezimmert, um ihre Truppenpräsenz in irgendeiner Weise doch noch über dieses
Datum hinaus zu verlängern.
Die erste Panik vor dem Verlust der Kontrolle über den Panamakanal schien die
USA bereits in den 60ern befallen zu haben, was beinahe hysterisch erscheinen
mag, wo doch noch nicht einmal der Vertrag zwischen Jimmy Carter und Omar
Torrijos ausgehandelt war. Bis dahin hatten die Amerikaner schon vierzig Jahre
lang chemische Waffen in Panama zum Einsatz gebracht, erst, um den Kanal zu
verteidigen, und anschließend, um die chemischen Waffen unter den einzigartigen
tropischen Bedingungen auszutesten. Nun aber planten sie, einen weiteren Kanal
zu bauen, der diesmal tatsächlich auf Meeresniveau funktionieren sollte, denn nach
Ansicht der für dieses Projekt abgestellten Militäroffiziere wäre ein schleusenfreier
Kanal nach einem feindlichen Anschlag wesentlich schneller wieder hergestellt
und würde obendrein größere und breitere Schiffe fassen, und somit auch die
Flugzeugträger der US Navy. Der verwegene Teil dieser Idee war aber, den Kanal
durch den Dariéndschungel im Osten Panamas mittels Atombomben freizulegen.
Im Unterschied zu den geheimen Chemiewaffentests war die Aussicht auf einen
nuklear ausgehobenen Kanal ein Projekt, das Stolz hervorrief und zu einer Reihe von
Vorschlägen gehörte, wie man die Atombombe von ihrem schlechten Image, das sie
sich in Hiroshima und im Kalten Krieg zugelegt hatte, reinwaschen könnte. 250 bis
300 Wasserstoffbomben sollten im Darién abgesetzt werden, jede einzelne Explosion
zwischen zwanzig- und zweitausendfach gewaltiger als die Hiroshimabombe. Von
Anfang an ging die größte Anziehungskraft dieser Idee von ihrem günstigen Preis
aus – die Kanalaushebungen würden etwa nur ein Drittel kosten verglichen mit
der konventionellen Methode, und dadurch, dass der Erdboden bei der Explosion
ausgeworfen werden würde, müsste er nicht von Hand weggeschafft werden.
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Das Projekt hätte allerdings 40.000 Menschen aus ihrer Wohngegend verdrängt,
hauptsächlich die im Darién ansässigen Kuna-Indianer, Fenster in einem Umkreis
von 500 Meilen wären zersprungen, und eine Beschädigung des bereits bestehenden
Kanals durch Erdrutsche wäre anzunehmen gewesen.
Unter dem Namen Project Plowshare (Pflugschar) lief aber auch der Versuch der
Einführung des „friedlichen Atoms“, der nukleare Explosionen für industriellen und
zivilen Nutzen anwenden wollte. Die Ideen reichten von nuklear freigelegten Häfen
bis zur Freisetzung von Erdgas, Erdöl und Minen und zum Bau hunderter Reaktoren,
um radioaktive Bestrahlung als Pestizid und Schutzmittel für Ackerbepflanzungen
zu verwenden.
Doch trotz Abermillionen von Dollars und vierzehn Jahren, die damit verbracht
wurden, die Durchführbarkeit eines nuklearen Kanals zu bestimmen, schloss die
Interozeanische Kanalkommission 1970, dass eine nukleare Freibombung weder
technisch noch politisch realisierbar sei. Außerdem plädierte die panamaische
Bevölkerung zunehmend für Souveränität über die Kanalzone und den gesamten
Isthmus und verlangte die Kontrolle über jeden neuen Kanal, ohnehin die Risiken
eines Konstruktionsprojektes unter amerikanischer Führung scheuend. Ohne direkte
amerikanische Kontrolle über den Kanal aber waren die Militärbasen an seinen Ufern
immer schwerer politisch zu rechtfertigen.
Ein anderer Geniestreich zwei Jahre vor dem Truppenabzug waren die Verhandlungen
zur Gründung eines Multilateralen Anti-Drogenzentrums auf dem Gelände der
ehemaligen Luftwaffenbasis in der Nähe des Panamakanals. Im Gegensatz zum
Drogenkampf, der 1989 einzig und allein auf Noriega ausgerichtet war, fasste man
nun in erster Linie Kolumbien, Peru und Bolivien ins Auge und wollte verdächtige
Schiffe von der Küste Panamas aus mit Radar durchleuchten. Tiefstaplerisch wurde
bekannt gegeben, es würde sich nur um einen Haufen vor Computerbildschirmen und
Radios sitzender Leute handeln, die zufällig Spezialisten des Militärs sein müssten,
um die Apparate bedienen zu können. Für zwölf Jahre mit Option auf Verlängerung
war dieses Projekt vorgesehen, was den Amerikanern wieder auf unbestimmte Zeit
einen Fuß in die Tür gesetzt hätte. Als sich aber eine landesweite Bewegung gegen
den Verbleib der US-Truppen im Land formierte, verließ den damaligen Präsidenten
Panamas Ernesto Peréz Balladares der Mut und er verweigerte die Zustimmung.
Verständlich also, dass Clinton, der es als letzter in der Hand gehabt hätte, den
Verbleib seiner Truppen in Panama durchzusetzen, nun der enttäuschenden
Übergabe ferngeblieben war, und das einzige, was er darüber hinaus noch aus
Trotz veranlassen konnte, war, alles stehen und liegen zu lassen, so wie es war.
Darum hatten die panamaischen Bauleiter auch erhebliche Schwierigkeiten, die
Militärgelände in der Kanalzone, über die das Hoheitsrecht ebenfalls an Panama
gegangen war, einem zivilen Nutzen zuzuführen, denn tausende Quadratmeter
waren durch Munition und chemische Giftstoffe verseucht.
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Der General und Graham Greene
Nun, da der Leichenzug an ihnen vorübergefahren war und der blankpolierte
Feuerwehrwagen nur noch seine Rücklichter zeigte, stellte die Krankenschwestervereinigung des Kinderhospitals ihr Fahnenschwenken ein, ließ
ihren Gewerkschaftswimpel in die trauernde Menge hinabtauchen und machte
sich stoßend auf den Weg zur Kathedrale. Nach und nach folgten ihnen die
Salzsieder von Aguadulce, die Rinderzüchter von Los Santos, die Shrimpfischer
von Monagrillo, die Bananenverpacker von Changuinola, die Hutflechter von
Penonomé, die Tonpüppchenmacher von El Valle, die Naturparkaufseher von der
Isla Iguana, die Schleusenwärter von Pedro Miguel, die Lagerarbeiter der zollfreien
Handelszone von Colón, die Hummerbändiger von Ticantiquí, die Mitglieder des
Dominoclubs von Herrera, alle Gruppierungen verschiedenster Aufgaben- und
Interessensgebiete aus allen Winkeln des Landes bekundeten mit wehenden
Symbolen ihres Wirkungsbereichs ihr Beileid und drängten sich die Via España
entlang, um der Abschiedsmesse beizuwohnen. Flatternde Fischfahnen der Netzund Schnurfischer AG wurden über den Köpfen des dahinziehenden Aufgebots vom
Sackleinen des Polizeireviers Calle 34E gefangengenommen, Milchkühe drehten
an Glücksrädern, Garnelen schlangen sich um Äskulapstäbe, ein Fruchtsalat aus
Kokosnüssen, Erdbeeren und Mangos fiel dem Justizministerium, Abteilung 13,
mindere Strafdelikte, zum Opfer, und als sie alle weitergezogen waren und der
nimmermüde Putztrupp sich an die ersten Aufräumungsarbeiten machte, nicht ohne
zuvor selbst die Kehrbesen zum letzten Gruß erhoben zu haben, da sah es unter der
obligatorischen Schicht aus leeren Bierdosen am Asphalt kaum anders aus als ein
paar Minuten eher in der Luft. Als der in die panamaische Flagge eingehüllte Sarg
mit dem Leichnam Omar Torrijos´ vorbeifuhr, drapiert mit dessen Pistolenhalfter
an der Stelle, wo man die Hüften des Generals vermutete, und mit seinem
dunkelgrünen Leinenhut mit hochgeklappten seitlichen Krempen, wo sein Kopf
liegen mochte, übersät von aufgeworfenen Rosenblättern, brach ein Ordensbruder
der Trappisten sein lebenslängliches Schweigegelübde durch ein Schluchzen, der
stemmige Pferdekutscher Aurelio Villalopéz fiel wie ein Kleinkind weinend auf die
Knie, eine totgeglaubte, in ihrem Rollstuhl herangekarrte Urgroßmutter kippte mit
einem knappen Wehschrei über ihre Trauer wahrhaftig tot aus ihrem Rollstuhl, drei
Schönheitsköniginnen scherten sich einen Dreck um ihre zerfließende Mascara, und
José de Jesús Martínez alias Sergeant Chuchu eilte ans nächste Münztelephon, um
Graham Greene über den tragischen Tod seines Freundes zu informieren. „Señor
Greene“, brüllte er in einem Moment abgeflauten Umgebungswehklagens durch die
transatlantischen Glasfaserkabel, „ein Flugticket liegt für Sie in Amsterdam bei KLM
bereit!“ Aber Señor Greene, Mister Greene, konnte nicht kommen, es war August
1981 und eine private Angelegenheit machte ihm zu schaffen, irgendeine Tochter
seines besten Freundes, die irgendeinen Tunichtgut geheiratet hatte, der sie seinem
zwielichtigen Milieu eingemeinden wollte, so was in der Art, ganz abgesehen von
den Schwierigkeiten, die Mister Greene seine vor kurzem entfernten Eingeweide
bescherten, oder eher die Leere und der Wust an unbewältigten angefallenen
Aufgaben, die sie hinterlassen hatten. Erst eineinhalb Jahre später, nachdem ihn
Chuchu in kontinuierlichen Abständen hatte wissen lassen, dass sein Ticket schön
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langsam Staub anlegte und Rumpunschtrinken alleine nicht so recht Spaß machte,
entschloss sich Graham Greene, Panama seinen letzten Besuch abzustatten. Als sein
Flugzeug den Atlantik überquert hatte und seine Schleife über den Dariéndschungel
in Richtung Pazifik zog, fiel der Schriftsteller in leidige Depressionen, die er mit zwei
Gläsern Champagner und einem Gin zu vertreiben suchte. Die Vorstellung von einem
Panama ohne Omar Torrijos erschien ihm fremder als ein England ohne Queen, und
so stimmte es ihn nur noch betrüblicher, als er den Namen des geliebten Generals in
großen, toten Buchstaben über dem Flughafengebäude prangen sah, er fühlte sich
verloren, als Chuchu ihn zu einem grandiosen, neu erbauten Luxushotel fuhr und
ihm die Tür zur Präsidentensuite im dreizehnten Stock aufhielt, einer Suite, deren
Barbereich allein schon mehr Raum einnahm als seine gesamte Wohnung in Antibes,
anstatt wie die Jahre zuvor in einem ganz gewöhnlichen, jetzt schäbig erscheinenden
Hotelzimmer des Continental untergebracht zu werden, sein Herz sank, als Chuchu
ihm seinen Bodyguard vorstellte, eine kleine Aufmerksamkeit des Sicherheitschefs,
der ihm vierundzwanzig Stunden am Tag nicht von der Seite weichen sollte, statt
wie bisher unter der alleinigen Obhut Chuchus und seines knorrigen Revolvers zu
stehen. Doch seine Laune besserte sich allmählich im Laufe des Abends, nach
einigen Gläsern Whisky verlor die Präsidentensuite an erdrückender Weite und der
Leibwächter stellte sich als durchwegs umgänglicher Geselle heraus.
Chuchu war der festen Überzeugung, dass weder Treibstoffmangel noch ein
Pilotenfehler dazu geführt hatten, dass Omar Torrijos´ Flugzeug an einem Berg
bei Coclecito zerschellt war, sondern die Ursache des Absturzes auf eine Bombe
zurückging, und er legte einen unwiderbringlichen Beweis nach dem anderen vor,
um Graham Greene von der naheliegendsten und banalsten Sache der Welt zu
überzeugen. Doch weder die Zeitungsartikel, die Ronald Reagan in den Täterkreis
schoben, noch die Beschuldigungen, dass der Tod des Generals sowohl von den
Konservativen als auch vom salvadorianischen Militär herbeigesehnt worden
war, schienen ihm mehr als nur waghalsige Beweisversuche zu sein, er schenkte
Chuchus Ausführungen nur wenig Glauben und senkte den Kopf lieber in seinen
Whiskyschwenker, um eine dringliche Beschäftigung vorzutäuschen, wenn es
zu dem Punkt der erhofften Zustimmung kommen würde. Eines aber ließ ihn
aufhorchen: gegen Ende seiner verzweifelten Beweisführungen brachte Chuchu die
Ungewöhnlichkeit vor, dass der General die letzten vier Tage vor seinem Tode bei
seiner Frau geschlafen habe. Es war, als hätte er sein Ende vorhergeahnt und seine
Loyalität gegenüber seiner Untreue herausstreichen wollen. Die amerikanischen
Analytiker wollten in Torrijos einen Marxisten erkannt haben, was damals im
Schlachtgetümmel des Kalten Krieges nicht weniger hieß, als jemanden den
Teufel selbst zu nennen; aber Omar Torrijos lachte nur über die Kurzsichtigkeit der
Amerikaner, schüttelte den Kopf und sagte: „Die einzige Beziehung, in der man mich
als Kommunisten bezeichnen kann, ist, wenn es um die Liebe geht.“ Ein andermal
wieder entgegnete er einem Journalisten auf die Frage, ob er ein Marxist sei, mit
den Worten: „Ein Interview ist kein Beichtstuhl, ich muss Ihnen keineswegs meine
Gedanken verraten. Sollte ich Sie fragen, ob Sie ein Päderast sind?“
Für den folgenden Tag hatten sie verabredet, dass Chuchu um neun Uhr morgens
Graham Greene in dessen Hotel abholen würde, um ihn zum kubanischen
Botschafter zu begleiten, da Fidel Castro den Schriftsteller nach Havanna eingeladen
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hatte und erst noch ein Visum ausgestellt werden müsse. Doch um zehn war Chuchu
immer noch nicht da, Graham Greene hatte sich inzwischen schon dreimal seinen
Scheitel von links nach rechts und wieder zurück gelegt, er hatte seine Fingernägel
mit gleicher Inbrunst wie Ungeduld an den Armlehnen des Fauteuils poliert, dass
sie bereits wie lackiert wirkten, während er sich darüber ärgerte, seine Schuhe nicht
zum Putzen abgegeben zu haben damit sie den gleichen Glanz vorwiesen, in der
Befürchtung, sie könnten nicht wieder rechtzeitig zu Chuchus Eintreffen zurück
sein. Er saß knurrend mit übereinandergeschlagenen Beinen da und starrte auf die
Bar. Um halb elf goss er sich einen Drink ein, zog seine Schuhe aus und begann,
sie mit dem beblümten Zierkissen aus seinem Rücken blank zu reiben, als Chuchu
breit grinsend die Tür öffnete, ihm eine Nummerntafel in die Hand drückte und ins
Badezimmer verschwand, um zu urinieren. „Was ist geschehen?“ rief ihm Graham
Greene durch die sporadisch zugeworfene Tür nach, doch mehr als ein Plätschern
bekam er nicht zur Antwort. Erst als Chuchu wieder im Zimmer erschienen war,
fragte er „Erinnerst du dich noch an das kleine Missgeschick mit dem Hellenen,
das uns vor ein paar Jahren widerfuhr?“ und neigte sich über die Bar, um sich
ebenfalls ein Gläschen einzuschenken, „So was in der Art“ fügte er erklärend
hintenan. Graham Greene erinnerte sich nur zu gut an diesen Vorfall. Es war der
Tag, seit dem ihn nichts mehr in seiner Zuneigung zu Chuchu erschüttern konnte.
Besonders standhaft hatte sich Chuchu nicht an die panamaische Sitte halten
können, wochentags nichts weiter als Milch und unalkoholische chichas zu trinken,
die Einführung von Planter´s Punch als täglichen Programmpunkt war wohl ein
Verdienst, der auf die Freundschaft mit Graham Greene zurückging, und so hatte er
sich eines Morgens in einem nachtragend rauschigen Zustand unfähig gezeigt, den
Wagen in der Straßenspur zu halten und war durch eine Absperrung gedonnert und,
ein parkendes Auto anrempelnd, im Buchladen eines griechischen Kriegshelden
zum Stehen gekommen. „Wir müssen ihn zu deiner Party am Freitag einladen“ war
alles, was er an Kommentar über den Unfall verloren hatte.
„Ich fürchte, wir kommen nicht mehr rechtzeitig ins Konsulat“ stirnrunzelte Graham
Greene.
„Ach was“ erwiderte Chuchu beschwichtigend, während er für die Eiswürfel aus
seinem Whiskyglas eine bessere Verwendung gefunden hatte und sie sich an die
Schläfen presste, „dort müssen wir sowieso erst in zwei Stunden eintreffen. Ich
wollte nur sichergehen, dass du nicht verschläfst, und ich muss zuvor noch etwas
erledigen.“
Es stellte sich heraus, dass die Erledigung darin bestand, im benzinschwangeren
Dunkel einer Hinterhofgarage zwei Maschinengewehre gegen eintausend Ladungen
Handfeuerwaffenmunition einzutauschen. „Für die Sandinisten?“ fragte Graham
Greene, als Chuchu sich wieder zu ihm in den Wagen setzte. „Nein, die Sandinisten
haben alles, was sie brauchen. Für El Salvador“ antwortete Chuchu, und Graham
Greene konnte nicht anders, als sich überglücklich zu zeigen, darüber, dass sein
Freund, der Professor der Mathematik, Poet und seinerzeit engster Vertrauter und
Sicherheitswache des Generals, unbeirrt seiner zweckmäßigen Arbeit nachging,
und darüber, dass das Panama von heute doch nicht so sehr von dem seiner
Erinnerung abwich. Mochte der General auch verstorben sein, der Torrijismo
schien weiterzuleben. Panama war weiterhin ein Hafen für die Flüchtlinge Süd- und
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Mittelamerikas, für diejenigen, die vor Samoza, Videla und Pinochet flohen, und auf
dem Weg in Richtung Sozialismus, den Omar Torrijos eingeschlagen hatte, folgten
seinem unsterblichen Geist nach wie vor tausende Anhänger. Man hatte nicht
vergessen, dass es dem Verhandlungsgeschick dieses Mannes zu verdanken war,
dass der Panamakanal mit dem Ende des Jahrtausends endlich in die eigenen Hände
übergeben würde und die USA ihren Rückzug anzutreten hätten. Alles, was Panama
weltwirtschaftlich ausmachte, war der Kanal, und doch war er nicht Panama und
die Zone eine andere Welt. In dem Moment, da man die Kanalzone betrat, konnte
man den Unterschied schon allein anhand der niedlichen einfallslosen Häuschen
und der gepflegten Rasenflächen ausmachen, wo Bataillone von Rasenmähern
den Dschungel unterworfen und zu unzählbaren Golfparcours adaptiert hatten.
„Und im Wind hörst du: Hier sind ehrbare, gottlose Leute; ihr einziges Denkmal die
asphaltierte Straße und tausende verloren gegangene Golfbälle.“
Graham Greene hatte Omar Torrijos über seinem Schreibtisch zusammengekauert
vorgefunden, als dieser im Begriff war, die Rede zur Feier der Vertragsunterzeichnung
zu schreiben, die die Übergabe des Kanals bedeuten sollte. Er war unglücklich
über Carters Beschluss, nahezu alle Militärdiktatoren Südamerikas zur Zeremonie
einzuladen und hätte es lieber gesehen, wenn er sich mit den gemäßigteren
Anführern Kolumbiens, Venezuelas und Perus begnügt hätte, die einen besseren
Leumund vorzuweisen hatten. Umgeben von Videla aus Argentinien, Banzer aus
Bolivien, Stroessner aus Paraguay, García aus Guatemala und allen voran Chiles
Pinochet würde eine Demonstration in den Straßen Washingtons keinen Unterschied
zwischen dem einen und dem anderen machen, es gab in amerikanischen Köpfen
nur böse und am Bösesten, wenn es sich um südamerikanische Staatsoberhäupter
handelte, warum dann also nicht gleich gegen alle ins Feld ziehen?
Torrijos hatte ihm die Rede vorgetragen, eine Generalprobe in ihrer ganzen
Doppeldeutigkeit, und Graham Greene hatte ihn dazu ermutigt, sie beizubehalten,
wie sie war. Auch hatte er eine Zeile hinzugefügt, und selbst wenn niemand es
erfahren hatte und seine Hinzufügung an Unwichtigkeit nicht zu überbieten gewesen
war, so war er doch stolz darauf, Geschichte geschrieben zu haben.
Am Tag der Unterzeichnung in Washington saßen sie in Landesgruppen eingeteilt
zwischen den Amerikanern und Venezuela. Die panamaische Gesandtschaft
bestand nicht nur aus dem General, Chuchu und Graham Greene, sondern wurde
neben anderen auch noch durch den peruanischen Schriftsteller Gabriel García
Márquez und eine Mutter verstärkt, deren Sohn bei den Studentenunruhen des
Jahres 1964 von einem Marinesoldaten ermordet worden war. Während sie
alle auf dem erhöhten Podest Platz nahmen, wirbelten auf dem unteren Boden
Fernsehsternchen und Altpolitiker herum auf der Suche nach ihren Sitzen, Henry
Kissinger schubste sich seinen Weg mit einem weltumspannenden Grinsen frei,
Rockefeller bezirzte mit einer angestrengten Liebenswürdigkeit Mrs. Lyndon B.
Johnson „Ladybird“ und Henry Ford stach mit frisch blondiertem Haar ins Auge,
es war ein Sehen und Gesehenwerden im Inferior, und die feingesellschaftliche
Frage „Was, DU auch hier?“ beherrschte das Parkett. Die Hauptdarsteller auf der
Plattform dagegen boten vielleicht einen unangenehmeren Anblick, doch auch
einen imposanteren: alle Generäle hatten sich hier eingefunden, Videla mit seinem
in so wenig Raum gequetschten Gesicht, dass seine fuchsigen Augen kaum noch
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Platz fanden, Banzer, der kleine furchtsame Mann mit dem sich stark machenden
Schnurrbart, und Pinochet, der den Status sofortiger Wiedererkennung erlangt hatte
und mit amüsierter Verachtung die hochbezahlten frivolen Hollywoodmenschen
unter sich ansah. Graham Greene war nicht der einzige, dessen Blick permanent auf
Pinochet zu ruhen schien, der nicht zu sprechen brauchte, nicht einmal zu grunzen,
um die Szene zu beherrschen.
Zu den Klängen der Nationalhymnen betraten Omar Torrijos und Jimmy Carter
die Bühne, bereit, ein Bündnis zu unterzeichnen, das sich in den letzten dreizehn
Jahren ständiger Modifikationen und Herumfingerei zu einem Ladenhüter gewandelt
hatte. Carter sah jämmerlich unglücklich aus und hielt eine kleine, banale Rede in
so zaghafter Lautstärke, dass sie selbst ungeachtet der vielen Mikrophone keinen
fünf Sitzreihen standhielt. Torrijos dagegen durchschnitt die Stille, und Graham
Greene empfand als zeitweiliger Panameño Stolz für diesen Mann. Er begann seine
Rede so, wie er sie ihm vorgetragen hatte, abrupt und ohne eine Begrüßung an den
Präsidenten oder die Exzellenzen zu richten, sodass sogar die Berühmtheiten unter
ihm zuzuhören begannen. Für einen Moment schien es, als würde er den Vertrag
attackieren, den er im Begriff war, zu unterzeichnen.
„Der Vertrag ist sehr zufriedenstellend, von gewaltigem Vorteil für die Vereinigten
Staaten von Amerika, und, wie wir zugeben müssen, nicht so sehr von Vorteil für
Panama.“
Eine Pause und der General fügte hinzu: „US-Staatssekretär Hay, 1903.“
Die Senatoren zeigten sich wenig amüsiert. Aber es war mehr als ein Scherz, den
Torrijos sich erlaubt hatte. Er brachte seinen Missmut gegen ein Abkommen zum
Ausdruck, das nicht nach seinen Vorstellungen ausgehandelt worden war, denn es
quälte ihn, dass sich die Übergabe der totalen Kontrolle über den Kanal bis ins Jahr
2000 hinauszögern würde und dass eine Ausweichklausel eingefügt worden war, die
es den Amerikanern erlauben würde, selbst nach diesem Datum zu intervenieren,
wenn sie die Neutralität des Kanals gefährdet sehen würden. Wenn der Senat die
Ratifizierung des Vertrags verweigert hätte, wäre es für Omar Torrijos kein Grund zur
Trauer gewesen, hatte Graham Greene den Eindruck gehabt. Er wäre dann vor der
einfachen Lösung gestanden, mit Gewalt seinen Willen durchzusetzen, ein Gedanke,
den er schon oft erwogen hatte, zwischen Begehren und Befürchtung schwankend
wie in einer sexuellen Begegnung. „Wir könnten Panama City für achtundvierzig
Stunden halten“ hatte er einmal gesagt. „Der Kanal ist einfach zu sabotieren, man
braucht nur ein Loch in den Gatún Damm zu sprengen, und alles Wasser würde in
den Atlantik ausfließen. Die Reparatur des Damms mag zwar nur ein paar Tage in
Anspruch nehmen, doch es würde drei Jahre voller Regen brauchen, um den Kanal
wieder aufzufüllen, und während dieser Zeit würde ein Guerrillakrieg herrschen. In
den Zentralkordillieren bei Costa Rica und in der Undurchdringlichkeit des Darién
bei Kolumbien könnten wir zwei Jahre Widerstand leisten – lange genug, um das
Gewissen der Welt wachzurufen.“
Im darauffolgenden Jahr, 1978, war Graham Greene ein weiteres Mal auf Einladung
von Omar Torrijos nach Panama gekommen. Auf dem Weg nach Farallón, wo der
General in seinem Haus am Pazifik auf ihn wartete, hatte er die Rede von Arnulfo
Arías gelesen, dem entmachteten Präsidenten, der aus der sicheren Entfernung von
Miami aus Schimpftiraden losließ. Er hatte Torrijos als einen Tyrannen beschrieben,
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der seine Feinde aus Flugzeugen stürzte und Gefangene folterte, als einen ehrlosen
Prinzipienverräter, der das Vaterland für eine Handvoll Kleingeld verkaufte wie
Judas den Herrn, und wie Judas versuche er, seinem Gewissen durch Ignoranz
zu entfliehen, sich selbst einschläfernd mit Alkohol und Rauschgiften. „Sei nicht
überrascht, wenn der Psychopath, der in eine Klinik für Geisteskranke eingewiesen
gehört, einst in seinem eigenen Hinterhof von einem Baum herabhängt.“
Der Psychopath hatte in seiner Hängematte gelegen, sich mit einem Bein in
schaukelnden Schwingungen gehalten und fröhlich mit ihm über die Zukunft
diskutiert. Er hatte vor, die Politiker zu überraschen, indem er eine Partei auf die Beine
stellte, um sich aus allem herauszuhalten, während sie glauben würden, er täte das,
um weiterhin Teil des Systems zu sein. Die interne Politik hatte ihn müde gemacht
und war ihm langweilig geworden. Sie würden ihre Waffen in die falsche Richtung
feuern und ihre wertvolle Munition in den Wind streuen, um dann festzustellen:
Dieser Hurensohn ist wahrlich unvorhersehbar! Mit einem schelmischen Grinsen
fügte er an: „Alles, was ich brauche, ist ein Haus, Rum und ein Mädchen.“
Nun schienen die heroischen Tage Panamas vorüber und es fehlte an einem
ebenbürtigen Nachfolger, der sich wie Torrijos darauf verstand, mit den Köpfen der
Welt zu kommunizieren, sei es Tito, Fidel Castro, Jimmy Carter oder der Papst.
Chuchu hatte bemerkt, dass sich Graham Greene während der Fahrt in Stillschweigen
gehüllt hatte, auch wenn er sich dafür aufgrund seiner whiskypochenden Schläfen
eher dankbar zeigte als besorgt. „Grüble nicht, mein Freund“ sagte er, „du hast
für heute noch zu wenig getrunken, um schon in deprimierende Gedanken zu
verfallen.“
Nachdem sich bei der Botschaft herausgestellt hatte, dass die Einladung nicht von
Fidel Castro ausgesprochen worden war, sondern von der Casa de las Américas und
einen Abend mit Tanz und Musik in Havanna betraf, ließ Graham Greene ausrichten,
er sei nur an der politischen Situation interessiert und hätte keine Zeit für einen
kulturellen Besuch.
„Ich hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht“ entschuldigte sich Chuchu.
„Ach was, es tut mir nur ein wenig leid um die Zigarren, die Castro immer so freigiebig
ausgeteilt hat. Vielleicht hätte er sogar noch welche mit der Banderole gehabt, auf
der Omar Torrijos´ Name stand. Es wäre ein schönes Andenken gewesen.“
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Grabgespräche
Omar Torrijos lag in dichter Dunkelheit.
Du bist gewachsen, mein Sohn, stellte er fest und besah sich mit geschlossenen
Augen den bäuchigen Mann, der zu Besuch gekommen war.
Nun ja, Papito, du hast mich lange nicht gesehen, erwiderte dieser verlegen.
Außerdem stehe ich gut vier Meter über dir, das mag ein wenig verzerren. Zugleich
kam ihm in Erinnerung, dass nach den Regeln der Perspektive seine Erscheinung
dennoch mehr gestaucht denn gestreckt sein würde, und er straffte sein Hemd,
strich die Falten hinter den Hosenbund und stellte sich auf die Zehenspitzen, um
zumindest nicht noch dicker zu wirken, als er war.
Was gibt es, Martín, dass du mich an einem Sonntag aufsuchst? fragte der General
aus der Tiefe, beeindruckt vom Grollen seiner eigenen Stimme, das sich in der
Enge seines Sarges aufbaute und durch die Erdschichten nach oben sickerte. Er
fühlte sich versucht, noch ein markerschütterndes UUAAAH nachzuschleudern, um
die Resonanzeffekte bis zu ihrem Höchstpegel auszutesten, unterließ es aber, um
seinen Sohn nicht zu verschrecken.
Martín strammte seine Haltung bis zum Äußersten, hinderte den Wind daran, in dieser
ehrwürdigen Situation respektlos an seiner Krawatte zu zupfen, indem er sie mit der
linken Hand fest an seinen Bauch drückte, und mit dem rechten Arm zeichnete er
einen Halbkreis, dessen Verlaufsspur zu seiner eigenen Ehre von überspannten
Fingern gezeichnet in Kopfhöhe endete, als er sagte Ich bin Präsident!
Dem General entkam ein Pfiff der Anerkennung. Respekt! rief er seinem Sohn zu.
Wann hast du den Präsidentschaftspalast besetzt? Und bei welcher Gelegenheit?
Nein, nein antwortete Martín kopfschüttelnd, nicht besetzt in dem Sinne, Vater.
Ich wurde vom Volk gewählt. Ich bin rechtmäßiger Präsident von Panama für die
nächsten fünf Jahre.
So richtig mit Demokratie und dem ganzen Schnickschnack? Omar Torrijos
wälzte sich ungläubig in seinem Grab. Er dachte daran, wie er 1968 an die Macht
gekommen war. Rechtmäßiger Präsident, PAH! Arnulfo Arias war auch rechtmäßiger
Präsident gewesen, und den hatte er zum Frühstück verspeist. Ganze zehn Tage
war er im Amt, dann besuchte er abends mit irgendeiner Liebschaft das Filmtheater,
und währenddessen hatte sich Omar des Präsidentschaftspalastes, der Fernsehund Radiostationen, ja der ganzen Nation bemächtigt. Zugegeben, Arnulfo Arias
war ein eigenes Kapitel. Von den drei Malen, da er Präsident gewesen war, wurde
er eben jene drei Mal aus dem Amt katapultiert, und davon wiederum zweimal,
während er sich als Hausfreund einer seiner Damen hingab. Seinen Erfahrungen und
Überlegungen nach war das Präsidentenamt so ziemlich der instabilste Posten, den
dieses Land zu bieten hatte, und er war sich nicht sicher, ob er sich nicht mehr um
seinen Sohn sorgen sollte, als sich für ihn zu freuen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht mehr um dich sorgen sollte, als mich für dich
zu freuen, zögerte der General und setzte dazu an, seine Bedenken auszusprechen,
aber Martín war schneller und ließ ihn mit stummgeöffnetem Mund liegen.
Ich weiß was du denkst und deine väterliche Sorge rührt mich, zumal es keinen
sorgenfreieren Zustand als den deinen gibt, aber was weißt du schon von der
politischen Situation, in der sich unser Land heute befindet? Seit 23 Jahren
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liegst du hier am Friedhof Amador, und es würde mich wundern, wenn sich
die Ereignisse bis zu dir herumgesprochen hätten. Du weißt nichts von Manuel
Noriegas Diktatorendrogenpolitik oder seiner Gefangennahme, die im Zuge der
Invasion amerikanischer Truppen stattfand, von der du auch nichts weißt, die
das Hauptquartier der PDF, deiner ehemaligen Nationalgarde, zerbombten, aber
weit harmloser zerbombten, als die anscheinend extrem treffsicheren ärmlichen
Behausungen El Chorrillos, du weißt nichts von Hugo Spadaforas in milchigen
Umständen erfolgtem Tod; du weißt nicht, dass seit zwölf Jahren Präsidenten
demokratisch gewählt werden, ohne ein paar Tage darauf wieder in der Senkgrube
zu verschwinden, nur weil irgendjemand mit dem Wahlergebnis nicht konform
geht und seine Nichtanerkennung zur großen Revolte hochstilisiert, du weißt
nicht, dass ich schon einmal für das Präsidentschaftsamt kandidiert habe, als die
von dir gegründete Partei PRD beschloss, den historischen Kreis, den du mit der
Aushandlung der Kanalübergabe an Panama angezirkelt hast, mit der genetischen
Selbstverständlichkeit meines Nachnamens zu schließen. Damals habe ich gegen
die Arnulfisten verloren und Mireya Moscoso wurde Präsidentin, aber heute
verkünde ich dir meinen Präsidentschaftssieg, und es gibt keinen militärischen
General, der mich in absehbarer Zeit stürzen könnte, denn es gibt kein Militär, keine
Nationalgarde und keine organisierten Bataillone mehr. So wie ich es sehe gibt es
keine ernst zu nehmende Alternative zu mir.
Omar Torrijos dachte daran, dass er die Alternative immer schon spannender
gefunden hatte als die eigentliche Lösung, die für ihn stets etwas Vermeintliches
hatte, und gerade der Mangel an Alternativen war es, der auf die Lösung des
einhelligen Zuspruchs ein Zwielicht warf und sie als Problem erscheinen ließ.
Fragen, die nur eine richtige Antwort erlaubten, waren ihm suspekt. Er hatte wahrlich
genug Zeit gehabt, sein Leben zu reflektieren, über seine Macht und Diktatur und
was er darin umgesetzt hatte nachzudenken, und im Endeffekt konnte er sich mit
der Gewissheit umhüllen, dass die Leute ihn liebten. Er war nicht der Patriarch aus
García Márquez´ Roman, der sich diese Liebe einreden musste, er war nicht mal Teil
des Konglomerats südamerikanischer Diktatoren, die allesamt charakterliche und
amtsanmaßende Vorlagen für jene närrische Figur abgaben, jenen Instantpatriarchen,
der um drei Uhr nachmittags aus einer Verwirrung heraus befehlen konnte, es war
acht am Abend, und sich Sterne aus Goldpapier an die Fenster seines Palastes
kleben ließ, um Recht zu behalten, der aus drei Säcken Billardkugeln ziehen ließ,
um das Volk sein Glück beim Lotteriespiel versuchen zu lassen, und doch immer nur
selbst gewann, indem er die Kugeln seiner Zahlenkombination Tage zuvor einkühlte,
um sie im Gemenge problemlos erfühlen zu können. In Wahrheit sah er sich selbst
nicht einmal als Patriarchen, denn wie sehr konnte eine Diktatur überhaupt noch
Diktatur sein, wenn sie vom Großteil der Bevölkerung gutgeheißen und beglaubigt
wurde? Worin sollte denn zum Teufel die diktatorische Facette seines Traumes
von einem sozialdemokratischen Zentralamerika liegen, das unabhängig von den
Vereinten Staaten von Amerika existierte und doch keinen Anlass zu militärischen
Interventionen bot? In seiner Selbstbeschau hatte er beschlossen, dass er kein
Diktator war, sondern ein ungewählter Anführer, wobei er ungewählt in im Geiste
ersehnt umwandelte, und in diesem Moment, da sein Sohn über ihm stand und
sich stolz Präsident nannte, das Krawattenende zwischen den speckigen Fingern
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zwirbelnd, wurde ihm bewusst, dass es keinen größeren Liebesbeweis, keinen
größeren Ausdruck posthumen Zutrauens der Bevölkerung zu ihm gab, als seinen
eigenen Sohn aus freier Entscheidung zum Präsidenten zu wählen.
In gleichem Ausmaß wie dieser Gedanke den Alten mit Zufriedenheit sättigte, dass
die Bohlen seines Sarges unter dem Druck der Gefühlsblähungen zu Knarzen
begannen, ließ er den Sohn über seine unabhängige Einzigartigkeit zweifeln, und
sein Erfolg schmälerte sich im Schatten seines mythischen Vaters ebenso wie er
selbst. Man fragt sich, ob ich aus den USA nach Panama zurückkehrte, um der
Partei zu helfen oder sie zu erben, ob ich zur Politik berufen bin, warum ich Präsident
werden will, oder, wie es die Tageszeitung Prensa unumwunden formulierte, was
ist dieser Mann in seinen Vierzigern mit seinen tiefschwarzen Augen und dem
schwierigen Lächeln noch, außer einfach Omar Torrijos´ Sohn? Sie halten dich für
mein zweischneidiges Schwert, das mit der Schneide deiner Popularität für mich
den Weg zum Herzen des Volkes freischlägt, aber dessen Einsatz mich zu einem
gesichtslosen Nachfolger macht. Sie wollten einen Torrijos, und den Lebendigen von
uns beiden haben sie gewählt, in Ermangelung des Toten.
Es mag ein wenig Lobhudelei in den Worten von Martín Torrijos gelegen haben,
ein letztes Kompliment für seinen alten Vater, der in einem mahagonihölzernen
Sarg mit Plüschauswandung und aus Seidengarn gefertigten Stickereien auf
eine Bestätigung warten mochte, genauso mag es auch seine ernste Ansicht
gewesen sein, die psychoanalytisch nach mehreren Sitzungen zur Steigerung
des Selbstbewusstseins verlangt hätte, aber der Antrieb war dem General egal,
er hatte keine Lust, die Psyche seines Sohnes zu exhumieren, während er seine
Selbstbestätigung bereits in seinen eigenen Gedanken gefunden hatte, und so
konnte er mit Überzeugung widersprechen Ich habe damit nichts zu tun. Man weiß,
wo ich seit Jahrzehnten zu finden bin, und wer mich sucht, kommt auch zu mir. Ein
Volk, das nicht nach seinen Toten sieht, sieht auch nicht nach seinen Lebenden.
Ich aber kann von Glück sagen, dass ich fast täglich jemandes Beine von unten
sehe, dass mich die Wurzeln von Honolulurosen, Petrea und Hibiskus umschlingen
und der Steindeckel meines Grabes von Kerzen beschwert wird, auch wenn sie
während der Regenzeit keinen anderen Zweck erfüllen. Bei meinem Begräbnis
haben die Tausenden von Trauergästen, die keinen Platz mehr am Cementerio
Amador fanden, mit einem derartigen Höllenlärm die Friedhofsmauer umgestürzt,
dass ich nahe dran war, aus der Totenruhe wieder aufzuwachen. Ich wurde genug
geehrt, um den Rest meiner Fäulnis mit Würde zu erleben. Jetzt ehren sie dich, aber
das Andenken an mich ist getrennt davon zu betrachten, denn niemand wählt einen
Toten, genauso wie niemand aus purer Melancholie und Vergangenheitsverliebtheit
einen Familiennamen wählt.
Ein angenehm väterliches Gefühl schlich sich beim General ein, das ihn an Zeiten
erinnerte, wo er einen ermunternden Fehler beim Dominospiel begangen hatte,
um sich am lauthalsen Erfolg seines Sohnes mitzufreuen, doch schließlich war es
einfach die fehlende Notwendigkeit eines Siegestanzes in Gruftschuhen.
Martín Torrijos, Präsident, zeigte ein dankbares Lächeln, er küsste den Grabstein,
strich sein glattgegeltes Haar zurück, als er sich wieder aufrichtete, er lockerte seine
Krawatte ein wenig, während er sich die Schuhe an den Hosenbeinen seiner eigenen
Waden säuberte und verließ das Grab seines Vaters. Kubikmeter um Kubikmeter
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Erde mit all ihren Mikroorganismen war wieder das Einzige, wovon der General
umgeben lag, und in der Stille des Besucherschwundes hörte niemand, wie sich ein
dröhnendes UUAAAH seinen Weg an die Luft polterte, das von der dichten Graberde
in flutwellenartige Schwingungen hochgeschaukelt wurde, gefolgt von einem leisen
Kichern.
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Manuel Noriegas Zellenmonolog
„To solve a problem, you have to create the problem.“
Henry Kissinger
Mit der ganzen Strenge, die seine buschgrüne Generalsuniform aus widerständigem
Drillich ausdünstete, behängt mit den Abzeichen seines militärischen Rangs und den
Orden seines militärischen Ruhmes, jagte Manuel Antonio Noriega den fliegenden
Ameisen nach, die sich vor dem spätsommerlichen Regenguss in seine Zelle
geflüchtet hatten und jetzt zum Zeitvertreib seine Tomatenpflänzchen umschwirrten.
Behutsam stülpte er seinen urinverkrusteten Nachttopf über die eine, seinen Stiefel
über eine andere Pflanze, verbarg sein ganzes Grün unter Eimern, Gläsern und
Schirmkappen, zimmerte einen Unterschlupf aus Bauklötzen und schirmte mit
kopfunter verdrehter Mikrowelle seine Zöglinge gegen die einströmenden Insekten
ab, und als ihm die Gefäße ausgingen und noch eine Pflanze übrig war, die es zu
beschützen galt, besann er sich des letzten gottgegebenen Hohlraums und steckte
sie in den Mund, er plusterte seine Backen zu einer Grotte auf und umfasste mit
liebevoll zusammengepressten Lippen den Stengel, während er begann, eine Ameise
nach der anderen im Flug zu erledigen. Die Letzte erschlug er, als sie gerade Reißaus
nehmen wollte und im Regen die geringere Bedrohung erkannt hatte, auf ihrem
Weg zurück zum Fenster, an dessen Gitterstäben die Klimazonen kollidierten, die
drückende Schwüle eines Sommers in Miami draußen und die klimagekühlte Eisluft
seines Gefängnisappartements innen ließen mikroskopisch kleine Gewitterwölkchen
entstehen, und er war sich sicher, in höheren Atmosphären würden sie sich addieren,
würden verschmelzen und zu riesigen zementfarbenen Wolkenbergen werden, und
alles Unwetter, das sich über der Welt entlädt, hätte seinen Ursprung an der Schwelle
seines Parapets. Er ballte seine leichengepunkteten Handflächen zu Fäusten und
reckte sie hoch in die Luft, und mit dem vertrauten Gefühl der gewohnten Siegespose
verwässerten sich seine Augen melancholisch, er hatte gewonnen und brauchte
genau jetzt bestätigende Anerkennung, also stolzierte er in den kleinen Vorraum, wo
der wachhabende Gefängniswärter zeitungslesend in seinem Stuhl hing, streckte
ihm die steifgeöffneten Innenseiten seiner Hände entgegen und verkündete mit
selbstfeierndem Pathos Zweiundfünfzig, wobei die so intim behütete Tomate auf
den Boden klatschte. Bewahre deinen Glauben, Tony, hörte er einen anderen
Gefängnisinsassen ihm durch die vergitterte Eingangstür zurufen, der gerade auf
die Behandlung seiner Altweibermigräne oder seiner Messerstichwunde oder seines
Genickbruchs in der benachbarten Krankenstation wartete, und reflexartig zuckte er
wieder in die Haltung seiner Boxweltmeistergeste und trottete zufrieden in seine Zelle
zurück. Im Badezimmer wusch er sich mit pfirsichduftender Seife das Blutpürree von
den Händen und betrachtete sich beim Neonschein der Spiegelleuchte im Alibert,
und Gut gemacht, Herr General, lobte ihn sein Gegenüber, bravouröse Leistung, und
Kinkerlitzchen hörte er sich sagen, sie waren im Angriff strategisch unausgegoren.
Hiermit widerrufe ich meine eigene weinerliche Feststellung, ich wäre wehrlos seit
dem Tag, da man mir in der vatikanischen Botschaft von Panama City meine letzte
Waffe genommen hat, die mir heimlich zugeschanzt worden war und zwischen den
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päpstlichen Schaumgummimatratzen meines Bettes im so spartanisch möblierten
Asylzimmer der Nuntiatur versteckt lag, im polyesterumgarnten Halbschlaf, Uzi
meiner Versicherung gegen den inszenierten Ansturm des brodelnden Mobs, dem
durch einen einfachen Beschluss zur Aufhebung der botschaftlichen Immunität wider
alle internationalen Gesetze und Konventionen der Weg freigestanden wäre, um mit
mir „das Mussolini-Ding durchzuziehen“, wie es General Thurman nicht unfreudig
in Aussicht gestellt hatte, Tod durch Erhängen und negative Vorbildwirkung durch
schaustellerisches Hängenlassen. Ironischerweise war es der Patensohn des illegal
in der Nacht der Invasion angelobten Präsidenten Guillermo Endara, der damals die
Zimmer reinigte, unschwer zu erraten, wer im Bettspalt nach meiner Waffe fingerte.
Ironischerweise bin ich es, der wegen Drogenhandels zu vierzig Jahren Gefängnis
verurteilt wurde und nicht Guillermo Endara, der jahrelang als Bankdirektor
kolumbianischen Drogenhändlern beim Waschen ihres Geldes zur Hand ging, der
als Anwalt eine Scheingesellschaft für Willie Falcon und Sal Magluta gründete,
ehemalige Speedboatfahrer, die Tonnen von Kokain in die USA schmuggelten und
in Zusammenhang mit zahlreichen unnachgewiesenen Morden zu unbegnadigbaren
zweihundertundfünf Jahren verurteilt wurden, nicht Endara, der Verbindungen
zu mehr als drei mit Interbanco verknüpften Gesellschaften hatte, einer Bank,
die von der Drug Enforcement Administration im Zuge ihrer Untersuchungen der
Geldwäscherei für schuldig befunden worden war.
Noriega im Spiegel schüttelte verständnislos den Kopf. Das ist weit mehr als du
getan hast, sagte er.
Wie könnte es weniger sein? Wir beide wissen doch nur zu gut, dass die
Zeugenaussagen gegen mich von verurteilten Drogenhändlern mit Nachsichtigkeit
und Strafaufhebung erkauft wurden oder von politischen und militärischen Rivalen
stammten, genauso wie sämtliche Dokumente über die Beziehungen zwischen mir
und der CIA und den gemeinsamen Kampf gegen den Drogenhandel aus meinem
Büro verschwunden sind, noch bevor überhaupt der Versuch unternommen wurde,
mich zu haschen, alles, was die USA in Verlegenheit bringen hätte können oder
meine Verteidigung glaubwürdig gemacht hätte, wurde gestohlen oder zerschnitzelt
oder vom Richter unnachgiebig abgelehnt, in die Verhandlung aufgenommen zu
werden. Nicht nur, dass wir mit der CIA kooperiert haben, Drogenkönige zu fassen,
ich habe auch die erste Drogenkonferenz der südlichen Hemisphäre auf den Plan
gerufen und auf der Isla Contadora organisiert. Die Lächerlichkeit der Anklage
wegen Drogenhandels manifestierte sich im Schlussplädoyer, als der Staatsanwalt
forderte Verurteilen Sie diesen Diktator!
Der greifbare General sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, denn das
Waschbecken stützte ihn nur unzureichend. Er ging ins Nebenzimmer seines Arrests
und ließ sich erschöpft in den zerschlissenen Lehnstuhl fallen, dessen Sprungfedern
an seiner Hose nagten, als ihm einfiel, dass er seinen Gesprächspartner im
Badezimmer zurückgelassen hatte und wieder aufstand, um den Alibert aus seinen
Wandhaken zu heben und ihn ebenfalls ins Nebenzimmer zu bitten, doch er fand
keinen zweiten Sessel für ihn, und wenn er nicht selbst am Boden liegen wollte um
eine Konversation mit Füßen zu vermeiden, dann musste er den Spiegelschrank
wohl auf adäquater Höhe positionieren. Durch die kleine Küche, wo er sich beim
Anblick der leeren Stellfläche zur späteren Erinnerung vorsagte, er müsse die
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Mikrowelle wieder an ihren Platz zurückstellen, da das Gefecht ja vorbei sei, ging
er in den angrenzenden Innenhof, zerrte seinen antiquarischen Hometrainer aus
der Ecke und durch die Küche zurück in seinen Aufenthaltsraum und klemmte den
Badezimmerschrank zwischen Lenker und Fahrradsitz gegenüber seines Lehnstuhls
fest. Dann nahm er wieder Platz, richtete den Neigungswinkel seiner Wirbelsäule auf
sein Gegenüber aus, sodass er mehr im Sessel hing als aufrecht zu sitzen, und war
bereit, die Konversation wieder aufzunehmen.
Das Problem, das die Ideologen mit Panama hatten, bestand darin, dass sie nicht
aus uns schlau wurden, fuhr er fort. Wir machten uns Freunde nach unserem eigenen
Wertesystem, unser Militär pflegte respektvolle Beziehungen zu seinen chilenischen
Gegenstücken, und als Pinochet an die Macht kam, boten wir so vielen Leuten wie
möglich Asyl an. Wir hatten Verständnis für die Revolution der Sandinisten und das
nationalistische Streben der Guerillas in El Salvador, während wir den Krieg, den
die Amerikaner gegen die salvadorianische Armee führten, für verantwortungslos
und unbalanziert hielten. Und dennoch wurde ich von der CIA beharrlich um
Unterstützung in ihren Angelegenheiten mit Zentralamerika angefleht, denn ich war
an Effektivität nicht zu übertreffen, wenn es darum ging, mit ihrem hartnäckigsten
Problemkind zu verhandeln – Fidel Castro. Wie geht die Rinderzucht in Panama vor
sich? Wie viele Hektar Land habt ihr pro Kuh? fragte mich Fidel, und ich antwortete
mit Stolz: Nun, ich bin kein Agronom oder Rancher, ich kann nur aus meinen
Beobachtungen berichten, und wir haben jede Menge Weideland. Ich würde sagen,
das Verhältnis von Land zu Kuhkopf entspricht der maximalen Distanz, die eine Kuh
innerhalb eines Weidetages zurücklegen kann. Das kann doch nicht sein, erwiderte
Fidel bestürzt, wenn die Kühe so viel herumgehen, dann werden sie doch hager und
die Milchproduktion leidet. Die Theorie besagt, dass ein zu großes Weidegebiet die
Fettungskapazität von Kühen mindert. Mit seinem Sachverstand auf dem Gebiet der
Rinderhaltung hat mich Castro ganz schön vorgeführt.
Die beiden Noriegas lachten; fast wäre der eine vom Stuhl gerutscht und der andere
vom Fahrrad gefallen, aber die Beherrschung fand sie schnell wieder.
Die Umkehrung der Verhältnisse, die mich in weiterer Folge als Feind erscheinen ließ,
war ein Resultat der Intrigen der amerikanischen Propagandamaschinerie, kombiniert
mit taktischen Fehlern von meiner Seite, Opportunismus der wohlhabenden
panamaischen Elite und der Blutlust der US-Regierung unter Reagan und Bush.
Ich sagte einmal zu oft Nein, als ich mich weigerte, mein Land den Amerikanern als
Sprungtisch für Angriffe auf Nicaragua und El Salvador zu Verfügung zu stellen, und
das hatte meine öffentliche Dämonisierung als die Inkarnation des Bösen zur Folge,
alles aufgebauschte Propaganda, um Rechtfertigung für die Invasion zu erlangen.
In Wahrheit gibt es drei Gründe für die Invasion, die alle nichts mit dem legitimen
Interesse nach Sicherheit zu tun hatten: Der ausschlaggebendste war wohl der
Feiglings-Faktor. Bush wollte dem wachsenden Image von Schwächlichkeit seiner
Regierung entgegenarbeiten und die Befürwortung seines Tuns aufrechterhalten.
Unsere Erfolglosigkeit in der Unterstützung gegen den Iran und die Besorgnis der
rechtsstehenden US-Regierung, mit der anstehenden Übergabe des Panamakanals
Einfluss auf die dortigen Operationen zu verlieren, noch dazu wo Japan wirtschaftlich
schon in den Startlöchern stand, spielten den Amerikanern weitere Anlässe zum
Einmarsch zu.
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Die Invasion hätte aber vielleicht gar nicht stattgefunden, wenn du dich im März 1988
ein wenig kooperativer verhalten und das Angebot der Amerikaner angenommen
hättest, bemerkte der Spiegelschrank, in abnehmender Lautstärke noch vor dem
ersten Relativsatz, als er erkannte, dass sich der zusammengesunkene General
aufzuregen begann.
Walker und Kozak und dieser Psychiater! Auf wessen Seite bist du eigentlich? Ruf
dir in Erinnerung, woraus dieses Angebot bestand! General, es wartet in diesem
Moment ein Flugzeug auf Sie. Sie können Ihre Familie, Ihre Freunde und alle Übrigen
zusammenpacken und sich auf den Weg zum Flughafen machen. Der Präsident
hat mich darüber hinaus dazu autorisiert, Ihnen auf der Stelle zwei Millionen
Dollar und einen Orden als Ehrung für ihre jahrelangen Verdienste zu übergeben.
In diesem ganzen Theater hatten sich Walker und Kozak, die beiden Gesandten
des Außenministeriums, ihre Rollen in guter Cop und böser Cop aufgeteilt, während
im Hintergrund ein Psychiater saß und mitzählte, wie oft ich blinzelte und mich
räusperte, um aus dem Summenergebnis Rückschlüsse auf meine Schwachstellen
zu ziehen und die psychologische Kriegsführung in die Wege zu leiten. Hätte ich mich
auszahlen lassen sollen und mein Land einfach so den Amerikanern aushändigen?
Ich bedaure meine Entscheidung nicht und habe keinerlei Gewissensbisse, aber was
in weiterer Folge geschah schmerzt mich, auch wenn das Endresultat dasselbe war
– die Amerikaner zwängten uns eine Regierung auf und entließen die Streitkräfte,
aber es brauchte dazu einen Kriegsakt, der die Neutralität und alle Grenzen
zivilen Benehmens sprengte. Sie nahmen sich die gesteigerte Unzufriedenheit der
Öffentlichkeit zum Anlass, die sie selbst hervorgerufen hatten, indem sie zuvor durch
Sanktionen unsere Wirtschaft zerstört hatten, auf genau die gleiche zynische Weise,
wie sie es mit Kuba und Fidel Castro gemacht hatten, um dann mich der Unfähigkeit
zur Aufrechterhaltung der Lebensqualität zu beschuldigen.
Als ich noch ein junger Offizier war, gab es zahlreiche Arbeiterstreiks, zu deren
Schlichtung man sich an die Nationalgarde wandte, da die zivile Regierung nicht
zu ihrer Lösung imstande war. Das Militär hatte eine natürliche Führungsrolle inne,
denn die so genannten traditionellen politischen Parteien waren nichts anderes als
Interessengruppen, von der wohlhabenden, amerikafreundlichen Schicht gegründet,
deren Volksnähe sich darauf beschränkte, in Wahlzeiten in populistischen Wassern
zu baden. Im Gegensatz dazu stand die von Omar Torrijos gegründete PRD, die
auf dem Volk aufgebaut war und direkten Kontakt zu ihm pflegte. Ich hatte eine
klare Vorstellung meiner Macht und verstand mich auf die Politik, aber was ich nicht
akzeptieren konnte, war Befehle von den Amerikanern zu erhalten und mich den
Launen und Interessen der reichen Elite Panamas unterzuordnen, die einen Hass
auf das Militär hegte und alles, wofür es stand. Die Bankiers und Autohändler und
Rechtsanwälte waren zugleich die Tennispartner und Dinnergäste der Amerikaner,
darum musste der Brutplatz der Korruption ihrer Meinung nach eindeutig beim
Militär liegen.
Essen, General, rief von draußen ein Gefängniswärter und schlug mit dem
Dessertlöffelchen gegen die Gitterstäbe der Zellentür, däng däng, Holen Sie sich’s
solange es noch warm ist, und schob es durch die Klappe. Entschuldige mich,
sagte Manuel Noriega zu seinem gleichfalls verschwindenden Gegenüber, um gleich
darauf mit einem Serviertablett in Händen wiederzukehren. Vergeblich zupfte er am
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Cellophan, in dem das antisuizidäre Plastikbesteck hygienisch eingeschweißt war
und biss es schließlich mit seinen Eckzähnen auf, Die tägliche Vorspeise, bemerkte
er murrend, während er lustlos in seinen Kartoffeln herumstocherte, er bekleckerte
seine Uniform noch bevor die Gabel zum ersten Mal seinen Mund erreichte und
Drecksessen entfuhr es ihm, während er den Teller von sich weg schob. Wenn er
sich schon aufregte, dann doch lieber über George Herbert Walker Bush.
Während die Invasion vor sich ging und die Stadt unter den Schuttwolken keuchte,
erschien George Bush im Fernsehen, lobte seine Truppen und behauptete, seine
Invasion – alles, wozu ein Schwächling mit einem Minderwertigkeitskomplex fähig ist
- sei eine Befreiung und die Mission lautete, mich zu fangen und der Gerechtigkeit
vorzuführen. Was für eine Lüge! Die Amerikaner hatten 12.000 permanent in Panama
stationierte Soldaten, sie hätten keine weiteren 20.000 Mann schicken müssen, wenn
es nur darum gegangen wäre, mich zu fangen. Wenn du mich töten willst, dann bietest
du eine Million Dollar Kopfgeld an für den, der meinen fachmännisch hingerichteten
Körper vorweisen kann. Wenn du mich fangen willst, stellst du die gleichen zwei
Millionen in Aussicht, mit denen du mich auskaufen wolltest und sparst dabei all
das Steuergeld der braven Bürger, das bei der Invasion draufgegangen wäre. Der
Grund, warum die Amerikaner nicht so vorgingen, war, weil ihnen ein Gesetz verbot,
ausländische Führer zu meuchelmorden; andererseits hatten sie kein Gesetz gegen
den Einmarsch in einen souveränen Staat und die Vernichtung hunderter ziviler
Menschenleben. Nein, Ziel war nicht, mich zu fangen; sie wollten mich tot. Die PDF
sollte zerstört werden, und wenn es Zeit sein würde, den Kanal zu übergeben, dann
sollte er sich zumindest im Besitz einer panamaischen Schoßhündchenregierung
befinden, die kaum bis keine Besitzansprüche äußern würde.
Der General sprach mit Leichtigkeit noch weitere zwei verbitterte Stunden über
die Schieflage der Welt, das politische Ungleichgewicht der Macht zwischen
nördlicher und südlicher Hemisphäre, die Hinterhältigkeit und Scheinheiligkeit der
Amerikaner und ihrer Kunst, Diskreditierungspropaganda zu betreiben, er sprach
von unbelastenden Zeugenaussagen und wie sie zu einer Verurteilung werden
konnten, von Bush und Reagan und der CIA, Verschwörungen und Komplotten,
ohne auch nur ein einziges Mal einer Ablenkung zu folgen oder zu bemerken, wie
sein Spiegelbild schon seit geraumer Zeit eingeschlafen war. Schließlich musste es
täglich das gleiche Lamento über sich ergehen lassen.
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Wir wollen Frieden, und ihr? Ihr werdet uns nie wieder beugen, denn uns vereint der
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Yankees raus aus meinem Territorium!
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Bush: Geh nach Hause! Deine ehemaligen Drogenabhängigen
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Yankees…erinnert euch an Vietnam und Giron Beach. Selbst eure Mütter rufen „Geht
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Anlass und die Moral. Raus aus Panama!
heim!“…Weit weg aus meinem Vaterland!
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uns vereint der
ter rufen „Geht
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2
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Danke Amerikaner für eure Anwesenheit
Es war keine Invasion, es war eine Befreiung! Es lebe die Freundschaft zwischen Panama
und den USA!
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Just Cause! Nie wieder F.D.P. – Dieser Blödsinn ist aus und vorbei
Bush, Endara, Arias, Calderon und Ford und das Südkommando der Vereinigten Staaten
- sie leben hoch!
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CNN
Dolores Ryce saß im Senderaum und wartete auf die Visagistin, die sich ihrer unter
dem Scheinwerferlicht glänzenden Stirn annehmen sollte, und blätterte lustlos
durch die Schlagzeilen. Ich mach dir einen Pony, verkündete diese, nachdem sie
getupft und Puder aufgeblasen hatte, ohne dass die Spiegelung auf der Haut der
Nachrichtensprecherin auch nur ein wenig matter geworden war, und mit ihrer
Rollbürste zupfte sie ein paar Fransen nach vorne und ließ sie verspielt zwischen
den Augenbrauen tanzen. Mit geschickten Fingern klemmte Dolores das Mikrophon
an den Kragenumschlag ihres Taftkleides, rückte die Schulterpolster zurecht, ließ die
Visagistin unangebracht unwirsch wissen, dass sie aus dem Bild gehen solle, und
drei, zwei, eins, wir sind auf Sendung.
Dolores: Guten Abend, es begrüßt Sie Dolores Ryce zu den CNN News vom 3. Jänner
1990. Manuel Antonio Noriega wurde heute in Panama City festgenommen und wird
nach Miami, Florida, überstellt, wo er sich vor Gericht wegen Drogenhandels und
Geldwäscherei verantworten wird müssen. Der jahrelange Diktator Panamas hatte
sich die letzten elf Tage in der Vatikanischen Botschaft verschanzt, bevor es den
US-Einheiten dank psychologischer Kriegsführung gelungen war, ihn zur Aufgabe
zu zwingen. Wir schalten nun live nach Panama City zu unserem Korrespondenten
Mark Bushbaum.
Mark: Guten Abend. Wir befinden uns hier vor der Vatikanischen Botschaft in der
Calle 50, wo vor wenigen Minuten der Tyrann des 20. Jahrhunderts das Handtuch
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warf und sich der amerikanischen Übermacht beugte. Am Heiligen Abend hatte
Manuel Noriega in der Nuntiatur um Asyl angesucht, nachdem er vier Tage lang von
Versteck zu Versteck gehetzt war, unsere amerikanischen Soldaten dicht auf den
Fersen. Papst Johannes Paul der Zweite hatte mitteilen lassen, er werde Noriega
nicht an die Besatzungsmacht ausliefern, wolle ihm aber auch kein politisches
Asyl gewähren, nichts anderes als eine Scharade, die dem Diktator als „Gast“ zu
Unterschlupf verhalf. Neben mir steht jetzt José Sebastián Laboa, der katholische
Nuntius. Hochwürden, wieso macht sich die katholische Kirche die Mühe, ein
bequemes rhetorisches Hintertürchen zu erfinden, um einen der größten Tyrannen
vor seiner verdienten Festnahme zu bewahren?
Nuntius: Guter Mann, soviel ich weiß war unsere Botschaft nicht die erste Wahl
Noriegas. Aber da Ihre Truppen sowohl die kubanische als auch die lybische
Botschaft belagert hatten und der General schlau genug war, zu erkennen, dass er
womöglich auch noch als Ausrede für eine Verletzung der Immunitätsrechte gegen
die Kubaner herhalten sollte, hatte er sich bereit erklärt, zu uns zu kommen.
Mark: Wie meinen Sie das, er hatte sich bereit erklärt? Haben Sie ihn denn etwa
eingeladen?
Nuntius: Ja natürlich!
Mark: Ich würde das Beihilfe zur Flucht nennen!
Nuntius: Ich bitte Sie! Wie sollte er denn fliehen? Doch keine zwei Minuten, nachdem
er in der Nuntiatur angekommen war, hatten schon 500 Soldaten und Dutzende
Panzer das Gebäude umstellt. Ziel war schließlich nicht, ihm eine sichere, bequeme
Unterkunft zu bieten, bis Ihre Leute zermürbt wieder abziehen würden, sondern ihn
zur Aufgabe zu überreden.
Mark: Sie haben also Ihren Gast schlecht behandelt?
Nuntius: Lassen Sie es mich so sagen: Wir haben ihn einiger Annehmlichkeiten
beraubt. Ich nahm ihm die Waffen ab, schaltete die Klimaanlage aus, sorgte dafür,
dass der Fernseher nicht funktionierte und bot ihm keine alkoholischen Getränke
an.
Mark: Klingt nicht besonders rigoros…
Nuntius: Es reichte aus, um seine Nerven zu lockern. Den Rest haben die 10.000Megawatt-Lautsprecher besorgt, die ihr Amerikaner rund ums Gebäude aufstellen
ließt, um uns rund um die Uhr mit ohrenbetäubendem Rock zu beschallen,
vorzugsweise Go to Hell, Beat it und Nowhere to run.
Mark: Das war ein grandioser Schachzug, nicht wahr? Man kann also behaupten, Alice
Cooper, Michael Jackson und die Kiss-Formation hätten einen wesentlichen Beitrag
zur Aufgabe Manuel Noriegas geleistet. Wie ich sehe, sind die Lautsprecherboxen
noch nicht entfernt worden, darum werden wir Ihnen, liebe Zuseher, einen Eindruck
vermitteln, was sich in den letzten elf Tagen rund um die vatikanische Botschaft hier
in Panama City abspielte.
(Auf ein Zeichen Mark Bushbaums hin werden die Boxen angeworfen und geben in
infernalischer Lautstärke die siegesreiche Rockmusik wieder, während die Kamera
versucht, die vergangene Dramatik in Bildern festzuhalten. Am unteren Rand des
Fernsehers werden die Liedertexte eingeblendet und die Zuseher mit einem von
Wort zu Wort hüpfenden Ball zum Mitsingen angehalten.)
Mark (laut schreiend): Genial! Zurück ins Sendestudio. Mark Bushbaum, CNN.
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Dolores: Danke, Mark.
Nach insgesamt zweiundzwanzig Jahren hat damit die Diktatur in Panama ein Ende
gefunden und das Land liegt wieder in den Händen eines anständigen Präsidenten.
Den Dreck, den Manuel Noriega am Stecken hatte, hat unsere Redaktion aus Anlass
zu dessen Festnahme in einem kurzen Dokumentarfilm zusammengefasst. Film ab.
(Zur Kennmelodie von The Munsters reihen sich Photos und kurze Filmsequenzen
aneinander, die alle den General zeigen, bei Ansprachen, beim Erteilen von Befehlen,
beim Bad in der Menge, in Uniform, Tarnanzug und Trainingsanzug.)
Sprecher aus dem Off: Manuel Antonio Noriega ist gefasst. Panama liegt nicht
länger „in den Klauen dieses interessanten Monsters“, wie es der amerikanische
Autor und Journalist Richard Kostner formuliert. In seinem Buch In the Time of the
Tyrants erstellt Kostner folgendes treffende Psychogramm des Diktators:
Klein und untersetzt, angespannt in Haltung und Gebärden, sein rundes Kinn für
gewöhnlich kampfeslustig vorgereckt, seine runzligen Wangen oftmals aufgebauscht
in unzüchtigem Grinsen, bot General Noriega ein verachtenswert närrisches Bild,
nicht wirklich böse, sondern mehr ein Zeichentrickdämon oder B-movie Gangster,
ein sich selbst imitierender Edward G. Robinson. Aber wenn seine Züge im Zorn
oder Hass schlaff wurden und seine flachen, glasigen Augen zu Eis erstarrten, ließ
er durchblicken, wer er wirklich war: der Welt schädlichster Einwohner. Er war einer
der großen Rauschgift- und Waffenhändler, mit einem persönlichen Vermögen von
vielleicht einer Milliarde Dollar. Er war der absolute Herrscher von Panama, konnte
alles von jedem erledigt haben. Und er handelte schweinisch, von Natur aus genauso
wie im Auftrag. Als Leutnant vergewaltigte er ein dreizehnjähriges Mädchen und
schlug ihren zwölfjährigen Bruder brutal zusammen. Er war federführend, als ein
regimekritischer Priester, Pater Héctor Gallego, 1971 aus einem Helikopter in den
Tod geworfen wurde. Und als der erwachsene Sohn eines prominenten Juweliers
dabei gefasst wurde, wie er Graffiti-Parolen gegen die Regierung an eine Wand
sprühte, befestigte Noriega selbst die Elektroden an den Hoden des Jungen und
jauchzte vor Freude bei jedem Schrei und jeder Zuckung.
Niemand weiß, wer Noriegas Vater war. Seine Mutter starb ein oder zwei Tage nach
seiner Geburt. Er wurde von einer ihrer Freundinnen aufgezogen, in einem Slum nahe
dem öffentlichen Markt in Panama City. Mit vierzehn wurde er von einem älteren
Mann verführt. So steht am Anfang eine tiefe Unsicherheit. Seine Mutter verließ
ihn – dass sie starb, macht keinen Unterschied. Und es entsteht eine verzweifelte
Sehnsucht nach Liebe, infolgedessen seine Bisexualität, der Versuch, Liebe mit
sexuellen Gefälligkeiten zu erkaufen. Addieren wir Selbstekel und die Verachtung
der anderen, und während das unheimliche Gesetz des lateinamerikanischen
Machismo die Penetration als männlich rühmt, ganz egal, woran sie sich zu
schaffen macht – Frau, Mann, Bestie, Melone, was auch immer – beschimpft es
das Opfer ohne Mitleid. Unsicherheit züchtet einen unstillbaren Durst nach Macht.
Selbstverachtung lindert das Schuldgefühl, das sich aus dem Verlangen nach Macht
entwickelt. Lustknabe und Vergewaltiger in einer Person, zwei Perversionen, die sich
gegenseitig ausbalancieren. Und, letztendlich, große Willensstärke und Verstand,
oder der mittellose Straßenjunge würde wohl kaum überleben, noch weniger zu
einem milliardenschweren Despoten werden.
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Am 20. Dezember 1989, um 0 Uhr 46, schlägt in Panama-Stadt eine Rakete ein
und trifft das Hauptquartier Noriegas. Die von Präsident George Bush in die Wege
geleitete Operation „Just Cause“ – „Gerechte Sache“ – hat ihren Anfang gefunden.
Der Diktator verbarrikadiert sich in seinem Gebäude, während sich seine Elitetruppe
Machos del Monte weigert, ihn auszuliefern. Die Amerikaner antworten mit schwerer
Artillerie und Luftbombardement. Innerhalb kürzester Zeit stehen ganze Straßenzüge
in El Chorrillo in Flammen, es entwickeln sich Straßenkämpfe zwischen Noriegas
paramilitärischen „Bataillonen der Würde“ und den US-Soldaten, mehrere hundert
Menschen kommen zu Tode. In den nächsten Stunden marschieren zusätzliche
24.000 eingeflogene US-Soldaten ein und bringen binnen weniger Stunden das
Land unter Kontrolle, doch von Noriega fehlt jede Spur.
Den Ereignissen vorangegangen war eine am 15. Dezember vom panamaischen
Parlament ausgesandte Erklärung, das Land befinde sich im Kriegszustand mit
den USA, kurz nachdem sich General Noriega zum Regierungschef und zum
„obersten Führer der nationalen Befreiung“ ernannt hatte. Als am darauf folgenden
Tag ein US-Leutnant erschossen wird, ergreift Bush die Gelegenheit, seinen Ruf als
Waschlappen loszuwerden und bläst zum Angriff.
Noriega, der mehr als 16 Jahre lang auf der Gehaltsliste des CIA stand und
wertvolle Hilfe in Mittelamerika geleistet hatte, vor allem in Nicaragua und Kuba,
fiel 1987 in Ungnade, einerseits durch die Entdeckung der CIA, dass er gleichzeitig
für den kubanischen Geheimdienst arbeitete, anderseits durch den Vorwurf des
Drogenhandels und der Geldwäsche. Zwar war Noriega gerade noch wegen seines
angeblich entschiedenen Kampfs gegen die Rauschgiftkriminalität von der USDrogenbekämpfungsbehörde DEA schriftlich belobigt worden, doch jetzt musste
er sich selbst vor einem Gericht in Florida gegen gerade diese Anklage verteidigen
– immerhin hatte die US-Regierung just in diesem Moment Drogen zur größten
Bedrohung der amerikanischen Gesellschaft erklärt.
Heute sind die Straßen von Panama City mit jubelnden Menschen bevölkert,
die das Ende der Tyrannei feiern. General Manuel Antonio Noriega wird seiner
gerechten Strafe zugeführt werden, wegen Drogenhandels, Waffenschmuggels,
Geldwäscherei. Und wegen zahlreicher Morde.
Dolores: Der Nachrichtensender ABC hatte während der Invasion eine Umfrage in
Auftrag gegeben, um die Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung auszuloten.
Dabei haben sich 80 Prozent eindeutig für einen militärischen Schlag gegen
Noriegas Diktatur ausgesprochen, wie wir anhand des eingeblendeten Ergebnisses
sehen können.
Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass auch 27 amerikanische Soldaten
den Tod fanden. Darum haben wir für Sie aufgedeckt, was im Zuge der Invasion
schief gelaufen ist. Erstens leisteten Noriegas paramilitärische Organisationen,
die sich hauptsächlich rund um sein Hauptquartier in El Chorrillo angesiedelt
hatten, weitaus heftigeren Widerstand als erwartet. Das amerikanische Militär war
fälschlicherweise davon ausgegangen, dass man Noriega angesichts der Übermacht
der US-Streitkräfte freiwillig ausliefern würde. Daraus ergaben sich unerwartet viele
Verletzte auf unserer Seite. Und schließlich wurden auch einige US-Soldaten als
Geiseln genommen und gerieten damit in die Schusslinie. Auf manchen Dächern der
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Wohngebäude in Chorrillo hatten sich Scharfschützen versteckt und hielten so über
längere Zeit unsere Männer in Schach.
Amerika trauert um seine verlorenen Söhne und spricht ihnen seinen Stolz aus, für
eine gute Sache, Just Cause, ihr Leben gelassen zu haben. Dolores Ryce für CNN.
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Die Marionettenregierung
Unbeeindruckt von seiner dreifachen Amtsenthebung als Präsident und mit der
Erlaubnis Omar Torrijos´, er dürfe aus seinem Exil in Miami nach Panama heimkehren,
gerade noch rechtzeitig vor dem tödlichen und mysteriösen Flugzeugabsturz des
Generals ausgesprochen, schickte sich Arnulfo Arias an, den vierten Präsidentschaftswahlkampf seines Lebens zu führen. Er addierte die Stimmen aller Anhänger
oppositioneller Parteien, die eine Koalition gebildet hatten und an deren Spitze er
stand, und kam zu dem Schluss, dass die Aussichten auf einen weiteren Wahlsieg gut
stünden. Außerdem würde er dieses Mal nicht zulassen, dass weibliche Verlockung
seinen Blick auf etwaige Putschversuche verstellen würde, und so heiratete er seine
um fünfzig Jahre jüngere Sekretärin, denn die Ehe schien ihm verglichen mit einem
losen Verhältnis weit besser dazu geeignet, seine Aufmerksamkeit anderen Dingen
zu widmen als den Frauen.
Gleichzeitig ließen zwei weitere Kandidaten ebenfalls ihr Interesse an der
Präsidentschaft verkünden. Der eine, Nicolas Ardito Barletta, ließ seinen 76.000Dollar-Job bei der Weltbank sausen, um für die regierungstreue Demokratische
Revolutionäre Partei ins Rennen zu gehen, während der andere, Ruben Dario
Paredes, seinen Platz an der Spitze der PDF Manuel Noriega überlassen hatte,
unter der Bedingung, dass dieser ihn bei seiner Kandidatur unterstützen werde.
Allerdings musste er feststellen, dass Noriega nicht bereit war, seinen Teil der
Abmachung einzuhalten, nachdem er seinen uniformierten Hosenboden bereits im
Stuhl des obersten Befehlshabers des Militärs wetzte, denn er verweigerte Paredes
jede Art militärischer Unterstützung für den Fall eines Wahlsieges, was Paredes dazu
zwang, unter dem Banner einer anderen Partei anzutreten, und so wurde er als weit
abgeschlagener Dritter gehandelt.
Ob aus übersteigerter Selbstsicherheit oder aus bloßer Ungeduld, Arnulfo Arias
rief sich zwei Tage nach dem Wahlsonntag im Mai 1984 selbst als Präsidenten
aus, und wohl wissend, dass die Anhänger der Regierung und das Militär nicht auf
seiner Seite waren, warnte er vor gewalttätigen Auseinandersetzungen, sollte sein
Wahlsieg nicht anerkannt werden. Aber all seine Vorahnungen bestätigten sich, als
es zu Zusammenstößen zwischen seinen Anhängern und denen der Regierung kam
und der drittplazierte Paredes verkünden ließ, dem Militär wäre es herzlich egal,
dass Arias gewonnen hätte, sie würden den Sieg tatsächlich nicht anerkennen. Zwei
Wochen später wurde Barletta, der Kandidat der Regierung, als offiziell gewählter
Präsident Panamas angelobt, mit einer angeblichen Mehrheit von 1700 Stimmen,
und mit dem Jubelgeschrei über den knappsten Wahlsieg der Geschichte in den
Ohren waren alle Reklamationen, dass Arias mit einem Vorsprung von mehr als
20.000 Stimmen gesiegt hätte, übertönt. „Betrug ist nicht gleichbedeutend mit
Sieg,“ polterte Arias. „Aber wir haben es hier mit Macht in ihrer rohesten Form
zu tun, mit militärischer Macht, die selbst das Wahlkomitee ein Benehmen an den
Tag legen lässt, das weit entfernt von jeder normalen Prozedur liegt. Unter solchen
Umständen kann man keine Berufung einlegen.“
Am Tag nach Barlettas Angelobung rief Ronald Reagan an, um dem neuen
Präsidenten zu gratulieren, und die Schnelligkeit seiner Anerkennung ließ keinen
Zweifel aufkommen, dass Barletta nicht nur der bevorzugte Kandidat Noriegas war,
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sondern auch bei den Vereinigten Staaten Wohlwollen hervorrief. Sie hatten ihren
handverlesenen Präsidenten, und dass dieser vom Volk Fraudito gerufen wurde, der
kleine Betrüger, tat ihrer Freude keinen Abbruch.
Wenn Arnulfo Arias in diesen Tagen gewusst hätte, was sich eineinhalb Jahre später
ereignen würde, so hätte er sich seinen Zorn für ein andermal aufgehoben und
stattdessen dem Gefühl der Schadenfreude Platz gemacht, oder zumindest einem
befriedigenden Glauben an ausgleichende Gerechtigkeit, denn Barletta erlitt das
gleiche Schicksal wie Arias selbst schon so oft zuvor – seine Präsidentschaft endete
abrupt und unfreiwillig. Das Militär verstrickte sich in den Mordfall Hugo Spadafora,
und es wäre Barlettas Aufgabe gewesen, jeden Verdacht zu zerstreuen, der die
PDF und Manuel Noriega damit in Verbindung brachte. Barletta aber tat nichts
dergleichen, und so wurde er umgehend durch den Vizepräsidenten ersetzt, einen
wohlhabenden Zuckerbaron, der sich mehr auf dem Gebiet der Pferderennen als der
Führung eines Staates auskannte.
Die nächsten Präsidentschaftswahlen im Mai 1989 verliefen um keinen Deut
ruhiger. Die Regierungspartei konnte auf die volle Unterstützung des Militärs zählen
und sich im Schatten der Illegalität ihre Stimmen einholen, indem sie Mitarbeiter
der Regierung unter Androhung sofortiger Kündigung zum Parteibeitritt zwang,
genauso wie sie die Gehaltsschecks nur noch an diejenigen aushändigten, die bei
den Wahlkampfveranstaltungen der PRD teilnahmen. Die Regierung hatte ihren
eigenen Fernsehsender, ihre eigenen Radiostationen und die Macht über das einzige
Printmedium des Landes, und ihre Kandidaten wurden mit Militärhubschraubern im
ganzen Land bekannt gemacht.
Die Opposition dagegen hatte so gut wie keine Ressourcen, und die Regierung
achtete darauf, dass das auch so blieb. Busfahrern, die sich für den Transport
der oppositionellen Parteien zu den Wahlkampforten bereit erklärten, wurde
mit der Entziehung ihres Führerscheins gedroht, und die Medien wurden dazu
angehalten, keine Werbespots auszusenden. Aber Guillermo Endara, der
Präsidentschaftskandidat der Opposition, trieb gemeinsam mit Billy Ford seinen
Wahlkampf verbissen voran, der angeblich von den USA mit 10 Millionen Dollar
unterstützt wurde. Es ähnelte psychologischer Kriegsführung, wie jede Seite der
Bevölkerung zu versichern suchte, sie würde als Sieger aus der Wahl hervorgehen,
um dadurch schwankende Wähler auf die Gewinnerseite zu ziehen. In den
letzten Wochen des Wahlkampfes veröffentlichten die Parteien hausgemachte
Umfrageergebnisse, in denen sie klar vor den Gegner führten.
Während im Mai 1989 die Wahlergebnisse ausgezählt wurden, konzentrierten
sich alle Augen auf die Calle 50, wo die Reichen zur Protestkundgebung in ihren
Mercedeswägen vorfuhren und ihre parfumgetränkten Gattinnen mit gestärkten
weißen Taschentüchern wedelten, in Aufopferung für die gute Sache für ein paar
Stunden vom Tennismatch oder vom Pokerspiel im Union Club losgesagt, und wenn
die Abendhitze sie zu sehr erschöpfte, ließen sie ihre Dienstmädchen an ihrer Stelle
weitermachen und schickten sie los, um auf blankpolierten Teflonpfannen einen
wohlklingenden Protestrhythmus zu schlagen. Man hatte mitansehen müssen,
wie in gewohnt betrügerischer Manier Anhänger der PDF ihre Stimme abgegeben
hatten, um es anschließend an anderer Stelle zu wiederholen. Aber es reichte nicht
aus, um einen klaren Sieg der Opposition zu verhindern, und dieses Mal sammelten
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die Oppositionellen den Großteil der Auszählungsakten der Wahllokale, um ihren
Triumph sicherzustellen.
Als die Regierungspartei sich aber gleichgültig zeigte und sich trotzdem als Sieger
ausrief, führten Guillermo Endara und Billy Ford den Protestmarsch durch die
Altstadt von Panama City an. Als sie über den Plaza Santa Ana kamen, wurden
sie von Noriegas Bataillonen der Würde attackiert, deren eigentliche Aufgabe die
Verteidigung des Landes gegen US-Aggressionen war. Mit Eisenstangen prügelten
sie auf Endara und Ford ein, und Bilder von Billy Ford in einem blutgetränkten Hemd
gingen um die Welt, der sich nicht bemühte klarzustellen, dass der Großteil des
Blutes das seines neben ihm erschossenen Chauffeurs war.
Noch am selben Tag wurde die Wahl für ungültig erklärt, während Präsident George
Bush amerikanische Zivilisten aus Panama zurückrief und weitere 1900 Truppen
sandte, um die Streitkräfte in Panama zu unterstützen.
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1
Guillermo Endara wurde umzingelt und verprügelt, bis er eine
große Menge Blut verloren hatte, als er sich dem Militär und
dessen Partei entgegenstellte.
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Billy Ford, gemeinsam mit Guillermo Endara, bot dem Tyrannen
Noriega und seiner Partei öffentlich die Stirn. Wir alle erinnern
uns, wie Don Billy mit dem Volk an einem Strick zog, während
er durch die Knüppelhiebe, die ihm das Militär und die anderen
Freundchen versetzten, blutete. Das Alles für die Verteidigung der
Demokratie...
2
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Wahlkampf 2004
Hemos caminado juntos, dependiendo la bandera,
de la patria llamamos, de esta tierra nuestra.
Desde cel momento, de sembrar un gran futuro
Con tus manos y las mias, la esperanza nos guía.
Vamos que llegamos, juntos de la mano
La esperanza de la gente es Martín Presidente
Qué bien, con Martín vamos bien
La esperanza se siente con Martín Presidente
Qué bien, con Martín vamos bien
La esperanza de la gente es Martín Presidente
La esperanza del pueblo, la esperanza presente
(Wir sind gemeinsam gegangen, unserer Fahne treu,
Aus dem Vaterland rufen wir, aus dieser, unserer Heimat.
Ab diesem Moment sorgen wir für eine großartige Zukunft
Mit deinen Händen und den meinen, die Hoffnung führt uns.
Wir werden Hand in Hand weiterziehen,
Die Hoffnung der Menschen ist Martín als Präsident.
Wie gut, mit Martín gehts uns gut,
Die Hoffnung wird spürbar mit Martín als Präsident.
Wie gut, mit Martín gehts uns gut,
Die Hoffnung der Menschen ist Martín als Präsident.
Die Hoffnung des Volkes, die gegenwärtige Hoffnung.)
Auch wenn es mir unangenehm ist und anmaßend erscheinen mag, da ich dem
Leser die natürlichste Voraussetzung der Welt abzusprechen scheine, derer es
zum Lesen bedarf, so sehe ich mich dennoch dazu gezwungen, für diese Zeilen
um verschärfte Aufmerksamkeit zu bitten. Die vorkommenden Verwicklungen und
Verwirrungen erfordern nämlich einen zielgerichteten Geist, und niemand, der nicht
ganz und gar bei der Sache ist, wird imstande sein, sie zu lösen, so wie niemand,
dem vom Sohn der angeheirateten Frau des Großvaters erzählt wird, wie aus der
Pistole geschossen ach dein Onkel sagen wird. Zu allem Übel spare ich nicht mit
Namen und Erwähnungen von Zugehörigkeiten, mit Verweisen und geschichtlichen
Belangen, und ich selbst muss gestehen, dass ich mich schon öfters im Wirrwarr
verlor und an anderer Stelle wieder auftauchte, wo ich gar nicht hin wollte. Aber
so ist das nun einmal, wenn man das Phänomen der personellen Verknüpfungen
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ergründen möchte, und wahrscheinlich ist es nicht einmal ein Phänomen, sondern
weit weniger, der ganz normale Umstand, dass ein begrenztes Territorium auch nur
eine begrenzte Anzahl an Einwohnern hervorbringt.
Zu der Zeit, da ich mich in Panama aufhielt, war der Wahlkampf um die Präsidentschaft
in vollem Gange. Vier Parteien hatten vier Männer ins Rennen geschickt, die nun um
die Stimmen der Bevölkerung kämpften, und es mag durchaus sein, dass sich ihre
Parteiprogramme unterschieden, doch sie waren sich alle einig, wenn es darum ging,
lauthals gegen die Korruption zu wettern, der eine den anderen dieses Vergehens
beschuldigend und die Taschen voll von Bestechungsgeldern. Was gleich den ersten
Verweis zur damals noch amtierenden Präsidentin Mireya Moscoso auftauchen
lässt, die jedem der einundsiebzig Abgeordneten des Parlaments nach einer kleinen
Gefälligkeit eine Cartier-Uhr zukommen ließ, aber zu ihr kommen wir erst später.
In einem Land, in dem es acht Monate im Jahr regnet, würden sich papierene
Wahlplakate dank der hohen Luftfeuchtigkeit wellen und falten und die Gesichter
der Kandidaten boswillig entstellen, hier eine Delle am Kinn, da eine Frau mit
Stiernacken und dort, hinter der aufgedunsenen Nase, bestimmt der Rest eines
Mannes, bevor sie sich beim ersten Schauer in Nichts auflösen und sich als
Pappmachékugeln auf die Kanalgitter setzen, die Köpfe von vier angehenden
Präsidenten und zweihundert zur Wahl stehenden Abgeordneten aller Parteien
reduziert auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, Zellulose. Natürlich ist dies
nicht der einzige Grund, weswegen die Wahlwerbung sich also jeder Hauswand
und jeder Friedhofsmauer bemächtigte, händisch und ohne Schablonen aufgemalt,
denn immerhin gibt es noch den weniger romantischen Grund des Preisvergleichs
zwischen Wandfarbe und Plakatdrucken, aber was uns hier mehr interessiert als
die Intentionen, weswegen etwas gemacht wurde, ist, was gemacht wurde. In den
ärmeren Barrios von Panama City gab es kaum ein Haus, dessen Wandflächen ihre
ursprüngliche Farbe behielten; vermutlich kann man sagen, dass das kein Schaden
ist, denn von einer Farbe war zumeist schon lange nichts mehr zu erkennen, und so
ergriff man die Möglichkeit eines geschenkten Anstrichs, wo sie sich bot, ungeachtet
der eigenen politischen Ausrichtung, was ich aus dem Grund zu mutmaßen wage,
da sich manche Wohnhäuser gleich allen vier Parteien verschrieben. Im Dschungel
aber, wo sich außer ein paar Indianerhütten aus Holz und Bambus, die sich nicht zum
Bemalen eigneten, nichts weiter am Straßenrand befand als dichtes Grün, hatten
die Wahlhelfer die Aufgabe, vereinzelte freiliegende Steine und Felsen aufzuspähen
und diese mit den Farben der Partei zu überziehen. Wenn man nun so wie ich zu
Beginn der Werbeoffensive durch die Tropenwälder von Chiriquí fährt und noch nicht
auf den parteipolitischen Identifikationsprozess angesprungen ist, wundert man sich
nicht unerheblich über leuchtend türkise Steine, die das Dunkelgrün des Dschungels
in den Hintergrund drängen.
Für die Partido Revolucionario Democratico (PRD) trat Martín Torrijos an, der Sohn
des großen Generals, der Mann mit dem größten Repertoire an Wahljingles. Dabei
ist Jingle ein viel zu liebliches Wort für das, was hier wirklich darunter zu verstehen
war, nämlich keine kurze, einprägsame Parteimelodie, sondern ganze Lieder über
friedliche Nachbarschaften und saubere Gehsteige, die mit der Stimmenabgabe für
den richtigen Kandidaten endlich Wirklichkeit würden. Und Martín Torrijos erlangte
den Status der Omnipräsenz im nationalen Langwellenradio, denn immerhin hatte
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er sieben mitsingtaugliche Lieder anzubieten, die sich strategisch gefuchst in die
Kategorien Ballade, Merengue und Reggae aufteilten und somit in jeder ethnischen
Region des Landes eine klare Botschaft verbreiteten. Darüber hinaus hatte er Rúben
Blades für einen Song gewinnen können, einen der berühmtesten Sänger Süd- und
Mittelamerikas, einen Schauspieler, der sich mit Johnny Depp in Irgendwann in
Mexico duellierte und neben Jeremy Irons in China Box auftrat, von dem aber nur die
wenigsten wissen, dass er aus Panama stammt. Weshalb dieser Rúben Blades nun
so sehr von Interesse ist, hat wiederum damit zu tun, dass auch er sich bereits einmal
um das Amt des Präsidenten beworben hatte. 1994 trat er mit seiner alternativen
Bewegung Papa Egoro (Mutter Erde) zur Wahl an und landete mit 18 Prozent der
Stimmen auf dem dritten Platz, doch wie es in seiner Biographie steht, was macht
das schon, Panama hat zwar einen potentiellen Präsidenten ziehen lassen, aber der
Salsa wird nach wie vor von einem seiner schönsten Söhne bewahrt.
Ein anderer Kandidat neben Martín Torrijos hieß Ricardo Martinelli von Cambio
Democratico, der sich selbst die große Auszeichnung verlieh, el candidato que
camina en los zapatos del pueblo zu sein, der Mann, der in den Schuhen des
Volkes wandelt, was ihn letztendlich dazu anspornte, seinen blanken Bauch im
Fernsehen und auf Wahlplakaten zu zeigen, um zu demonstrieren so bin ich, nicht
schön, aber ehrlich, ich helfe mit freiem Oberkörper alten Fischern, ihre Netze ins
Boot zu ziehen. Im Widerspruch dazu stand sein Reichtum als einer der großen
Unternehmer Panamas, denn man möge die Schuhe des Volkes und die Schuhe
eines Mannes vergleichen, der nicht nur Präsident der größten Supermarktkette
des Landes und einer Importfirma ist, sondern obendrein Teilhaberschaften
in Banken, Zuckerfabriken, Bäckereien, Schlachthöfen, Salzfabriken, Mühlen,
Wurstproduktionen, Fernsehstationen, Versicherungen, Burger King und
Diskotheken besitzt. Kein Wunder also, dass Martinelli bei seiner freizügigen
Auflistung der finanziellen Unterstützer seines Wahlkampfes im Internet selbst an
erster Stelle stand, wohl Wunder aber, dass auch eine Firma mit 5000 Dollar notierte,
deren Präsidentin Vivian Torrijos ist, die Ehefrau seines Konkurrenten.
Dann war da noch José Miguel Aleman, der einer einflussreichen Politikerfamilie
entstammte und die Partido Arnulfista anführte, die ihren Namen ihrem Gründer
Arnulfo Arias Madrid verdankte, dreimaligem Präsidenten Panamas. Nebenbei
gesagt war Arias alle dreimal abgesetzt worden; seine erste Präsidentschaft
endete nach nur einem Jahr. Er hatte amerikanischen Handelsschiffen verboten,
unter panamaischer Flagge zu fahren, um bewaffnet sein zu können, und als er
nach Kuba flog um einer seiner Liebeleien einen Besuch abzustatten, meldeten die
Amerikaner umgehend der panamaischen Regierung, dass ihr Präsident illegal das
Land verlassen hätte und ein neuer Präsident wurde eingesetzt. Ähnlich verlief es bei
seinen weiteren Amtsperioden, doch letztendlich wurde der umtriebige Arnulfo Arias
sesshaft und heiratete seine Sekretärin, und hier nehme ich nun Wetten entgegen
auf den Namen der Ehefrau, die Quote wäre höher, hätte ich bisher schon mehrere
weibliche Personen eingeflochten, doch nachdem die kubanische Geliebte und
die Sekretärin nicht ein und dieselbe Person sind, bleibt nur noch ein Name übrig:
Mireya Moscoso.
Eben jener Arnulfo Arias beschloss im Juni 1987, als endlich bekannt gegeben wurde
was ohnehin schon alle wussten, nämlich dass ihm das Militär unter General Noriega
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1984 den Wahlsieg geraubt hatte und daher die Via España voll von Leuten war, die
gegen die Regierung demonstrierten, dem Volk entgegenzutreten. Sein Bodyguard
stand schon bereit, doch Arias verlangte nach einem Auto mit Sonnendach, um
sich im Falle umherschwirrender Wurfgeschoße schnell zurückziehen zu können,
und wie es der Zufall will, war der junge Anwalt José Miguel gerade anwesend
und der einzige, der einen Wagen mit Sonnendach besaß. Jener Chauffeursdienst
markierte José Miguels endgültigen Eintritt in die Politik, auch wenn der Ausgang
für Arias damit endete, von Noriegas paramilitärischen Dobermännern in die
Flucht geschlagen zu werden, nachdem Arias auf der Welle tausender Gegner des
Militärregimes versucht hatte, das Präsidentschaftsamt zurückzufordern.
Und schließlich kandidierte noch Guillermo Endara, ein wohlbekannter Name in
der panamaischen Politikschleife. Er führte das Land bereits von 1989 bis 1994 an,
nachdem er in der Nacht der Invasion und dem Sturz Noriegas angelobt worden
war, doch das ist eine eigene Geschichte, die hier nicht ihren Platz finden würde.
Seine Spitznamen, und hier sei gesagt, dass Spitznamen in Panama die Visitenkarte
eines Kandidaten darstellen und es Abgeordnete mit so klingenden Namen wie
„die Blonde“, „der Hässliche“ und Ricardo „Ricardito“ Ricardo gibt, hafteten wohl
noch aus der Vergangenheit an ihm, auch wenn er nicht schmäler geworden war,
doch das Rennen um den größten Bauchumfang verlor er eindeutig gegen Ricardo
Martinelli, und so rief man ihn dennoch Gordito das Dickerchen und Pan de dulce
das süße Brot. Und jetzt kommen wir an den Punkt, wo sich alle Fäden kreuzen
und die Verwicklungen ihren Höhepunkt erreichen, denn der Präsident der größten
Bankengruppe Panamas und zugleich Präsident von Endaras Partei Solidaridad
unterstützte gleich lauthals wie finanziell die Kandidatur José Miguels, während
der Cousin von Ricardo Martinelli, Guido Martinelli, mit der Schwester Guillermo
Endaras verheiratet war und demnach sein Schwager, und General Omar Torrijos,
Vater von Martín, hatte seinerzeit Gordito in Arrest genommen und ihn samt Familie
nach Miami ins Exil geschickt.
Um die Angelegenheit nicht noch unnötig zu verkomplizieren behalte ich weitere
Querschläger für mich, wie die schräg gegenüber der Martinellis wohnende
Schwiegermutter José Miguels, denn man muss nicht erst die physische Nähe der
Kandidatenfamilien erwähnen, um sich ihrer Wegkreuzungen bewusst zu werden.
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Die Hitchcock´sche Konstante
Meine Schilderung mag verwirrend klingen, wenn ich hier versuche, etwas
Fantastisches wiederzugeben, doch es spiegelt nur meine eigene Verwirrung, die
mich für Wochen und Monate plagte, auf der Suche nach einer Erklärung für etwas
Unfassbares, und ich meine nicht unfassbar im verständnisvollen Sinne, denn dazu
hätte ich überhaupt erst wissen müssen, was mich verfolgt, sondern eben nicht
fassbar, nicht einmal in Worten. Und wenn der Mangel des Fassbaren schon bei den
Worten anfängt, wie soll es sich dann erst beschreiben lassen. Natürlich läuft meine
Erzählung darauf hinaus, dass ich letztendlich groß proklamieren werde Heureka,
ich habe den Schlüssel gefunden, und im Grunde könnte man einwenden, wieso
dann nicht gleich damit rausrücken und die Sache nicht weiter unnötig erschweren,
doch erst gilt es, nach Verbündeten des unruhigen Gefühls eines Dauer-déjà-vus
zu heischen. Jeden Tag, mehrmals womöglich, schien etwas wiederzukehren, doch
stets tauchte es in einer anderen Form auf und wechselte wie der Teufel selbst
die Gestalt – nicht, dass es sich in schwefelige Wolken hüllte und mir Todesangst
bescherte, ach was, eine lächerliche Gemütsregung höchstens, von der ich nicht
einmal wusste, dass es sie ausgelöst hatte – doch wie gesagt, es war Grund genug
für eine Erinnerungstäuschung, die mir vorgaukelte, eben jenes schon einmal
gesehen oder erlebt zu haben. Der richtige Umgang mit derlei Rückbezüglichkeit auf
Gegenwärtiges schien mir, im Moment, da es auftauchte, jede Bewegung und jeden
Gedanken sofort einzustellen und die Konzentration in vollem Maße auf die Umwelt
zu richten. Irgendwann würde ich es entdecken, so wie man Alfred Hitchcock
entdeckt, als Schaulustigen, der bei einer Festnahme zusieht, als den Mann,
der das Cello trägt, als Passagier neben Cary Grant im Autobus, selbst auf dem
Rettungsboot voll mit Schiffbrüchigen in Lifeboat. Das ist meine Lieblingsrolle, und
ich muss sagen, dass es mich lange und angestrengte Überlegungen gekostet hat,
das Problem zu lösen. Im Allgemeinen spiele ich doch Passanten, doch wo kriegt
man auf dem Ozean Passanten her? Ich dachte daran, eine Leiche darzustellen, die
in einiger Entfernung auf dem Meer schwimmt, aber ich hatte zu große Angst zu
ertrinken. Und es war mir unmöglich, einen der neun Überlebenden zu spielen, denn
die Rollen mussten alle von kompetenten Schauspielern und Schauspielerinnen
gespielt werden. Schließlich kam mir eine ausgezeichnete Idee. Ich machte damals
gerade eine sehr strenge Abmagerungskur, also beschloss ich, meine Abmagerung
zu verewigen und gleichzeitig zu meiner Nebenrolle zu kommen, indem ich Modell
stand für die „Vorher“ - und „Nachher“ – Photos. Diese Photos illustrierten dann die
Reklame in einer Zeitung und priesen ein famoses Mittel mit dem Namen „Reduco“
an. Man sah die Anzeige und mich selbst, wenn William Bendix eine alte Zeitung
aufschlug, die wir im Boot untergebracht hatten.
Das war mein Plan, und dennoch, zumeist erkennt man die Zusammenhänge erst,
wenn man sie nicht vor Augen hat, und so war es in dem Moment, da ich morgens
das Handtuch um die Hüften schwang und an nichts weiter dachte als die tropische
Hitze, die mich in absehbarer Zeit wieder unter die Dusche treiben würde, als ich nicht
nur innerlich und nicht in genauem Wortlaut ausrief Heureka, ich habe den Schlüssel
gefunden, Heureka verwende ich äußerst selten im täglichen Sprachgebrauch.
Mein Hitchcock war nichts anderes als Botschaften unterschiedlichster Art, die
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sich fremder Gegenstände als Trägerobjekte bemächtigten, mehr symbiotisch als
parasitär. Die Bierdosen transportierten aus Anlass der Feier zur hundertjährigen
Unabhängigkeit Panamas von Kolumbien kleine Auszüge über die wichtigsten
großartigen Ereignisse der panamaischen Geschichte, Photographien vom Bau der
Puente de las Americas, vom Bau des Kanals, von Omar Torrijos. Auf den fahrbaren
Ständen der Chicha-Verkäufer und den Schildern über den Köpfen der Fischhändler
im Markt prangten Bibelzitate, ohne jeden Zusammenhang zur angepriesenen Ware
gewählt. Die Nummerntafeln, die nur am Heck das Kennzeichen verrieten, vorne am
Wagen jedoch frei wählbar waren, waren Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses
wie Jehova es mi pastor oder einer Zuneigung wie Yo amo Gloria. Die Hauswände
verkündeten bunt bemalt den nächsten Präsidenten. Und im Telefonbuch fanden sich
zwischen den einzelnen Nummern Hinweise darauf, dass man seine Arbeit lieben
solle und die Kinder nicht allein zuhause lassen. Selbst Graham Green entdeckte
seinerzeit in den gelben Seiten von Panama den Aufruf an die Bevölkerung, wie
man sich im Falle eines Atomunfalls zu verhalten hätte, auch wenn es ihm seltsam
erschien, Zuflucht unter einem geparkten Auto zu suchen.
Eben jene Mitteilungen, die erzieherische Maßnahmen, Religionsbekenntnisse
oder Ausdruck der eigenen Identität waren und Dinge zweckentfremdeten, deren
eigentliche Funktion in einem ganz anderen Bereich lag, hatten sich in meine
offenherzige Rezeption eingeschlichen, wie die dem Gerücht nach in Kinofilmen
auf der Leinwand auftauchenden Hundertstelsekundenbilder von Getränken und
Unterwäsche. Man weiß nicht, woher das plötzliche Verlangen nach Pepsi oder
Wollford Strümpfen kommt, doch man giert danach, es zu befriedigen. Nun gut, der
Vergleich hinkt womöglich ein wenig im Effekt, denn weder hatte ich das Bedürfnis
zu konvertieren noch mich in Gloria zu verlieben, doch ich hatte mein Vergnügen
daran gefunden, das Auftauchen der Hitchcock´schen Konstante zu entlarven.
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Die Welt liegt in euren Händen –
Beschützt sie!
Rauchen schadet Ihrer Gesundheit
Machen Sie Gebrauch von den Fußgängerübergängen, vermeiden Sie Unfälle
Lassen Sie Medikamente nicht in der
Reichweite von Kindern und alten Leuten
Sparen Sie elektrische Energie
Halten Sie die Bestimmungen der Verkehrsordnung ein
Fördern Sie unter Ihren Kindern den
Sport
Machen Sie keinen Missbrauch von
öffentlichen Telephonen
Bringen Sie Ihrer Arbeit Liebe entgegen
Bringen Sie Ihrer Arbeit Liebe entgegen
Lassen Sie Kinder nicht allein zuhause
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Meer
Nie wird man sicher wissen, ob die Schilderungen eines Binnenländers
wahrheitsgetreu und objektiv sind, wenn er vom Meer erzählt. Sobald einer dieser
geographisch traurig Benachteiligten den Ozean erblickt, trüben sich ihm die Augen
vor romantischer Wehmut, und während er fassungslos vor dem weiten Blick
niedersinkt, dem kein Haus, kein Wald und kein Berg dazwischenfunkt, sondern
der nichts weiter wiedergibt als Wasser und Himmel, wird er beschließen, im Alter
ans Meer zu ziehen. Das ständige Schlagen der Wellen ist ihm Musik in den Ohren
und der angeschwemmte Unrat ist eine geheime Mitteilung von einem anderen
Kontinent.
Nun, wie soll ich sagen: Panama hat gleich zwei Meere. Hätte Österreich ebenso viel
Küstenlinie wie Panama, es wäre eine Insel.
Der logische Verstand würde behaupten, im Osten trifft der Atlantik auf Panama und
im Westen der Pazifik, denn die Meere genauso wie der amerikanische Kontinent
verlaufen für ihn von Polkappe zu Polkappe, jeder Atlas und jeder Globus wird es
bestätigen. Und doch muss ich dem widersprechen, denn ich habe es mit eigenen
Augen gesehen. Nie geht die Sonne über dem Meer auf oder unter, und das genügt
mir, neben dem Verweis auf die detailliertere Kartographie, als Beweis dafür, dass
sich die Meeresufer Panamas im Norden und im Süden befinden.
Entgegen den Gesetzen der Dramaturgie beginne ich mit der Schilderung des
Atlantiks, der Karibik, die für binnenländisches Empfinden die Krone der Schöpfung
darstellt, und somit nehme ich das Beste vorweg, denn sie ist nicht mehr zu
übertreffen. Aber wir wollen im Meer vor der Stadt enden, denn dessen Beschreibung
ist grob gesagt der eigentliche Sinn dieser Geschichte.
Wenn man seinen Fuß ins Wasser stellt oder ein Boot betritt oder einen
Angelhaken auswirft, hat man Angst, die Karibik zu wecken. Die einzige Regung
der Wasseroberfläche scheint man selbst hervorzurufen, denn nicht einmal die
Fische springen. Schwimmer simulieren starken Seegang, und Bugwellen werden
zu Flutwellen. Die Strände sind nicht aus Sand, sondern aus zerstoßenen Korallen,
und in Ermangelung von zermalmender Wasserkraft bleibt nur die Theorie übrig,
herabfallende Kokosnüsse hätten die Zerkleinerungsarbeit übernommen. Die
Klarheit des Wassers stellt schonungslos alles zur Schau, was sich unter der
Oberfläche befindet, denn es gibt nichts zu verbergen. Riesige Seesterne liegen auf
dem Meeresgrund, und wenn man sie über dem Kopf im Kreis schleudert, sodass
die Zentrifugalkraft das Wasser aus ihren Enden spritzen lässt, dann schwimmen sie
für kurze Zeit obenauf, in jedem Fall wird ihnen davon aber schwindlig. Hauslose,
wurstdicke Schnecken liegen regungslos zwischen den Korallen und tarnen sich mit
unscheinbarem Braun, doch berührt man sie, dann stoßen sie purpurfarbene Tinte
aus. Und erst die Fische! Gemächlich tummeln sie sich knapp unter der Oberfläche
und blenden mit selbstbewussten Lichtreflexen die sturzfliegenden Möwen.
Zwischen der Provinz Bocas del Toro, die sich an der Grenze zu Costa Rica
befindet, und dem Gebiet der Kuna Indianer, das im Osten an Kolumbien stößt,
verzahnt sich die Karibik fast die ganze Küste entlang freundschaftlich mit den
mangrovenbewachsenen Ufern, in denen Alligatoren und kleinere Kaimane
den Fischreichtum bewundern. Einzig rund um Colón, der Stadt der zollfreien
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Handelszone, der zweiten Kanalmündung und der ungeschlagen hohen
Verbrechensrate, die nordwestlich von Panama City liegt, gibt es vereinzelt wirkliche
Ufer an dieser bodenlosen Küste. Die Korallenstrände, von denen ich vorhin erzählt
habe, umringen fast ausnahmslos kleine Inseln, und Inseln hat Panama so viele wie
das Jahr Tage.
Einmal fuhr ich mit einem Kuna in seinem Einbaum fischen. Mit schweren Paddeln
aus Tropenholz schoben wir das Boot voran, während wir nach jedem zwanzigsten
Paddelschlag Halt machten, um mit einem alten Blechhelm das einsickernde
Wasser zurück ins Meer zu schöpfen, bis zu der Stelle, wo der Indianer einen
Mangrovenbaum versenkt hatte, ein alter Trick seines Großvaters, denn am Geäst
der Pflanze fangen sich kleine Wasserflöhe und Krebse und locken die Fische an.
Unsere Ausrüstung bestand aus nichts weiter als einer Schnur mit Haken und
einem Stück Bewehrungseisen anstelle der winzigen Bleikugeln, und kaum dass
man den Köder sinken gelassen hatte, konnte man die Leine samt Thunfisch oder
Bananenfisch oder Rotbarsch auch schon wieder einholen.
Der Pazifik aber ist völlig anders. Die Friedfertigkeit, die sein Name anpreist, ist
ihm fremd, er schlägt wütende Wellen, die sich in dem Moment widerwillig zu
Türmen aufbäumen, da das Meer beschließt, sich zurückzuziehen. Er markiert seine
Flutgrenze mit Spitzmuscheln, Plattsternen und Wasserschneckenhäusern, die er in
den Sand spuckt, um bei der nächsten Flut über die Leichtgläubigkeit der Menschen
zu lachen und noch weiter vorzustoßen. Nach Belieben zieht er einem den Boden
unter den Füßen weg, saugt palmblattgedeckte Ranchos und neugierige Hunde ein,
um alles an anderer Stelle in willkürlicher Schichtung wieder freizugeben.
Neben der unterschiedlichen Ideologie der beiden Meere hat der Pazifik noch
etwas aufzuweisen, was im Vergleich der Karibik zu fehlen scheint: Gezeiten. Der
Unterschied zwischen Ebbe und Flut kann hunderte Meter ausmachen, horizontal
betrachtet, und sechs Meter in der Höhe. Aber nirgends ist diese Differenz so stark
zu bemerken wie in Panama City, wo der Meersgrund nur kaum spürbar abfällt. Zwölf
Stunden am Tag meint man, es gäbe keinen Pazifik, Panama City würde nicht am
Meer liegen und die Frachtschiffe, die in Colón die Karibik verlassen und sich durch
den Kanal zwängen, würden spätestens nach der letzten Schleuse ihren Rumpf
im Schlamm vergraben. Man hält Ausschau nach aufgebrachten Kapitänen, die in
lendenhohen Gummistiefeln durch den Meeresgrund waten und Betrug schreien,
eiligen Taxifahrern, die der Verkehrsstopfung auf den Straßen ein Schnippchen
schlagen und mit angezogener Handbremse Blumenmuster in den weichen Boden
zirkeln, und nach Molchen und Leguanen und Pumas, die die Herrschaft über das
unbebaute Territorium an sich reißen wollen und den Dschungel mit sich bringen.
In der Luft liegen Stoßgebete von verzweifelten Fischern, die die Götter um eine
Wiederkehr ihrer Einnahmequelle anflehen, doch niemand stapft hinaus in die
Richtung, wo das Meer sein sollte, und stellt demütig Kerzen zur Verdeutlichung
seines Anliegens im Schlamm ab, Tausende Lichter, die eine flackernde Linie vor
der Küste bilden und das Eintreten der Flut mit einem ohrenbetäubenden Zischen
ankündigen.
Es scheint, nur ich hätte beim Anblick des ausgefransten Horizonts nicht genug
Vertrauen in die Gezeiten, denn von alledem geschieht nichts. Irgendwann, wenn
der Mond es bestimmt, wälzt der Pazifik sich wieder aus seinem Versteck an
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die Küstenmauern, lässt die Schiffe schwimmen und die Pumas ertrinken. Kein
dankbares Jubeln oder überraschtes Raunen begrüßt die Rückkehr des Meeres,
das nicht mehr zu sehen war und nichts hinterlassen hatte als ein paar schmierige
Muschelbänke und graubraunen Schlamm, ein unansehnliches Niemandsland, das
weder der Stadt angehört noch dem Ozean. Jedes Mal aufs Neue tauchen entlang
der Küstenlinie ein paar rostige Fischkutter auf und verschwinden wieder, an den
Wänden der Hafenmolen zählt man fünfzig übereinander gestapelte Autoreifen
in endlosen Reihen nebeneinander, die das Zerschellen der Boote bei jedem
Wasserstand verhindern sollen, bevor sie sich am Meeresboden für die nächste Flut
ausruhen; alles, was die Ebbe freilegt, ist bevölkert von kreischenden Pelikanen, und
alles, was die Flut mitnimmt, ist Unrat und Vogeldreck.
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Die Barrios von Panama City
Womöglich gibt es so etwas wie globale Schnittpunkte, die von besonderem Interesse
für die Weltpolitik oder Kleingruppen versessener Verschwörungstheoretiker sind,
die jahrelang in modrigen Kellern insistieren, es kann sich einfach um keinen Zufall
handeln, dass die Datumsgrenze in exakt rechtem Winkel auf eine imaginäre
Verbindungslinie zwischen Washington und Moskau trifft. In diesem Fall möchte
ich die Bedeutungsschwere der Lage Panama Citys zur Sprache bringen. Der
Kreuzungspunkt, auf dem die Stadt aufgebaut ist, könnte nicht eindrucksvoller
sein, denn in ihm schneiden sich die Verbindungslinie zweier Weltmeere und die
zweier Kontinentspitzen. Darüber hinaus sind diese Linien nicht einmal nur rein
imaginär, sondern sie sind baulich verdeutlicht, mit reichlich Beton und Asphalt.
Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass dort, wo der Panamakanal
und die Interamericana und somit ungeahnte Mengen künstlichen Gesteins
aufeinandertreffen, eine Stadt entstand. Auch brauche ich nicht weiter zu erklären,
wie einfach es für den Piraten Sir Henry Morgan gewesen sein muss, die Ursprünge
dieser Stadt zu brandschatzen, wo er sich doch nur an der größten Schatzkarte der
Welt zu orientieren brauchte, mit dem Atlas in der Hand und dem unübersehbaren
Kreuz, das ihm die Beute signalisierte.
Aber von einer Stadt zu sprechen, wenn von Panama City die Rede ist, erscheint
hoffnungslos untertrieben, denn vielmehr haben sich über eine große Fläche viele
kleine Städte so eng aneinander gedrängt, dass man meinen könnte, es handle
sich um eine einzige. Wie bei einem ein lang gestreckten Fleckenteppich heften
sich die einzelnen Stadtteile aneinander, die so verschieden sind wie Tag und
Nacht, während man die verbindenden Nähte sucht und auf skurrile, manchmal
unüberwindbar erscheinende Übergänge stößt. Das einzige Verbindungsglied, das
in nahezu jedem Viertel wiederkehrt, ist eine Avenida, die sich vom Westen der
Stadt an der amerikanischen Besatzungszone bis zu ihrem östlichen Endpunkt,
dem internationalen Flughafen, durchzieht. Sprunghaft wechselt sie mehrmals ihr
Aussehen, ihre Breite und ihren Namen, doch an ihr orientiert sich alles und wächst
aus ihr heraus.
Der Anfang dieses Stadtbandes befindet sich auf einer Halbinsel unweit der
Einmündung des Kanals in den Pazifik, im Casco Viejo, was nichts anderes meint als
die alten Stadtviertel. Die Häuser hier sind im spanischen Kolonialstil erbaut, doch
nur die wenigsten sind restauriert, und die große Mehrzahl wartet auf Zuwendung
oder ihren Einsturz. Hier beginnt die Straße der Stadt unter dem Namen Avenida
Central, als eine von Geschäften gesäumte Fußgängerzone, wo alles und nichts
verkauft wird, durchsetzt von kleinen Wägen und Bauchläden, die durch lautes
Schreien auf ihr Angebot aufmerksam machen wollen, Kokosnüsse, Zuckerrohr,
Bananen, Raspado, Billigschuhe und illegal erhältliche Dekorationen für die Polizei.
Ein paar hundert Meter weiter pumpt eben jene Hauptschlagader der Stadt die
Menschenmassen aus dem regen Treiben der Fußgängerzone hinaus und geht eine
gefährliche Verbindung mit Kraftfahrzeugen jeder Größenordnung ein. Man wird in
das nächste Viertel gespült, ob vom tropischen Regenguss oder von einem enormen
Atemstoß der Avenida Central, die, gleichzeitig da sie sich auf einmal von hunderten
von Leuten entlastet, im nächsten Moment gerade die gleiche Zahl wieder in sich
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hinein saugt. Hier ist das Viertel der Möbelverkäufer, der Armut und Kleinkriminalität,
in dem die kleinen Straßengeschäfte nur um das massiver und standfester gebaut
sind, um etwaige Käufer vor dem Wahnsinn führerscheinloser Busfahrer zu
beschützen. Die zaghafte Romantik der Altstadt hat sich in Calidonia in eine bunte,
schreiende und allgegenwärtige Attacke verwandelt.
Im Anschluss und wieder entlang der Avenida Central, die sich jetzt Via España
nennt, befindet man sich an der Schnittstelle zu dem Teil der Stadt, der Banken,
Luxuswohnhochhäuser, teure Geschäfte hinter Panzerglas und streng bewachte
Parkplätze im Angebot hat. Selbst dort zwängen sich in den Zwischenräumen
aus Glas und Stahl und dem Spagat der Klimazonen zwischen drinnen und
draußen Chorizobuden, die dem traditionsverbundenen Panameño eine letzte
Zufluchtsstätte vor globalisierten Menüs und angepassten Geschmacksrichtungen
bieten. Klingende Namen wie World Trade Center, Marriott und Maserati erleuchten
überlegen die umliegenden Barrios, und daneben Brachen, die nie die Vermutung
zulassen würden, dass man sich in dem Teil der Welt befindet, der die zweithöchste
Bankendichte nach den Cayman Islands und noch vor der Schweiz aufweist. Alles
ist breiter, höher, glänzender, und nur manchmal deutet ein verwegener Windstoß die
Nähe zu den anderen Gesichtern der Stadt an.
Ich stieß mich an der Aversion gegen die Süßigkeit und die glänzenden Fassaden
ab und landete wieder ein Stück weiter östlich, umgeben von unzähligen
gleichen Hochhäusern, die sich einst nur in der Farbe unterschieden, denn von
der Farbe war nicht mehr viel zu sehn. Vielmehr war alles grau, braunrotgelblich
und trotz der fünfzehn Geschoße konnte ich keinen Lift finden. Der große Omar
Torrijos hatte in einem Anfall von sozialer Verbundenheit gegenüber den ärmeren
Gesellschaftsschichten mit diesen Blöcken seinen guten Willen kundgetan.
Ohne ein wirkliches Bild, sondern mehr mit einer Zusammenstellung aus Bildern
einer anderen Welt, kehrte ich nach Balboa zurück. Zurück in die ehemalige Zone,
wo in amerikanischer Manier mit symbolträchtigen Elementen eine kontext- und
bedeutungslose Kolonie westlicher Zivilisation gegründet worden war.
Natürlich lassen sich vereinzelte Elemente in allen Vierteln wiederfinden, wie die
Überdachungen von Zufahrten und Eingängen zu öffentlichen Gebäuden, die
die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe erfüllen müssen, einen Besucher in der
Regenzeit trockenen Fußes aus seinem Fahrzeug ins Gebäude zu leiten. Auch
vermengt sich das tropische Gründickicht an jeder Stelle, der für kurze Dauer der
Rücken zugekehrt wird, mit dem Stadtdickicht, schlängelt sich Fassaden hoch und
treibt Wurzeln in Fensterbänken und Mauervorsprüngen. Aber die Gemeinsamkeiten
zwischen den Stadtvierteln lassen sich an einer Hand abzählen, denn der extreme
finanzielle und somit soziale Sprung lässt keine Annäherungen zu.
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El Mercado de los Mariscos
Man kann es eine olfaktorische Zwickmühle nennen: kommt man frühmorgens
auf den Fischmarkt in San Felipe, steigt einem der Geruch von frischem Fisch
und Limonen in die Nase, ein angenehm hungernder Duft, wäre der gewöhnliche
Magen so zeitig schon ansprechbar. So aber lässt er die Milch im Frühstückskaffee
stocken und verleidet einem für den Rest des Tages den Appetit. Entschließt man
sich dagegen, den Fischmarkt erst am Nachmittag aufzusuchen, wenn man seine
Einstellung gegenüber der Essensaufnahme schon gefestigt hat, dann hat sich
der so feine Geruch vom Morgen in eine duellierende Beleidigung verwandelt. Die
Frischheit der Fische ist unwiderruflich dahin; sie schreien nach einer Seebestattung,
in dem Moment, wo sich der letzte kühlende Eiswürfel um sie in Nichts auflöst. Der
Duft der Limonen wird von nasebeißendem Chlor überdeckt, weggespült wie die
Leichenteile am Fliesenfußboden, die im Laufe des Tages von den Tischen geglitscht
sind.
Um drei Uhr beginnt die Reinigungsmannschaft mit der Beseitigung der Schuppen,
Gräten, Gedärme, Schwimmblasen und Köpfe. Vom einen Eingang wird das literweise
vergossene Chlor mit einem Feuerwehrschlauch verteilt; aus jeder Ecke gesellt sich
ein Stück Fisch dazu, da eine Rückenflosse, dort ein Satz Eingeweide, dazwischen
die Überreste der Meeresfruchtgesellen, Muschelschalen, Langustenfühler,
Krabbenscheren. Sie fügen sich im Wasserstrudel zu Fabelwesen zusammen,
schwimmen ein Stück weiter und trennen sich abschiedslos beim nächsten Tischbein.
Die ganze Markthalle flutet sich knöcheltief, und schließlich schwappen zweihundert
Quadratmeter brodelnde Bouillabaisse am gegenüberliegenden Tor hinaus, ein
Wellenbrecher wie aus einem Horrorfilm, fischblutiges Skelettwasser. Draußen
stürzen sich Pelikane, Möwen und Aasgeier auf die erbärmliche Beute, zerhacken
und zerzupfen sie abermals und verstreuen die Einzelteile auf ihrer Suche nach
einem ungestörten Platz zum Verschlingen im ganzen Hafengelände. Kreischende
Verfolgungsjagden ziehen sich über die Molen, abgemagerte Hunde entdecken ihr
Interesse an Fischgedärmen und versuchen, ihren Anteil abzubekommen. In diesem
Spektakel mag man nicht mehr recht ans Fischkaufen denken.
Die Mittagszeit stellte sich für meine den wilden Gerüchen und Anblicken von
kollidierenden Schlachtresten abgeneigten Ansprüche als beste Besuchszeit des
Fischmarktes heraus. Schnell hatte ich auch im Abschauverfahren gelernt, dass
es der Langlebigkeit toter Fische zuträglich war, eine Kühlbox mitzunehmen, um
den Heimtransport des Einkaufs durch die zersetzende Hitze ohne Vorgarung zu
bewältigen.
Der Fischmarkt war in einer zweistöckigen Halle untergebracht. Zu drei Seiten hatte
er Eingänge: in Richtung des Meeres, in Richtung der beginnenden Avenida Balboa
und einen im Westen; dessen übergeordnete Richtung stellte der Besucherparkplatz
dar. Die östliche Seite enthielt über die ganze Länge der Wand zwei kleine, billige
Marktlokale, in denen die Fischer ihre Mahlzeiten einnahmen. Dementsprechend
wurde hier Hühnchen und Rind serviert. Darüber befand sich im Obergeschoß ein
Fischrestaurant für die Besucher, ansonsten war es fast zur Gänze frei. Ringsum
bildete sich eine Galerie aus, von der aus man dem Treiben an den Ständen zusehen
konnte. So stellte ich mir immer den Blick unter die Wasseroberfläche aus einem
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Glassbottom-boat vor – dass hier kein Glas, kein Boot, nicht einmal das Meer
zugegen war, dass die reglosen, schleieräugigen Fische keine funkelnd dahineilenden
Lichtreflexe zu mir hochschnellen ließen, beeinflusste meine Vorstellung nicht.
Es hätte mich auch nicht verwundert, wenn sie, bei der direkten Methode der
Kanalentleerung der Stadt und dem ebenso inkontinenten Schiffsverkehr, gleich
so, wie sie hier lagen, einfach mit Netzen aus dem Wasser gezogen würden.
Aber es war die Vielzahl der Fische, die mich faszinierte, ihre Aufteilung in
Schwärme und die scheinbar strategische Entfernung zu ihrem natürlichen Feind
– dem doppeltgrößeren Fisch. Die Anordnung, in der Corvina, Merluza, Pargo rojo,
Thunfisch, Dorada, Hai und all die anderen Fischarten lagen, steigerte sich stets
von der kleinsten zur größten Sorte. So hatte jeder Fisch zu seiner Rechten einen
nur unscheinbar kleineren liegen und zu seiner Linken einen unscheinbar größeren;
wären die Schwärme zu Lebzeiten so durchs Meer geschwommen, sie hätten in
größter Eintracht gelebt…und wären verhungert.
Zu Häufen geschüttet, zu Bergen geschlichtet lagen sie übereinander, selbst tot
sichtbar mit der fehlenden Schwerelosigkeit und dem Gewicht der Artgenossen
über ihnen kämpfend. Der oberste von jedem Stapel musste als Vorzeigeexemplar
hinhalten, er war derjenige, der immer so lange den Besuchern feilbietend unter
die Nasen gehalten und anschließend wieder obenauf geklatscht wurde, bis ihn
endlich jemand kaufen wollte. Bei den Langusten zeigte man ausgeprägteres
Sozialverhalten – sie ließ man in Kleingruppen durch die Finger rieseln, ebenso
wie die Muscheln. Und was die Bottiche voll von fertigen Meeresfrüchtecocktails,
entschalten Shrimps und Ceviche (rohem, in Limettensaft kaubar gesäuertem Fisch)
anging, so plantschten die Verkäufer ein wenig mit der Schöpfkelle darin herum,
füllten den Löffel voll und ließen ihn sich aus beachtlicher Höhe wieder in den Trog
entleeren.
Fünfzig hinter blutbeschmierten, fischfettstakenden Leinenschürzen versteckte
Meeresschlächter buhlten so um meine Aufmerksamkeit, von meiner leer
geschwenkten Kühltruhe und meinem unentschlossenen Umherschlendern in
den glubschäugigen Alleen angestachelt. Deutete ich auf einen Fisch, griff sich
der Verkäufer triumphierend seine Machete, unter dem verärgerten salvenartigen
Aufklatschen von neunundvierzig Fischbäuchen seiner neunundvierzig beleidigten
Kollegen, und zack war die Schwanzflosse ab, zack die Rückenflosse, zack und zack
die Seitenruder, ZACK der Kopf. An der Hüfte vorbei wischte er den Schädel und
die Außenborder auf den Fliesenfußboden, packte den kompakten, quaderförmigen
Restfisch in einen dünnwandigen Plastiksack, knotete ihn zu, in noch einen
Plastiksack, knotete ihn zu, und ich breschte mit meinem kunststoffumhüllten
Nochsushi von der Sonne verfolgungsgejagt nach Hause.
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El Mercado Publico
Wenn ich dir zuletzt mit der Schilderung der Aufräumarbeiten am Fischmarkt
von San Felipe die Magensäure in Wallung brachte, dann solltest du nun, wo ich
vorhabe, vom Mercado Publico zu erzählen, weghören. Denn die Anblicke und
Vorgänge am Fischmarkt nehmen sich gegen diese aus wie Schneewittchen gegen
das Kettensägenmassaker.
Nur wenige hundert Meter die Avenida Pablo Arosemena am Meer entlang – und
wenn ich hier Meer sage, dann meine ich nicht das hochglänzend klare Türkiswasser
der Urlaubsprospekte, sondern die städtische Brühe aus Schlamm und Abfällen, die
das Tankeröl dir als Klumpen gegen die Beine spuckt – liegt der Mercado Publico,
der öffentliche Markt, der alles anbietet, was sich in der Nahrungskette hinter den
Menschen reiht. Das Angebot macht ihn ungleich größer als den Fischmarkt; der
größte Indikator aber, der den Zustrom zu einem öffentlichen Gebäude anzeigt, sind
die Heerscharen von Lotterielosverkäufern, die sich davor mit ihren klappernden
Holztischen aufbauen. Die ganze Frontseite der Markthalle war ein einziges
Glücksspiel, und die papierenen Croupiers schleuderten provisionsgetrieben
Zahlenkombinationen in die Menge, in der Hoffnung, eine ihrer Numerologien würde
in die Aberglaubenslücke eines Spielers treffen und ihn zum Kauf jenes Loses
bewegen.
Der zweistöckige Markt war ein dunkelrot blätterndes Betongebäude, dessen
Obergeschoß sich regenabschirmend über die Losverkäufer und Lieferanten stützte.
Stählerne Insektenwaben bildeten die Fassade der Eingangsseite, nicht nur, um den
Durchzug feuchter Luft zu erlauben, sondern auch grob genug, die bettelnden
Vögel hindurchfliegen zu lassen. Im hohen unteren Raum verengten kleine
Stahlkäfige den Zugang, aus denen kleine Verkäufer mit zerrissenen Haarnetzen
lugten und händereibend auf kleinen Hockern auf Kundschaft warteten. Die Buden
weiter links behängten ihre Gitterwände mit goldenen Kommunionsschuhen
und reiz- wie baumwollloser Unterwäsche, während sich die rechtsliegenden
Verkaufsbatterien hinter einer aufsteigenden Nebelwand aus Küchendunst und
Frittierwolken versteckten. Winzige Garküchen beriefen sich durch ihre Marktnähe
auf die Frischheit ihrer Zutaten und schafften es dennoch, Eintöpfe zu produzieren,
die in ihrem Geruch und Anblick einen Hauch von Verwesung verströmten. Die
Verkaufsausgucke wie die Gänge zwischen den Buden waren zu schmal, um sich
für die Dauer der Mahlzeit dort aufzuhalten. Man hatte die Wahl, sich entweder
in den größeren Doppelkäfigen zur Köchin zu gesellen und gegen die Friteuse zu
lehnen, oder sein dampfendes Plastikgeschirr im Umherwandern mit glühender
Hand zu verfluchen. So kam es, dass auch im Reich der linksliegenden Textilstände
kreisrunde Portionsteller vereinzelte Dampfsäulen aufsteigen ließen, bis sie sich
beim nächsten stahlgefilterten Windstoß wie Fragezeichen in unsichtbaren Geruch
auflösten.
Hatte man sich durch die Verengungen gerempelt und entschuldigt, lichtete sich
allmählich auch der Kochtopfnebel, und der Raum hatte wieder seine volle Höhe
erlangt. Zwischen den einzelnen Stützen, die Boden und Decke des Erdgeschoßes
zu einer Halle spreizten, standen grobe, massive Stahltische mit mattweißen
Arbeitsplatten. Darüber waren fingerdicke Stahlseile gespannt, an denen träge
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Fleischerhaken baumelten. Wohin man auch sah, lagen auf den Tischen wild in ihre
Gliedmaßen zerstückelte Rinder und Schweine, rot über die Tischkante tropfende
Bäuche schmiegten sich an grauverschleierte Hüften, auf einem Hackblock lehnten
sich staubtrockene Rinderrippenpaare gegeneinander, und über alledem schwebten
in erhabener Teilnahmslosigkeit Oberschenkel und Kopfhälften auf ihren Haken.
Fast unsichtbar und genauso reglos standen inmitten des Schlachtviehpuzzles die
Fleischhauer, im Tarnanzug der weißroten Metzgersschürze, und warteten auf ihren
Einsatz. Hatten sie den Auftrag zur weiteren Zerkleinerung eines Fleischstückes
erhalten, dann setzten sie die Machete irgendwo zwischen Fett- und Muskelgewebe
an, spalteten die lederne Tierhaut ab und hieben so lange auf den fasrigen
Fleischbrocken ein, bis die gewünschte Größe erreicht war. Wenn der Verkauf so
gut lief, dass ihr Stand bereits an Verlockung einbüßte, gingen sie zum Kühlraum der
Markthalle, luden sich eine weitere fliegende Schweinehälfte auf die Schulter und
stapften mit knickenden Knien und konvex geschwellter Brust zu ihrem Geschäft
zurück. Die Blutspuren am Betonfußboden verrieten, wer sich wie oft schon um
Nachschub sorgen durfte; jeder kriminalistische Anfänger bei der Spurensicherung
konnte mit Leichtigkeit feststellen, wohin das Opfer geschleift wurde.
Ein paar Tische weiter lag ausgebreitet ein Überblick über das heimische
Geflügel. Es waren eindeutig nicht alles Hühner, und auch wenn ich mich keinen
Hobbyornitologen nenne, so kann ich doch einen Truthahn von einer Wachtel
unterscheiden. Aber von innen sehen alle Vögel für mich gleich aus, und diese hier
lagen in zwei Hälften gespalten vor mir, durch einen Längshieb vom Hals abwärts
getrennt, und nur noch der alles verbindende Kopf stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl der halben Hühner. Dazwischen lagen stolz einzwei Eier, die eindeutig
nicht mehr die Zeit gefunden hatten, gelegt zu werden; war das Huhn aber doch
noch dazu gekommen, oder handelte es sich um einen Hahn, dann waren anstelle
der Eier Zitronen in die Eingeweide drapiert. Als ich dem Blick eines vom Tisch
herabhängenden Hühnerkopfes folgte, starrten wir beide einer Kakerlake nach. Fast
konnte man sich in ihren paradiesischen Zustand hineinversetzen; in Wahrheit aber
war ich noch nie so über den Anblick einer Küchenschabe erfreut, denn sie brachte
als einzige Leben in den von Kadavern besetzten Raum. Und die Verwirrung über
diese Wiedersehensfreude, gepaart mit dem festen Entschluss, mein Geld woanders
anzulegen, war es, die mich zum Aufbruch veranlasste und mich weitertrieb in das
obere Stockwerk.
Eine geknickte Rampe führte hinauf ins Obergeschoß. An ihrem Zwischenpodest, von
dem aus sie die Richtung des Aufgangs um hundertachtzig Grad wendete, befand
sich eine hochgestreckte Mauernische mit einem Kreisbogen. Eine händefaltende
Marienstatue betete darin, in Plastikblumen und Lichterketten eingebettet, um
ausreichend Nahrungsmittel für alle Marktbesucher, und mit ihr beteten zwei
davor stehende alte Frauen, ihre Verschnaufpause mit zusätzlichem Sinn füllend.
Überhaupt ließen nur die wenigsten die Marktmadonna unbeachtet, und wenn sie
sich nicht auf ein Ave Maria dazugesellten, so fanden sie immer noch eine Kusshand,
die sie ihr im Vorbeigehen über den steinernen Fuß rieben. Nicht stehen zu bleiben
schien fast so pietätlos, wie auf der Scala Santa in Rom an den versunkenen Nonnen
vorbeizuknien, und so hielt auch ich kurz an, mehr aus Neugierde als aus Sorge um
die Marktwirtschaft, und bekam einen anerkennend lächelnden Blick der religiösen
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Verbundenheit von meiner Gebetsschwester neben mir zugeworfen. Noch vor ihrem
letzten Amen hatte ich sie überholt und neigte mich weiter die Rampe hinauf. Ein
Gang führte geradeaus an Toiletten und einem öffentlichen Telefon vorbei, zwei
Einrichtungen, die den hohen Stellenwert dieses Gebäudes kennzeichneten. Aber
bedürfnisfrei wandte ich mich nach rechts, wo sich das Obergeschoß als Abziehbild
des Erdgeschoßes wieder zu einer Halle öffnete, doch hier lagen keine Schenkel
und Flügel tot ausgebreitet auf den Tischen, sondern friedfertig geerntetes Obst und
Gemüse. Den meisten Platz nahmen Bananen in allen ihren Variationen ein, bräunlich
gesprenkelte Chiquitas verschwanden hinter Bergen von dunkelgrünen Plátanos,
die womöglich eine Vielfalt an Zubereitungsmöglichkeiten boten, aber hier doch
zumeist unter dem Namen Patacones den Weg in die Friteuse fanden. Dazwischen
lagen Yuccaknollen und Yamswurzeln und untropische Kartoffeln. In Summe, schien
mir, beschränkte sich die heimische Produktion auf blasses Frittiergemüse. Aber
vereinzelt tauchten kräftige unerwartete Farbtöne zwischen den Langweilergemüsen
auf, frische Erdbeeren aus dem vulkanischen Boquete im Westen Panamas retteten
die farbliche Eintönigkeit ebenso wie Ananas, Papayas, Melonen und Mangos. Es
blieb den Südfrüchten überlassen zu schillern.
Alles, was hier in diesem Markt angeboten wurde, stammte aus Panama selbst,
tropenkompatibles Obst und Gemüse, das aus allen Ecken des Landes über
die Interamericana seinen Weg in die Stadt fand. Wenn man aber auf der Suche
nach exotischem Gemüse war, was in diesem Fall nichts anderes hieß als die
Außergewöhnlichkeit von Karfiol oder Spinat, dann musste man sich an einen der
Supermärkte wenden, die ausnahmslos alles führten, von italienischem Parmesan
über französische Rotweine, bayrische Weißwürste und zur Weihnachtszeit sogar
importierte kanadische Fichtenchristbäume, die mit einer dem Geruch nach an
Autoduftbäume erinnernden Glasur lackiert wurden, um nicht bereits am Tag ihrer
Einfuhr alle Nadeln noch bei der Grenze abzugeben. Es schien, als müsse jedes
Schiff, das den Kanal durchquerte, neben den zu entrichtenden Gebühren ebenso
einen kulinarischen Wegzoll hinterlassen.
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El Chorrillo, Teil1
Eine Menge Leute haben mich heute prophetisch umgenietet. Mit prophetischen
Macheten, die aus gesäbelter Luft bestanden, und prophetischen Revolvern,
die sich aus ausgestreckten Zeigefingern und rechtwinkligen Daumenabzügen
zusammensetzten und aus zerrissenen Hosentaschenhalftern gezogen wurden,
wurde ich prophetisch überfallen und ausgeraubt.
Doch an den Anfang der Geschichte, und die beginnt an der Stelle, da ich, und
diesmal nicht auf prophetische Weise sondern beschworen real, fast dreifach
umgekommen wäre. Ich war in einem Taxi auf dem Weg nach Hause, in einer dieser
stoßdämpferlosen Bodenschleifmaschinen, die mehr Kontakt zum Asphalt durch
scheppernde Unterböden als durch Gummireifen herstellten und die Erosion der
Straßen unaufhaltsam vorantrieben. Die Fliehkraft bereitet einem in solch einem
Gefährt nackte Angst, man sieht den Wagen in jeder Kurve zerfallen und versucht
sich mit den beschützenden Göttern anzufreunden, die auf dem Armaturenbrett
zu einem Tribunal aufgereiht dahocken und einen strafend anstarren. Ich habe
nie bereitwilliger zu den Zeugen Jehovas, zu den Anglikanern, sogar zu einem
scheinbar heiligen Krokodil konvertiert, als während dieser Taxifahrten. Aber
selbst die Pluralität der Glaubensbekenntnisse konnte nichts ausrichten, als im
gewöhnlichen Chaos des Spätnachmittagsverkehrs einer dieser Höllenbusse auf
unsere Fahrbahn schwenkte, unnötig zu sagen, dass er das nicht vor oder hinter
uns tat, sondern auf gleicher Höhe. So schwenkten wir notgedrungen und spontan
auch, und in Sekundenschnelle hatte sich der gesamte Richtungsverkehr auf allen
Fahrstreifen um eine Bahn verschoben und der arme Teufel rechts außen landete
im Graben. Ich werte dies als meinen ersten Tod. Der zweite tat sich in Form eines
offenen Kanalschachtes spurtreu vor uns auf, als wir durch Curundú fuhren. In der
Regenzeit lagen die Kanaldeckel selten auf ihrem Platz, denn sie behinderten das
Abfließen der Wassermassen und das Entweichen des Kloakengestanks, der sich
so explosionsartig über die Stadt legte, dass ich der Meinung war, er selbst habe
die Deckel abgehoben und weggeschossen, und irgendwo über Nevada würde
es Meldungen über erneute UFO-Sichtungen geben. Auf den dritten Tod warte
ich hingegen täglich, denn seit ich dem Taxifahrer nicht den verlangten Betrag
ausgezahlt habe, sondern auf der üblichen Pauschale bestand, lastet ein Fluch auf
mir.
Darum wird mein Entschluss verständlich erscheinen, als ich am folgenden Tag
den Versuch wagte, von Balboa aus zu Fuß nach San Felipe zu gelangen. Ich
spazierte den Cerro Ancón hinab, vorbei an den gepflegten, himmelblau und
sanftgelb getünchten Wohnhäusern, die die Amerikaner hinterlassen hatten, an
den großzügigen Villen der Kanalkapitäne, die inmitten immerfrisch gestutzter,
domestizierter Dschungelpflanzen lagen, vorbei an Mi Pueblito, einer umzäunten
Zusammenstellung der verschiedensten Baustile Panamas, wo sich Gebäude
im Kolonialstil mit Indianerhütten und Karibenhäusern abwechselten und dem
Dreitagestouristen auf disneysche Weise die Vielseitigkeit des Landes verkauften, ich
spazierte durch die verträumte heile Welt der ehemaligen Besatzungszone und stieß
mit einem Mal an ihre Grenze, die Avenida de los Martires. Vierspurig trennte sie die
gediegene Kleingartenidylle Balboas vom Wildwuchs aufgerissener Asphaltstraßen
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El Chorrillos, ohne die übliche Verbindung durch einen Fußgängerübergang
anzubieten. Eine Überquerung schien unerwünscht; die einzige Ampel, beim
einzigen, vom Verkehr wegretuschierten Zebrastreifen, war auf Kurzgrün eingestellt,
gerade so, als wollte sie den von Balboa Kommenden warnen und den von El
Chorrillo Entkommenden zurückhalten.
Ich schaffte den Hechtsprung in der Millisekunde der Autorotphasen und prallte an
meinen ersten Propheten. Er stellte sich mir in den Weg und fragte, wohin ich wolle,
und ich wankte zwischen trotziger Verweigerung an der Teilnahme dieses Verhörs
und prophylaktischer Dankbarkeit für die wegweiserische Hilfsbereitschaft, bevor ich
ihm erklärte, genau hierhin, genau hier durch, auf meinem Weg nach San Felipe. Und
da war sie schon, die erste Ankündigung meiner Sterblichkeit, die erste knochige
Fingerpistole, die vor mir herumfuchtelte und mir den Weg in die entgegengesetzte
Richtung wies. Wenn ich hier weiterginge, würde ich a) beraubt und b) erschossen,
bei nebensächlicher Wertigkeit in der Reihenfolge der Abläufe, denn ich sei weiß, was
gleichzusetzen wäre mit reich und eindeutig nicht von hier, hätte unvorsichtigerweise
eine Tasche bei mir, die schon allein durch ihr Beuteldasein suggeriert, sie wäre
durch Wertsachen so aus der Form, und würde ich in den Spiegel sehen, könnte ich
auf meiner Stirn lesen:
!HCIM LLAFREBÜ
Ich versuchte Hiob klarzumachen, ich hätte nichts bei mir, was einen Diebstahl
rechtfertigen würde, ich sei zwar weiß, aber dennoch gleichzusetzen mit mittellos,
und das einzige, was in meiner Umhängetasche Beulen verursache, sei mein
Teleskopregenschirm, denn zumindest sei ich dafür gewappnet, falls mich der
Regen überfallen sollte. Mein sturer Wunsch, El Chorrillo zu durchqueren, festigte
ihn in seiner Meinung, meine Einstellung sei nicht gerade lebensbejahend, und so
ließ er es sich nicht nehmen, mich zum Schutz zu begleiten, doch an jeder folgenden
Straßenecke unternahm er den Versuch, mich von meinem Weg abzubringen. Je
weiter wir nach El Chorrillo vordrangen, desto mehr Leute scharten sich um uns und
begannen meinen armen Begleiter zu beschimpfen, wie verantwortungslos es von
ihm wäre, mich hier durchzuführen, während sie mir ihr ganzes Arsenal improvisierter
Fingerwaffen unter die Nase hielten. Eine beleibte Frau befand es schließlich für das
Beste, auf der nächsten Polizeistation um ein bis zwei Beamte zu bitten, die mich
durch das Viertel begleiten sollten. Also machten wir im Rudel kehrt und gingen die
Straße zurück, niemand ließ es sich nehmen, dem Schutztrupp beizuwohnen, aber
vor der Polizei angekommen lösten sich alle in Luft auf.
Der Schreibtisch des Kommandanten stand auf einem so furchterregend hohen
Podest, dass man den Kommandanten selbst aus dem Winkel des Bittsuchenden
gar nicht sehen konnte. Ins Leere hinein brachte ich mein Anliegen vor, nicht ohne
darauf hinzuweisen, dass diese Idee nicht mir selbst entsprungen war und mir
dennoch sehr unangenehm, woraufhin der Schreibtisch in schallendes Gelächter
ausbrach. Dazwischen dachte ich ein mehrmaliges Nein vernommen zu haben,
aber ich schien mich getäuscht zu haben, denn drei Polizisten kamen aus dem
Hinterzimmer und deuteten mir, mich in den Streifenwagen zu setzen. Während
ich noch versuchte ihnen klarzumachen, dass ich keine Photosafari unternehmen
wolle, sondern zu Fuß durch El Chorrillo gehen, wurde mir schnell bewusst, dass
es auch gar nicht ihre Absicht war, mich durch das Viertel zu chauffieren. Ganz im
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Gegenteil fuhren sie mich zu den Kollegen des nächsten Reviers und riefen mir beim
Aussteigen lachend zu, ich könnte ja hier einmal nachfragen. Aber die Reaktion auf
dieser Dienststelle unterschied sich nicht im Geringsten von der vorherigen.
Bei diesem allgemeinen Widerstand wagte ich mich an diesem Tag kein weiteres Mal
an die Grenzen von El Chorrillo, zumal die Polizeistelle, an der ich abgesetzt worden
war, sich ohnehin in meinem ursprünglichen Ziel San Felipe befand. Und gegen
Ende des Tages erschien es mir wieder bei weitem ungefährlicher, meinen Heimweg
in einem Taxi anzutreten.
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El Chorrillo, Teil 2
Der Mann, von dem wir zu einem späteren Zeitpunkt erfahren werden, dass er über
die Schönheit der Gräber am nahe gelegenen Friedhof wacht und Unkraut gegen
Goldkelch und Jasmin tauscht, stand in seiner Wohnungstür und schabte sich
mit einem hundertjährigen Einwegrasierer den weißen Bart, und im Rhythmus des
Merengue, der sich aus seinem Wohnzimmer an ihm vorbei schlich und über die
Straße legte, die Stadt einzunehmen hatte er sich für später vorbehalten, klopfte er
die Klinge am Türstock aus. Die tiefe Sonne blendete ihn und der Mann zwinkerte,
für einen derartigen natürlichen Reflex hielt es zumindest die Nachbarin, aber
hätte man ihre Tochter nach dem Auslöser für das Zwinkern des Friedhofsgärtners
gefragt, sie hätte ohne Eitelkeit sich selbst als Grund angegeben, denn auf sie
richteten sich die meisten der Augenaufschläge. Gleichzeitig drehte ein wenig weiter
die Straße hinunter eine Frau ihre Chorizos über einem rostigen Ölfassgrill, die
Würste rankten sich in Spiralen die Holzspieße hinauf, während die Flammen unter
den Salven der Fetttropfen nach ihnen ausschlugen. Ihre Kinder, die in naher Zukunft
in einem steinernen Becken das beruhigte Meerwasser wieder aufschäumen lassen
werden, ließen verschiedenste Gegenstände in einen offenen Kanalschacht fallen
und lauschten den Geräuschen, die aus der Tiefe nach oben schallten, je nach
Gewicht und Größe der Dinge erfreute sie ein schläfriges Gurgeln genauso wie ein
lautes Aufklatschen. Eine Hauswand warb in Rot, Gelb und Violett für einen Señor
Abraham, macht Abraham zu eurem Abgeordneten, denn er ist derjenige, der sehr
wohl arbeitet, während die nachfolgende Wand dem zwar nicht widersprach, doch
sich für Sergio „Chello“ Galvez aufgrund seines großen Herzens stark machte.
Davor hatte sich eine ganze Familie auf ihren Plastikstühlen niedergelassen und tat
nichts weiter, als die anderen Familien zu beobachten, die nichts weiter taten und so
weiter, gelegentlich unterhielten sie sich mit lauten Rufen über die Straße, die sich
durch meine offenen Seitenfenster den Weg bahnten, als ich an ihnen vorbeifuhr,
und einige der Worte schleifte ich im Innenraum meines Autos ein Stück mit, bis sie
bei einer anderen Familie wieder freikamen und Verwunderung über die brüchige
Botschaft hervorriefen. Die Wohnräume von El Chorrillo, die sich gleich hinter den
Eingangstüren befanden und ohnehin völlig einsichtig waren, um eigentlich den
gegenteiligen Effekt des unbehinderten Ausblicks zu gewähren, stülpten sich an
regenfreien Tagen auf die Straße. Ich fuhr zwischen Esstischen und Fernsehapparaten
hindurch, zwischen schlafenden Großvätern und bohnenklaubenden Köchinnen, in
jeder Straße von El Chorrillo stand ich unmittelbar im Privatleben der Bewohner.
Die, die in den mehrstöckigen Gemeindebauten zuhause waren, trugen nur das
Nötigste hinunter auf die Straße und waren zu Gast bei den Holzhausbewohnern
und denen, die in vergitterten Ziegelhäusern wohnten, mit Vogelkäfigfenstern und
Tigerkäfigbalkonen.
Ich will nicht verhehlen, dass mein Blick auf dieses Stadtviertel womöglich durch
wildromantische Fantastereien ein wenig verfälscht war. Es mögen Leute kommen
und sagen, auch ich war in El Chorrillo, aber ich sah etwas völlig anderes als du,
meine Erzählungen würden sich aus Hauptworten wie Armut und Kriminalität und
Adjektiven wie schmutzig, zerfallen und unsicher zusammensetzen. Ich gebe zu,
dass Worte dieser Art mir ebenso in den Sinn kamen. Der Grund, warum meine
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Schilderungen dennoch beschönigend wirken, liegt darin, dass El Chorrillo
meiner Vorstellung von Panama City am nächsten kam. Es ist eines der wenigen
ursprünglichen Barrios, deren Leben und Straßenbild nicht von nordamerikanischer
Künstlichkeit verzerrt ist. Es ist das Erscheinungsbild, das bleibt, wenn man die
Fassade von internationalen Banken, Geldwäscherei und Korruption verschwinden
lässt.
Darum mag jemand anderer erzählen, er sah, wie zwischen den Wohnhäusern von El
Chorrillo ein alter Mann auf einem Schutthaufen saß und Altmetall in seinen Beutel
sammelte, aber ich werde womöglich sagen, der König des Mühlespiels suchte
nach einheitlichen Bierkapseln als Spielsteine für seine nächste Partie.
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Erstmalig im Weltengeschehen schien der Pazifik eine Winzigkeit weniger Wasser zu
führen an dem Tag, da ihm Rogelio Agustines Marón während der Flut ein Becken
mit den Ausmaßen zwei mal zwei mal fünf Meter voll abzweigte. Deswegen werden
die Schiffskiele auch nicht am Boden schleifen, hatte er sich gedacht, und keine
Frage, dass er Recht behielt. So wie Rogelio es sich vorstellte, sollten mit der Flut
camarones über seinen Beckenrand geschwemmt werden, und da jedermann
weiß, dass nur dressierte Zirkusshrimps wahre Meister im Hochsprung sind,
würden es jene manövrierunfähigen Allerweltsshrimps nicht zurück über die Mauer
schaffen, wenn erst wieder die Ebbe einsetzte, und somit hätte Rogelio Unmengen
erstklassiger Fischköder. Allerdings hatte Rogelio nicht mit der Überzeugungskraft
seiner Kinder gerechnet, die, kaum dass er das Becken fertiggestellt hatte, stock
und steif behaupteten, es wäre wesentlich sinnvoller, sie würden das Bassin als
Schwimmbad benutzen anstelle der Shrimps, was mehr Sauberkeit hinter den
Ohren und ein Ende der Schürfwunden, die der beizeiten recht wütende Ozean
verursachte, bedeuten würde. Und da Rogelio einsah, dass Langusten und Kinder
nicht in Eintracht miteinander baden konnten, da stets einer den anderen zwickte
oder zertrat, baute er ein zweites Becken vor dem ersten, ein wenig niedriger, damit
nicht versehentlich Shrimps über den Rand schwappten, um seine Kinder machte
er sich keine Sorgen, die schwappten nicht so bald wo über. Als er damit fertig war
erschien es ihm jedoch wunderlich, dass die Ausbeute bei Weitem nicht so groß war
wie erhofft, nicht einmal eine Handvoll Köder sammelte er in der ersten Woche ein.
Was er sich aber noch weniger erklären konnte waren die kopfüber im Schlamm
steckenden toten Fische, die sich jedes Mal bei Ebbe rund um das Shrimpsbecken
befanden. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, legte er sich auf die Lauer, und
es war ein ernüchterndes Schauspiel als er mitansehen musste, wie gleichzeitig mit
den Shrimps etliche Fische von den Wellen ins Becken gehoben wurden, die sich
paradiesisch grinsend sofort daran machten, alles zu vertilgen, noch bevor man die
Möglichkeit gehabt hätte, einen Angelhaken mit ins Spiel zu bringen, um dann in
diesem orgiastischen Durcheinander das Einsetzen der Ebbe zu übersehen und mit
einem panischen Seehechtsprung und deutlich gemästet über die Beckenkante in
den Morast zu fallen. Rogelio musste sich eingestehen, dass er etwas Derartiges
nicht einmal annähernd bedacht hatte, aber schon nach nur einem grüblerisch
zugebrachten Abend hatte er die Lösung ausgearbeitet. Gleich am nächsten Tag
befestigte er zuallererst ein grobmaschiges Gitter über dem Shrimpsbecken, um ein
Eindringen der Fische zu verhindern, bevor er sich daran machte, ein drittes Becken
zu bauen, denn der umherliegende Fischreichtum hatte ihn zugegebenermaßen
nicht kalt gelassen, und wenn es auf diese Art möglich war, Fische zu fangen,
dann konnte er die Köder genauso gut verkaufen, oder umgekehrt, je nach Bedarf.
Währenddessen konnten diejenigen, die Rogelios Treiben schon seit längerem
beobachtet hatten, ihre Begeisterung wie ihren Neid nicht mehr verbergen, erst recht
nicht, nachdem auch der Plan mit dem Fischfangbecken aufgegangen war, denn um
die Fische vor ihrem Todessprung zu bewahren hatte Rogelio zwei Handbreit unter
dem Rand Löcher gebohrt, durch die das Wasser abfließen konnte und somit die
Entfernung zwischen Wasseroberfläche und Freiheit zur unüberwindbaren Distanz
machte. Bald grenzten also an Rogelios Schwimmbecken, Shrimpsbecken und
Fischfangbecken zahlreiche weitere Becken, aber nicht, weil man fürchtete, der
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Bestand an camarones oder Fischen könnte bald erschöpft sein, sondern weil nun
einmal jeder seine eigenen Vorlieben hat, spezialisierte sich der eine auf Krebsfang
und wieder ein anderer errichtete einen Auffangbehälter für angeschwemmtes
Altmetall, das zwar nur zehn Cent pro Pfund einbrachte, aber sich in derart
rauen Mengen ansammelte, dass man meinen konnte, Mutter Natur würde ihren
Lieblingsrohstoff ausscheiden. Wenn die Flut hochstieg und die Beckenlandschaft
unter dem Wasser verschwand war kein Unterschied auszumachen, aber sobald
sich das Meer zurückzuziehen begann, standen Rogelio und die anderen aufgereiht
an der Ufermauer und betrachteten, wie sich die Shrimps dahin, die Fische dorthin
aufteilten, als gäbe es ein übergeordnetes Leitsystem, und nichts anderes war es ja
wohl auch, was sie geschaffen hatten.
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Señor Valeño würde wohl als der geschäftstüchtigste Mann seines Viertels in die
Geschichte eingehen, wäre bekannt, wie er es geschafft hatte, sein Geschäft zum
Florieren zu bringen. So aber, weil die Gründe für seine höheren Einnahmen einer
glücklichen Schicksalsfügung zugeschrieben wurden, wurde er lediglich als des
Viertels prächtigstes Glückskind gehandelt.
Niemand hatte das Erdbeben gespürt, niemand hatte von den Regalen gefallene
Gläser oder gar geborstene Hauswände zu beklagen, und so schrieb man es
Gottes Umsicht zu, dass er die tektonischen Platten mit so zarter Zurückhaltung
verschoben hatte, ohne dabei jemandem auch nur den geringsten Schaden
zuzufügen. Genauer gesagt beschränkte sich das Ausmaß dieser unscheinbaren
Verwüstung auf eine kaum mehr als drei Finger hohe Stufe, die sich über die Calle
31 zog, von einer Straßenseite zur anderen. Die einen meinten, die Erde müsse
über Nacht beschlossen haben, sich ein neues Aussehen zuzulegen, während
die anderen behaupteten, sie hätte wohl nur schlecht geträumt und sich im Schlaf
ein wenig gewälzt, aber da die Stufe plötzlich am darauffolgenden Tag nun einmal
da war und mit Bestimmtheit gesagt werden konnte, dass es sie am Vortag noch
nicht gegeben hatte, war man sich zumindest einig, das Beben hätte sich in aller
Dunkelheit zugetragen. Aus nur allzu verständlicher Gottesfurcht sympathisierten
die Bewohner der Calle 31 mit ihrer unverhofften Stufe und stellten Kerzen und
Gebetskärtchen an ihre Ränder, die zwar nicht darum baten, weitere Stufen zu
senden, doch für den Fall, dass dies vorgesehen wäre, sollten sie die zaghaften
Dimensionen der ersten beibehalten. Unter eben jenen Andächtigen befand sich
auch Señor Valeño, der es sich nicht nehmen ließ, täglich ein kleines religiöses
Opfer zu hinterlassen, was wiederum niemanden verwunderte. Denn, wie bereits
angemerkt, hatte die Stufe nicht unerheblichen Einfluss auf sein Geschäft
genommen. Señor Valeño war Mechaniker, und seine Autowerkstätte befand sich
genau an der Stelle, wo sich die Erde das Bisschen aufgebäumt hatte, nur wenig
unterhalb der vielbefahrenen Avenida A. Dennoch war vielbefahren eine relative
Einschätzung der Lage, denn wer nicht eben diese Straße für seinen Heimweg
benutzen musste, der umfuhr diesen zwielichtigen Stadtteil auf der Interamericana.
Und wer auf der Interamericana eine Panne hatte, der konnte damit rechnen, dass
ihm sein Wagen direkt vor einer Werkstatt einging, so groß war das Angebot.
Berechtigterweise, muss man sagen, denn der Zustand der Asphaltdecke war für
derlei Reparaturdienste eine wahre Goldgrube. Also beschränkte sich Señor Valeños
Kundschaft auf die nähere Nachbarschaft, und er hätte sein Auskommen damit
gefunden, wenn nicht der Teufelskreis der Freundschaftsrabatte in seiner Kasse
das Sagen gehabt hätte. Gab er einen Preisnachlass, dann blieb ihm weniger als
ihm seine monatliche Abrechnung abverlangte, gab er keinen, dann blieben ihm die
Kunden fern, so oder so hatte er einen Mangel zu bewältigen. Nun allerdings, durch
diese wunderliche Bodenerhebung, nahm die Zahl fremder Kundschaften zu, die
nicht liebäugelnd auf Vergünstigungen pochen konnten. Beim allgemein miserablen
Zustand der abgewetzten Autoreifen hatte es noch nie viel gebraucht, um diese zum
Platzen zu bringen, doch hier und jetzt hatten sie die Möglichkeit, ihre Güte auf die
Probe zu stellen. Das bescherte Señor Valeño zumindest einen Kunden täglich, an
guten Tagen bis zu drei, denen er zum vollen Preis die Reifen flicken konnte.
Nun aber zu der Stelle, wo der Geschäftsmann Señor Valeño ins Spiel kommt. Aus
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den besagten Gründen der Auftragslosigkeit und Geldknappheit war in Wirklichkeit
er der Schöpfer der Stufe, nicht Gott und nicht die alptraumgeplagte Mutter Natur.
In seiner Verzweiflung hatte er daran gedacht, mit einem Presslufthammer die Straße
aufzureißen, um jenen Effekt der platzenden Reifen herbeizulocken, doch der Lärm
hätte ihn verraten. Also hatte er in der Nacht heimlich eine Stufe asphaltiert. Er tat
nicht minder verwundert als die übrigen Straßenbewohner, als die Stufe am nächsten
Morgen entdeckt wurde, und wenn er zu Gesprächen hinzukam, wie in aller Welt
denn etwas derartiges geschehen könne, ließ er wie nebenbei die Bemerkung fallen,
die tektonischen Platten könnten sich doch verschoben haben. Die Kerzen, die er
anzündete, hatten nichts mit Gotteslästerung im Sinn, aber im Gegensatz zu allen
anderen dankte er für die Zunahme seiner Aufträge und Gottes Gnade in diesem
Belang.
Es wäre aber nicht angebracht, Señor Valeño wegen seiner Unternehmung
vorschnell zu verurteilen. Er handelte aus einer moralischen Verpflichtung heraus,
die vielleicht nicht auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen mag, aber dennoch
ihre Berechtigung findet. Zumindest hatte er es sich soweit eingeredet, dass er
letztendlich davon überzeugt war, eine gute Tat vollbracht zu haben, und irgendwann
würde er mit der richtigen Argumentation seinen Freunden davon erzählen. Die Stufe,
würde er sagen, fungiert als erhobener Zeigefinger. Jeder weiß um den schlechten
Zustand seiner Reifen, und keiner tut etwas dagegen. Sie warten nur darauf, dass
alle Viere zugleich die Luft aushauchen, aber es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass
das bei voller Geschwindigkeit geschehen könnte. Meine Stufe liegt in einer ruhigen
Nebenstraße, man fährt mit gedrosseltem Tempo über sie hinweg, und wenn nichts
passiert, schön. Aber wie glücklich kann man sich doch schätzen, wenn einem
bei diesem lächerlichen Höhensprung und dieser lachhaften Geschwindigkeit ein
ganzer Satz Reifen zu verstehen gibt, dass er ausgewechselt werden möchte! Wie
dankbar kann man sein, dass ein weitaus schlimmeres Unheil durch einen kleinen
Patzen Asphalt abgewendet wurde!
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Die Entstehung der dreiundzwanzigsten aller bisherigen Stufen war ein Resultat
übermäßiger Betrunkenheit jener Arbeiter, die von der Stadtverwaltung den
Auftrag bekommen hatten, die paar Bäume, oder wie es in der Verwaltungssitzung
beschönigend ausgedrückt worden war, den kleinen Park am südlichen Ende
der Calle 31 mit Randsteinen zu umfassen, um den Ausweichverkehr zwischen
den alten Mimosen und den jungen Marañonstämmen in Zaum zu halten. Nach
schwellüberschreitendem Trinken weißen Industrierums sahen sie mehr Bäume, als
in Wirklichkeit vorhanden und ihnen lieb waren, und fluchend versetzten sie einen
Stein um den anderen, bis sie schließlich am gegenüberliegenden Straßenrand
umfielen und ihren Rausch ausschliefen. Somit endete die Einfassung des
Parks abrupt in einem unbebauten Landstrich hinter der Ruine des einstmaligen
Mercado Peripherico. Als der Bezirksrat die Nachricht erhielt, er könne die fertige
Arbeit nun besichtigen, fielen ihm zuallererst die sanftmütig unter den Bäumen
parkenden Autos auf, denn in der leidenschaftlichen Zuwendung, die der unendlich
scheinenden Längsseite des Parks entgegengebracht worden war, hatten die
Arbeiter die übrigen drei Seiten grob vernachlässigt und aus Mangel an Randsteinen
offen gelassen. Hingegen war ausreichend Zement geliefert worden, um die Steine
richtiggehend darin zu versenken und für die Ewigkeit festzukleistern, und diesen
Teil der Arbeit musste man ihnen zugestehen mit Bravour erledigt zu haben. Es blieb
dem Bezirksrat nichts anderes übrig, als bei der nächsten Versammlung kryptisch zu
verkünden, die Randsteine wären verlegt, denn auf das anstehende Gelächter seiner
Kollegen konnte er gut verzichten, und mit einer Bewilligung für eine weitere Ladung
Randsteine war ohnehin nicht zu rechnen.
Geistesgegenwärtig oder zumindest erstaunlich wach für den Zustand heftiger
alkoholischer Beeinträchtigung hatte darüber hinaus einer der Arbeiter, bevor er sich
zu den anderen auf den Boden gelegt hatte, den verbliebenen Haufen Randsteine mit
der verbliebenen Schubkarre Zement übergossen, damit sie nicht nachts heimlich
entwendet würden, sodass am Stufenrand hinter dem Markt ein beachtlicher Block
die Straße begrenzte. Dann war er daran gelehnt eingeschlafen, den feuchten
Zement im Nacken, was ihm am nächsten Morgen nicht nur einen steifen Hals,
sondern obendrein den Verlust einiger Haupthaare bescherte. Neben diesen Haaren
hinterließ er auch eine unschöne Ausbuchtung, doch für eine Aufmauerung, die
ohnehin nicht gedacht und dennoch unverrückbar war, machte das keinen allzu
großen Unterschied mehr. Allerdings hatte er sich für seinen Block gerade jenen
Platz ausgesucht, an dem der straßeneigene Raspadoverkäufer gewohnt war,
seinen Wagen aufzustellen und sein Wassereis zu verkaufen. Als dieser am Morgen
nach der verpfuschten Randsteinverlegung sein Geschäft zu dieser Stelle schob,
fand er seinen Platz bereits von einem unförmigen Monstrum besetzt und begann
lauthals zu schimpfen, da ihm sein Aberglaube einredete, jede Verrückung des
Wagens um nur wenige Zentimeter würde Pech bringen und die standortgewöhnte
Kundschaft fernbleiben lassen. Widerwillig sah er keine andere Möglichkeit, als sich
des Steinblocks zu bemächtigen und ihn als neue Verkaufstheke zu verwenden. In
stundenlanger mühseliger Arbeit stemmte er an der der Straße abgewendeten Seite
ein Loch, in dem er seine Eisblöcke verstauen konnte, befestigte die Haltevorrichtung
für die Sirupflaschen mit einem eigens geschweißten Haken und zerlegte seinen
Wagen bis zur letzten Schraube, um jeden einzelnen Teil wieder rund um die
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Aufmauerung anzubringen. In die Delle des schlafenden Arbeiters zementierte er
eine Marienstatue, weniger der Religiosität als der Ästhetik wegen. Natürlich war ihm
sonnenklar, dass der Grund für die Stabilität seiner Einnahmen auf die beharrliche
Beibehaltung des Standortes zurückzuführen war, als die ersten Kunden eintrafen,
und als manche von ihnen sogar noch ein zweites Eis aßen, wäre er am liebsten
losgerannt und hätte sich Lotterielose gekauft, um seine Glückssträhne reichlich
auszunutzen. Die Leute ließen sich mit ihrem Raspado auf den Ausläufern des
Blocks nieder, beobachteten in Ruhe den Verkehr und das geschäftige Treiben vor
der Werkstatt Señor Valeños weiter die Straße oben und lobten die gläserne Frische
ihres steingekühlten Wassereises.
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Ein dumpfes Grollen, das seinen Ursprung im Grab Omar Torrijos´ zu haben schien
und der Erde beängstigende Töne entlockte, der Tonerde sozusagen eine neue
Bedeutung verlieh, begleitete den Friedhofsgärtner auf seinem Weg vom Cementerio
Amador nach Hause. Er war dadurch nicht weiter beunruhigt, der General sollte
seine Scherze treiben wie es ihm beliebte, dafür sei der Tod ja immerhin da. In
seinem Handwagen hatte er alle Gerätschaften verstaut, die er brauchte, um die
Gräber in Ordnung zu halten, für deren Instandhaltung er beauftragt worden war,
nicht von der Friedhofsadministration, die es nicht für nötig empfand, einen eigenen
Gärtner anzustellen, da der Totenkult in südamerikanischen Ländern bekanntlich
aufmerksam genug ist, sondern von privaten Grabanverwandten, denen die
regelmäßige Zuwendung zu mühsam geworden war. Und da er nicht im Dienste
der Öffentlichkeit stand, war ihm auch kein Geräteschuppen am Friedhofsgelände
zur Verfügung gestellt worden. Dem Gärtner wars einerlei, denn er wohnte ohnehin
auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und ein Schuppen, der womöglich
an der westlichen Mauer des so weiträumigen Friedhofs gestanden hätte, hätte
ihm einen wesentlich längeren Heimweg beschert. Als er seinen Karren über die
Calle 31 schob, begann er wie stets zu fluchen und stemmte sich seitlich gegen
den Wagen, ein gewohntes Bild, denn die Straße zerrte mit ihrem Gefälle an den
metallenen Schwenkrollen. Bereits mehrmals hatte sich dem Friedhofsgärtner in
einem unachtsamen Moment der Wagen aus den Händen entrissen und war die
Straße hinunter gedonnert, bis er auf sein erstbestes Hindernis aufgeschlagen war.
In solchen Schrecksekunden konnte er gerade noch Zeit finden, ein Stoßgebet
zum Himmel zu schicken, die Teufelsfahrt möge an irgendetwas Leblosem ihr Ende
finden, Herr, schicke eine Bordsteinkante oder ein vorspringendes Hauseck, denn
selbst die bereits erlebten mehrmaligen Zusammenstöße hatten der Spurtreue der
Räder nichts anhaben können, die den Wagen sirrend die Straße hinuntersteuerten.
Aber an schlechten Tagen, an denen das Schicksal übellaunig war, hatte der
pfeifende Karren schon seine Opfer bestimmt. Auf den Bemitleidenswertesten
unter ihnen war er zum Halten gekommen, nach anderen hatte er in blinder Wildheit
Unkrautharken und Laubrechen geschleudert, sodass man in der Straße zürnte, der
Friedhofsgärtner sei unausgelastet und trachte nach mehr Beschäftigung. Daher
blieb auch jede einzige Gegenstimme aus, als der Gärtner eines Tages den Vorschlag
unterbreitete, er werde seinen Arbeitsweg begradigen, um dem Handwagen das
Eigenleben zu verwehren, und schon am nächsten Tag nach dem Beschluss machte
er sich unter Mithilfe zahlreicher lebensfroher Nachbarn daran, das Gefälle der Straße
mittels einer Stufe zu korrigieren. Fortan sprach man in höchsten Tönen von den
Vorzügen, die eine Horizontale doch bietet, wenn der Friedhofsgärtner ohne weitere
Zwischenfälle seine Wege erledigte, niemand presste sich mehr in Hauseingänge
in der Erwartung eines Unglücks, die Straße war durchgehend belebt und blieb es
auch, und nach einer vergangenen Woche konnten die sprungbereit konditionierten
Bewohner sogar darüber lachen, wenn der Gärtner beim gefahrlosen Überqueren
der Straße einen anschwellenden Pfiff von sich gab, der schlechten alten Zeiten zum
makabren Gedenken.
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Das Anwachsen der Treppe in der Calle 31 war nicht mehr zu bremsen. Den
Bewohnern war es bald Grund genug, Stufen um der Stufen Willen zu bauen,
ohne dadurch ein Missgeschick vertuschen oder ein Unglück abwenden zu wollen.
Sie hatten Gefallen gefunden an der Aufmerksamkeit, die sie auf ihren Wegen
den Stufen entgegenbringen mussten, an der bedachten Langsamkeit, die sie
provozierten und an ihrer liebenswerten Art, Niemandsländer für eine Benutzung zu
öffnen. Man beantragte bei der Stadtregierung die Lieferung von einem Lastwagen
voll Asphalt, das war die genaue Angabe, wir wollen einen Lastwagen voll Asphalt,
um unsere Straße ausbessern zu können. Das Wesentliche an dieser Forderung
schien ihnen, möglichst ungenaue Angaben über die Art der Ausbesserung zu
machen, denn sie waren sich nicht sicher, ob der Bau von Stufen auch im Auge des
stadtpolitischen Betrachters als Besserung erscheinen würde. Dagegen konnten
sie sich bei der Frage über die benötigte Asphaltmenge einfach beim besten Willen
nicht einig werden, und nachdem sie schon allein Stunden mit der Diskussion
zugebracht hatten, ob man die Bestellung in Kubikmeter, Liter oder Kilogramm
aufgeben müsse, da ja Asphalt zwischen den stofflichen Erscheinungsformen nur
so schwanke, kamen sie zu dem Entschluss, in einem Lastwagen müsse er sowieso
geliefert werden, also könnte das Straßenbauamt diesen auch gleich voll füllen.
Am Tag, als der Asphalt ankam, standen nahezu alle männlichen Bewohner der
Straße mit Schaufeln und Plätteisen bereit, die Frauen hatten warme Tamales
und Salchichas zur freien Entnahme vor ihren Haustüren auf kleinen Holztischen
bereitgelegt und die Kinder wurden dazu angehalten, sich das Treiben von den
Fenstern aus anzusehen, bis der Asphalt gehärtet sei. Derjenige von ihnen, der
mit den meisten Stimmen zum Bauleiter gewählt worden war, ordnete an, dass in
exakten Abständen reichlich Asphalt abgelassen werden sollte, der anschließend
mit den Schaufeln verteilt und mit den Eisen zügig zu Stufen verarbeitet werden
sollte. Die Exaktheit der Entfernung von Haufen zu Haufen litt ein wenig unter der
rutschenden Kupplung des Lastwagens, wie sich herausstellte, genauso wie die
rechtwinklig zur Straßenflucht gedachte Ausrichtung der Stufen dem Augenmaß
der jeweiligen Bearbeiter ausgeliefert war. Bald schien es, als hätte man den
Bauleiter seiner Aufgabe entbunden und die Kreativität der Bewohner hielt Einzug,
ob gewollt oder versehentlich. Man machte Vorsprünge und Einschnitte, wo es
ein Kanal oder der Zufall wollte, und nach vorübergehender Traurigkeit über den
Verlust seines Postens fand selbst der Bauleiter Vergnügen an der unorthodoxen
Vorgehensweise. Am Ende standen sie vor siebzehn charakterstarken Stufen, die
ihnen einen anhaltenden verzückten Beifall an sich selbst wert waren, und jeder
Menge übriggebliebenem Asphalt, der an der falschen Stelle abgeladen worden war,
um als weitere Stufen zu dienen. Das anstehende Problem machte einstimmig aus
dem ehemaligen Bauleiter in Windeseile wieder den diensthabenden Bauleiter, und
gerührt beschloss er, man werde zusätzlich noch einen Teil der Fläche zwischen den
angrenzenden Wohnhäusern asphaltieren, so weit der Asphalt eben reiche, da der
Boden ohnehin einem verwahrlosten Acker glich. Für den nächsten Arbeitsschritt
sah er vor, diese Fläche teilweise zu unterhöhlen, um den so entstandenen Raum
dann als überdachte Stellfläche für entweder die schönsten oder die marodesten
Autos der Straße zu verwenden, denn bei den einen sei es noch nicht zu spät,
sie vor dem rostbringenden Regen zu schützen, und den anderen konnte man so
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noch eine kleine Galgenfrist zugestehen. An diesem Abend feierten die Bewohner
ihre gelungene Ausbesserungsarbeit, sie saßen selig auf den Stufen und tranken
Dosenbier, und diesmal gab es nicht eine einzige Dose, die nicht ihren Weg in den
Müllcontainer gefunden hätte, so sehr hatten sie sich in ihren neuen Straßenabschnitt
verliebt.
Die Parkplätze unter der Asphaltdecke bekamen aber noch eine andere Funktion, als
ein paar Wochen später von der Regierung der neue Maßnahmenkatalog Harte Hand
zur Verbrechensbekämpfung in Kraft trat. Dieser sah nämlich vor, dass Minderjährige
ab sofort zu bestimmten Tageszeiten unter Hausarrest zu stellen wären und sich
somit nach 21 Uhr nicht mehr auf der Straße befinden dürften. Kein Winkeladvokat
hätte ein besseres Schlupfloch finden können als die erbosten Minderjährigen, die
sich ab diesem Zeitpunkt spät abends in der bekannten Aushöhlung verabredeten,
da sie sich hier ja schließlich unter der Straße befänden. Eine rhetorische Feinheit,
deren Argumentation die abgestellten 15.000 Sicherheitskräfte vermutlich herzlich
wenig Gehör geschenkt hätten, aber so weit kam es gar nie, denn die Höhle war von
der Straße aus völlig uneinsichtig.
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Als jeder, der sich in der Calle 31 eine Stufe geschaffen hatte, aus seiner
gebückten Haltung erhob und die Straße entlang blickte, die Bewohner des oberen
Abschnittes hinunter zum Meer und die von unten hinauf zum Cementerio Amador,
wurde ihnen zum ersten Mal bewusst, dass sie nach und nach alles mit Stufen
überzogen hatten. Keiner konnte mehr sagen, wo die erste Stufe ihren Ursprung
gehabt hatte oder welche die letzte gewesen war, genauso wie niemand eine
logische Erklärung für diese offensichtliche Kettenreaktion geben hätte können.
Sie hatten sich des gesamten Straßenraums bemächtigt, der Fahrspuren und der
Gehwege, der offenen Hauseinfahrten und der brachliegenden Zwischenräume, der
angrenzenden Höfe und sogar des Meeres, und hatten den Schwung des sachten
Gefälles in Bruchstücke unterteilt. Die Straße wirkte auf sie breiter als zuvor, weil
ihre Querrippen die gegenüberliegenden Häuser scheinbar voneinander entfernten,
und gleichzeitig schmäler, weil die offenen Flächen, die sie zuvor ebenso für sich
beansprucht hatte, nun durch Vorsprünge und Verschiebungen in den Stufen ihren
Raum für sich zurückforderten. Sie wirkte ruhiger, weil die Absätze Geschwindigkeit
zollten, aber zugleich belebter, mag sein, durch das Anstauen der verschiedenen
Geschwindigkeiten, aber auf jeden Fall auch durch die neue Benutzbarkeit der
Niemandsländer, die zwar nach wie vor keine besondere Funktion und keine Gestalt
aufwiesen, aber sich dem übrigen Leben angeschlossen hatten. Die Stufen hatten
zwischen den verwahrlosten Niemandsländern und der belebten Straße unmittelbare
Bezüge hergestellt, die sich in nichts weiter als Linien ausdrückten. Sie hatten die
Betonwohnbauten der linken Straßenseite, die den während der Invasion zerstörten
Wohnhäusern nachgefolgt waren, mit den ursprünglichen, verschont gebliebenen
Holzhäusern der rechten Seite verbunden. Und sie besaßen die Eigenheit, Blicke
zu lenken und Dinge in den Vordergrund zu rücken. Man sah nicht mehr nur
einfach das hinter dem Chaos der Straße verborgene Meer, sondern man sah das
Meer, denn so wie die Stufen in den Ozean mündeten, machten sie das Ziel und
Ende der Straße bewusst und zogen sie dennoch weiter, genauso wie die übrigen
vernachlässigten Plätze gliederten sie das Meer ein und ließen seine Zugehörigkeit
zur Straße erkennen. Die Bewohner hatten sich Podeste an den Stellen gebaut, wo
sie Übersicht schätzten und tiefer liegende Flächen, wo sie uneingesehen und in
Ruhe ihre Unterhaltungen und Spiele führen wollten, und wo es ihnen ums Verweilen
und das geschäftige alltägliche Treiben ging, hatten sie ihre Stufen ungebrochen
durchgezogen.
Natürlich blieb die Veränderung der Calle 31 in El Chorrillo nicht unbemerkt. Mit
verwundertem Interesse hatten die angrenzenden Bewohner zugesehen, wie diese
oder jene Stufe entstanden war und hatten keinen Sinn darin entdecken können,
eine zwar löchrige, aber doch gut zu benutzende Straße noch holpriger zu machen,
als sie es ohnehin schon war. Und doch konnte man in den benachbarten Straßen
schon vereinzelte Stufen sehen, die denen der Calle 31 um nichts nachstanden.
Der eine wollte dem Großvater mit dem verkürzten Bein seinen Weg über die Straße
erleichtern, der andere lenkte das durch seine Wohnungstür fließende Regenwasser
ab, die Gründe für die Stufen sind zahlreich und nicht weiter bekannt, vielleicht liegen
sie auch in der Erkennung der Vorzüge, die sie in der Calle 31 mit sich brachten, aber
fest stand, dass überall, wo sich der Straßenraum durch eine Stufe unterteilte, in
Windeseile mehrere Stufen entstanden.
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