Die Welt muss sich ändern Wir sind die Welt

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Die Welt muss sich ändern Wir sind die Welt
„Die Welt muss sich ändern ...
Wir sind die Welt ...!“
Michail Gorbatschow
Internationaler Journalistenpreis
„1989 - 2009: Europa im Dialog“
„Die Welt muss sich ändern ...
Wir sind die Welt ...!“
Michail Gorbatschow
Internationaler Journalistenpreis
„1989 - 2009: Europa im Dialog“
Inhalt:
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Vorwort Joanna M. Rother, Projektleiterin MitOst e.V.
Grußwort Ria Schneider, Geschäftsführerin MitOst e.V.
Grußwort Marc Bermann, Projektleiter Robert Bosch Stiftung
Die Nominierten
Platz 1 Michal Hvorecky, Der Sommer, in dem meine Kindheit endete
Platz 2 Anna Wakulik, Himmel über Berlin, oder: (Nichts) Neues im Westen
Platz 3 Agnieszka Hreczuk, Zusammen kann man mehr
Yaryna Borenko, Fünfundachtzig Millimeter
Solveig Grothe / Hans Michael Kloth, Bei Anruf Mauerfall
Anne Klesse, Plötzlich war die Mutti weg
Michal Komárek / Bára Procházková, Ach, bist du wunderbar!
Hanka Nowicka / Friedhelm Weinberg, In den Köpfen der Menschen
Veronika Wengert, Slowenien/Italien: Eine Stadt mit zwei Gesichtern
Oktay Yaman, Europa auf dem Prüfstand
Die Jury
Medientraining
Redaktionsbesuche
Stadtführung
Preisverleihung
Pressespiegel
Impressum
Inhalt
01
Vorwort
Joanna M. Rother, Projektleiterin MitOst e.V.
Die thematische Vielfalt sowie der stilistische Reichtum der eingereichten Arbeiten zeichneten den Wettbewerb
aus. Während es in den Texten aus Albanien, Kirgistan, Moldawien, Rumänien und Transnistrien oft um die Frage
der neuen Grenzen Europas ging, vermittelten die nominierten Beiträge aus Deutschland, Polen und Tschechien
eher einen subjektiven Eindruck des selbst als Kinder oder Jugendliche erlebten Jahres 1989.
Die Auswahl wurde in einem mehrstufigen Auswahlverfahren durchgeführt, bestehend aus Sitzungen der Vorjury
und Jury, besetzt mit renommierten Experten und Journalisten angesehener Zeitungen und Zeitschriften (darunter
Marc Bermann von der Robert Bosch Stiftung, Alfhild Böhringer von der European Youth Press, der ukrainische
Publizist Juri Durkot, Adam Krzemiński von der polnischen Wochenzeitung Polityka, Claus Christian Malzahn
von SPIEGEL Online, Ivan Rodionov vom russischen TV-Nachrichtensender Westi24, Andrea Seibel von der
WELT und der Berliner Morgenpost, Luise Tremel von der Bundeszentrale für politische Bildung sowie Bernd
Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur von der Wochenzeitung Die Zeit).
„Die Welt muss sich ändern … Wir sind die Welt …!“,
rief der Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow den Versammelten während des Reformprozesses der
„Perestroika“ in Russland zu. Auch die Medien erhielten im Jahr 1989 eine neue politische Rolle. Bei dem Umbruch
in Mittel- und Osteuropa waren sie die entscheidenden länder- und grenzübergreifenden Informationsträger der
damaligen Ereignisse. 1989 war das Jahr der deutsche Wende, der Zeit der Emanzipation und Befreiung in Mittelund Osteuropa, aber auch das Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Ein Blick auf das heutige Europa genügt, um auf die Spuren des Jahres 1989 zu kommen: der Beitritt der
postkommunistischen Staaten zur Europäischen Union fünfzehn Jahre später wäre ohne die SolidarnoŚĆ in Polen
und den Fall der Berliner Mauer nicht möglich gewesen. Ebenfalls waren die Auflösung der Sowjetunion im Jahr
1991 und die Entstehung souveräner Staaten östlich der EU-Außengrenze ohne die Umbrüche von 1989 kaum
denkbar.
Zwanzig Jahre danach befindet sich Europa im neuen Dialog. Wie wirkt sich das Jahr 1989 auf die Europäische
Union der inzwischen 27 Staaten aus? Wie gestalten sich die Grenzen Europas zwanzig Jahre nach der Wende?
Welche Themen von damals interessieren die junge Generation von heute?
In über 50 Texten aus über 15 europäischen Ländern suchten die jungen Journalistinnen und Journalisten
Antworten auf diese Fragen.
Im Internationalen Journalistenpreis „1989 – 2009: Europa im Dialog“, der in drei Sprachen: Deutsch, Englisch
und Russisch ausgeschrieben wurde, haben sich Print- und Online-Journalisten im Alter von 18 bis 35 Jahren aus
den Ländern der Europäischen Union, den östlichen Nachbarstaaten sowie der Russischen Föderation beworben.
Die faire und offene Berichterstattung über das zusammenwachsende Europa jenseits der alten Trennlinie von Ost
und West stand dabei im Vordergrund.
Allen Vorjuroren und Juroren danke ich sehr für die gute Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank geht
an den polnischen Botschafter, Herrn Dr. Marek Prawda und die polnische Botschaft. Ebenso bedanke ich
mich bei MitOst e.V. für die gute Unterstützung in der Projektarbeit, bei den Förderern des Internationalen
Journalistenpreises, Herrn Marc Bermann von der Robert Bosch Stiftung und Herrn Dr. Rupert Antes von der
Haniel Stiftung für den konstruktiven Austausch sowie bei den Sponsoren des Projektes, dem Energieunternehmen
Verbundnetz Gas AG und dem Hotel Motel One. Besonders danke ich auch dem Medienpartner DIE WELT
für die Veröffentlichung der besten Beiträge. Mein Dank geht auch an die Unterstützer des Internationalen
Journalistenpreises: die Bundeszentrale für politische Bildung, n-ost e.V., European Youth Press, DIALOG, das
Collegium Hungaricum Berlin, das Polnische Institut und EurActiv.de, sowie an meine Mitarbeiterinnen Anna
Samol und Katrin Lippmann.
Im November 2009, dem historisch bedeutenden Monat für das Jubiläum des Jahres 1989, kamen bei der
feierlichen Preisverleihung im Collegium Hungaricum Berlin die nominierten Autorinnen und Autoren
zusammen. Darüber hinaus nahmen sie in der Stadt des Mauerfalls an einem Medienprogramm teil und besuchten
erfahrene Journalisten in den Redaktionen der Wochenzeitung Die Zeit und des Magazins SPIEGEL. Für die
Abwechslung und Fortbildung sorgte das zweitägige Medientraining mit dem Schwerpunkt Fotografie in der
Berliner Journalisten-Schule.
Der vorliegende Band versammelt die besten Arbeiten des Internationalen Journalistenpreises und bietet damit
einen Blick auf das Europa von 1989 zwanzig Jahre danach. Der Leser erhält nicht nur eine Kollektion von
journalistischen Texten in Originalsprache mit deutscher Übersetzung, sondern auch eine Auswahl an Berichten
über Ereignisse, Hintergründe und Zusammenhänge im heutigen Europa jenseits von Ost und West.
Schön, dass Europa im kontinuierlichen Dialog ist.
Berlin, im Februar 2010
Der Internationale Journalistenpreis „1989 – 2009: Europa im Dialog“, der von MitOst zum zwanzigsten Jubiläum der friedlichen Revolution ausgeschrieben wurde, hatte ein gründliches und strenges Auswahlverfahren.
Unter 53 eingereichten Arbeiten sollten am Ende zehn nominiert und davon drei preisgekrönt werden.
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Vorwort
Vorwort
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Grußwort
Ria Schneider, Geschäftsführerin MitOst e.V.
Grußwort zur Preisverleihung
Sehr verehrter Herr Botschafter der Republik Polen, sehr geehrter Herr Bermann, sehr geehrter Herr Lachmann,
liebe nominierte Autorinnen und Autoren, sehr verehrte Gäste,
Die Arbeitsfelder des Vereins:
Der Verein hat mittlerweile insbesondere drei größere Arbeitsfelder, dies sind:
ich bin beeindruckt von dem großen Kreis an Interessentinnen und Interessenten, die heute Abend anlässlich der
Preisverleihung zum Internationalen Journalistenpreis „1989 – 2009: Europa im Dialog“ hier versammelt sind
und möchte mich meinem Vorredner Herrn Marc Bermann sehr gerne anschließen und Sie alle auch im Namen
des MitOst e.V. ganz herzlich begrüßen.
MitOst, für den ich hier sprechen darf, ist der Trägerverein, der den Internationalen Journalistenpreis, gefördert
von der Robert Bosch Stiftung, der Haniel Stiftung und der Europäischen Kommission, zum ersten Mal in dieser
Form durchführt, was uns sehr freut und was wir sehr gerne auch in der Zukunft tun wollen.
Die angereisten Nominierten erleben in Berlin ein umfangreiches Programm. Dabei sind vor allem die
Redaktionsbesuche der namhaften deutschen Medien, also der Wochenzeitung Die Zeit und des SPIEGEL zu
erwähnen und somit der Austausch mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus.
Dank der finanziellen Unterstützung von unserem Sponsor, der Verbundnetz Gas AG, ist es uns gelungen, das
Projekt erfolgreich auszubauen. Die nominierten Autorinnen und Autoren durften im Rahmen des Internationalen
Journalistenpreises an einem 2-tägigen Medientraining in der Berliner Journalistenschule teilnehmen.
An der Stelle möchte ich meinen Dank an alle Partner des Projektes aussprechen, ohne die dieses Projekt in der Form
nicht möglich wäre. Dabei möchte ich meinen Dank besonders an unseren Medienpartner DIE WELT aussprechen,
aber mich auch für die Zusammenarbeit mit der Berliner Journalistenschule, dem Korrespondentennetzwerk für
Osteuropa-Berichterstattung n-ost, dem European Youth Press, der Bundeszentrale für politische Bildung sowie
dem Collegium Hungaricum Berlin bedanken.
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Bürgerschaftliche Bildung und Partizipation, vorwiegend getragen durch ein weiteres Programm der Robert
Bosch Stiftung, das Theodor-Heuss-Kolleg, das Seminarleiter und Multiplikatoren in Mittel-, Ost- und
Südeuropa motiviert, ausbildet und regionale Netzwerke und Kooperationen ausbaut
Schule und Europa mit einem renommierten Programm der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft, das Programm Europeans for Peace, das Schulen unterstützt, die sich in bi- und trinationalen
Projekten mit den Themenschwerpunkten Nationalsozialismus, Holocaust oder dem aktuellen Jahresthema
Menschenrechte befassen
Kulturaustausch und Kulturmanagement, mit dem das Programm Kulturmanager aus Mittel- und Osteuropa
zusammenbringt
Unser Anliegen als Verein ist es, in allen diesen Bereichen vertiefend tätig zu sein, mit unserem hauptamtlichen
Team und den zahlreichen ehrenamtlich Tätigen.
MitOst hat mittlerweile 1700 Mitglieder aus über 40 Ländern, so dass entsprechend große Ressourcen dazu auch
vorhanden sind.
Abschließend vielen Dank Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.
Und nun möchte ich Ihnen in Kürze MitOst vorstellen.
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Grußwort
Grußwort
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Grußwort
Marc Bermann, Projektleiter Robert Bosch Stiftung
Grenzüberschreitender Journalismus
Sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrte Damen und Herren der Preisjury, liebe Joanna Rother, liebe Gäste,
im Namen der Robert Bosch Stiftung möchte ich Sie ganz herzlich begrüßen. Heute Abend haben wir uns hier
versammelt, um einen Preis zu verleihen, einen Preis für grenzüberschreitenden Journalismus unter dem Motto:
„1989 – 2009: Europa im Dialog“.
Doch bevor ich zum eigentlichen Thema des heutigen Abends komme, erlauben Sie mir ein paar Sätze zur Robert
Bosch Stiftung:
Die Robert Bosch Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen Deutschlands. Sie wurde
1964 gegründet und verfolgt ausschließlich gemeinnützige Zwecke. Sie ist sowohl operativ als auch fördernd tätig
und konzentriert sich im Kern auf die Themengebiete Gesundheit, Bildung und Völkerverständigung. In den
letzten Jahren flossen jährlich rund 60 Millionen Euro in die Projekt- und Programmarbeit der Stiftung.
Das Projekt „1989 – 2009: Europa im Dialog“ ist, wie ich finde, ein gelungenes Beispiel für die Völkerverständigung
innerhalb Europas und verdient es, gefördert zu werden. Denn leider muss man erkennen, dass selbst 20 Jahre
nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer Vorurteile zwischen Ost und West, ja aber auch zwischen Nord
und Süd bestehen, dass die Nachbarn in Europa noch immer erstaunlich wenig über einander wissen, und dass die
als Bild häufig bemühte Mauer in den Köpfen aber auch in den Herzen vieler Menschen noch immer nicht ganz
abgerissen ist.
Über das Projekt „1989 – 2009: Europa im Dialog“ wurden junge Print- und Online-Journalisten quer durch
Europa dazu aufgefordert, ihre Sicht und ihre Wahrnehmungen in diesem Kontext aufzuschreiben. Aber es
kamen auch andere Stimmen zu Wort, etwa jene der Protagonisten, die dem Leser in den zahlreichen spannenden
und ergreifenden Reportagen begegnen, die eingesendet wurden.
Grenzüberschreitender Journalismus erfordert neben einem feinen Gespür für Themen auch reichhaltiges
historisches, interkulturell und regionalspezifisch informiertes Wissen. Er verlangt dem Journalisten die Fähigkeit
ab, dem jeweils anders kulturell geprägten und anders sozialisierten Leser, Zuschauer oder Zuhörer die eigenen
Themen klar und verständlich darlegen oder aber auch der eigenen nationalen Öffentlichkeit, die jeweils andere
Perspektive in nachvollziehbarer Weise berichten und auch erklären zu können. Das ist keine leichte Aufgabe!
Heute Abend haben wir zehn Journalisten eingeladen, denen diese Aufgabe allerdings besonders gut gelungen ist.
Drei von ihnen werden im Laufe des Abends dafür mit einem kleinen, aber feinen Preisgeld geehrt werden.
Ich möchte an dieser Stelle MitOst, der als Verein in vielschichtiger Weise mit der Robert Bosch Stiftung
zusammenarbeitet und der in gewisser Hinsicht auch mit der Stiftung gewachsen ist, von Herzen für die Idee und
die Durchführung dieses Projektes danken. Mein Dank gilt der Geschäftsführerin von MitOst, Ria Schneider,
allen beteiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie schließlich und in besonderem Maße Joanna Rother für
die professionelle Exekution.
In den nächsten Tagen wird es viele Veranstaltungen geben, natürlich auch hier in Berlin, die sich dem Thema
1989, dem Mauerfall, der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Zusammenbruch des Realsozialismus in
Osteuropa und damit verbundenen wichtigen und großen Fragen der rezenten europäischen Geschichte widmen
werden. Bei der heutigen Veranstaltung geht es nicht nur darum, was gewesen ist. Sondern auch darum, wie die
Vergangenheit die Gegenwart prägt, wie die Menschen heute das Europa der 27 wahrnehmen und verstehen und
welche Zukunftsperspektiven sie teilen.
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Grußwort
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Die Nominierten
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Die Nominierten
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Michal Hvorecky
1. Preis der Jury
Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt als freier Autor in Bratislava.
Er hat bisher drei Romane und drei Bände mit Erzählungen veröffentlicht.
Auf Deutsch erschienen zwei Bücher, als jüngste Veröffentlichung im
März 2009 der Roman Eskorta bei Tropen/Klett-Cotta.
Hvorecky studierte Kunstgeschichte und semiotisch orientierte
ästhetische Theorie an der Universität in Nitra. 2004 wurde er als Writer
in Residence für ein Semester an die University of Iowa in Iowa City, USA,
eingeladen.
In der Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Zeit oder im Falter sind
Essays und Geschichten von ihm erschienen. Er wurde mehrfach mit
Literaturpreisen ausgezeichnet und war Stipendiat des Literarischen
Colloquiums Berlin und der Stiftung Brandenburger Tor.
Der Sommer, in dem meine Kindheit endete
Der erste Sommer, von dem ich ausführlichen Bericht erstatten kann, begann vor genau zwanzig Jahren. Bis dahin
gestalteten sich meine zwei Ferienmonate fast immer gleich. Meine Familie gehörte nicht zu den privilegierten und
durfte fast nirgendwohin ins Ausland reisen. Deswegen sind wir immer am 1. Juli aus Bratislava zu unserer Hütte
in der Niederen Tatra gefahren und erst am 31. August zurückgekehrt. Von diesem Gebirge aus unternahmen
wir sporadisch Ausflüge zu international so anerkannten Destinationen wie Kokava nad Rimavicou (Kockenau),
Domažlice (Taus) oder an den Stausee Zemplínska Šírava, der aus purer Verzweiflung auch „Slowakisches Meer“
genannt wird. Die westlichste Stadt, die ich je besucht hatte, hieß bezeichnenderweise Ostberlin.
Die Naturidylle um das alte Haus inmitten der Berge wurde nur von den Piloten der sowjetischen Besatzungsarmee,
die vom Militärflughafen in der Nähe von Banská Bystrica (Neusohl) abhoben, regelmäßig in ohrenbetäubender
Weise gestört. Ihre Aufgabe war klar: sorgfältig aufzupassen, damit es die Massen von Westeuropäern, die sich
nach dem vollwertigen Leben in meiner Heimat Tschechoslowakei sehnten, nicht über die Grenze schafften.
Anfang Juli 1989 fuhren wir allerdings nach Ungarn, in den Thermalkurort Eger (Erlau). Das Wort Wellness
existierte damals noch nicht. Als Zwölfjährigen interessierten mich Schlammpackungen oder Heilgymnastik
sowieso nicht. Ich hoffte nur, dass ich in einem der überraschend gut sortierten Geschäfte und Märkte des
Gulasch-Regimes die knallig-grünen Schnürsenkel, die Mirrorshades-Sonnenbrille und hoffentlich auch eine
nachgemachte Jacke mit drei Streifen kriegen würde.
Eine Reise nach Ungarn erforderte damals eine ähnlich gründliche Vorbereitung wie heute ein Transatlantikflug
für Drogenschmuggler. In die Haut- und Zahncremetuben sowie in die Stäbe unseres Zeltes friemelte ich mit
meinem Bruder D-Mark-Scheine hinein, die unsere Eltern zu einem ungeheuerlichen Schwarzmarktkurs getauscht
hatten. In Einweckgläsern machte meine Mutter das Essen für jeden einzelnen Tag des Urlaubs zurecht. Der
zweiwöchige Aufenthalt auf einem Campingplatz, den jeder seriöse Hygienekontrolleur sofort schließen lassen
würde, kostete so viel, dass dafür fast die ganzen Ersparnisse der Familie draufgingen.
Die Sommer meiner Kindheit waren schläfrig wie Reden auf Parteiversammlungen, zum Gähnen langsam
wie unser Trabant auf der Autobahn und eintönig wie die Nachmittagssendungen des Tschechoslowakischen
Sozialistischen Rundfunks. Aber in Eger war alles anders. Der Zeltplatz war bis auf den letzten Platz voll, das
große Areal unter den uralten Platanen war von Schlafsäcken und Autos bedeckt. Fast fanden wir keinen Platz
mehr für unser Familienzeltmonster in Orange, das fast eine Tonne wog, und trotzdem konnte man sich im Innern
kaum bewegen oder gar ausstrecken.
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Die Nominierten
Auch die anderen Touristen waren in den ostdeutschen Autos aus Duroplast angereist, die auf der Heckklappe
den absurden Schriftzug de Luxe trugen. Überall hörte ich den zischelnden sächsischen Dialekt. Etwas lag in der
Luft. Die enorme Spannung spürten auch die Kinder. Die entsetzlichen Gemeinschaftswaschräume, in die man
sich schämen würde, Rinder hineinzutreiben, waren voll mit nervösen Menschen. Nie sprach man über die Sonne
oder über das Türkische Bad, immer wurde nur konspirativ und geheimnisvoll geflüstert. Mir war das ziemlich
egal. Meine Welt drehte sich nur um die leckeren Schokoladenpalatschinken, die Plakate von Sandra und Michael
Jackson (der damals noch schwarz und äußerst lebendig war) und die in meiner Heimat verbotenen Comic-Hefte
in einer Sprache, die ich aus Trotz nicht verstand: „Köszönöm szépen!“
An einem Morgen wachte ich verschwitzt in unserem Zelt auf, das heiß wie ein Kanonenofen war. Schläfrig öffnete
ich den Reißverschluss, schob meinen Kopf hinaus und rieb mir die Augen. Erst glaubte ich noch zu schlafen und
sehnte mich eher nach meinem Traum mit Nscho-tschi zurück, Winnetous Schwester, die in den Filmen von
dem bezaubernden Pin-up Marie Versini gespielt wurde. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich wirklich
putzmunter war.
Wir waren auf dem Campingplatz völlig allein. Nirgends ein Mensch. Nur übermächtige, atemberaubende Stille.
Überall um unser Zelt herum standen verlassene Trabis. Die Kolonnen von leeren Autos erstreckten sich über
mehrere Ortschaften, teils Dutzende Kilometer von der Grenze entfernt, wo am 27. Juni Alois Mock, damals
österreichischer Außenminister, und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn den Stacheldraht des Eisernen
Vorhangs durchschnitten hatten.
Auf dem zertrampelten Gras lagen weggeworfene ostdeutsche Produkte, die ich auf keinen Fall gern besessen
hätte. Trotz des intensiven Gefühls der Einsamkeit überkam mich eine seltsame, draufgängerische Euphorie.
Verwirrt, aber auch außerordentlich intensiv nahm ich wahr, dass sich hier gerade etwas endgültig veränderte,
nicht nur mit diesem Ferienaufenthalt, sondern mit meinem ganzen Leben und mit der Welt, wie ich sie kannte.
Von Politik verstand ich nichts, aber ich wusste, dass in diesem Moment meine Kindheit zu Ende ging, dort, in der
ungarischen Provinz, an jenem brennend heißen Morgen im Sommer 1989.
Die Nominierten
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Anna Wakulik
2. Preis der Jury
Anna Wakulik, studiert Kulturwissenschaften an der Universität Warschau und Dramaturgie an der Warsaw School of Drama. Sie war Pressesprecherin des Festivals „Summer in Theatre” im Atelier Theater in Sopot
sowie Managerin des Internationalen „Festival der jüdischen Kultur in
Warschau”. Gewinnerin von zahlreichen Literaturwettbewerben, derzeit
fokussiert auf Drama und Reportage. 2008-2009 lebte sie in Berlin im
Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes.
Himmel über Berlin, oder: (Nichts) Neues im Westen
Im Allgemeinen überquere ich die Grenze zwischen Ost und West dreimal die Woche auf meinem Fahrrad
der Marke DIAMANT. Dann fahre ich von Kreuzberg bis Lichtenberg, aus bebenden Altbauten heraus, und
in verschlafene DDR-Plattenbauten hinein. Raus aus der Buntheit arabischer Marktstände, und hinein in eine
nicht sehr malerische postindustrielle Leere – voller Lampen mit schartigen Schnäbeln, und voller Gebäude mit
ausgeschlagenen Augen. Wunderschöne Kopftücher, welche die dunklen Köpfe irgendwie urmütterlich wirkender
Frauen zieren, verwandeln sich währenddessen unversehens in weiße Blusen mit goldenen „Dolce & Gabbana“Aufdrucken; irgendwo hinter dem Alex-Einkaufszentrum findet die Übermacht von ZARA-Taschen ihr Ende,
und PLUS- und ALDI-Einkaufstüten übernehmen die Herrschaft; die vollkommen unverständlichen, unendlich
schönen Töne südlicher Sprachen gehen in Hochdeutsch über, dann in Berliner Dialekt – um sich am Ende in
slawisch vertrautes Russisch, oder in plätscherndes Chinesisch zu verwandeln.
Berlin mit dem Fahrrad zu befahren, gleicht ein wenig einer Reise durch ein fiktives Eurasien, das auf das
Territorium eines einzigen Landes reduziert ist. Als bewege man sich durch eine Kulisse, für deren künstlichen
Aufbau man die ganze Stadt geopfert hat. Aber das tut Berlin, dem westeuropäischen New York, keinen Abbruch.
Nicht umsonst hat es schon so einiges gesehen. Es gibt nichts, das ihm noch schaden könnte.
Ich frage mich immer, wo die Mauer war. Als ich im Oktober ankam, war mir bewusst, dass diese Stadt einer
gewaltigen, schlecht vernähten Wunde gleicht, die durch irgendein Wunder zu neuem Leben erwacht ist. „Blood
is liquid that dries very fast”, hat Charles de Gaulle einmal gesagt. Wie die hier es schaffen, normal zu leben,
nachdem sie aufgestanden sind, sich die Geschichte von den Hosen geklopft haben, und wie sie jetzt einfach
weitergehen können, weiß ich nicht. Ich selbst laufe seit einem halben Jahr mit dem Bewusstsein hier herum, bis
zu den Knien in Blut zu waten.
In meiner Erinnerung war die ganze Fahrt nach Deutschland für mich ein einziger Horror. Die Strecke
Warschau-Potsdam dauerte zwölf Stunden, und von Anfang an habe ich SS-Gespenster gesehen, die mir an
Grenzen zugelächelt haben, die es längst nicht mehr gibt. Gefahren bin ich, wie immer, um aus dem Stand-byModus heraus Millionen von vergrößerten Pixeln um mich herum schwirren zu sehen. In der Hoffnung, es zu
schaffen, irgendwann die Optik meines Leben zu verändern. Vielleicht, eine bessere Welt zu entdecken, indem ich
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Die Nominierten
meinen angestammten Platz verlasse. Irgendwo hinter Küstrin-Kietz sah ich Hunde und Bauern auf einem Feld
hypnotisiert dem Geisterzug nachstarren, voller Respekt, und nicht ohne ein wenig Angst. Wo er denn hinführe,
und warum, und ob es dort, wo er herkommt denn an etwas mangele, dass man überhaupt fahren müsse?
Die Reise von Ost nach West war für mich ein gewaltiges Erlebnis. Aufgemacht hatte ich mich, um zu sehen,
was dort anders ist, dort, wo das Gras grüner ist, und wo die Marienkäfer mehr Punkte haben. Ich konnte mich
an simplen Gehsteigen nicht sattsehen. Und an der unverschämten Lässigkeit, mit der Berliner Wohnungen
eingerichtet waren, und die so anders war als unsere polnischen Schrankwände und Ausziehsofas.
Das Nicht-Anschließen von Fahrrädern auf der Straße. Alles, was in meiner Vorstellung schmutzig sein sollte, war
hier so gestylt, und so gar nicht organisch unsauber. Überall war ich gern gesehen. Alle wollten mir helfen. Es gab
niemanden, der mit mir schimpfte. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen.
Berlin. Irgendwie denkt man in dieser Stadt mehr darüber nach, was mit Europa so los ist. Punks stehen auf
Bahnhöfen herum, wie Denkmäler eines ehemaligen Systems, eines ehemaligen Bestrebens, böse Mächte zu
stürzen. Mit irrsinniger Klarheit sieht man hier, dass die Menschen damals anders gewesen sein müssen, als die
Realität noch so war, dass man die Grenze nur in einem Koffer / einem Lautsprecher / einem selbstgebauten
Ballon / in der Attrappe einer Kuh, oder mit einer Kinderbadewanne einen Tunnel grabend, überschreiten konnte
– anders als jemand, der 1988 geboren ist. Das ist logisch, und unfassbar zugleich. Hier habe ich verstanden, dass
ich nichts verstehe. Was mir fern und grotesk vorkommt, ist hier tatsächlich geschehen. Und die, die es erlebt
haben, können nicht wissen, wie es ist, es nie erlebt zu haben. So einfach ist das. So wie ich mit dem Norweger
und der Dänin, mit denen ich zusammen wohne, nur oberflächlich über den Krieg, und wer damals im Recht
war, reden kann. Weil sie die Zeit, und die damit verbundenen Gefühle, nie erlebt haben – nicht einmal fern
nachempfinden können, wie sie es könnten, wenn ihre Großeltern ihnen davon erzählt hätten. Und das muss man
akzeptieren. Wir wissen sehr wenig übereinander. Weil Polen nicht nur Diebe sind, und Schweden nicht nur
übersättigte, einsame Westler. Und es liegen noch Jahre voller harter Denkarbeit vor uns, um uns das ganz und
gar bewusst zu machen.
Die Nominierten
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Anna Wakulik
Wenn man in die Fremde geht, wird einem vieles klarer. Man wird gewahr, dass der Wunsch nach Integration
Hand in Hand geht mit der Tendenz zu Separation. Wenn ich gefragt werde, ob wir in Polen ein Visum brauchen,
um ins Ausland reisen dürfen, ob das Wetter bei uns genauso ist wie hier, und ob wir in einer anderen Zeitzone
leben, dann denke ich, dass es letztendlich doch zwei Europas gibt. Und dass ich aus dem anderen komme, dem
schlechteren Europa, wo ich groß geworden bin. Wo mir ein unverwischbares Zeichen aufgeprägt worden ist.
Mit einem großen „E“ auf der Stirn, das mir eingebrannt wurde, bin ich getauft worden, „E“ wie East. Darum
kommt es mir manchmal so vor, als ob der Westen den Osten gar nicht will, als ob er uns wie eine ungewollte
Schwangerschaft abtreibt. Nur dass dieser Fötus schon halb entwickelt ist. Darum fühle ich mich schuldig,
wenn ich mir bei Starbucks einen Kaffee für vier Euro hole, und daran denken muss, dass meine Oma nicht
mehr für ihre gesamten Tageseinkäufe zur Verfügung hat. Darum habe ich beim dämlichen H&M jedes Mal ein
schlechtes Gewissen, wenn ich darüber nachdenke, dass die arme Frau, die dort arbeitet, die Kleider weghängen
muss, die ich anprobiert habe. Darum tat es mir so um das wunderschöne Geschenkpapier leid, in das meine
deutschen Freunde Geschenke für mich eingewickelt hatten – ich wollte es behalten, um es später noch einmal
hervorzuholen, oder in Zeiten der Krise etwas anderes damit einzupacken. Darum hat sich eine Russin in der
U-Bahn den ganzen Weg vom Alexanderplatz bis zum Kurfürstendamm mit Worten und Blicken bei mir dafür
entschuldigt, dass sie mir auf den Fuß getreten ist (ja, auch im Blick kann man die Westlichkeit oder Östlichkeit
erkennen). Als ob ich sie dafür in ihre Heimat deportieren würde. Und darum habe ich auch jedes Mal den Drang,
mich unterwürfig zu bedanken, wenn ich Rad fahre, und mich jemand an der Ampel vorlässt – schließlich sind
wir Radfahrer im Osten doch der Volksfeind, von Fußgängern und Autofahrern gleichermaßen gehasst – und
wissen es. Daher sehe ich mich auch jedes Mal zunächst um, ob nicht jemand anders gemeint sein kann. Darum
dachte ich im Olympia-Stadion, es wäre doch ein geeignetes Bühnenbild für meine Alpträume, die furchtbare
Umsetzung eines bösen Traums voller schrecklicher Macht – dennoch fühle ich mich in der Architektur der
DDR einfach mehr zu Hause: Der elende Löwenzahn Lichtenbergs, hier und da ein Gänseblümchen, angebliche
Natur, aber zu Gruppen komponiert wie Wohnblocks. Die Karl-Marx-Straße genau wie die Nowa Huta oder
der Danziger Stadtteil Zaspa. Süße Heimat meiner Kindheit. Für mich immer vertrauter als die schwedische
Ruhe der Krummen Lanke, wo ich mir immer vorstellen muss, ich sei eine deutsche Doktorengattin, die einfach
so in der Bergmannstraße herumspazieren darf, dort, oder in Rybackie Kapelusze. An etwas anderes lässt sich
dort inmitten von erblühenden Magnolien einfach nicht denken. Kein einziger Hund bellt dort, denn wozu auch.
Worum sollte man sich schon streiten. Worum kämpfen.
Es gibt zwei Europas, und beide bilden eine angespannte Einheit. Beide haben Irrtümer begangen – das eine, auf
der rechten Seite, hatte gedacht, dass es nach dem Mauerfall alles auf einmal bekommen würde, woran es ihm
jahrelang gemangelt hatte – Wohlstand, und die Freiheit, zu reisen wohin man will. Und das andere, auf der
linken Seite, hatte angenommen, dass nach dem Dahinscheiden des alten Systems sofort die Erleuchtung der
Demokratie einziehen würde. Doch so ist es nicht. Ein halbes Jahrhundert der Kommune hat gewaltige Trümmer
hinterlassen, und es wird ein umfangreicher Prozess notwendig sein, sie zu beseitigen. Osteuropa ist immer
noch dabei zu trauern. Es betrauert, was gewesen ist, und auch die eigene Unfähigkeit, die Erscheinung, die am
Horizont aufgetaucht ist, am Schopfe zu packen. Wenn ich an Osteuropa denke, sehe ich unwillkürlich Mädchen
in der Straßenbahn an der Landsberger Allee, die mit ihren rosanen mp3-Playern verkabelt sind, und daneben ein
Großmütterchen in rosa Calvin Klein Jeans, das sich liebevoll an seine Gehhilfe klammert, und versucht, aus der
vollen Straßenbahn herauszukommen. Wohlstand und Zersetzung haben die gleiche Farbe.
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Die Nominierten
Ich bin zwanzig Jahre alt, und ich spüre, wie sehr der Druck der Geschichte auf mir lastet. Lange schon ist mir
das angenehme Bewusstsein abhanden gekommen, dass alle rückständig sind, indem sie nur im Bewusstsein,
und der Kultur ihres jeweiligen Landes leben, und dass nur ich allein, erleuchtet und modern, mich über alle
Grenzen erhebe, indem ich mich jederzeit auf Englisch zum nächsten Starbucks durchfragen kann. Ich komme aus
Osteuropa, und fühle mich aufgespannt, zwischen dem kalten Norden, und dem heißen Süden, dem Osten, den
ich nie gesehen habe, und dem manchmal langweiligen Westen. Als ich nach Berlin kam, hatte ich ein ordentliches
Paket voller Ressentiments und dickbauchiger Stereotypen im Gepäck. Dass ich inmitten Hunderter anderer
nationaler Probleme und ernsthafter Kriege steckte, für die es in den Nachrichten nur keinen Platz gibt: Welches
Problem könnte für einen Serben in Berlin schon größer sein, als die Schlacht in Kosovo Pole von 1389? Keins.
Was könnte für Alice aus Frankreich schon wichtiger sein, als dass man in Lille ihre Lieblingsgalerie geschlossen
hat? Nichts. Was könnte für mich von größerer Bedeutung sein, als dass in Danzig die Nachtbusse nicht mit der
Stadtbahn synchronisiert sind? Gar nichts. Aber heute wünsche ich mir, dass sich in einigen Jahren alle Polen über
den Festzug der Kavallerie am elften November (am polnischen Unabhängigkeitstag) genauso werden wundern
können, wie meine deutsche Freundin Johanna, die dazu meinte, „lustig, bei uns ging es an dem Tag um Hitler.” Ich
wünsche mir, dass ich irgendwann aufhören kann, mein polnisches gerolltes „R“ zu hassen, das ich einfach nicht als
Kehllaut aussprechen kann, wie es sich gehört – und auch die Umlaute, die sich bei mir immer künstlich anhören.
Ich wünsche dem Osten, dass jeder dort eine Chance bekommt.
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Emotionen abgeflaut, und Enttäuschung ist zurückgeblieben.
Jetzt müsste man auch die Mauern in den Köpfen abtragen. Jeder Einzelne müsste sich in Bewegung setzen, aktiv
werden. Ich selbst bin dabei, einige Reste von Schutt und Staub wegzuräumen, indem ich, hier in Berlin, mit
Deutschen, Italienern, Serben, Holländern, Israelis und Türken an einem Tisch sitze. Voller Leidenschaft fahre
ich in der Bahn der Internationalität mit (der Westbahn), auf den Gleisen der Mentalitäten, und lausche aus deren
Lautsprechern Ansagen, die mir wie Metaphern für die Situation Europas vorkommen: Wir sind noch nicht an
der „Endstation“ angekommen, „Dieser Zug endet hier” noch nicht, denn dafür ist es noch zu früh. Doch heißt
es auch nicht mehr „Einsteigen bitte” – denn inzwischen ist es wahnsinnig voll geworden. Manchmal, wenn ich
verärgert bin, scheint mir „Bitte alle aussteigen” nicht ganz fehl am Platze. Am passendsten bleibt für mich jedoch:
„Bitte beachten Sie die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante” – die Lücke voller Leute, die sich weder für die
eine, noch für die andere Seite entscheiden können. Was kein Vorwurf sein soll – sie haben sich einfach noch nicht
positionieren können.
Vielleicht ist es einfach dummer Optimismus, aber ich denke, dass Europa dabei ist, sich zu ändern. Europa öffnet
sich – trotz allem – es rast auf seinen Schienen nur so dahin. Dass ich, eine Polin aus einer Arbeiterfamilie, mitten
im Hochsommer auf meinem Fahrrad der Marke DIAMANT von Westen nach Osten, und dann zurück von
Osten nach Westen fahren kann, ohne Reisepass, ohne Visum, und doch legal – ist für mich der beste Beweis
dafür. Ich hoffe, dass ich, erst mit der Bahn, und dann auf meinem quietschenden Drahtesel, schon bald Polen
erreiche, um dort zu zeigen, wie wenig ich verloren, und wie viel ich gewonnen habe, unter dem Himmel über
Berlin.
Die Nominierten
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Agnieszka Hreczuk
3. Preis der Jury
Agnieszka Hreczuk, sie wurde 1975 in Gdynia geboren, wuchs in
Warschau auf. Dort schloss sie auch das Studium der Internationalen Beziehungen an der Universität Warschau ab. Außerdem studierte sie in Helsinki, Stockholm, Bonn und Berlin. Bevor sie als Journalistin anfing, hatte
sie als Dozentin an der Universität gearbeitet und war als interkulturelle
Trainerin tätig gewesen. Seit 2005 arbeitet sie freiberuflich für polnische
und deutschsprachige Medien, u.a. Tagesspiegel, Przegląd und Polityka.
Zusammen kann man mehr
Die einen hatten Riesenangst und sagten Nein. Die anderen Riesenhoffnungen und sagten Ja. Zwei Dörfer in Polen,
zwei Gegensätze. So war das 2003 bei der EU-Abstimmung. Sechs Jahre später sind die diametralen Unterschiede
verwischt. Wie das vereinte Europa das Denken, den Alltag und das Geld im Portemonnaie verändert
Sie haben schon wieder einen Rekord aufgestellt. Diesmal im Beantragen von Subventionen. Und dabei standen
sie dem Ganzen noch vor einiger Zeit sehr ablehnend gegenüber, waren ausgerechnet auch darin Rekordhalter:
im Nein-Sagen. Zu jenem Staatenbund, von dem sie annahmen, er sei vor allem eine Maschine, dazu da, diese
Subventionen zu verteilen. Zur Europäischen Union.
Und nun das. Mittlerweile beantragen mehr als 99 Prozent der Godziszower Bauern regelmäßig EU-Geld, so
viele wie in keiner anderen Gemeinde in der Wojewodschaft Lublin. Es hat ein paar Jahre gedauert, doch nun tun
dies auch die Älteren, die lange Zeit Angst davor hatten, als Gegenleistung dafür ihr Land an die EU abgeben
zu müssen. So erzählt es ein Behördenmitarbeiter, der den Bauern beim Ausfüllen der Subventionsanträge hilft.
Und der Pfarrer sagt, viele Bauern hätten ihn gefragt: „Wie sollen wir denn Geld beantragen, wenn wir damals
gegen die EU gewesen sind?“ Er habe dann stets geantwortet: „Polen ist aber nun einmal in der EU, egal, ob ihr
damals dafür oder dagegen gewesen seid. Und sie wird auch von polnischem Steuergeld finanziert, also holt euch,
was euch zusteht.“
Damals. Als vor sechs Jahren, am 9. Juni 2003 beim Referendum über Polens EU-Beitritt, im ostpolnischen
Godziszow 88 Prozent Nein ankreuzten. Nirgendwo in Polen – dem Land, in dem am 4. Juni vor 20 Jahren die
ersten freien Wahlen seit Kriegsende abgehalten wurden, das seit fünf Jahren Mitglied der Europäischen Union
ist, dessen volljährige Bürger an diesem Sonntag also über das Parlament dieser Union abstimmen – war die
Ablehnung größer. Möglicherweise gab es auch nirgendwo im Land so viel Unwissenheit wie hier – 100 Kilometer
von der Grenze zur Ukraine entfernt.
Die Unwissenheit nimmt von Jahr zu Jahr ab. Der Glaube, die EU sei wenig mehr als eine Zahlmaschine, offenbar
auch.
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Die Nominierten
Am anderen Ende des Landes, im westpolnischen Gozdnica, gab es diesen Glauben nie. Zumindest nicht bei denen,
die die Stadt regieren, den Leuten im Rathaus. Sehr selten nur soll sich die Stadt um EU-Zuschüsse beworben
haben. Gozdnica ist also, wenn man so will, der Gegenpart zu Godziszow: Die Stadt war es auch damals im Juni
2003: 95 Prozent der Abstimmungsteilnehmer stimmten für den EU-Beitritt, auch das war polnischer Rekord.
Die Straßen im EU-enthusiastischen Gozdnica sind leer und ruhig. An ihnen stehen verfallene und verfallende
Häuser, dazwischen einzelne Farbtupfer: das frisch renovierte Kulturzentrum, eine Kirche, die Feuerwache, das
Gemeindeamt und – mintgrün – die Grundschule. Das Geld dafür habe die Schule aus Warschau bekommen,
als Anerkennung für das EU-Referendumsergebnis, erzählt man in der Stadt. Ansonsten hat sich im Vergleich
zu 2004 – dem Jahr des EU-Beitritts – wenig getan. Doch im Moment ist es anders, sagt der Bürgermeister. Ein
Klärwerk wird gebaut, mit Geld aus Europa, sieben Millionen Zloty, fast so viel, wie der Kommune im jährlichen
Haushalt zur Verfügung steht. „Und es wird noch besser werden“, sagt er.
Auch im ostpolnischen Godziszow haben sie heute eine renovierte Schule, in Rosa. „Aber alles finanziert aus
eigenen Mitteln“, sagt der Schulleiter. Denn die Gelder von der EU sind spärlich geflossen. Immer wieder haben sie
Anträge gestellt. Die Straße wollten sie mit EU-Mitteln machen, eine Sporthalle bauen. Alles aber hat die EU auf
die Warteliste gesetzt – aus Rache für das Ergebnis des Referendums, dachte der Gemeindevorsteher lange. Doch
dann kam ihm die Erkenntnis: Die EU ist eben nicht so reich, dass sie alles sofort bezahlen kann.
„Die EU war für uns eine Chance“, sagt der Bürgermeister des anderen Orts, der von Gozdnica. Er heißt Zdzislaw
Plaziak und hat damals mit Ja gestimmt. Es war die Zeit, als Gozdnica dabei war, unterzugehen. 4000 Einwohner,
acht Kilometer Luftlinie bis zur deutsch-polnischen Grenze. In Berlin ist man schneller als in Warschau. Ein
Rabe ist das Wappenzeichen der Stadt, Schornsteine würden besser passen. Denn sie sind überall. Als Gozdnica
noch Freiwaldau hieß, entstand hier die erste Dachziegelfabrik. Die Ziegel aus Freiwaldau steckten im Leipziger
Hauptbahnhof und in einer Kirche auf dem Jerusalemer Ölberg. Fast 200 Jahre lang ließ die Baukeramikindustrie
die Gemeinde wachsen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kamen die Globalisierung und der Abstieg,
heute zieht durch die meisten Fabriken nur noch der Wind. „Gozdnica hat eine Rettung gebraucht“, sagt Plaziak.
Die Nominierten
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Agnieszka Hreczuk
„Wir nicht“, sagt Andrzej Olech, der Gemeindevorsteher im ostpolnischen Godziszow. Godziszow, ebenfalls
4000 Einwohner, ist Teil der sogenannten „Ostwand“. Das bedeutet: Armut, Rückständigkeit und Provinzialität.
Absteigen konnte hier kaum einer mehr. Aber skeptisch sein gegenüber Versprechungen. Menschen, die ganz
unten sind, bekommen häufig versprochen, dass es bald aufwärts gehen würde.
Der Pfarrer sagt: „Als unsere Leute aus den Medien ständig mit Hurra-Optimismus über den EU-Beitritt
konfrontiert wurden, sind sie eben misstrauisch geworden. Denn ein Bauer weiß, so gut wie das, was da beschrieben
wurde, so gut kann es niemals werden.“ Der Pfarrer lebt seit elf Jahren hier, er kennt seine Leute. „Niemand hat sie
darüber aufgeklärt, was die Union ist.“
Das ablehnende Referendumsergebnis überraschte deshalb kaum jemanden, auch Bürgermeister Olech
nicht, er war nur ein wenig erstaunt über dessen Eindeutigkeit. Schockiert aber war er dann doch, als die
Medienberichterstattung über Godziszow losging. „Wir wurden als zurückgeblieben dargestellt, als blöde Bauern,
die keine Ahnung haben.“ Olech ist immer noch verärgert.
Damals, beim Referendum, machte es den Anschein, als würde Politik Naturgesetzen unterliegen, physikalischen.
Als würde die Anziehungskraft einer politischen Idee schwächer, je weiter man sich von dort entfernt, wo sie
praktiziert wird. Stück für Stück, mit jedem Kilometer ostwärts.
Henryk Bres, Bauer und Bienenzüchter aus Godziszow, war einer von den vielen, die 2003 Nein angekreuzt
haben. Er ist heute 55, lebt in demselben Haus, in dem seine Familie schon seit Generationen wohnt. Er hat es
ausgebaut und neu verputzt, das Auto steht in der Garage, der Traktor vorm Stall, dahinter stehen 130 bunte
Bienenstöcke.
„Ich war nicht gegen die EU“, sagt Bres. Die europäische Integration finde er sogar gut. „Zusammen kann man ja
mehr.“ Auch hatte er keine Angst vor den strengen EU-Landwirtschaftsstandards. Die habe er längst schon selbst
eingeführt. Nein sagte er deshalb, weil die polnische Regierung seiner Meinung nach schlechte Bedingungen
für den Beitritt ausgehandelt hatte, ungerechte. „Zuschüsse bekommen wir nur halb so viele wie die Bauern im
Westen. Doch unsere Kosten sind die gleichen.“
Beitritt ihres Landes einen Bewusstseinswandel durchlebt haben. Man vergleicht sein eigenes Leben nicht mehr
mit dem der Eltern oder dem der Leute im armen Nachbarland Ukraine, sondern mit dem im Westen, in der alten
EU. Die Ansprüche folgen den Verheißungen, und seien diese Verheißungen auch noch so vage.
Im westpolnischen Gozdnica hat Maciej Rosner Angst vor der EU gehabt. Er war einer der sehr wenigen in seiner
Stadt, die Nein gesagt haben. Ein seltener Fall also. Noch seltener ist, dass er es heute zugibt. Der 37-jährige
Unternehmer hatte befürchtet, dass Polen in der Union nicht gleichberechtigt behandelt werde, bei Abstimmungen
zum Beispiel. „Eine Wissenslücke“, sagt er. Bis 2004 lag Gozdnica am Rand, im Grenzland, und „auf einmal stellte
sich heraus, dass wir eine super strategische Lage haben.“ Denn die Nähe zu Tschechien und Deutschland hat für
ihn einen enormen Vorteil. Die Hälfte seiner Produktion, es sind Truthähne und deren Fleisch, schickt Rosner ins
Ausland, das meiste davon nach Deutschland. Über eine Grenze, die nun keine mehr ist.
2003 hat er die ersten Gelder aus dem sogenannten Strukturfonds beantragt, für Anpassung an die neuen Normen.
Danach noch zwei Mal, wieder erfolgreich. Er investierte, kaufte neue Maschinen, Gebäude, Land. 80 Leute hat er
eingestellt, sein Familienbetrieb arbeitet auf Hochtouren. Maciej Rosner ist heute ein EU-Optimist.
Die Erfolgsgeschichte von Rosner ist in Gozdnica jedoch eine Ausnahme. Denn die Gozdnicer EU-Optimisten
profitieren überraschend wenig von der Osterweiterung. Finanziell jedenfalls. „Viele haben erwartet, dass Investoren
zu uns hinziehen und neue Arbeitsplätze schaffen“, sagt Bürgermeister Plaziak. Daraus wurde nichts. Schlechte
Infrastruktur, schlechte Straßen und Bahnverbindungen ermutigen nicht dazu. Die Arbeitslosigkeit wuchs auf 40
Prozent. Jobs gibt es nur bei den Behörden, in den Schulen und in der mittlerweile einzigen Baukeramikfabrik.
Trotzdem profitieren die Bewohner. Weil die Arbeit nicht zu ihnen kam, suchten sie im Ausland. Nach der
Osterweiterung noch massiver als zuvor schon, sie gehen nach Irland, Großbritannien, Belgien, seltener nach
Deutschland. Deshalb ist die Akzeptanz für die EU in Gozdnica immer noch hoch. Nicht so hoch wie einst –
besonders deshalb, weil es viele der Enthusiasten waren, die auswanderten –, doch „über die Hälfte ist es auf jeden
Fall“, sagt Plaziak.
Von 95 Prozent herunter auf 50 plus, das ist viel. Politische Naturgesetze können also auch außer Kraft treten, mit
der Zeit und all dem, was sie mit sich bringt.
Die EU. Die, die das Geld geben. Die Bauern im Westen. Die anderen.
Auf diese Sichtweise, die Reduzierung einer Staatengemeinschaft auf die Rolle des Geldhervorzauberers, stößt
man hier immer wieder. Und vielleicht ist das ja noch nicht einmal falsch, schließlich sollen die Lebensverhältnisse
in EU-Europa einander angeglichen werden, und das heißt eben für die Reichen: Geld überweisen an die Armen.
„Die Europa-Gegner sind weniger geworden“, sagt Gemeindevorsteher Olech, „aber es sind immer noch mehr als
50 Prozent.“ Immer noch die Mehrheit. Bienenzüchter Bres gehört dazu. „So wie wir in der EU behandelt werden,
wie ein armer Verwandter, so gefällt mir das nicht.“ Heute würde er wieder mit Nein votieren.
Man könnte jetzt sagen, dies sei Undank oder Anmaßung, immerhin ist ein halb so großer Zuschuss wie der für
einen Bauern im Westen immer noch besser als gar keiner. Aber vielleicht ist es ja so, dass viele Polen mit dem EU-
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Die Nominierten
Die neue EU-Freizügigkeit bringt unter anderem mit sich: die „EU-Waisen“, Kinder, die dageblieben sind, deren
Eltern aber im Ausland arbeiten. Von 130 Oberschülern in Gozdnica sind 40 von nur einem Elternteil, viele sogar
von anderen Familienmitgliedern großgezogen worden.
Ewa aus der Gozdnicer Oberschule wird ihrem Vater bald folgen. Er arbeitet in Belgien. Dort will sie erst einmal
weiter zur Schule gehen. Grenzen sind ihr und ihren Mitschülern offensichtlich fremd. „Nach Dresden können sie
genauso einfach fahren wie nach Breslau“, sagt Emilia Osinska, ihre Lehrerin. „Jetzt denken sie häufiger regional
als national. Und Cottbus oder Dresden gehören eher zur Region als Warschau.“ Irmina, Ewa und Lukasz waren
neun, als ihre Eltern über Polens EU-Beitritt entschieden haben. Auf das Ergebnis von damals sind sie stolz. „Wir
haben damit gezeigt, dass Gozdnicer klug und modern sind“, sagen sie. Lukasz will nach dem Abitur eine Firma
gründen, mithilfe von EU-Zuschüssen, das weiß er schon. Was für eine Firma es sein soll, weiß er noch nicht.
Die Nominierten
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Yaryna Borenko
Yaryna Borenko, geb. 1976, lebt in Lviv, Ukraine, arbeitet im Verein
„Europäischer Dialog“ als Projektleiterin. Seit 1995 in der Medienarbeit
aktiv, erst im Bereich der Jugendmedien, später als Mitglied des Redaktionsteams in Unabhängiger Kulturzeitschrift «Ï», Kuratorin des Heftes
„Generationen und Jugendsubkulturen“ (2001-2002). Autorin der Wochenberichte bei Kommentare/Feuilleton in der Tageszeitung Lvivska
Gazeta (2002-2006). Seit 2007 arbeitet sie mit der Agentur Zaxid.net und
Western Analytical Group als freie Autorin zusammen. Sie studierte Internationale Politik an der Universität Lviv und Politikwissenschaft an der
Freien Universität Berlin.
Fünfundachtzig Millimeter
„Nach 1989 ist Čierna leer geworden. Das Leben ist hier wie im benachbarten Zakarpatia eintönig,
hinterwäldlerisch und kriminalisiert durch einen der beliebten Wege für illegale Migration und
Schmuggel."
Zur Information
Čierna liegt über Tissa. In Wikipedia gibt es hierüber Erwähnungen in 15 Sprachen. Die Hauptinformation: das
ist die niedrigste Stätte in der Slowakei. Eisenbahn und Bahnhof; 1968, „ Prager Frühling“, Zusammentreffen von
sowjetischen und tschechoslowakischen Oberhäuptern. Zwei Freunde, der Slowake Mirko und der Ungar Miko
sagen, dass eben an dieser Stelle die Panzer umgeladen wurden, die nach Ungarn transportiert wurden.
Sicherheitspolitik
Abends ist der Bahnhof leer. Der letzte Zug nach Košice ist bereits abgefahren. Die Bierstuben und Geschäfte
werden geschlossen, alle bis auf eine „Stelle“ neben dem Bahnhof. Im Saal sind drei Polizisten und eine Kassiererin.
Man weiß nicht durch welches Wunder, aber in der Saalmitte steht eine Palme. An der Wand hängt ein politisches
Plakat. Darauf wirbt ein slowakischer Soldat dafür, dass die Aufnahme der Slowakei in die NATO dem Lande
viel Positives bringt.
Das einzige, was noch aussteht und was noch zu tun ist: die Bildung einer Berufsarmee.
„Jetzt haben wir den Euro und vorher sind wir in die EU aufgenommen worden, und davor in die NATO. Sie
müssen genauso handeln, denn wir möchten Sie in der EU sehen.“ Mirko und Miko, zwei Freunde aus dem
slowakischen Ort an der Grenze der Slowakei zu Ungarn und zur Ukraine, geben die letzten Cents für Bier
aus.“ Wir sind immerhin Slawen … Türken und Kosovaren, da sind wir gegen sie. Sie wissen doch, wir haben Sie
während der Orangenrevolution unterstützt … Ich verstehe, dass wenn die Grenze zur Ukraine offen sein wird,
dann könnte ich meine Arbeit verlieren. Aber wie dem auch sei, das soll passieren, nicht wahr?“ Und wirklich, die
Slawen sind jetzt in der EU, und hier vor dem Hintergrund von Depression und dem Gefühl, man sei am Ende der
Zivilisation, findet sich jemand, der eine slawische Solidarität kundtut. Darüber, dass die Russen ebenfalls Slawen
sind, denkt Mirko nicht nach.
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Die Nominierten
System
Das Leben der 40-jährigen Eisenbahner ist klar und deutlich in zwei Teile geteilt: das Leben im Sozialismus und
danach. Nicht so wie bei uns: vor der Unabhängigkeit und nach der Unabhängigkeit. Von Čierna nach Westen
sind lediglich acht Kilometer, und dort leben Menschen, für die das Jahr 1989 kein Symbol ist, sie grübeln nicht
darüber nach, in welchem System sie leben. „Sozialismus – das ist, wenn der Staat alles hat. Bei uns bei der
Eisenbahn stellt der Direktor die Leute aus dem eigenen Dorf ein, daher haben wir in der Stadt ein Haufen
Arbeitslose. Der vorherige Direktor war aus Čierna, dann hatten mehr Leute aus Čierna hier gearbeitet … Das
alles muss privatisiert werden, dann werden nur die Leute eingestellt, die eine bessere Leistung bringen, unabhängig
davon, aus welchem Dorf.“ „ Und was kann man hier nach dem Feierabend unternehmen?“ „Trinken. Hier trinken
alle.“ „Und was tun die Arbeitslosen?“ –„Die trinken nur noch.“ So mancher arbeitet noch in Košice, andere haben
sich schon längst nach Westen abgesetzt.
Geografie
Nach 1989 ist Čierna menschenleer geworden. Das Leben ist hier wie im benachbarten Zakarpatia eintönig,
hinterwäldlerisch und kriminalisiert durch einen der beliebten Wege für illegale Migration und Schmuggel.
Irgendwann früher wurde der Güterbahnhof in Čierna über Tissa extra für den Import von sowjetischen und
fernöstlichen Waren nach Europa gebaut- zuerst gab es viel Erz und Zisternen mit Erdöl. Später kamen Autos,
Baustoffe, Lebensmittel und vieles andere mehr. Was hat man hier nicht alles transportiert. Heute passieren
wie auch früher die Waggons mit Erz und Metallen aus der Ukraine, Russland und Mittelasien (mit Hilfe von
Frachtbriefen kann man ziemlich gut die Geografie studieren) die europäischen Eisenbahnlinien und gehen weiter
in die EU. Es sind nur weniger Waggons geworden, es werden vorwiegend Rohstoffe transportiert.
Ökonomie
Früher hing alles vom Unterschied in Höhe von 85 mm zwischen Breitspur und Normalspur der Gleise ab. In den
60er Jahren konnte der Bahnhof die sowjetischen Erze kaum umladen. Nun wurde beschlossen, die Breitspurgleise
bis zum metallurgischen Kombinat in Ganovce in der Nähe von Košice zu bauen, damit die Rohstoffe unmittelbar
zum Produktionsort geliefert werden können. Nun spielt dieses Gleis mit den Eisenbahnern ein böses Spiel.
Voriges Jahr haben die Slowakei, Russland und die Ukraine ein Abkommen unterzeichnet, die Breitspurgleise
Die Nominierten
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Yaryna Borenko
bis zur österreichischen Grenze zu bauen. Und später verkündete Österreich seinen politischen Willen, diese
Trasse bis nach Wien bauen zu wollen. Mirko hat Recht wenn wir kommen, dann ist er seine Arbeit los. Wir sind
allerdings schon so weit, und die EU hat damit nichts zu tun. Es bleibt nur noch Schmuggel, das ist aber auch kein
Zuckerlecken, es wird streng kontrolliert. Zwei Päckchen Zigaretten, ein halber Liter Gorilka (Wodka) und ein
Kanister Benzin fallen kaum ins Gewicht. Und mindestens 20 Grivna für kleine Schmiergelder viermal á fünf für
Miliz und Zoll. „Ja, so ist es, wir haben Korruption aber bei Ihnen ist es einfach schrecklich! Passieren fünf Grivna,
Parken fünf Grivna, Grenze passieren fünf Grivna, ausfahren schon wieder fünf Grivna,“ beschwert sich Miko,
und dann fällt ihm sofort etwas Positives ein „Für fünf Grivna kann man auch noch etwas kaufen.“ Eine kurze
Hose und ein T-shirt hat er auf dem Markt in Chop gekauft.
Grenze
Ein Zug nach Chop. Zwei grüne russische Wagen, von Žilina nach Moskau, und zwei blaue- nach Ungarn. Die
müssen in Košice stehen und warten, bis sie zur Weiterfahrt nach Ungarn angehängt werden. Aber Mirko erklärt
mit fachmännischer Miene die Situation: „Wir klauen einfach diese Waggons, wir haben zu wenig Waggons.
Wozu sollten sie in Košice nur herumstehen, sie fahren nach Čierna und nehmen Passagiere mit.“ Ungarische
Waggons werden abgehängt, anstelle dieser Waggons wird ein slowakischer Waggon herangezogen: schmutzigrot,
alt, abgefahren (man kann auch hier nirgends Zigaretten verstecken), aber dafür 1. Klasse. Von hier nach Chop
sind nur acht Kilometer, 37 Minuten, einschließlich Grenzkontrolle. Der erste Zug aus Chop Uzhgorod-Moskau
fährt um 4:37 ab. Bereits um 2:03 erscheinen grüne russische Waggons am Bahnsteig. Der Zug wird neu
zusammengestellt, die Waggons von Žilina werden auf die Breitspurgleise umgestellt, zu diesen werden andere
Waggons gestellt, die nach Chop über ungarisches Zagoń aus Thessaloniki, Venedig, Zagreb, Wien und Budapest
gekommen sind. Von hier nach Budapest sind nur 360 km, nach Wien 550 km, 800 km nach Kiev und 1700 km
nach Moskau.
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Die Nominierten
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Solveig Grothe
Solveig Grothe, Jahrgang 1975. Nach dem Abitur Volontariat bei der
„Altmark-Zeitung“, ab 1995 Redakteurin. Studium der Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Magdeburg. Ab 2004
Redakteurin bei „netzeitung.de“ mit Schwerpunkt Politik und Medien,
2006 Projektleiterin „Readers Edition“. Seit 2007 bei SPIEGEL Online,
Entwicklung des Zeitgeschichte-Projekts einestages. Seit Oktober 2007
Redakteurin bei einestages.
Hans Michael Kloth
Dr. Hans Michael Kloth, geboren 1964 in Hamburg, studierte nach
einer kaufmännischen Ausbildung Geschichte, Philosophie, Politik und
Ökonomie in Freiburg und Oxford. Er baute eine Website zur Vernetzung von DDR-Aufarbeitungsinitiativen auf und war Gutachter für zwei
Bundestags-Enquetekommissionen zur Deutschen Einheit. Für seine
Dissertation über die friedliche Revolution in der DDR erhielt er 2000
den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages. Seine Journalistenlaufbahn begann Mitte der Neunziger in Berlin als freier Autor für „Süddeutsche Zeitung“, „Berliner Zeitung“, „Tagesspiegel“ und den SPIEGEL.
Seit 1998 Politikredakteur beim SPIEGEL in Hamburg, seit März 2007
Entwicklung des Zeitgeschichte-Projekts einestages. Seit Oktober 2007
Ressortleiter einestages.
Bei Anruf Mauerfall
Kam der entscheidende Tipp aus der SED? Der Reporter Riccardo Ehrman, der am 9. November 1989 mit
einer Frage an Politbüromitglied Günter Schabowski den Mauerfall in Gang brachte, hat vorher einen Hinweis
bekommen. Den mysteriösen Anrufer will er nicht outen – es war ein Mann aus dem SED-Zentralkomitee.
Wer genau hinhörte, all die Jahre, der ahnte zumindest, dass Riccardo Ehrman noch nicht alles erzählt hatte. Ab
und zu erwähnte der italienische Journalist gegenüber Freunden, dass er als DDR-Korrespondent der italienischen
Nachrichtenagentur Ansa bei der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 nicht von ungefähr die
entscheidende Frage nach dem DDR-Reisegesetz gestellt hatte, jene Frage, die in den folgenden Stunden den
Sturm der Ostdeutschen auf die Berliner Mauer auslöste.
Ehrman galt seither als eine Art stiller Held und als „Maueröffner", 2008 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Jetzt kommt heraus: Es war wohl tatsächlich nicht die ganze Geschichte. Dem MDR erzählte Ehrman, er
habe vor der entscheidende Pressekonferenz am 9. November 1989 einen Tipp bekommen: „Die Frage nach
dem Reisegesetz, das war kein Zufall, ich bekam vorher einen mysteriösen Anruf aus dem ‚Unterseeboot', dem
Konferenzzimmer des ADN-Chefs. Ein mir bekannter Spitzenfunktionär der SED forderte mich auf, unbedingt
nach dem Reisegesetz zu fragen, das sei sehr wichtig."
Wenn das stimmt, stellt sich die Geschichte des Mauerfalls möglicherweise etwas anders dar, als bisher bekannt.
Für die Öffentlichkeit galt der letzte Anstoß zum Fall der Berliner Mauer lange als überraschender Zufall während
einer denkwürdigen Pressekonferenz. Aber womöglich war Ehrman mit seiner berühmt gewordenen Frage nur ein
Rädchen in einem größeren Spiel, und die SED nicht gar so gelähmt, wie sie zu diesem Zeitpunkt wirkte.
Signal zum Aufbruch
wollte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, der den Pressevertretern Rede und Antwort stand, die neue
Reiseregelung am Ende der Pressekonferenz verlesen. Die Veranstaltung war fast beendet, als Ehrman seine Frage
stellte: „War der Reisegesetzentwurf vor ein paar Tagen nicht ein Fehler?" Routiniert spulte Schabowski seine
minutenlange Antwort herunter, bevor die entscheidenden Worte fielen: „... haben wir uns dazu entschlossen,
heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergänge der DDR
auszureisen."
Ehrman und seine Journalistenkollegen hakten nach, wollten Genaues wissen. Also ergänzte Schabowski: "Privatreisen nach dem Ausland können beantragt werden ... Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen
der DDR zur BRD erfolgen ... sofort." Für Tausende DDR-Bürger war Schabowskis gestammelte Antwort das
Signal zum Aufbruch, über Nacht wurde die innerdeutsche Grenze Geschichte, weil Tausende DDR-Bürger
aufgrund der Sensationsnachricht an die Übergänge strömten und ihre sofortige Öffnung verlangten.
Wer aber war Ehrmans geheimnisvolle Tippgeber? Und handelte er aus Eigeninitiative oder in höherem Auftrag?
Im MDR-Interview wollte Ehrman den Namen seines Informanten nicht nennen, und auch auf Nachfrage von
SPIEGEL ONLINE hielt sich der heute 79-Jährige bedeckt. Im kleinen Kreis jedoch hat Ehrmann die Geschichte,
die jetzt Wellen schlägt, bereits mehrfach erzählt, und dort auch den Namen seines Hinweisgebers genannt. Nach
Informationen von SPIEGEL ONLINE aus dem engeren Umfeld des Journalisten kam der Anruf Ehrman
zufolge von keinem Geringeren als Günter Pötschke, dem Generaldirektor der DDR-Nachrichtenagentur ADN.
Der italienische Journalist solle unbedingt nach dem Reisegesetz fragen, habe Pötschke insistiert. Nach der
Veröffentlichung von Pötschkes Namen durch SPIEGEL ONLINE bestätigt Ehrman der dpa jedoch, dass es sich
bei dem Anrufer um den AND-Chef gehandelt habe die Identität des anrufenden Namens. „Er sagte mir das von
Freund zu Freund", erklärte Ehrman.
Bisher stellte sich der Ablauf des historischen Abends so da: Die SED hatte für 18 Uhr zur Pressekonferenz
in das Ost-Berliner Pressezentrum eingeladen, parallel lief im SED-Zentralkomitee noch die Beratung über
das neue Reisegesetz. Zwei Tage zuvor war die alte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph
nach Massenprotesten gegen einen ersten Reisegesetzentwurf geschlossen zurückgetreten. Laut Spickzettel
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Die Nominierten
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Solveig Grothe
Hans Michael Kloth
Der große Unbekannte
Pötschke, 1929 in Halle geboren, arbeitete bereits seit 1949 bei ADN, war Sonderkorrespondent bei wichtigen
internationalen Ereignissen und berichtete Ende der fünfziger Jahre auch über politische Prozesse in der DDR.
1960 stieg Pötschke zum stellvertretenden Generaldirektor der ADN auf, bevor er 1966 in das Sekretariat des
SED-Zentralkomitees wechselte, zunächst als stellvertretender Leiter der Westabteilung, ab 1974 der Abteilung
für Agitation und Propaganda. 1977 wurde er Generaldirektor des ADN. Sein Spitzname bei den schreibenden
Kollegen war „Pöcasso" -weil Pötschke ihre Texte oft so sehr zusammenstrich und umbaute, dass der Anteil des
Autors höchstens noch abstrakt vorhanden war.
Auch Pötschkes politische Laufbahn verlief ungebremst: 1986 wurde er Mitglied des ZK der SED und Mitglied
der Agitationskommission beim SED-Politbüro – eine DDR-Bilderbuchkarriere, die erst am 1. April 1990 mit
seiner Abberufung endete. Es habe nicht den Mut gehabt, „sich der Parteidisziplin und der Staatsdisziplin, die
pervertiert worden war, zu entziehen", bekannte er im Rückblick. Zur Aufklärung der Mauerfall-Rätsels kann
Pötschke nicht mehr beitragen: Er starb im September 2006, ohne sich je öffentlich zu den Vorgängen am 9.
November 1989 geäußert zu haben.
Dies könnte dafür sprechen, dass die Genossen von der staatstragenden DDR-Presseagentur auf die Nachricht
vorbereitet waren, wäre sie überraschend gekommen, hätten sich die Verantwortlichen sicher noch einmal beim
Politbüro rückversichert, bevor sie so eine grundstürzende Meldung verbreiteten.
Bleibt die Frage, wem diese Durchstecherei, sollte sie sich so abgespielt haben, nützen sollte. Hat sie ihren
Ursprung bei SED-Generalsekretär Egon Krenz selbst, der den Parteiapparat noch einmal nutzte, um die
Neuigkeit möglichst effektiv in der Öffentlichkeit zu lancieren? Jedenfalls hat Krenz es später so dargestellt,
dass er vor der Pressekonferenz Schabowski das entscheidende Papier mit den Worten übergeben habe, dies sei
„eine Weltnachricht". Andererseits versuchte Krenz zu diesem Zeitpunkt noch verzweifelt, für die Öffnung des
„Antifaschistischen Schutzwalls" von der Bundesregierung Wirtschaftshilfe in Milliardenhöhe einzufordern, gab
er sein letztes Verhandlungspfund wirklich freiwillig aus der Hand? Oder gab es in der obersten SED-Spitze
Kräfte, die an Krenz vorbei das Überdruckventil öffnen wollten? Es könnte das letzte Geheimnis um den Mauerfall
bleiben.
Ein weiteres Rätsel bleibt vorerst unaufgeklärt: Warum behielt Riccardo Ehrman dieses so wichtige Detail 20
Jahre lang für sich? Die Freundschaft der beiden Männer könnte eine Erklärung sein. Ehrman und Pötschke, der
in Italien geborene Sohn polnischer Juden aus Lemberg und der ostdeutsche Friseursohn und Funktionär, kannten
und verstanden sich gut. Beide waren Jahrgang 1929; sie kannten sich seit 1976, als Ehrman als Korrespondent
nach Ost-Berlin gekommen war.
Das letzte große Geheimnis?
Er wisse nicht, warum Pötschke damals ausgerechnet ihn angerufen habe, sagte Ehrman Vertrauten, und auch
nicht, ob sich der hohe SED-Mann im Klaren über die möglichen Folgen der Frage war. Oder ob diese Folgen
einkalkuliert, ja womöglich beabsichtigt waren. Wäre die Geschichte ohne diesen Anruf anders verlaufen?
Gegenüber SPIEGEL ONLINE sagte Ehrman, dass er die Frage ohnehin gestellt hätte. Die Reiseregelung sei
das große Thema der vorangegangenen Tage gewesen; er habe sich während der Pressekonferenz gewundert, dass
nach einer Stunde noch immer niemand danach gefragt habe. Ehrman verwahrt sich dagegen, er sei von der SED
gesteuert worden.
Wird Ehrmans neue Version durch sein langes Schweigen unglaubwürdig? Günter Schabowski nennt es gegenüber
der dpa „völlig absurd", dass die Frage bestellt gewesen sein soll: „Der italienische Journalist hat seine Frage nach
dem neuen Reisegesetz spontan gestellt." Kleine Details der damaligen Abläufe scheinen die neue Wendung aber
zu untermauern. So schreibt Schabowski selbst in seinen Memoiren, ihm sei an „einer beiläufigen Optik" der
Mitteilung gelegen gewesen. Dafür könnte auch sprechen, dass Schabowski kurz vor Ende der Veranstaltung einem
britischen Journalisten kurzerhand das Wort entzog („Nein, nicht Sie!") und Ehrman drannahm. Auffallend ist
auch, dass ADN die Neuigkeit, die an den Grundfesten der DDR rüttelte, bereits um 19.04 Uhr vermeldete,
zeitgleich mit der dpa.
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Anne Klesse
Anne Klesse, Jahrgang 1977, ist geboren und aufgewachsen in Hamburg. Nach
dem Abitur packte sie ihr Leben in einen Koffer und suchte sich einen Job in Spanien, bevor sie ein Jahr später in Lüneburg, Niedersachsen, mit dem Studium der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften begann. Für ihre Diplomarbeit beschäftigte sie sich mit Realität und Wirklichkeitskonstruktion in der Kriegsberichterstattung, der dritte Golfkrieg 2002/2003 lieferte während dieser Zeit ausreichend
aktuellen Stoff. Nach mehreren Redaktionspraktika und freier Mitarbeit als Reporterin bei Stadtmagazinen und Lokalzeitungen arbeitete sie von Anfang 2004 an
fest beim Hamburger Abendblatt. 2006 startete dann das zweijährige Volontariat
an der Axel Springer Journalistenschule (jetzt Axel Springer Akademie) mit Stationen bei Bild, Spiegel TV und Welt-Gruppe/Berliner Morgenpost. Im Herbst
2007, kurz vor Ende der Ausbildung, folgte sie dem Ruf nach Berlin und ist seither Redakteurin im Berlin-Ressort der Berliner Morgenpost, Welt und Welt am
Sonntag.
Plötzlich war die Mutti weg
Gera 1972, ein kalter Februarmorgen. Draußen ist es grau und nass. Katrin, viereinhalb Jahre alt, schreckt aus
dem Schlaf, jemand hämmert gegen die Haustür. Sie hört laute Männerstimmen: „Aufmachen! Sofort die Tür
aufmachen!" Katrin hat Angst. Ihre Mutter hetzt durch die Wohnung, rupft Klamotten aus den Schränken, zieht
der kleinen Tochter Wollstrumpfhosen an. Katrin hasst die kratzigen Dinger, sie nörgelt, wehrt sich. Und kassiert
eine knallende Ohrfeige. Das hat die Mutter noch nie getan. Katrin ist erschrocken und auf der Stelle ruhig. Sie
schielt zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder. Auch er guckt verängstigt. Als die Mutter die Tür öffnet, drängen
Männer in die Wohnung und zerren die drei hinaus auf die Straße.
Ein paar Meter weiter, auf dem Marktplatz von Gera, wartet ein Auto mit laufendem Motor. Die Frau soll
einsteigen, die Kinder werden festgehalten. Katrin weint, sie klammert sich an ihre Mutti. „Ihr wartet bei Oma,
wir sehen uns heute Abend", sagt diese zu ihrer Kleinsten. Dann fährt das Auto weg. Ein paar Sekunden lang hört
Katrin noch das Knattern des Motors, dann ist alles still. Grau und nass und noch ein bisschen kälter als vorher.
Die Kinder bleiben allein zurück. Ihre Mutter kommt nicht wieder. Nicht am Abend, nicht am darauffolgenden
Abend und auch nicht nach einer Woche.
Frau für „asozial" erklärt
Katrin Behr ist jetzt 42 Jahre alt, und jener kalte Februarmorgen verfolgt sie bis heute. Mittlerweile weiß sie:
Damals wurde ihre Mutter gezwungen, sie zur Adoption freizugeben. Der Staat hatte die Frau für „asozial"
erklärt, weil sie nicht arbeiten ging. Katrin Behrs Mutter muss der Staatssicherheit schon lange ein Dorn im Auge
gewesen sein, weil sie mit dem Gedanken spielte, auszureisen.
Eltern als asozial zu erklären, war eine Möglichkeit, ihnen die Kinder zu entziehen und in staatliche Obhut zu geben
oder zu Adoptiveltern mit der gewünschten politischen Einstellung. Paragraf 249 des DDR-Strafgesetzbuches
(„Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten") war die gesetzliche Grundlage dafür. Wer
sich beispielsweise „aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig" entzog, konnte eine Freiheitsstrafe bis
zu zwei Jahren bekommen. Das Familiengesetzbuch der DDR ließ den Entzug des Erziehungsrechts bei schwerer
schuldhafter Verletzung der elterlichen Pflichten zu. Zu diesen gehörte auch, Kinder zur Einhaltung der Regeln
des sozialistischen Zusammenlebens und zum sozialistischen Patriotismus zu erziehen.
Die Entscheidung musste nicht unbedingt ein Gericht fällen, meistens reichte ein Beschluss des Jugendamts.
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Die Nominierten
Katrin Behr und ihr Bruder wurden damals wenige Tage später in ein Kinderheim gebracht. Irgendwann sollte das
Mädchen das Wochenende bei einem fremden Ehepaar verbringen. Doch sie weinte die ganze Zeit, das mochten
die potenziellen neuen Eltern nicht. Als sie zurückkam, war ihr Bruder weg. All die Fragen, die sie stellte, blieben
unbeantwortet. Einmal kam ihre Großmutter zu Besuch. Sie wischte bloß die Tränen des Mädchens weg und
sagte: „Deine alte Familie gibt es nicht mehr, such dir 'ne neue."
Katrin Behr weinte so viel, dass andere Kinder sie „Heulsuse" riefen. Heute ist sie eine starke Frau, groß und
kräftig, alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Sie setzt sich für diejenigen ein, die ähnliches erleben mussten wie
sie. Im Januar 2008 gründete Katrin Behr den Verein Zwangsadoptierte Kinder, mit einer Internetseite, auf der
man Suchanzeigen einstellen kann. Mehr als 90 Familien haben sich mit ihrer Hilfe schon wiedergefunden.
Im Dezember 1973, fast zwei Jahre nach der gewaltsamen Trennung von ihrer Mutter, rief eine Erzieherin die
kleine Katrin zu sich. Die Frau sprach von einer neuen Familie und dass dies „die letzte Chance" sei. „Wenn du
nicht brav bist, musst du für immer hier bleiben", drohte sie. Es funktionierte: Das kinderlose, systemtreue Paar
adoptierte das Mädchen.
Katrin Behr wuchs in Berlin auf. Die Erinnerung an ihre Mutti und ihren Bruder, aber auch an den schrecklichen
Morgen im Februar 1972 ist in all den Jahren nie verblasst. Auch die Fragen und die Unsicherheit sind geblieben.
"Man lernt, gerade zu laufen", sagt sie. „Aber die Angst bleibt immer da." Sie folgt ihr wie ein Schatten, die Angst,
dass andere Menschen über ihr Leben bestimmen und plötzlich nichts mehr so ist wie es war.
Wie vielen Menschen es in der DDR so erging wie Katrin Behr, lässt sich nicht sagen. Es gibt keine Statistiken zu
Zwangsadoptionen. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) hat etliche Fälle dokumentiert,
der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes ebenfalls. Insgesamt könnten es Tausende sein, allein beim Berliner
Verein Mauermuseum kennt man Hunderte Fälle. „In Westdeutschland wusste man davon, die Fälle standen
eigentlich immer in Zusammenhang mit Fluchtversuchen der Eltern", sagt der Geschäftsführende Vorsitzende
der IGFM, Karl Hafen. Doch die Bundesrepublik hatte keine unmittelbare Handhabe. „Die Leute wurden damals
zuerst kriminalisiert, und dann nahm man ihnen die Kinder weg."
Trotz vieler Schwierigkeiten gibt es Geschichten mit Happy End. Die prominenteste wurde verfilmt: Schauspielerin
Veronika Ferres mimte „Die Frau vom Checkpoint Charlie", Jutta Gallus, die für einen gescheiterten Fluchtversuch
aus der DDR zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Ihre beiden Kinder kamen erst ins Heim und
dann zu Gallus' systemtreuem Mann. Die BRD kaufte Jutta Gallus schließlich frei. Vor ihrer Ausreise wurde sie
Die Nominierten
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Anne Klesse
aber gezwungen, auf das Erziehungsrecht für ihre Töchter zu verzichten. Die Fotos ihres Protestes gingen um die
Welt. Mit Erfolg: Sie sah ihre Kinder wieder.
Auch Katrin Behrs Geschichte hat ein glückliches Ende. Obwohl sie oft an ihre Mutti dachte, suchte sie erst
1990, nach der Geburt ihres zweiten Kindes, nach ihr. Sie bat ihre Adoptivmutter nach den Daten und hielt nach
einigem Hin und Her tatsächlich einen Zettel mit einer Adresse in der Hand. Es war eine Adresse in Gera, ihrer
Heimatstadt. Doch Katrin Behr traute sich nicht, die Mutter anzurufen oder zu besuchen. Was sollte sie sagen?
Was würde die Mutti sagen?
Ein Jahr lang blieb der Zettel in einer Schublade. Dann schrieb Katrin Behr einen Brief. Schon zwei Tage später
erhielt sie eine Antwort. Am dritten Tag setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Gera. Sie klingelte an der Tür, eine
ältere Dame öffnete. „Wohnt hier Frau ...?", fragte Katrin Behr. Die Frau guckte sie an: „Katrin?" Dann drückten
sich beide, ganz fest und ohne Worte. Katrin Behr erfuhr, dass ihre Mutter Briefe an das Jugendamt geschrieben
hatte, aus der Haft und auch später; dass sie immer Kontakt zu ihren Kindern wollte. Die Briefe wurden nie
weitergeleitet.
Obwohl sie sich jetzt wiederhaben, ist noch lange nicht alles gut. „Es tut immer wieder weh", sagt Katrin Behr. Sie
meint das Unrecht und das verpasste Leben, das sie hätte haben können. Ihr Herz wurde krank, ihren Beruf als
Krankenschwester kann sie nicht mehr ausüben. Trotz allem ist sie dankbar, sie hat ihr kleines Happy End.
Andere Geschichten haben nicht einmal das. Marianne Baumüller ist eine Mutter, der die Kinder weggenommen
wurden. Sie sucht noch heute nach ihnen. Es waren die Siebziger, sie war alleinerziehend und hatte keine
Arbeitsstelle, sondern versorgte zu Hause ihre zwei Kinder: die 1971 geborene Jeannette und den drei Jahre
jüngeren Marcel Jan. Irgendwann bekam Marianne Baumüller (sie hieß damals Burandt) Besuch von Mitarbeitern
des Jugendamts: Sie solle sich gefälligst Arbeit suchen, sonst würde man ihr die Kinder wegnehmen, hieß es.
Um tagsüber bei den Kindern sein zu können, suchte sich die gelernte Schneiderin einen Job in einer Kneipe.
Vor Schichtbeginn brachte sie ihre Kinder zu einer Bekannten in Prenzlauer Berg. Morgens holte sie die Kleinen
wieder ab und kümmerte sich um den Haushalt. Eines Tages waren Jeannette und Marcel Jan nicht mehr da. Sie
hätten Waschmittel geschluckt und seien im Krankenhaus, sagte die Bekannte. Frau Baumüller sah ihre Kinder
nie wieder.
Die heute 58-Jährige weint, wenn sie an den Abend denkt, an dem sie Jeannette und Marcel Jan verabschiedete. Im
Jugendamt hieß es damals nur, die Kinder sollten jetzt in einem Heim leben, das sei besser. Marianne Baumüller
fuhr zu allen Einrichtungen in Berlin und Umgebung, fragte nach ihren Kindern. Ohne Erfolg. Sie engagierte
einen Rechtsanwalt. Ohne Erfolg. Irgendwann verliebte sie sich neu, heiratete, „ich dachte, das würde vielleicht
helfen." Jahre später stellte sie einen Ausreiseantrag. In einem Staat, der Müttern die Kinder wegnimmt, wollte sie
nicht mehr leben.
Letztlich blieb sie doch, erst 1990 zog sie weit weg, nach Bayreuth. Die Erinnerung zog mit. Jedes Jahr an
Weihnachten und an den Geburtstagen der Kinder, am 9. Februar und 18. Mai, ist es besonders schlimm. Dann
quält sie die Frage: „Hätte ich mehr tun können?" Wie viel Kraft muss man aufbringen? Wann ist es legitim,
aufzugeben? Marianne Baumüller brauchte Jahre, um sich selbst zu verzeihen. „Ich möchte wissen, wie es ihnen
geht, möchte sehen, wie sie leben", sagt sie. Die Hoffnung bleibt.
Sie versperrte noch den Weg
schimpfte und heulte. Sie erinnert sich, dass ein Polizist ihr sein Knie in den Unterleib rammte und sie fiel. Sie
nahmen Hans-Jürgen mit. Das war im Januar 1982.
Vier Monate später kamen die Leute wieder. Diesmal nahmen sie Enrico, damals fünf, und den zwei Monate alten
Mirko mit. Tochter Sandra, damals zwei, und Sohn Ronny, eins, waren zu der Zeit schon im Kindergarten. Als
Annegret Wiener die beiden morgens dorthin gebracht hatte, wusste sie nicht, dass sie sie erst Jahrzehnte später
wieder sehen würde.
Denn sie kam noch am selben Tag in Untersuchungshaft, ihre Kinder in staatliche Obhut. Wegen Beleidigung,
Verleumdung und Verletzung der Erziehungspflicht wurde sie zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Annegret
Wiener war schwanger, als sie ins Gefängnis gebracht wurde. Am 6. Oktober 1983 brachte die damals 24-Jährige
im Haftkrankenhaus ihr sechstes Kind zur Welt, Torsten. „Ich habe ihn nur einmal im Arm gehabt, dann wurde
er weggebracht." Noch in der Klinik versuchte man die Frau zu überreden, ihr Baby zur Adoption freizugeben.
Sie erinnert sich nicht mehr, ob sie unterschrieb. Irgendwann hieß es, ihr Sohn lebe jetzt bei Pflegeeltern. Beim
Jugendamt sagte man ihr, sie solle Ruhe geben, den Kindern gehe es gut, aber „das geht Sie jetzt nichts mehr an!"
Annegret Wiener ist inzwischen zehnfache Mutter. Die Wände ihrer Wohnung in Tempelhof hängen voller
Familienfotos. Doch es fehlen Gesichter. Annegret Wiener ist beinahe besessen von der Suche nach ihnen. Oft
sitzt sie stundenlang am Computer und surft im Internet. Im Frühjahr dann ein Erfolg: sie fand Mirko. Sie schrieb
ihm eine E-Mail. Er schrieb zurück, mit Telefonnummer. Sie rief ihn an. „Hier ist Frau Wiener", meldete sie sich,
„deine Mutti." Sie sprachen sehr lange, Annegret Wiener strich sich den Tag im Kalender an: 6. März 2009, ein
Glückstag. Jetzt fehlen noch Torsten und Hans-Jürgen.
Annegret Wiener hatte mehr Glück. Der heute 50-Jährigen wurden ebenfalls die Kinder genommen. Weil ihr 1979
geborener Sohn Hans-Jürgen angeblich unterernährt und nicht ausreichend geimpft war, klingelten Jugendamt
und Polizei eines Morgens Sturm. Annegret Wiener, damals Schlepps, versperrte den Weg zum Kinderzimmer,
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Die Nominierten
Die Nominierten
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Michal Komárek
Michal Komárek, geboren 1963 studierte Philosophie und Geschichte
an der Karlsuniversität in Prag. Er arbeitete als Wissenschaftler am Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, zu
seinen Schwerpunkten gehörte vor allem die Konzeption von der Informationsgesellschaft. In den 90er Jahren war er als Personalmanager und später als Gymnasiallehrer tätig. Seit 1998 arbeitete er als Journalist, er war
Redakteur bei der Wochenzeitung Mladá fronta Dnes und veröffentlichte
mehrere Reportagen im Tschechischen Fernsehen. In 2008 wechselte er in
die Redaktion der liberalen Wochenzeitung Respekt.
Bára Procházková
Bára Procházková, geboren 1979 studierte Politikwissenschaft und
Osteuropastudien an der Universität in Hamburg. Während der Studien war sie als interektuelle Trainerin in mehreren europäischen Ländern
tätig. Seit 2004 arbeitet sie als Journalistin, eingestigen in den Beruf ist
sie als Redakteurin im Tschechischen Hörfunk, wechselte später zu der
Tageszeitung Deník und ist seit 2008 Redakteurin der liberalen Wochenzeitung Respekt. Zu dem Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit
gehört das Thema des Stereotyps zwischen Deutschland und Osteuropa.
Ach, bist du wunderbar!
Am Ende des Jahres wird normalerweise Bilanz gezogen, diesmal werden auch die Folgen der revolutionären
Geschehnisse durchgesprochen – der Beitritt zum Schengenraum. Auf dem tschechischen Zeugnis für das Leben
ohne sichtbare Staatsgrenzen steht die Note „ausgezeichnet“. Die Ängste vor einem Anstieg der Kriminalität und
illegallen Migration haben sich nicht bestätigt. Ein Jahr der Teilnahme an diesem Experiment hat bestätigt, dass
Schengen in die Gesellschaft eine tiefe und kolosale Erfahrung mitbringt.
Die ideale Welt
„Ich weiß eigentlich nicht genau, was der Beitritt zum Schengenraum bedeutet – ich lese keine Zeitung und
schaue keine Fernsehnachrichten. Aber ich genieße die freie Fahrt über die Grenzen sehr“, sagt Lenka Seyerová
im Wohnzimmer ihres modernen Hauses in dem südböhmischen Dorf Hranice (zu Deutsch: Grenze), etwa 15
Kilometer von den österreichischen Grenze entfernt. „Ich fahre täglich nach Österreich und zurück bereits mehr
als 16 Jahre. Jetzt habe ich ein wunderschönes Gefühl – nun steht dort keiner, niemand möchte meine Papiere. Die
Grenzen haben sich unbekannt wohin verschoben. Und so mag ich das, zumal wir auch um unser Haus herum
keinen Zaun haben. Es ist eine fantastische Freiheit. Eine ideale Welt.“
Die Gemeinde Hranice ist in 1790 entstanden und am Anfang lebten hier am trockengelegten Sumpf mitten im
Wald Deutsche und Tschechen gemeinsam. Beide hatten gemeinsame Sorgen – keine Arbeit, Armut und sie stritten
sich, welche Sprache die Unterrichtssprache in der Dorfschule sein wird. Nach Hundert Fünzig Jahren kam eine
Wende, die das Leben der Einheimischen völlig veränderte. Zuerst die deutsche Okkuppation, acht Jahre später
die Vertreibung aller Deutschen – und in 1948 fiel der Eiserne Vorhang. Die Entfernung von 15 Kilometern wurde
zur Kluft zwischen getrennten Welten. Heute stehen entlang der schmalen Straße auf umliegenden Wiesen 130
Häuser, die an mehr als fünf Kilometern Entfernung verteilt sind. Dort stehen etwa Fünfzig Wochenendhäuser
und leben mehr als zwei Hundert Einheimische. Es gibt hier zwei Kneipen, eine Pension, Moorboden, Wald, eine
unglaubliche Ruhe – und noch etwas mehr: wieder leben hier zwei österreichiche Familien und ein Deutscher.
Und die Tschechin Lenka Seyerová mit ihrem österreichischen Mann. Es ist schwer, ihrer vierjährigen Tochter zu
erklären, was Grenzen sind. „Für sie ist es schon exotisch, wenn wir über einen bewachten Grenzübergang fahren“,
erzählt Seyerová. „Im Sommer fuhren wir über Serbien nach Griechenland und dort versuchte ich meiner Tochter
an den Schranken zu erklären, was die Grenzbeamten hier tun. Zum Glück versteht sie es nicht. Mir kommt es
mittlerweile auch seltsam vor.“
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Meine Wurzeln nehme ich mit
Frau Seyerová kam in das Grenzgebiet aus Ústí nad Labem (Aussig), wo sie Pädagogik studiert hatte. Die
Veränderungen nach der Wende ließen ihr abenteurliches und energisches Charakter in Ruhe – zuerst mietete
sie ein Freibad mit Kneipe in České Velenice und ab 1992 arbeitete sie als Kellnerin in Österreich. „Heute führe
ich ein Restaurant sowohl an der tschechischen als auch an der österreichischen Seite“, sagt Seyerová. Obwohl die
Bewegung zwischen zwei Nachbarstaaten für sie jahrelang Selbstverständlichkeit und berufliche Notwendigkeit
war, war sie gegen den Beitritt Tschechiens in die Europäische Union. „Ich konnte nicht die Vorteile schätzen.
Ich sah nur die Sorgen der Österreicher, denen die Euro-Einführung eine deutliche Preiserhöhung mitbrachte.
Ich stimmte im Referendum über den EU-Beitritt dagegen und heute weiß ich, dass es wirklich Blödsinn war.
Zum Glück ist alles gut ausgegangen. Es ist genau wie mit Schengen, manchmal fehlen uns Überblick, die
Vogelperspektive und Information. Viele Leute hatten Angst, dass mit der Grenzöffnung hier viele Kriminelle und
Imigranten herumlaufen würden, und dass wir unsere Ruhe und Sicherheit verlieren. Nichts davon ist passiert.“
Seit drei Jahren lebt Lenka Seyerová in Hranice. Ihre Tochter geht zwei Tage in der Woche in einen tschechischen
Kindergarten und zwei Tage in einen österreichischen. Ihr Ehemann Wolf ist weit und breit der einzige Ausländer,
der ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr in einem tschechischen Dorf ist. „Er genießt es sehr. Ich mache mich
über ihn lustig, dass er bei dem Hurikan Kyrill oder Sturm Emma am zufriedensten ist. Da ist er gleich bereit,
ist in einer Minute angezogen, startet die Motorsäge und startet los.“ Am Dach hat die Familie Seyer Solarpanel,
im Garten laufen Hühner und im Auslauf einige Schweine. „Dieses Haus erfüllt mein Ideal – es ist ein modernes
Haus, aber gleichzeitig eine selbstängige Wirtschaft. Eine unabhängige Oase“, sagt Lenka Seyerová. „Und genau
das fasziniert mich – in einer Oase zu leben aber gleichzeitig die Freiheit zu haben, sich frei zu bewegen. Klar,
nach wie vor existieren irgendwelche Barrieren, irgendwelche Grenzen – sprachliche, kulturelle, traditionelle. Aber
warum sollte mich es beschränken, dass ich in einem Land und in einer Kultur meine Wurzeln habe? Es ist normal,
dass ich überall hinkann und meine Wurzeln mitnehme.“
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Michal Komárek
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Bára Procházková
Keine Veränderung
Ein Hubschauber fliegt herum
„Für uns veränderte sich nichts“, kommentiert Schengen die Bürgermeisterin von Hranice Eva Schickerová.
Mit diesem „uns“ meint sie Einheimische, die nicht nach Österreich zur Arbeit fahren. „Ich arbeite im örtlichen
Tierbetrieb und habe sowieso keine Zeit, über die Grenze öfters als früher zu fahren. Ich brauche es auch nicht.
Es ist ein angenehmes Gefühl, dass dort keine Polizeibeamte sind, aber im Alltagsleben ist es Einem gar nicht
bewusst.“ Für Frau Schickerová blieben dazu noch andere Barierren als die Grenzen an den Übergängen. „Ich
spreche nicht gut Deutsch, kann mich also in Österreich nicht verständigen“, sagt die Bürgermeisterin von Hranice.
Sie ist zwar überzeugt, dass die junge Generation keine sprachliche Barriere haben wird, aber in ihrer eigegen
Familie gilt es nicht. „Meine Enkelin ist 15 Jahre alt und beendete gerade die Grundschule. Wir überlegten, ob
sie die Mittelschule im österreichischen Gmünd besuchen soll. Die Lehrerin schlug es vor, wir haben aber Angst
und schicken sie nach Budweis. Ihr Deutsch ist nämlich nicht besonders gut“, setzt die Bürgermeisterin fort.
Übrigens einen Dolmetscher muss die Bürgermeisterin auch mitnehmen, auch wenn sie etwas mit ihrern Bürgern,
den örtlichen Österreichern besprechen muss. „Es sind für uns keine Eindringlinge. Es sind angenehme und nette
Leute“, sagt sie. „Aber Tschechisch sprechen sie nicht, deshalb sind die Kontakte zu den Einheimischen nach wie
vor schwierig. Man kann nicht sagen, dass sie sich gut eingelebt haben.“
Eine der österreichischen Familien wurde gleich nach dem Einziehen eindeutig begrüßt – jemand raubte das
Haus aus. Ihr geräumiger Neubau sieht auf den ersten Blick ein wenig provokativ aus und Jasmin Kubat mit ihrem
Hund und zwei Kindern verschwindet fast auf ihren 300 Quadratmetern Wohnfläche. Sie ist Österreicherin,
ihr Nachname verrät aber eine tschechische Herrkunft der Vorfahren. Gerade in Hranice hat die Familie eine
Glashütte betrieben, alle wurden nach dem Krieg vertrieben. „Als wir vor zwei Jahren unseren Freunden und
Bekannten sagten, dass wir nach Tschechien umziehen werden, warnten uns alle vor diesem Schritt. Auch wenn
wir schon damals in der Grenznähe wohnten, sagten alle, es sei Ostblock und wir können hier nichts kaufen. Wir
konnten es ihnen nicht ausreden“, sagt die 35jährige Frau im Elternurlaub. Mit ihrem Ehemann fand sie einen
schönen Platz am Wald und sie bauten hier das Haus sogar billiger als auf der anderen Seite der Grenze. Jeden
Tag fährt sie jedoch nach Österreich um einzukaufen und um ihren vierjährigen Sohn in den Kindergarten zu
bringen. „Mein Sohn möchte in eine tschechische Schule gehen, ich will ihn aber nicht hingehen lassen, weil ich
selber kein Tschechsich spreche. Ich habe Angst, dass ich mich mit den Lehrerinen nicht verständigen könnte“,
sagt Jasmin Kubat. Sie hat zwar ein paar tschechische Worte im Kopf, übt aber nur mit ihrer Putzfrau Maria vom
Nachbardorf, die regelmäßig bei Kubats mit dem Aufräumen hilft.
Die Dorfbewohner verlassen sich auf „ihre“ Österreicher immer bei öffentlichen Spendeaktionen für einen
neuen Wagen der freiwilligen Feuerwehr oder bei der Finanzierung der Kinderveranstaltungen, mehr als einen
freundlichen Gruß hören die Zugezogenen bei einem Treffen mit den Einheimischen aber nicht. Während der
zwei Jahre, die Kubats im Dorf wohnen, sind keine neuen Freundschaften entstanden. „Unser Traum, einen
Bauernhof mit Pferden zu haben, ist zwar Realität geworden, die Sprachbarriere ist aber so groß, dass ich mich
hier einsam fühle. Mitten im Nichts“, sagt Frau Kubat. Für sie steht aber kein Sprachkurs auf dem persönlichen
Plan, sie stößt hier an eigene Grenzen im Kopf. „Es ist eine sehr schwierige Sprache“, sagt Frau, die sich am meisten
darauf freut, dass sie nach dem Elternurlaub wieder arbeiten geht. Selbstverständlich nach Österreich.
Er lebt an der Grenze seit 58 Jahren. Zuerst schaute der Arzt Werner Duschner den Eisernen Vorhang ständig
an, dann fuhr er auf die tschechsiche Seite zum Einkaufen und heute fährt er über die Grenze mit seinem
Krankenwagen, um Menschenleben zu retten. Aus dem deutschen Blickwindel lag die Stadt Waidhaus bis zum
Jahr 1989 an der Grenzen mit „Nichts“, seitdem haben sich die Grenzen zwischen Bayern und Westböhmen
nach und nach geöffnet. Werner Duschner würde also eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen den
Rettungsdiensten im Grenzgebiet erwarten, die gegenseitige Kommunikation hat sich aber überraschenderweise
nach dem Verschwinden der Grenzen verschlechtert. „Noch vor einem Jahr saßen an den Grenzkontrollen in
Rozvadov/Waidhaus die Grenzbeamten nebeneinander an einem Tisch. Sie warteten nicht auf eine offizielle
Meldung über einen verletzten Deutschen auf dem tschechischen Gebiet, sie sagten sich das einfach mündlich
und der Krankenwagen konnte losfahren. Heute sind die Grenzhäuschen leer, die Meldung geht also nur über die
Zentrale in Pilsen. Von dort schicken sie uns die Information per Fax“, sagt der Rettungssanitäter. Die tschechische
Seite protestierte bereits gegen die veränderte Kommunikationsform, das Deutsche Rote Kreuz verteidigt sie zwar
als „ausreichend und verlässlich“. Die Rettungssanitäter stoßen hier also an kulturelle Grenzen: Kommunikation
über Fax wird in Tschechien als nicht mehr modern abgestempelt, in Deutschland ist es auf Grund einer größeren
Konkurenz auf dem Telekommunikationsmarkt eine gängige Praxis.
Ein Traum der Ärzte ist eine gemeinsame Verbindung der Zentralen über das Internet. „Es wäre ideal, wenn
wir zur verletzten Person über die Dispetscherzentrale gleich auch einen deutschen Rettungswagen schicken
könnten“, träumt der Direktor des westböhmischen Rettungsdienstes Ivo Rada. Zum Beispiel im Böhmerwald
oder in der Tachauer Region sind die Standpunkte der deutschen Rettungsteams näher als die der tschechischen
Kollegen. Das ist aber eher eine Zukunftsmusik, heute funktioniert nicht mal die technische Vernetzung mit den
Funkgeräten, weil die Tschechen ein digitales und die Deutschen ein älteres analoges System nutzen. „Wir hatten
eine Situation, dass ein deutscher Hubschrauber mit einer verletzten Person an Bord in einem tschechischen
Krankenhaus landen wollte, aber er konnte sich nicht in das Kommunikationssystem einloggen. Also es blieb
ihm nichts anderes übrig als so lange über dem Landeplatz in der Luft zu kreisen, bis die Dispetscher ihn aus dem
Fenster gemerkt haben“, erinnert sich Duschner in seiner Ärztepraxis.
Der Direktor des Rettungsdienstes Rada macht aber darauf aufmerksam, dass auch wenn die tschechischen
Zentralen technisch mit den deutschen verbunden wären, gäbe es heute eine große Sprachbarriere. Er hat
seinen Dispetschern kontenfreie Kurse der deutschen Sprache angeboten, angemeldet hat sich kein einziger.
Diesen Job können nur hoch qualifizierte Kräfte ausüben, deshalb kann Ivo Rada sich nicht leisten, keinen
der jetzigen Mitarbeiter zu kündigen. Für so ein niedriges Gehalt würde kein anderer mit Medizin- und
Fremdsprachenkenntnissen kommen. Die deutschen Rettungsärzte nehmen aber keine Sprachbarrieren wahr. „In
Bayern haben wir überall tschechisches Pflegepersonal. Falls aber doch keine tschechische Krankenschwester in
der Nähe ist, gehe ich in die Kaffeteria neben an, dort arbeiten Kellnerinen aus Tschechien. Sie helfen mir immer
sehr gerne mit der Übersetzung“, sagt Duschner.
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Michal Komárek
Bára Procházková
Stempel, please
Den Grenzübergang nehmen die Leute nur noch wegen der unterschiedlichen Regel wahr. Die Deutschen müssen
die Fahrlichter anschalten, weil sie zu Hause nicht die Pflicht kennen, rund um die Uhr das Licht an haben zu
müssen. Die Tschechen müssen widerrum auf die strengen polizeilichen Kontrollen achten, zum Beispiel müssen
die Mitfahrer, die hinten sitzen, auch angeschnallt sein. In bayrischen Kneipen dürfen die Gäste auch keine
Zigarette mehr anzünden. „Gerade die Einhaltung der Vorschriften ist wichtig. Sobald sie ihre Regel respektieren,
leben sie hier gleich besser und sie können auch Vorteile nutzen, die sie bei uns nicht haben“, sagt Petr Kounovský,
der Betreiber einer Pension in der Ortschaft Bayerisch Eisenstein, des bayerischen Spiegelbildes vom Dorf Železná
Ruda.
„Sich in Deutschland selbständig zu machen ist wesentlich einfacher als bei uns in Tschechien. Es reichen 15 Euro
und 15 Minuten und sie können anfangen. In Tschechien musste ich am Anfang eine Finanzgrundlage vorlegen,
einen Auszug aus dem Strafregister mitbringen und überhaupt viel Zeit in Behörden verbringen“, sagt Kounovský,
der Bayern nicht nur als ein Ort für seine unternehmerische Tätigkeit, aber auch als seine neue Heimat wählte.
Trotzdem denkt er, dass die deutsche und tschechische Kultur sich bisher noch nicht viel vermischen. „Ich habe so
ein Gefühl, dass die Deutschen uns hier nicht gerne sehen. Ich muss aber zugeben, dass sie sich alle sehr nett und
korrekt verhalten. Ich wohne hier seit anderthalb Jahren, neue Freunde habe ich hier aber noch nicht gefunden“,
beklagt sich der junge Unternehmer. Auch wenn er sich auf Deutsch ohne Probleme verständigen kann, verbringt
er seine Freizeit meistens auf dem tschechsichen Gebiet. Die Privatunternehmer können in Deutschland bereits
seit dem EU-Beitritt Tschechiens tätig sein, deshalb bedeutet für sie Schengen nicht so viel. Sie können zwar kaum
den weiteren Schritt der europäischen Integration abwarten, wenn in zwei Jahren die Beschränkungen abfallen,
die heute noch den Zugang der tschechischen Arbeitnehmer zum deutschen Arbeitsmarkt zur Folge haben. Dann
wird auch Kounovský tschechische Arbeitnehmer endlich legal anstellen dürfen. Seit der Schengen-Erweiterung
kommen aber tschechische Gäste in sein Gästehaus lieber, die meisten genießen die problemfreie Fahrt über die
Grenzen.
Der Wirt Kounovský verdient also damit, dass die Tschechen nicht mehr in den tschechischen Ort Železná
Ruda fahren möchten, der voll von Freundenhäusern, Spielstätten und traurigen vietnamesischen Märkten ist,
aber lieber ihren Urlaub in einem gemütlichen Bergdorf verbringen. Den Ort Bayerisch Eisenstein trennt vom
tschechsichen Železná Ruda nur 500 Meter. „Die Tschechen machen die gleichen urbanistischen Fehler wie
wir in den 80er Jahren, als wir noch keine Rücksicht auf die Umwelt nahmen und die Städte nicht als Ganzes
sahen und deshalb unkontrolliert freie Flächen bebauten“, kommentiert das unterschiedliche Gesicht beider
Städte der Bürgermeister der deutschen Seite Thomas Müller. Deshalb zieht die deutsche Seite die tschechsichen
Unternehmer an, sie betreiben bereits zwei Hotels und sind Eigentümer von mehreren Häusern und von rund
zwanzig Appartements.
Mit der Grenzöffnung veränderte sich die Lage des Dorfes Bayerisch Eisenstein vom „Ende der Welt“ zum
Mittelpunkt Europas, aber die Chancen der Einheimischen hat es in diesem Moment überraschenderweise
eher verschlechtert. Bayerisch Eisenstein verlor damit nämlich die finanzielle Förderung für die Randgebiete.
Bis zum Jahr 2013 kann das Rathaus noch um Unterstützung bei den europäischen Strukturfonds anfragen,
danach ist die Finanzierung aber nicht mehr gesichert. Und einige Stimmen sagen, dass diese Gebiete „wegen“
des andauernden europäischen Zusammenwachsens nicht nur Fördergelder verloren haben, sondern auch ein
Teil ihrer Anziehungskraft. „Als die Grenze noch hier war, hat es die Leute irgendwie emotional bewegt und sie
hatten das Interesse die Grenze zu überwinden und auf die andere Seite zu fahren. Die Schengen-Erweiterung
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ist der letzte Tropfen im langjährigen Prozess der Beseitigung der Grenzen in menschlischen Köpfen“, sagt der
Bürgermeister vom tschechischen Železná Ruda Michal Šnebergr. Noch vor einem Jahr kamen die Menschen
nach Železná Ruda auch nur zum „Hinter-die-Grenze-Kucken“ oder weil sie ihren Kindern die Grenzbeamten
zeigen wollten. Heute ist mit dieser Nostalgie Schluss. „Die jungen Leute nehmen es nicht so, aber ich dachte,
dass die Grenze hier bis in die Ewigkeit bleiben werde. Ich habe nie im Traum gedacht, dass ich eines Tages mit
meinem deutschen Kollgen zusammenarbeiten werde und ohne jegliche Kontrolle zu ihm fahren werde“, fügt
Bürgermeister Šnebergr hinzu.
An den erloschenen Ruhm der Beamtenzeiten der deutsch-tschechischen Grenze erinnern hin und wieder mal nur
Touristen, die nicht aus Europa kommen. Sie halten an dem Grenzübergang in Rozvadov/Waidhaus und fragen,
wo sie einen Stempel in ihren Reisepass bekommen können. Dort bekommen sie aber höchtens Broschüren über
die Tschechische Republik, weil anstatt der Zollbehörde im Gebäude an der Autobahn sitzt seit einigen Jahren nur
die Internationale Touristenzentrale. Seit dem Beitritt Tschechiens zum Schengenraum sank die Besucherzahl
auf die Hälfte. Michal Abel sitzt hinter dem Informationsschalter einsam und schaut die Autos an, die vorbei
rasen. Auch trotz des sinkenden Interesses freut er sich, dass die Grenzen offen sind. „Ich arbeitete hier 35 Jahre
als ein Zollbeamter und sah jeden Tag die geschlossenen Grenzen an“, sagt er und erzählt weiter: „Es waren hier bis
zu sechs Hundert Personen. Die jungen Leuten werden in ein paar Jahren nicht mehr wissen, dass hier überhaupt
irgendwelche Zollbeamte waren.“
Wir erleben eine phantastische Veränderung
Als würde der Schengenbeitritt manche Grenzübergänge fast nicht betreffen. Dem ehemaligen Zollgebiet in Hatû
an der mährisch-österreichischen Grenze dominiert nach wie vor das bizarre Einkaufs- und Unterhaltungszentrum
Excalibur City, umgeben von Drachenfiguren und mythischen Kämpfern sowie Zauberer. Die Atmosphäre der
Wüstenoase irgendwo bei Las Vegas ergänzen einige Casinos.
„Der Hauptvorteil des Schengens liegt bei uns darin, dass unsere Kunden gleich hinter der Durchfahrt durch das
ehemalige österreichische Grenzgebäude nach links abbiegen können“, erklärt Thomas Mähder, der Direktor der
dortigen Casino und des Hotel Savannah. Vor dem Schengen mussten die Hazardliebhaber noch die tschechische
Grenzkontrolle passieren und erst dann konnten sie zurück zum Casino, das zwischen den beiden Zollstätten
liegt. Neben dem Casino entstand in diesem Jahr in Hatû noch ein neues Hotel. Auch wenn sein Bau unanhängig
von Schengen geplant war, sollte seine Eröffnung im März zum Symbol des Barrierefalls zwischen Österreich und
Tschechien werden. „Es wird hier die Superveranstaltung zur Miss Österreich stattfinden. Vor Schengen wäre dies
undenkbar“, sagt Direktor Mähder.
Genauso wie die tschechisschen Kollegen auch Thomas Mähder sagt zufrieden, dass die Schengenerweiterung
keine zusätzlichen Komplitationen für die dortige Bevölkerung brachte und dass sich die Angst der Österreicher
vor dem Anstieg der Kriminalität nicht erfüllte. Seine Meinung bestätigt auch der Bericht der österreichischen
Regierung, der bestätigt, dass zusammen mit der Kriminalität auch die illegale Immigration sank. Und noch eine
wichtige Sache finden wir hier, deren Bedeutung in der Nachbarschaft von Excalibur City vielleicht für manche
Touristen mit einem Einkaufwagen nicht auf den ersten Blick klar ist: Schengen veränderte bedeutend das Gesicht
der Grenzen und damit auch den Grenzübergang hier. Die Symbole der Vergangenheit in der Form der verlassenen
polizeilichen Gebäude oder wilde kommerzielle Eldorados bleiben zwar, die Grenzen zwischen Österreich und
Die Nominierten
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Michal Komárek
Bára Procházková
Tschechien kann man aber an jeder Stelle passieren. Zum Beispiel über die Wiese, die in der Nachbarschaft des
ehemaligen Grenzübergangs ist.
Die Grenze verschwand völlig, unbekannt wohin. Der Bürgermeister von der südböhmischen Stadt Nové Dvory
Vladimír Hokr befürchtet sogar, dass wir irgendwann die völlige Veränderung der Grenzen nicht als etwas
selbstverständliches sehen. „Auch ich habe die Tendenz, die Bedeutung von Schengen zu unterschätzen“, sagt
er. „Ich arbeitete als Touristenbegleiter und konnte so in der Arbeit auch Fall von einigen Barrieren bereits nach
November 1989 und nochmal nach dem EU-Beitritt Tschechiens erleben. Aber ich studierte auch Geschichte
und weiß ganz genau, wie oft sich Grenzen hier verändert hatten und dass unsere gegenwärtige freie Welt aus
der Sicht der Geschichte nur eine kurze Episode ist. Wir haben hier bei uns also ein Projekt mit dem Titel ‚Für
das Zurückkommen des Eisernen Vorhangs´. Wir wollen an dem ehemaligen Grenzübergang ein Stück der
ehemaligen kommunistischen Hindernisse und Drathzäune aufstellen. So können wir uns daran erinnern, was es
eigentlich war und was für eine phantastische Veränderung wir gerade erleben.“
Infobox: Der Schengenraum
Schengen ist eine Stadt in Luxemburg, wo in 1985 und 1990 Verträge über die Schengener Zusammenarbeit
unterzeichnet wurden. Diese Dokumente bestimmten den „Schengenraum“ oder die Staatsgebiete, an deren
gemeisamen Grenzen keine Grenzkontrollen durchgeführt werden. Tschechien tratt zum Schengenraum am 21.
Dezember 2007 bei. Das Gebiet setzt sich im Moment aus 22 EU-Staaten, Norwegen, Island und der Schweiz
zusammen.
An die tschechischen Staatsgrenzen erinnern nach dem Schengen-Beitritt nur noch verlassene Gebäude der
Ausländer- und Grenzpolizei. Die tschechische Behörde zur Verwaltung des staatlichen Eigentums organisiert die
Übertragung der Immobilien in die Hände der Regionen oder Gemeinden. Diese fanden bereits für ein Großteil
der ehemaligen Zollhäuser eine neue Verwertung, die meisten werden sie zur Entwicklung des Tourismus
nutzen. In Rozvadov entstand ein Informationszentrum, das gleiche Ziel gibt es auch in Železná Ruda oder in
Nemanice. In der Region Südmähren werden zwei Zentralen für den Rettungsdienst gegründet, ähnliche Pläne
hat die Stadtverwaltung in Harrachov. In Starý Hrozenkov, in Střelná oder in Dvořiště ziehen in die verlassenen
Gebäude Polizeibeamte ein.
Manche Städte können sich aber nicht den teueren Betrieb der Gebäude leisten, so werden sie die Immobilien
kommerziell als Büros oder Geschäfte vermieten. Zum Beispiel in Rozvadov funktioniert bereits auf dieser Basis
ein Restaurant, auch ein Hotel ist geplant. Die Staatsgrenzen werden symbolisch auch die Städte Vejprty und die
sächsische Stadt Bärenstein löschen, sie planen auf dem ehemaligen Grenzgebeit einen gemeinsamen Dorfplatz
mit Bänken, einer Wasserfontäne und einer Galerie. An die Vergangenheit wird also nur noch der Grenzübergang
bei dem südmährischen Znojmo erinnern, dort wird ein Zollmuseum eröffnet.
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Die Nominierten
Die Nominierten
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Hanka Nowicka
Hanka Nowicka, vor 23 Jahren in Warschau geboren; lebt dort ununterbrochen mit Ausnahme eines Stipendiumsaufenthalts in Budapest an
der CEU. 2009 graduierte sie an der Universität Warschau. Sie studierte
Geschichte mit Schwerpunkt Geschichte des Judentums und Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie ist aktives Mitglied der Gesellschaft Junger
Journalisten „Polis”, einer Organisation, die auf die Vermittlung der „good
practice“ und Weiterqualifizierung der Nachwuchsjournalisten fokussiert ist. Derzeit absolviert sie ein Praktikum in dem Radio TOK FM
und schreibt ihre Master-Arbeit zum Thema „Fotografie als Medium in
der Vermittlung der Vergangenheit“. Sie arbeitet beim Projekt „Paths of
Remembrance“ des German Institute of Applied Arts an der Studie zur
Situation der bosnischen Migranten in Europa.
Friedhelm Weinberg
Friedhelm Weinberg, nach seinem Abitur im Jahr 2006 absolvierte Friedhelm Weinberg bei der Kreisau-Initiative Berlin ein Freiwilliges
Soziales Jahr und half bei der Organisation deutsch-polnischer und
multinationaler Jugendbegegnungen. Im Jahr 2007 zog es ihn nach
Dresden, wo er seitdem den B.A. Internationale Beziehungen studiert. Von
2006 bis 2007 war er Chefredakteur des Jugendmagazins „freisein“ des
Jugendpresseverbandes Brandenburg und von 2007 bis 2008 Chefredakteur des Jugendmagazins „Starter“ von Schüler Helfen Leben. Neben dem
Studium arbeitet er als freier Journalist.
In den Köpfen der Menschen
Was machen ein NVA-Trainingsanzug und ein SolidarnoŚĆ-Anstecker nebeneinander in einem
Museum, das es nicht gibt? Sie sind ein Anfang. Vielleicht.
Es ist leise, aber die wenigen Geräusche beeindrucken. Geflüster auf Polnisch und Deutsch, ein Lachen, die meiste
Zeit nur Schritte auf dem Marmorboden. Die Luft riecht so künstlich, trocken wie sie die Klimaanlage macht,
die gebraucht wird, um die Temperatur zu halten; nur so werden die Exponate nicht gefährdet. Einige von ihnen
sind klein, wie ein Anstecker, andere größer, wie ein Trainingsanzug - und wiederum andere können nur in einem
Fernseher betrachtet werden. Wenn man im ersten Raum des Museums steht, kann man die Tafeln sehen, die
einen Überblick über die geschichtlichen Hintergründe geben, wie sich alles verändert hat, in Kurzform. Die
darauf folgenden Räume bieten Platz für kleinteiligere, persönlichere und subjektivere Exponate. Manch ein
Besucher wird sich an ihnen stören.
Üblicherweise ist ein Museum nicht ein Ort des Dialoges, sondern einer in dem viel in den Köpfen der Menschen
geschieht, ob es der Versuch ist, die Bedeutung eines Kunstwerkes zu erfassen oder, der Versuch, sich einen
Abschnitt der Geschichte zu erarbeiten. Aber dieses Museum gibt es gar nicht, es existiert nur in den Köpfen
der Menschen. Dennoch oder gerade deshalb kann es ein Ort sein, an dem Verständnisse, Gedanken, Ideen
ausgetauscht werden - auch über Grenzen hinweg. Das Museum handelt von Polen und Deutschland im Jahr
1989.
Alles begann in Polen
Es gibt keine direkte Verbindung zwischen dem Runden Tisch in Polen und dem Fall der Berliner Mauer. Aber
diese beiden bekanntesten Bilder des Zusammenbruchs des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa sind nur die
Spitze des Eisbergs; und sie stehen für den langen und schwierigen Prozess, in dem die Macht wieder in die Hände
des Volkes kam. Die Veränderungen in Polen begannen bereits 1980 mit der SolidarnoŚĆ-Bewegung, dennoch war
die Art und Weise wie es in der DDR 1986 begann sehr ähnlich: Die Menschen waren müde vom ineffektiven und
unterdrückenden System, die Wirtschafskrise verschärfte sich und die Lücke zwischen dem, was die Propaganda
versprach und dem realen Sozialismus trieb Menschen immer stärker in den Widerstand. Erst im Stillen, später
laut mit Streiks und Demonstrationen. „Wir kämpften gegen den Stacheldraht, der unsere Herzen beengte“, sagt
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Die Nominierten
Ludwig Mehlhorn über diese Zeit. Er war Oppositioneller und Mitgründer der Initiative „Demokratie Jetzt!“.
Die Ereignisse des Jahres 1989 können ohne Zweifel als Revolution von unten bezeichnet werden, auch wenn nicht
vergessen werden darf, dass die Reformen in der Sowjetunion ihren Anteil haben. „Wir träumten nicht einmal
vom Ende des Kommunismus und plötzlich wurde das Undenkbare möglich!“, erinnert sich Mieczysław Ducin
Piotrowski. Er war und ist aktiv in der polnisch-tschechischen SolidarnoŚĆ. Der Wandel, der 1989 kulminierte
wurde erreicht durch einfache Bürger. Die große Geschichte war nie zuvor so nah am Leben der einfachen
Menschen. Deshalb erzählt das virtuelle Museum des Jahres 1989 die Geschichte des Wandels, indem persönliche
Objekte von einfachen Menschen gezeigt werden.
Die Polizisten verpassten den komischen Anblick
Der SolidarnoŚĆ-Anstecker gehörte Lech Nowicki, von September 1980 an Mitglied des SolidarnoŚĆ-Komitees
an seinem Arbeitsplatz, dem Institut für Nuklearforschung. Das Komitee organisierte Demonstrationen der
streikenden Arbeiter, gab eine eigene Zeitung heraus und koordinierte die SolidarnoŚĆ-Propaganda. Es war nicht
überraschend, dass nach Ausrufen des Kriegsrechts im Dezember 1981, die Hälfte der Mitglieder des Komitees
verhaftet und ins Gefängnis gebracht wurde. Der Rest organisierte Demonstrationen zum Schutz der Rechte der
inhaftierten Kollegen im Hof des Instituts, am 13. jedes Monats.
Wegen dieser Aktionen wurde Lech Nowicki im Mai 1983 verhaftet. Am frühen Morgen des 14. kamen Polizei
und Geheimdienst, um ihn zu verhaften. Bevor sie ihn mitnahmen, durchsuchten sie, wie üblich, seine Wohnung
auf illegale Materialien. Dabei wurden sie von Joanna aufgehalten, Lechs Frau, dass sie nicht in den letzten Raum
gehen sollten, weil dort ein Kind schlief. Die Fahnder stimmten zu und verpassten den komischen Anblick
mehrerer Kuscheltiere, die SolidarnoŚĆ-Anstecker trugen. Die hingen an der Wand, nur ein kleines Stück über
dem Kopf des Kindes. Unter dem Bett lagen noch einige Untergrundzeitschriften.
Nach drei Monaten kam Lech aus dem Gefängnis frei. Das zweite Exponat ist anders. Es ist nicht nur aus der
ehemaligen DDR und es ist nicht etwas, das mit Opposition verbunden ist, sondern mit dem Establishment: ein
alter Armeetrainingsanzug, der einmal dem heute 73-jährigen Reinhard Fiedler gehörte. Er verbrachte fast sein
ganzes Leben im Dienst der Nationalen Volksarmee (NVA) und wurde arbeitslos im Zuge der Ereignisse von
1989 und der folgenden Wiedervereinigung. In den Jahren bis zu seiner Rente lieferte er Zeitungen aus.
Die Nominierten
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Hanka Nowicka
Friedhelm Weinberg
Er brauchte den Trainingsanzug nicht mehr, aber er hat ihn sicher aufbewahrt, gehegt und gepflegt; das erzählt
etwas von seinen Erfahrungen aus den Jahren zuvor, es war einfach undenkbar, etwas wegzuwerfen, fast alles war
wertvoll oder konnte wertvoll werden. Eines Tages könnte der Trainingsanzug noch einmal gebraucht werden.
(Tatsächlich hatte er Recht, Anfang der 2000er Jahre wurden solche Trainingsanzüge hip.)
Obwohl sich Reinhard Fiedlers Leben verändert hat durch das, was 1989 geschehen ist, veränderte er sich als
Mensch nicht so komplett wie das Regime. In seinem Denken war und ist er von dem beeinflusst, was er in der
DDR erlebt hat. Das bedeutet nicht, dass er den Kommunismus anpreist. Aber es zeigt, dass so sehr auch um
Wandel gekämpft wurde, nicht alles verändert wurde . Einiges blieb, auch in den Menschen.
Nicht mehr als ein Anfang
Die zwei Exponate sind nur ein kleiner Auszug dessen, was gesagt werden kann, vielleicht sogar muss, über Polen,
Deutschland, Europa und das Jahr 1989, die Veränderungen und was sie bedeuten könnten. Das Museum ist
bestimmt nicht alles, was gesagt werden kann, sicherlich nicht einmal ein Prozent; dennoch, es ist ein Anfang.
Ein Museum, erschaffen in den Köpfen der Menschen, ist vielleicht ebenso wenig ein Ort des Dialogs - aber
Ergebnis von Dialog. So wie sich Selbst- und Fremdverständnisse ändern, verändert sich auch das Museum. Die
Veränderung kommt durch neue Exponate - und diese sind mehr als nur willkommen.
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Die Nominierten
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Veronika Wengert
Veronika Wengert, geboren 1974 in Karlsruhe, hat sich ihr Studium
der Südslawistik, Russistik und Journalistik an den Universitäten Tübingen, Leipzig und Zagreb zum späteren Beruf gemacht. Zunächst war
sie fast vier Jahre Redakteurin bei der Moskauer Deutschen Zeitung in
Moskau, wechselte dann nach Zagreb, wo sie seit 2005 als freie Journalistin und staatlich geprüfte Übersetzerin tätig ist. Sie beliefert verschiedene
deutschsprachige Medien und hat mehrere Reiseführer verfasst bzw. aktualisiert. Schwerpunktländer sind Kroatien und Russland. In ihrer Freizeit
bereist sie gerne Südost- und Osteuropa, auch abseits der Touristenpfade.
Im Frühjahr 2009 verbrachte sie drei Monate in Slowenien im Rahmen
eines Medien-Mittler-Stipendiums, bei dem der nominierte Beitrag zur
geteilten Stadt „Gorizia, Nova Gorica“ entstand.
Slowenien/Italien: Eine Stadt mit zwei Gesichtern
Seit der EU-Erweiterung vor fünf Jahren wachsen das slowenische Nova Gorica und das italienische Gorizia
langsam zusammen.
Der Bahnhofsvorplatz von Nova Gorica, ganz im Westen von Slowenien, wirkt verlassen. Ein Taxifahrer blättert
in seiner Zeitung, nur wenige Meter entfernt haben zwei italienische Militärpolizisten in ihrem Wagen mit der
Aufschrift „Carabinieri“ Stellung bezogen. Der Zug in die Alpenstadt Jesenice verkehrt nur selten, der Bahnsteig
ist leer. Ein normaler Platz, irgendwo in der mitteleuropäischen Provinz. Wären da nicht die Blumenkübel aus
Beton, die sich nebeneinander reihen, um dann in einen brusthohen, dunkelgrünen Maschenzaun überzugehen.
35 Meter sind es genau, die die Tür der k.u.k.-Bahnhofshalle von den Betonkübeln trennen. Diese markieren die
Staatsgrenze. Und dahinter beginnt Gorizia, Nordostitalien.
Der Piazzale della Transalpina (Transalpin-Platz), dessen slowenische Hälfte Trg Evrope (Europaplatz) heißt,
wurde mit dem EU-Beitritt Sloweniens vor fünf Jahren zum Symbol der Wiedervereinigung. Mit Fanfaren
wurde der grüne Zaun abgetragen und später ins winzige Grenzmuseum im Bahnhofsgebäude verfrachtet.
Dort erzählt er heute, gemeinsam mit Grenzsteinen, dem roten Stern vom Bahnhofsdach und Passierscheinen
für Grenzanwohner, den so genannten Propustnice oder Lasciapassare, die Geschichte einer Doppeltstadt. Ein
zweites Berlin in Mitteleuropa? Der sozialdemokratische Bürgermeister von Nova Gorica, Mirko Brulc, schüttelt
energisch den Kopf. Nein, es sei immer eine Stadt gewesen. Vor allem in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten
habe sich eine Zusammenarbeit, aber auch ein reger Grenzverkehr entwickelt, so Brulc. Die Italiener hatten
Benzin, Fleisch und Zigaretten auf ihren Einkaufslisten stehen. Und die Slowenen lockten zu sozialistischen
Zeiten Kaffee, Nylonstrümpfe und moderne Jeanshosen nach Italien.
Boza Mozetic zog unterdessen die Arbeit nach Gorizia. Fast 15 Jahre war die Slowenin im Nachbarland tätig,
bevor sie nun in Nova Gorica ein Immobilienbüro eröffnet hat. Junge Italiener fragen bei ihr nach Wohnungen
in Slowenien an, wo die Lebenshaltungskosten, Restaurant-, Zigaretten- und Spritpreise niedriger sind. Und
Slowenen erwerben Immobilien in Italien, wo sie dafür ohne Weiteres ein Drittel einsparen könnten, oft bei
besserer Qualität. Dennoch sei solch ein Umzug nicht jedermanns Sache, erzählt die Mittfünfzigerin mit der
gepflegten roten Kurzhaarfrisur: „Denn die Grenze in den Köpfen besteht immer noch.“
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Die Nominierten
Während ihre Eltern noch einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg höchstens vier Mal pro Monat nach Italien
durften, seien die Grenzen in den 1970er Jahren gelockert worden. Tägliche Besuche im Nachbarland waren
fortan möglich. „Trotz Sozialismus war diese Grenze für uns immer das Fenster zur großen, weiten Welt gewesen“,
erzählt Boza Mozetic. In Italien habe man sich über die neuesten Modetrends, aber auch kulinarische oder
technische Entwicklungen informiert. „Und damit waren wir hier an der Grenze oft näher am Puls der Zeit, als die
Menschen in Ljubljana.“ Mit der Unabhängigkeit Sloweniens vom Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 entstanden
jedoch eigene Einkaufszentren im ganzen Land. Man fahre nicht mehr nach Italien, sondern kaufe heute in Nova
Gorica oder Ljubljana ein. Den italienischen Händlern sei daher über Nacht ein enormer Markt weggebrochen,
so Boza Mozetic.
Stattdessen fährt man heute jedoch verstärkt zum Arbeiten über die Grenze: Die Slowenen heuern in Italien als
Fahrer oder Industriearbeiter an, viele auch illegal als Haushaltshilfen. Und die italienischen Arbeiter haben längst
entdeckt, dass es um Nova Gorica wirtschaftlich gar nicht so schlecht bestellt ist, mit Möbelfabrik, Autoelektrikund Zementwerk. Sechs Prozent Arbeitslose habe man zuvor aus slowenischer Seite gehabt, schätzt Bürgermeister
Brulc. Nun seien vielleicht zehn Prozent ohne Arbeit, infolge der globalen Krise.
Ein gemeinsamer Bus, der auf slowenischer Seite kostenlos ist, verbindet die beiden Städte miteinander. Wer
krank wird, kann sich aufgrund eines Abkommens aussuchen, ob er im italienischen oder slowenischen
Krankenhaus behandelt werden möchte. Und wer ein Theaterabo in Nova Gorica erworben hat, bekommt von
den Bühnen in Gorizia erhebliche Rabatte eingeräumt. Überhaupt ist die Zusammenarbeit im Kulturbereich rege.
Dafür sorgen ein italienischer Kulturverband auf slowenischem Boden sowie zwei slowenische Kulturzentren in
Gorizia. Man trifft sich zum gemeinsamen Marathon, Radfahren oder zur Schatzsuche mit dem Auto – natürlich
grenzüberschreitend.
Die Zusammenarbeit der beiden Städte sei nichts Neues, dieser Prozess habe bereits vor drei Jahrzehnten eingesetzt,
sagt Ettore Romoli, konservativer Bürgermeister von Gorizia. Romoli lehnt sich in einem Polstersessel mit den
barocken Holzfüßen zurück und fährt sich durchs schlohweiße Haar. Eine Explosion habe es im Hinblick auf die
bilateralen Beziehungen jedoch nicht gegeben. „Es ist eine Annäherung, die sich langsam entwickelt“, so Romoli.
Die Nominierten
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Veronika Wengert
Mit dem EU-Beitritt Sloweniens habe sich zwar einiges intensiviert, maßgeblicher sei jedoch das Inkrafttreten
des Schengen-Abkommens im Dezember 2007 gewesen. „Die Veränderungen waren dabei eher psychologischer
Natur“, sagt Romoli. Denn trotz der Zugehörigkeit zur Europäischen Union habe man an den Grenzübergängen
anhalten müssen. Seit Schengen könne man unterdessen einfach durchfahren und sich frei bewegen, ohne
Kontrollen. Dennoch schrecken scheinbar viele Bewohner von Gorizia vor einem Besuch in Slowenien zurück.
Jeder Vierte sei noch nicht da gewesen, habe man herausgefunden, sagt Bürgermeister Brulc.
In Italien werde Nova Gorica allerdings oft nur „Slo Vegas“ genannt, in Anlehnung an die US-Glücksspielmetropole
Las Vegas, erzählt Lavra Persolja, Marketing-Expertin des Perla. Überhaupt lebe man zu über 90 Prozent von den
Italienern, die ungeachtet der Krise zahlreich nach Nova Gorica strömen. Nur mit der Höhe der Einsätze sei man
zurückhaltender geworden.: Allein im Perla waren es im Vorjahr 800.000 Gäste, fast alle aus dem Nachbarland.
Und damit diese sich wie zu Hause fühlen, werden italienische Superstars wie Al Bano oder Toto Cotugno auf die
Showbühne eingeflogen. Ein Stück Italien, mitten in Slowenien, rund um die Uhr.
Nova Gorica und Gorizia: Zwei ungleiche Städte, die nebeneinander gewachsen sind. Oder vielmehr eine Stadt,
deren weiteres Schicksal mit den „Pariser Verträgen“ 1947 am Verhandlungstisch besiegelt wurde. Denn die
Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass Nova Gorica, das „Neue Görz“, emporgezogen
wurde – da das alte Görz auf italienischem Gebiet geblieben war. Nur das Bahnhofsgebäude, das 1945 von
jugoslawischen Partisanen besetzt worden war, sowie ein kleinerer Teil der Stadt gingen an Jugoslawien über, der
Großteil der Stadt wurde Italien zugesprochen.
Das alte Görz/Gorizia, das seit dem Spätmittelalter Sitz des gleichnamigen Tiroler Grafengeschlechts Görz
gewesen war, ist historisch gewachsen. Eine Gegend, in der traditionell Italienisch, Slowenisch, Deutsch und
Furlanisch gesprochen wurde. Eine Stadt mit tausendjähriger Geschichte, trutzigem Schloss über der Altstadt,
eleganten Palästen, Herrenhäusern, alten Kirchen und engen Gassen. Und entlang der Via Italia trifft man sich
abends an den Stehtischen vor den Bars, um gesehen zu werden. Gorizia, das mit seinen 36.000 Einwohnern
doppelt so groß wie Nova Gorica ist, versprüht mediterranes Flair.
Auf der anderen Seite der Bahnlinie erhebt sich unterdessen Nova Gorica, eine Planstadt vom Reißbrett, die
im Vorjahr gerade mal ihren 60. Geburtstag feierte. Mit viel Enthusiasmus und noch mehr Beton rückten
Arbeiterbrigaden in den Nachkriegsjahren aus ganz Jugoslawien an. Buchstäblich auf der grünen Wiese wuchsen
gesichtslose Wohnblocks empor. Eine sozialistische Utopie, mit Wohnungen und Arbeit für alle, wurde an der
westlichen Peripherie Jugoslawiens verwirklicht. Das entsprechend gesichtslose Zentrum bilden Rathaus, Bibliothek
und Theater, die sich um einen freien Platz gruppieren. Die malerischen Hügel in der Umgebung stimmen umso
versöhnlicher. Auf einem von ihnen thront ein Franziskanerkloster: Hier fand der letzte französische Herrscher,
Karl X., seine letzte Ruhe, nachdem er 1836 während eines Aufenthalts in Görz erkrankt und verstorben war.
In Nova Gorica setzt man heute allerdings nicht nur auf die malerischen Rebhügel des umliegenden Vipavatals,
sondern vor allem auf Fortuna. Und auf jene gut betuchte Touristen aus Italien, die dem Glücksspiel zugeneigt
sind. Wer es eilig hat, hält gleich im Drive-Inn-Casino direkt hinter dem verlassenen großen Grenzübergang. Das
Casino Perla ist unterdessen bei spielfreudigen Italienern fast zu einem Synonym für die gesamte Stadt geworden:
Ein Segelschiff aus Beton und Glas. Innen verirrt sich der Gast in einem Labyrinth aus 1.008 Spielautomaten und
Pokertischen, die ihm den Ruf des größten Casinos in Europa eingebracht haben. Und in den Restaurants des
Perla kredenzen preisgekrönte Köche feine Speisen mit Rosenblättern. Denn die Rose ist Symbol der Stadt und
wurde früher auch an den Hof nach Wien geliefert.
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Die Nominierten
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Oktay Yaman
Oktay Yaman, geboren 1976 in Berlin, studierte nach dem Abitur
1994 zunächst Germanistische Linguistik an der Humboldt‒Universität
Berlin, absolvierte 2004 ein Studium der Politikwissenschaften am
Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt
„Internationale Beziehungen und Außenpolitik“. Seit 2006 arbeitet er an
seiner Promotion zum Thema „Türkische Außen- und Sicherheitspolitik
im Nahen und Mittleren Osten“. Des Weiteren ist er seit 2003 als Politikredakteur der türkischsprachigen Zeitung Zaman tätig und arbeitete
bis Mai 2009 als freier Autor in der deutschsprachigen monatlichen Zeitschrift Zukunft. Er ist seit 2008 Mitglied im Runden Tisch deutscher und
türkischer Journalisten (Organisatoren: Bundesministerium des Inneren
und Herbert Quandt-Stiftung) und seit 2009 Mitglied der Sitzungen
der AG der Deutschen Islam Konferenz des Bundesministeriums des
Innerren in Berlin.
Europa auf dem Prüfstand
Im 14. Jahrhundert wanderten sie aus Indien über das Gebiet des heutigen Iran nach Osteuropa. In den
Ländern, durch die sie zogen, mischten sie ihre Sprache mit denen der jeweiligen Bevölkerung und bildeten
so unterschiedliche Dialekte aus. In den meisten Fällen übernahmen sie auch die Religion der Länder durch
die sie zogen. Die Rede ist von den Roma, die bis heute als Minderheit in Europa leben und deren Integration
sich als Kernpunkt für den sozialen Frieden in Europa erweisen könnte.
Die Hausherren der Gegenden, in denen die Roma blieben, sahen Jahrhunderte lang auf sie herab. Immer wieder
blickten sie in das kalte Gesicht des Rassismus und der Diskriminierung, was sich auch heute noch fortsetzt. In
manchen Zeiten wurden sie unbarmherzig verfolgt und ermordet, weil sie sich mit ihrer eigenen Lebensweise nicht
an ihr Umfeld anpassen konnten, weil sie ihrer Identität fest verbunden blieben … Die Roma oder die „Zigeuner“,
wie sie der Volksmund nennt, bilden offiziellen Berichten zufolge mit schätzungsweise neun Millionen Angehörigen
die größte Minderheit des europäischen Kontinents. Damit sind sie die einzige Nation, die über eine Bevölkerung
vom Umfang eines mittleren europäischen Staates verfügt und dennoch über kein Gebiet, das sie wirklich ihre
Heimat nennen könnte. Fast überall im vereinigten Europa nehmen die Roma in der sozialen Rangordnung einen
der „untersten“ Plätze ein. Sie sind die ethnische Bevölkerungsgruppe mit dem niedrigsten Bildungsniveau und
der größten Armut, ihr Name wird in allen europäischen Staaten mit „Diebstahl“ und „Bettelei“ assoziiert. Um
aus dieser Situation auszubrechen und der Diskriminierung, der Armut und der Unwissenheit zu entkommen,
bräuchten diese Menschen, die meistens eine nomadische Lebensweise führen und in Großfamilien leben, eine
helfende Hand von außen. Aber auch im Europa des 21. Jahrhunderts sind die Lebensbedingungen für die Roma
alles andere als einfach, und sie haben es schwer, für sich einen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Einwanderungsziel Spanien
Der Kurfürstendamm. Das Herz Berlins und gleichzeitig das touristische Zentrum der Stadt. Eine junge Frau in
den Zwanzigern mit einem in Windeln gewickelten, zwei Monate alten Baby spricht die Passanten auf Englisch
an und bettelt um Geld. Die Farbe ihrer Kleider ist durch den Schmutz undefinierbar geworden, an den Füßen
trägt sie Gummilatschen. Eine Verkehrsampel in einem anderen Viertel, etwa zehn Kilometer entfernt. Auch
hier eine junge Frau. Sie müht sich ab, die Scheiben der bei Rot wartenden Autos zu putzen, um ein paar Cent zu
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Die Nominierten
verdienen. Solche Anblicke findet man heute nicht mehr nur in Osteuropa, seit der EU-Erweiterung begegnen sie
einem auf dem gesamten Kontinent. In Deutschland leben nach offizieller Einschätzung etwa 120.000 Roma. Das
Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung mahnt in seinem letzten Bericht, dass 33.000 Roma
in Deutschland als Asyl - Bewerber leben und ständig von der Abschiebung bedroht sind.
Da in vielen europäischen Staaten die ethnische Zugehörigkeit bei Volkszählungen nicht mit aufgenommen wird,
gibt es keine genauen Angaben über die Gesamtzahl der Roma in Europa. Aus einer Studie über die vorhandenen
offiziellen Berichte geht jedoch hervor, dass Rumänien mit etwa zwei Millionen die größte Roma-Bevölkerung
aufweist, gefolgt von Bulgarien mit ca. 750.000. Überraschend bei der Auswertung der Studie war die Entdeckung,
dass sich die drittgrößte Diaspora dank der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union mittlerweile in
Spanien befindet: Etwa 700.000 Roma leben hier.
Den geringsten Anteil an der Roma-Bevölkerung haben dagegen Island, Dänemark und Albanien. Mit Ausnahme
Spaniens konzentriert sich die Roma-Bevölkerung also hauptsächlich in den osteuropäischen Ländern. Die
Ergebnisse für die übrigen Staaten lauten: Ungarn: 600.000, Slowakei: 500.000, Serbien: 500.000, Frankreich:
310.000, Tschechien: 275.000, Mazedonien: 185.000, Italien: 130.000, Großbritannien: 100.000, Niederlande:
40.000, Polen: 32.600, Bosnien-Herzegowina: 60.000, Schweiz: 40.000, Österreich und Portugal: je 37.500,
Kroatien: 35.000, Schweden: 17.500, Finnland: 10.000.
Als größte Minderheit Europas, die sich im Vergleich zu anderen Nationen auch eines starken Wachstums erfreut,
sind die Roma in den letzten Jahren vielfach zum Diskussionsgegenstand geworden. Nicht nur die Ghettos in
Rumänien und der in Italien auf die Roma-Minderheit ausgeübte psychologische Druck bezeugen dies, sondern
auch eine Reihe von Übergriffen und Attacken physischer Natur. Der bulgarische Ministerpräsident Simeon
Sakskoburggotski traf sich Anfang 2005 in der bulgarischen Hauptstadt Sofia mit acht anderen Regierungschefs
ost- und mitteleuropäischer Länder zu einer Tagung mit dem Titel „Die Integration der Roma“.
Ziel der auch von der Weltbank unterstützten Veranstaltung war neben der Förderung der Integration der Roma
in die Gesellschaft auch der Kampf gegen ihre Diskriminierung und die Schaffung der Voraussetzungen für das
Erreichen einer höheren Bildungsrate unter den Kindern. Roma-Kinder, die keine Schulbildung genossen haben,
sind anfälliger für Straftaten und werden zuweilen auch von Mafiabanden zum Stehlen oder Betteln missbraucht.
Die Zahl der Familien, die weder lesen noch schreiben können, ist unter den Roma auffallend hoch. Auch der
Arbeitslosenanteil nimmt ernsthafte Dimensionen an.
Die Nominierten
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Oktay Yaman
In dem Bewusstsein, dass die Isolation der kinderreichsten Minderheit in Europa vom Rest der Gesellschaft,
ihre Abdrängung in Ghettos und das Ignorieren ihrer Probleme in den kommenden Jahren zur Entstehung
zahlreicher sozialer Konflikte führen wird, suchen die europäischen Staaten nun nach Auswegen, wie eine Nation
von der Größe der österreichischen Bevölkerung, die aber nicht über ein eigenes Land verfügt, unter gerechteren
Bedingungen leben kann. Auch im Europaparlament wird diese Frage derzeit diskutiert. Im EU-Mitgliedsland
Rumänien, das mit den Roma identifiziert wird, lebt laut Volkszählung eine halbe Million Menschen, die sich
selbst als „Zigeuner“ bezeichnen. 350.000 Kinder im schulfähigen Alter sind dort registriert. Die Zahl der
Angehörigen der Roma-Minderheit wird auf zwei Millionen geschätzt, was etwa 10 Prozent der rumänischen
Bevölkerung entspricht. Auch in Bulgarien liegt der Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung bei 10 Prozent.
Den größten Anteil von Roma hat mit 12 Prozent Mazedonien.
Ein Leben am Rande
Wenn man sich ansieht, wo die Roma in vielen Ländern wohnen, zeigt sich einem das „arme Gesicht“ Europas.
Die große Mehrheit von ihnen wird aus der Gesellschaft ausgegrenzt, in einigen Hauptstädten, wie Bukarest und
Sofia, leben sie in Ghettos am Stadtrand, in anderen, wie Paris, in sozialen Brennpunkten; im Kosovo wohnen
sie ebenso in Randgebieten, und in der Slowakei fristen sie ihr Dasein außerhalb der Dörfer. Zudem liegt die
Kinderrate bei Roma-Frauen im Durchschnitt höher als bei den Frauen anderer europäischer Nationen. So hat
beispielsweise in Rumänien eine Nicht-Roma des Jahrgangs 1960 durchschnittlich 1,9 Kinder, eine Roma im
selben Alter dagegen durchschnittlich 3,8 (Tomas Kucera (2000): New demographic faces of Europe, Berlin).
Diese Zahlen könnten möglicherweise schon die Vorboten zukünftiger sozialer Konflikte sein. Das große Leid,
das die Roma in der europäischen Geschichte erfahren haben, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, denn sie
bleiben als Minderheit sich selbst überlassen, verfügen aber weder über eine starke Lobby noch über ausreichend
Intellektuelle, die sie repräsentieren könnten. Zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland wurden etwa
500.000 Roma in den Gaskammern der Konzentrationslager ermordet. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden die
Roma nicht in die europäischen Gesellschaften integriert, sondern führten abseits von ihnen ein Nomadenleben.
Unter den kommunistischen Regimen in Osteuropa wurden viele Roma zwangsumgesiedelt, um sie auf diese
Weise zu assimilieren. In einem Land wurde sogar eine Politik der Fortpflanzungsbegrenzung verfolgt und, um
die Zahl der Geburten zu senken, Frauen zwangssterilisiert. Während der ethnisch-religiös motivierten Kriege
in Jugoslawien in den 90er Jahren standen die Roma zwischen sämtlichen Fronten und wurden von jeder Seite
als „Verräter“ abgestempelt. Viele von ihnen wurden von dem Boden vertrieben, der ihnen zur Heimat geworden
war. Dieses Volk, das in Rumänien als „Tigan“ bezeichnet wird, in Frankreich als „Manouches“, in der Schweiz als
„Jenische“, in Großbritannien als „Gypsies“ und in Deutschland als „Zigeuner“, hat ein Recht auf menschlichere
Lebensbedingungen in Europa. Die vielfältigen Formen der Diskriminierung, denen seine Angehörigen nach
Jahrhunderten des Zusammenlebens mit den übrigen europäischen Bevölkerungen noch immer ausgesetzt bleiben,
sind beschämend. Die Menschen, denen wir an unserem Wohnort, an unserem Arbeitsplatz, in der Schule oder
bei einer Spazierfahrt mit dem Auto begegnen, die wir auf der Straße sehen, sind ein Teil unserer Gesellschaft.
Wir dürfen nicht nur an jene Bettlerin denken, sondern müssen die Vorurteile aus unseren Köpfen vertreiben.
Wie wäre es, wenn wir uns nur ein einziges Mal an die Stelle dieser Menschen setzen?
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Marc Bermann studierte in Heidelberg und Shanghai Politikwissenschaft und Moderne
Sinologie. Nach seinem Studium gründete er in Shanghai und Hongkong seine eigene TVProduktionsfirma, eMBee Productions, und arbeitete für einige Jahre als TV-Producer und
Medienmanager in China. Im Sommer 2007 kehrte Marc Bermann mit seiner Familie nach
Deutschland zurück, um bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart den Förderschwerpunkt
China aufzubauen. Er ist dort als Projektleiter für die Chinaförderung im Allgemeinen
zuständig wie auch für Journalistenprogramme in Mittel- und Osteuropa.
Marc Bermann ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Alfhild Böhringer absolviert derzeit einen Master-Studiengang in Politikwissenschaften
an der University of Edinburgh. Sie war Jugendredakteurin bei der Berliner Zeitung und
arbeitet als Online-Redakteurin für schekker.de, fluter.de, orangelog.eu. Sie war Programmleiterin der European Youth Media Days 2007 im Europäischen Parlament und ist seit 2008
Mitglied im Vorstand der European Youth Press.
Juri Durkot, geb. 1965 in Lemberg (Lviv) studierte Germanistik an der Universität Lemberg. Anfang der 90er Jahre arbeitete er als freier Journalist mit österreichischen Zeitungen
zusammen. Von 1995 bis 2000 war Juri Durkot Pressesprecher der ukrainischen Botschaft
in Deutschland. Seit Oktober 2000 ist er als freier Journalist, Publizist, Übersetzer und
Produzent tätig. Juri Durkot ist Gründungsmitglied der Akademie der ukrainischen Presse.
Neben Produktionen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (BR, WDR, SWR u. a.)
hat er zahlreiche Kommentare für den Hörfunk vorbereitet. Im Suhrkamp Verlag sind in
Übersetzung von Juri Durkot u. a. „Die reale und die imaginierte Ukraine“ von Mykola
Rjabtschuk und „Kult“ von Ljubko Deresch erschienen.
Adam Krzemiński wurde 1945 in Radecznica geboren. Der Germanist war Gastredakteur
der Wochenzeitung „Die Zeit“ und gilt als Fachmann für deutsch-polnische Beziehungen. Er
ist Redakteur des Nachrichtenmagazins „Polityka“ und Autor von Drehbüchern und Essays.
1993 wurde ihm die Goethe-Medaille verliehen, 1996 erhielt er den Essayistik-Preis des Polnischen P.E.N.-Clubs. Für sein Engagement für die deutsch-polnische Verständigung wurde
er 1999 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. 2006 erhielt er den Viadrina-Preis
der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Adam Krzemiński ist Vorsitzender der
Deutsch-Polnischen Gesellschaft in Warschau.
Claus Christian Malzahn ist ein deutscher Journalist und Redakteur des SPIEGEL Online. Nach dem Abitur 1984 machte er ein Volontariat bei einer norddeutschen Presseagentur. 1986 gehörte er zu den Gründern des Lokalteils der tageszeitung (taz) in Bremen.
1987 wechselte er als Reporter in die taz-Zentrale nach Berlin. Ab 1993 arbeitete Malzahn
als Korrespondent des SPIEGEL in Erfurt, Berlin, Bonn und Warschau.
Zwischen 1999 und 2004 berichtete er als Krisenreporter aus dem Kosovo, aus Afghanistan,
Somalia und dem Irak. Von 2004 bis zum Herbst 2009 leitete Malzahn das Politik-Ressort
bei Spiegel Online und das Berliner Büro. Claus Christian Malzahn hat den Reportageband
„Die Signatur des Krieges“ (Matthes&Seitz, Berlin) sowie eine „Kurze Geschichte der
geteilten Nation„ (dtv) herausgegeben. Anlässlich des 20. Jubiläums des Mauerfalls erschien
2009 „Über Mauern“ (WJS, Berlin). Im Herbst 2010 erscheint „Deutschland 2.0. Vorläufige
Bilanz der Deutschen Einheit“ bei dtv.
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Die Jury
Ivan Rodionov war von 2005 bis 2008 Deutschland-Korrespondent des staatlichen russischen TV-Kanals „Rossija“ (RTR). Er absolvierte 1989 eine Ausbildung zum Diplom-Übersetzer und Konferenz-Dolmetscher an der staatlichen Moskauer Fremdsprachenhochschule
mit einem Auslandssemester 1988 an der Karl-Ruprecht-Universität Heidelberg.
Anschließend arbeitete er als Redakteur und Übersetzer bei der Nachrichtenagentur TASS.
Ab 1992 arbeitete er als Producer und Redakteur für westliche Medien in Russland
(SPIEGEL, Vox, die Internationale TV-Agentur WTN und von 1994 bis 2001 für das
ZDF-Studio Moskau). 2001 war er Berichterstatter bei dem Privatsender TV 6, für den er
2003 als Auslandskorrespondent nach Berlin ging. Nach der Schließung des Senders im Juni
2003 wechselte er zu RTR. Nach seiner Zeit als RTR-Deutschland-Korrespondent kehrte er
nach Moskau zurück, wo er als stellvertretender Chefredakteur bei „Westi24“ tätig ist.
Joanna M. Rother, geb. 1978, studierte Germanistik und Niederlandistik an der Warschauer Universität, Leidse Universiteit und Universiteit van Amsterdam sowie Europawissenschaften an der Freien und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Seit 2007 arbeitet sie als Autorin, Producer & Researcher für internationale Fernsehsender
(ARD, rbb, BBC und RTL Nieuws); seit 2008 ist sie Projektleiterin vom Internationlen
Journalistenpreis „1989 – 2009: Europa im Dialog“, einem Projekt der Robert Bosch
Stiftung und der Haniel Stiftung beim MitOst e.V., regelmäßig veröffentlicht sie in der
Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Schwerpunkt Polen und Osteuropa.
Andrea Seibel wurde am 12. Juni 1958 in Hamm/Rhein geboren. Nach dem Abitur studierte sie ab 1977 an der Freien Universität Berlin Linguistik und Literaturwissenschaft,
Politische Wissenschaften und Geschichte. Von 1982-1995 war sie Redakteurin der „tageszeitung“ (taz), einer der wenigen erfolgreichen Zeitungsneugründungen der Bundesrepublik
Deutschland (Reise, Ausland, Nachrichten, Meinung und Politisches Buch). 1995-1997
Ressortleiterin Ausland bei „der Wochenpost“, einer ost-westlichen Wochenzeitung. Seit
1998 bei der Tageszeitung „Die WELT“ als Ressortleiterin der Doppelseite Forum (op-ed).
Seit 2003 Stellvertretende Chefredakteurin „Die WELT“/„Berliner Morgenpost“.
Luise Tremel, geb. 1983, ist Referentin der Bundeszentrale für politische Bildung und dort
zuständig für multimediale Bildungsprojekte zu zeitgeschichtlichen Themen.
Sie hat Geschichte und Literaturwissenschaften in Harvard und London studiert und lebt
in Berlin.
Bernd Ulrich leitet das Politik-Ressort der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Er
arbeitet seit 1991 als Journalist; zunächst war er freiberuflich tätig, unter anderem für die
„Frankfurter Rundschau“, die „taz“ und die „FAZ“ . Zwischen 1993 und 1996 war er
Bonner Korrespondent der „Wochenpost“, von 1997 bis 2003 als leitender Redakteur des
„Tagesspiegels“ in Berlin tätig.
Die Jury
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Jurysitzung
im Collegium Hungaricum Berlin
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Jurysitzung
Jurysitzung
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Medientraining
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Medientraining
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Medientraining
in der Berliner Journalisten-Schule
mit Stefan Maria Rother
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Medientraining
Medientraining
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Medientraining
In Zusammenarbeit mit Verbundnetz Gas AG
Das ist VNG
Die VNG – Verbundnetz Gas Aktiengesellschaft, Leipzig, ist eine international tätige
Unternehmensgruppe mit Hauptsitz in Leipzig, die aus Norwegen, Russland und anderen
Quellen europäische Großkunden und Kommunen mit Erdgas versorgt. Als Unternehmen der
Gaswirtschaft besteht VNG seit mehr als 50 Jahren.
Das leistet VNG
Das Kerngeschäft von VNG ist der Erdgasimport, der Großhandel mit Erdgas, der Transport,
der Betrieb von Speichern und die Vermarktung ihrer Kapazitäten. Zunehmend wird VNG bei
der Exploration und Produktion von Erdgas in Norwegen aktiv.
Die Ziele der VNG
VNG schafft durch die Sicherung bestehender und durch die Erschließung neuer Absatzmärkte
und Geschäftsfelder sowie durch eine weitere Diversifizierung bei der Beschaffung von
Erdgas die Voraussetzungen für einen anhaltenden Wachstumskurs. Das Ziel ist die stetige
Unterstützung der Kunden mit individuell zugeschnittenen, wirtschaftlichen, zukunftssicheren
und umweltverträglichen Lösungen rund um die Beschaffung, Verteilung und Anwendung von
Erdgas und Energie.
Das gesellschaftliche Engagement der VNG
Das Unternehmen stellt sich national sowie international seiner gesellschaftlichen und sozialen
Verantwortung. Mit besonderer Freude haben wir deshalb das im Rahmen des Internationalen
Journalistenpreises „1989 – 2009: Europa im Dialog“ stattfindende Medientraining in der
Berliner Journalisten-Schule finanziell unterstützt und somit einen wichtigen Beitrag zur
Weiterqualifizierung und Professionalisierung der Nachwuchsjournalisten aus Mittel- und
Osteuropa geleistet.
Mit der Initiative VNG Campus ist es gelungen ein Netz zwischen deutschen, russischen,
norwegischen, polnischen und tschechischen Universitäten zu spannen, auf dessen Basis
internationaler Austausch in Forschung und Bildung im Bereich der Energiewirtschaft gefördert
wird. Mit der Initiative Verbundnetz der Wärme unterstützt die VNG seit dem Jahr 2001 in den
Kommunen der neuen Bundesländer und in Berlin soziale Projekte engagierter Ehrenamtlicher.
Weiterhin ist seit 2006 das Verbundnetz für Demokratie und Toleranz aktiv. Die Initiative
strebt die Stärkung der Zivilgesellschaft an, um so gefährlichen Tendenzen für Demokratie und
Rechtstaat begegnen zu können. VNG unterstützt außerdem den Breiten- und Spitzensport. Die
Initiative Verbundnetz für den Sport fördert dabei individuell junge ostdeutsche Leistungssportler
mit Paten oder Sachmitteln.
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Medientraining
Medientraining
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Redaktionsbesuche
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Redaktionsbesuche
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Redaktionsbesuche
bei Die Zeit und SPIEGEL
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Redaktionsbesuche
Redaktionsbesuche
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Stadtführung
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Stadtführung
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Stadtführung
durch das Berlin von 1989
mit Matthias Rau
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Stadtführung
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Preisverleihung
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Preisverleihung
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Preisverleihung
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Preisverleihung
Preisverleihung
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Preisverleihung
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Preisverleihung
Preisverleihung
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Pressespiegel
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Pressespiegel
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Pressespiegel
Auszug
Zaman, 10.10.2009
SME, 10.09.2009
Die Welt, 06.09.2009
Hürriyet, 10.10.2009
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Pressespiegel
Pressespiegel
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Impressum
1. Auflage
© MitOst e. V., Berlin 2010
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen,
elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung sowie der Einspeicherung
in elektronische Systeme.
Verantwortlich: Joanna M. Rother
Mitarbeit: Anna Samol
Lektorat: Thomas Döring
Grafik und Satz: Olaf Schulz / www.akustikkoppler.org
Fotos: Stefan Maria Rother / www.StefanMariaRother.com
Fotos auf den Seiten 60-63: Teilnehmer des Medientrainings
Druck und Bindung: Pinguin Druck
Printed in Germany.
ISBN 978-3-9812411-3-6
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Impressum
Ausgeschrieben von
Gefördert von
Gefördert durch die Europäische Union im
Sponsoren
Rahmen des Programms „Europa für Bürgerinnen
und Bürger“ 2007-2013.
Medienpartner
Der Internationale Journalistenpreis wird von MitOst e.V. veranstaltet, dem Verein für Sprach und
Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit über 1700 Mitgliedern aus über 40 Ländern.
Mehr Informationen unter: www.mitost.org
Printed in Germany.
ISBN 978-3-9812411-3-6

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