Arme Ritter - Edition Nautilus

Transcrição

Arme Ritter - Edition Nautilus
Wolfgang Bortlik
ARME RITTER
Roman
Edition Nautilus
Für Lutz
We are stardust, we are golden.
Joni Mitchell
Ich werde nicht böse auf Sie und mache Ihnen
keine Vorwürfe, da ich weiß, wenn Sie lügen,
die Wahrheit verheimlichen oder stillschweigend
übergehen, dann tun Sie es nicht aus irgendeinem
selbstsüchtigen Grund, Sie tun es schlechtweg,
weil Sie glauben, es sei der Sache dienlich.
Michail Bakunin an Sergej Netschajew
Denn niemals kann erzwungen werden, dass ist,
was nicht ist.
Parmenides
Vorspiel
Ein junges Paar betritt den Schalterraum der Kreissparkasse
des Marktfleckens Glonn in Oberbayern. Beide sind sehr
ordentlich gekleidet, die Frau ist auffällig blond. Gleich
dahinter kommt noch ein junger Mann herein, bleibt aber
beim Eingang stehen. Er ist von einer gewissen Statur, sein
Anzugsakko spannt in den Schultern und die Hosen sind zu
kurz. Er trägt eine große Sonnenbrille. Außer den dreien ist
nur eine ältere Kundin in der Bank, die lautstark die Sommerhitze beklagt. Der Filialleiter lehnt sich über seinen
Schaltertisch und lockt mit unverständlichen Lauten den
Rauhaardackel der Dame.
Das Pärchen, beide bebrillt, er mit einem sauber gestutzten Vollbart, geht zum zweiten Schalter der Kreissparkasse.
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Dort betrachtet eine Bankangestellte im Ringelpulli etwas
gelangweilt ihre rosa lackierten Fingernägel, bevor sie sich
den beiden jungen Leuten zuwendet: »Grüß Gott, was kann
ich für Sie tun?«
Dem jungen Mann, der ziemlich krumm dasteht, steht
der Schweiß an beiden Schläfen. Er krächzt etwas Unverständliches und wischt sich fahrig übers Gesicht, während
die junge Frau ihre voluminöse Handtasche aufklappt und
plötzlich eine Pistole in der Hand hält.
Da legt auch der Mensch im zu engen Anzug beim Eingang in voller Lautstärke los: »Das ist ein Überfall! Keine
Bewegung! Das ist ein Überfall!« Er hat auch eine Waffe in
der Hand und geht zum Schalter mit dem Hundeliebhaber.
Die ältere Dame sinkt mit einem wehen Laut bewusstlos zu
Boden. Ihr Dackel beginnt zu kläffen. Der Filialleiter hebt
die Flossen hoch und sieht seine Untergebene dringlich an.
Die hält auch die Händchen in die Luft, wedelt aber damit,
als ob sie ihren Nagellack trocknen müsste.
»Was soll der Scheiß, runter mit den Pfoten! Hier, das
Geld rein, alles Geld hier rein!« Die junge Frau gibt einen
der Leinensäcke, die sie aus ihrer Tasche zieht, dem Ringelpulli hinter dem Schalter und wirft den anderen dem Komplizen im zu knappen Anzug zu.
Der wird wieder sehr lautstark: »Das ist ein Überfall!
Alles Geld in den Sack! Auf geht’s! Keinen Alarm, sonst
knallt es!«
Der Dackel bellt dazu.
Die Bankangestellten fangen an, Geldbündel in die Säcke
zu stopfen. Auf Befehl der jungen blonden Frau öffnet der
Filialleiter den Tresor. Der Dackel bellt und bellt.
»Halt die Schnauze, Waldi!« Der im Anzug versucht, den
Hund zu treten, doch der Dackel verbeißt sich stattdessen
in sein Hosenbein. Plötzlich geht ein Schuss los. Ein Riesenkrach. Alles erstarrt. Die Welt steht einen Moment lang still.
Dann packen der Filialleiter und seine Mitarbeiterin bedeutend schneller als vorher das Geld in die Säcke. Der Dackel
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verzieht sich fiepend hinter sein immer noch bewusstlos
daliegendes Frauchen.
Der Bankräuber mit dem gestutzten Vollbart ist leichenblass geworden. Jetzt schreit auch die junge Frau: »Her mit
den Säcken!« Der Brüllaffe fuchtelt mit der Pistole herum
und der Filialleiter drückt noch ein letztes Bündel Banknoten in den Sack.
Alles hat vielleicht drei, vier Minuten gedauert. Kein
Mensch ist unterdessen in die Bank gekommen. Die junge
Frau drückt ihrem bärtigen Begleiter den Geldsack in die
Arme und stößt ihn vor sich her zur Tür. Der im Anzug folgt
dichtauf. Draußen steht mit laufendem Motor ein weißer
Opel Kadett.
Die drei Bankräuber steigen ein. Der im Anzug brüllt: »Du
Vollidiot, man kann die Nummernschilder lesen!« Dann
heult der 1200-Kubik-Motor auf und das Auto verschwindet
in Richtung München. Aber das sieht gar niemand.
Der kleine Platz vor der Kreissparkasse ist leer. Der oberbayrische Sommernachmittag liegt schwer und gemütlich
über dem Marktflecken. Aus der Bank kommt auch kein
Laut. Irgendwann fährt dann doch die Polizei mit zwei grünen VW-Käfern vor, da scheint aber schon eine halbe Ewigkeit seit dem Überfall vergangen zu sein.
Unterdessen jagt der weiße Kadett auf schnurgeraden
Straßen durch einen ausgedehnten Wald. Das Sommerlicht
wird durch hohe Fichtenstämme gerastert. Es müsste wunderschön sein, in diesem warmen Braun und Grün spazieren zu gehen, die vielfältigen Wunder des Waldbodens zu
entdecken, den geheimnisvollen Geräuschen zu lauschen.
Das Auto fährt schnell. Keiner der Insassen redet. Die
junge Frau streichelt dem Leichenblassen beruhigend übers
Haar und küsst ihn kurz. Sie trägt keine Brille mehr, er hat
das klobige Horngestell durch ein Modell ersetzt, wie es
John Lennon trägt. Der Brüllaffe haut mit seiner gewaltigen
linken Faust wieder in seine rechte Hand. Der Fahrer, der
auffällig lange Haare hat, zieht nervös an einer Zigarette,
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drückt sie aus, holt eine neue aus dem Paket neben der
Gangschaltung und bricht schließlich das Schweigen: »Die
Nummernschilder hab ich geklaut, wenn die wirklich jemand gesehen hat und die Nummer den Bullen mitteilt,
dann wird das denen nicht viel nützen.« Dann drückt er
eine Musikkassette in den Schlitz über dem Autoradio und
dreht auf. Natürlich die Rolling Stones: »Gimme Shelter«.
Wir schreiben das Jahr 1974. Die Banken sind noch keine schusssicheren Glasfestungen. Das Personal ist nicht geschult, wie es sich bei Überfällen verhalten soll. Die aus der
Sommerruhe gerissene Provinzpolizei hält überhaupt nichts
von Eile, von Straßensperren oder von großflächigen Suchaktionen.
Und überhaupt, was ist schon ein Banküberfall gegen die
Eröffnung einer Bank?
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I
Michael Ziegler sitzt auf der Toilette und blättert in einem
schmalen Taschenbuch. Es ist ein Pamphlet gegen die Diktatur des Finanzkapitalismus, gegen die Unterdrückung von
Minderheiten, gegen die ökologische Zerstörung unseres
Planeten. »Neues schaffen heißt Widerstand leisten! Widerstand leisten heißt Neues schaffen!« liest er, schöne Worte,
aber er kann mit dieser Parole nichts anfangen. Die ist ihm
zu einfach, zu nebulös. Dieser Slogan wird wohl ein paar
Jahre später wieder in der Werbung auftauchen.
Eine Ladung Darmwind verlässt Zieglers Körper. Er vermutet schon lange, dass er an einem krankhaften Blähbauch
leidet. Meteorismus. Schön, dass es Worte gibt, die einen das
Üble und Böse nicht gleich so eindeutig verstehen lassen.
Die Aussagen dieses Taschenbuchs sind im Übrigen nichts
Neues unter der Sonne. Ziegler ist auch enttäuscht vom Inhalt. Das sind doch Sachen, die er schon vor vierzig Jahren
postuliert hat. Aber es ist schön, dass dies heutzutage noch
gesagt wird und auch Anklang findet.
»Empört Euch!« Okay, denkt Ziegler, das habe ich hinter
mir. Er muss noch einmal furzen und legt die Broschur zur
Seite. Dann starrt er auf das blutverschmierte Klopapier in
seiner Hand. Er weiß, was die Ursache ist, es macht ihm
trotzdem Angst. Aber er wird deswegen keinesfalls zum Arzt
gehen, denn der könnte bei der Gelegenheit bei ihm noch
allerlei anderes Unheil als diese chronischen Hämorrhoiden
aufspüren. Etwa den merkwürdigen Knoten im Oberarm,
den er immer spürt, wenn er nach ein paar gelungenen Liegestützen seinen spärlichen Bizeps misst. Das kann nichts
Gutes bedeuten, diese Geschwulst. Muskelkrebs, gibt es das?
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Ziegler ist kein Hypochonder, weil er gar nicht wissen
will, wie krank er ist. Er hat sich damit abgefunden, dass er
alt wird. Bald ist er sechzig. Der Körper geht seinen Weg und
der Weg führt nach unten. Diese Erkenntnis reicht vorderhand. Dennoch geht das Leben weiter. Ziegler schnäuzt in
eine neue Lage Papier. Auch diesmal Blut. Das heißt, einfach
weniger in der Nase bohren. Er beendet die Geschäftssitzung
und geht in die Küche. Dabei fasst ihn plötzlich eine Lust
an, dass er lebt. Immer noch! Er tänzelt etwas allzu keck. Er
boxt in die Luft. Alter Blödmann!
Es klingelt an der Haustür. Das wird Eva sein, mit ihrer
Tochter Letitia. Aber so darf man die Siebzehnjährige nicht
nennen. Sie heißt Letty. Ziegler wird mit Eva ein paar Tage
nach Paris fahren, um ihre taufrische Beziehung auf die Probe zu stellen. Ihre Tochter soll in dieser Zeit in seiner Wohnung die Pflanzen gießen und die Post aus dem Briefkasten
holen. Das hat Eva, praktisch und vif, wie sie ist, vorgeschlagen, und Ziegler hat, vorübergehend liebesblind und
ohne zu überlegen, dazu genickt.
Er schaut schnell in den Spiegel, als er zur Tür geht.
Ganz okay für sein Alter, er muss einfach den Blähbauch
etwas einziehen und versuchen, sich geradezuhalten. Die
neue Brille gibt seinem arg gelichteten Quadratschädel
ein leicht intellektuelles, wenn nicht gar weltmännisches
Flair.
Die beiden haben sich gestritten, denkt Ziegler, als er
Mutter und Tochter eintreten lässt. Eva hat ganz rote Backen
und atmet schwer. Das ist nicht wegen der Treppe in den
ersten Stock oder wegen des etwas ansteigenden Wegs zum
Haus am Waldrand, in dem Ziegler wohnt. Evas sonst so
sorgfältig gelegtes graues Haar ist verwuschelt, ein Büschel
steht kühn ab. Letitia versteckt sich hinter ihren langen
braunen Haaren und erwidert Zieglers Gruß nicht.
»Hallo du!« Evas Lippen streifen kurz die seinen. Er
nimmt die bedeutend kleinere Frau in die Arme, drückt
einen Kuss auf das abstehende Haarbüschel und blickt
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über ihren Kopf hinweg. Er sieht noch, wie Letty die Haare
hinter ihre Ohren zurückstreicht, die Augen verdreht und
den Mund verzieht. Nein, die Tochter seiner neuen Freundin ist nicht auf seiner Seite. Die mag ihn ganz und gar
nicht.
Evas Atem geht jetzt regelmäßiger. Sie riecht nach Honig.
Ziegler möchte noch ein bisschen so stehen bleiben, zumindest bis sie sich endgültig beruhigt hat. Aber die Luft
brennt immer noch von Evas Ärger. Elektrisch geladen.
Summend.
»Was ist denn jetzt, was soll ich genau machen?«, quengelt ihre Tochter und stellt sich direkt neben ihre Mutter,
so als ob sie diese vor etwas beschützen müsste.
»Also die großen Pflanzen in der Stube brauchen nicht so
viel Wasser, aber die Setzlinge vor dem Panoramafenster, die
müssten alle zwei Tage gegossen werden. So, dass das Wasser nicht über die Untersetzer schwappt. Und dann bitte immer auch den Briefkasten leeren. Ist das okay, kannst du das
machen?«
»Ich bin ja nicht behindert«, schnappt Letty und macht
ihren Haarvorhang wieder zu. Sie nimmt die zwei Schlüssel,
die ihr hingehalten werden. Ihre Mutter schüttelt dazu den
Kopf und klammert sich an Zieglers Oberarm.
Nachdem die beiden gegangen sind, dauert es keine halbe
Stunde und Eva ruft an. Letty habe beschlossen, ihn, Ziegler, nicht zu mögen, sie finde es peinlich.
»Wer oder was ist peinlich?«
»Na wir beide, unsere Liaison!«
Bei diesem Wort muss Ziegler unwillkürlich grinsen: »Unsere Liaison? Wieso denn das?«
»Einfach so! Sie findet mich peinlich, dass ich mich in
meinem Alter noch so benehme, du weißt schon, so, ja.
Aber Letty weiß vor allem nicht, was sie von dir halten soll.
Sie findet dich, wie soll ich sagen, komisch, weil du so bist,
wie du bist. Dass du zum Beispiel keinen festen Job hast.
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Versteh mich bitte nicht falsch, du weißt ja, wie materiell
die Jugend heute denkt. Letty stört, dass ich ihr nicht einfach sagen kann, dass du Herr Professor, Direktor oder was
weiß ich bist. Dass du da und dort arbeitest und soundso
viel im Monat verdienst. Nicht, dass das ein Problem ist,
nicht dass ich das jetzt irgendwie ernst nehme, versteh mich
nicht falsch, du …« Eva verstummt mit einem merkwürdigen Laut.
Ziegler lacht leise. »Sag ihr doch, ich sei Künstler.«
»Michael, damit kannst du reifere Damen wie mich becircen, aber nicht meine siebzehnjährige Tochter.«
»Dann sag ihr halt, dass ich in den 1980er Jahren ein
berühmter Pop-Produzent war und immer noch von den
Tantiemen zehre.«
»Stimmt das denn wirklich?«
»Na ja, mehr oder weniger. Komm schon, Lettys Abneigung wird sich mit der Zeit legen. Sie kennt mich ja gar
nicht. Morgen fahren wir erst mal nach Paris. Denk nur, die
Stadt des Lichts und der Liebe.«
Eva seufzt. Ziegler seufzt zurück. Vor ein paar Wochen
hat er einen Anfall von Einsamkeit gehabt. Seine Bücher
und seine Schallplatten konnten ihn fast nicht mehr trösten. Auf einmal hat ihm das Alleinsein schwer aufs Herz und
die Seele gedrückt. Schlaflos so ganz allein auf dem großen
Futon. Eine hundsmäßige Verlassenheit ist über ihn gekommen. Also hat er auf Evas Kontaktanzeige in einer Wochenzeitung reagiert. Sie sei »relativ schön« stand da, das gefiel Ziegler. Er schrieb zurück, er sei eigentlich auch ziemlich
relativ.
Sie trafen sich in der unverfänglichen Atmosphäre eines
scheußlich eingerichteten Cafés im Stadtzentrum. Ziegler
fand gleich heraus, dass Eva begierig war auf Kultur, Kunst
und Reisen. Diese Interessen konnte er perfekt bedienen.
Also ließ er seinen ganzen Charme spielen. Die Anstrengungen lohnten sich unmittelbar. In Evas Augen konnte er
lesen, dass ihr die Aussicht gefiel, mit einem gebildeten
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Herrn seines Alters die Welt oder zumindest die nähere Umgebung unsicher zu machen.
Am Ende des Rendezvous hat er tunlichst vermieden, sie
zu berühren oder ihre Hand zu nehmen. Das hat Eva dann
gemacht, beim Abschied. Sie hat zweimal die Luft neben seinen Wangen geküsst und dann, wie zufällig, doch noch seine Backe. Ein klares Zeichen. Ein Triumphgefühl ist da in
Ziegler aufgestiegen.
Eva Schaub ist Lehrerin am Humanistischen Gymnasium.
Aktiv bis in die Fingerspitzen. Sie ist kompakt und resolut,
sie bevorzugt klare Ansagen und Entscheidungen. Zack
bumm! Ziegler macht das ein bisschen Angst. Nein, Ungemach, ja, Nervosität befällt ihn. Aber Eva passt in sein Beuteschema.
Sie seufzt noch einmal ins Telefon: »Ich hoffe, du hast
recht wegen Letty. Wir sehen uns morgen auf dem Bahnhof. Ich war ja schon zwanzig Jahre nicht mehr in Paris. So
eine schöne Stadt. Ach, ich liebe diese großen Kaufhäuser.
Und die Boulevards. Ich freue mich sehr!«
Ziegler erwidert ein bisschen stockend: »Ich mich auch.
Also freuen, meine ich. Das wird schön.« Eigentlich hätte er
gerne noch etwas Emotionaleres angehängt, zumindest ein:
»Ich hab dich gern«, aber da ist die Verbindung schon unterbrochen.
Ziegler atmet tief durch. Diese kleine Kröte von Tochter
hat ganz offensichtlich ein gewisses Sensorium. Zieglers
Absichten sind nicht nur emotional gesteuert. Sein Konto
leert sich in atemberaubendem Tempo, das kleine Erbe
seiner kurz nacheinander verstorbenen Eltern ist für diese Wohnung am Waldrand draufgegangen. Eva ist sicher
nicht reich, aber doch vermögend. Lehrerinnen am Gymnasium verdienen gutes Geld. Auch wenn die Hälfte wahrscheinlich für dieses verwöhnte Gör draufgeht. Eva kommt
außerdem aus einer wohlsituierten Familie. Das weiß jeder
hier in Basel. Sie könnte durchaus für ein bisschen Sicherheit stehen, für Zieglers würdiges Altern. Allerdings, noch
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ist genug in seiner Kriegskasse, um mit ihr nach Paris zu
fahren.
Er schaut noch einmal in den Spiegel im Flur. Alles bestens, wenn er sich nur gerade hält.
Am nächsten Morgen lässt er noch einmal den Blick in seiner Bleibe schweifen. Hat er alles für die Reise: Ausweis,
Geld, Fahrkarte? Was noch? Wo ist sein Handy? Ach ja, der
Fotoapparat. Fünf Bücher für fünf Tage sind vielleicht etwas
viel, da er doch in Gesellschaft ist. Gerade mal drei Stunden
werden sie im Zug von Basel nach Paris sitzen. Was braucht
er denn noch? Hat er seine Bankkarte eingepackt? Plötzlich
überkommt ihn doch noch ein ungutes Gefühl. Dass Letty,
dieser miesepetrige Teenager, ungehinderten Zugang zu seiner Wohnung hat, verursacht ihm jähes Unbehagen.
Liegt hier in seiner Klause irgendetwas herum, was dem
feinen Töchterlein einen Schock versetzen könnte, wenn
es die Pflanzen hegt? Trostlose Kontoauszüge? Zeugnisse
aus seiner Vergangenheit? Sonst Verdächtiges? Viagra? Nein,
alles gut versteckt oder eingepackt. Ziegler schaut in die
Küche. Auch schön aufgeräumt. Er schaut auf die Uhr.
Wann fährt eigentlich der TGV nach Paris? Soll er mit
dem Fahrrad zum Bahnhof fahren oder doch lieber mit der
Trambahn? Außerdem drücken ihn diese flotten schwarzen
Halbschuhe sehr an der Ferse, da zieht er besser die neuen
Turnschuhe an.
Die schmale Broschüre Empört Euch! von Stéphane Hessel hat er erst der Papiersammlung anheimgeben wollen,
jetzt legt er sie auf den Küchentisch, wo Letty das Büchlein
auf jeden Fall sehen kann. Den Post-it mit »Für Letty« reißt
er aber besser gleich wieder ab.
Er steht schon im Treppenhaus und zögert dann, die
Wohnungstür hinter sich zuzuziehen. Es scheint ihm, dass
aus der Bibliothek feine Stimmchen klingen, die kaum vernehmlich rufen: »Bleib hier, Meister, bleib hier, lass uns
nicht allein!«
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»Unsinn!«, denkt Ziegler, »das gibt es doch nicht!« Er
poltert die Treppe hinunter.
Mit hochrotem Kopf prustet er auf den Bahnsteig. Der TGV
steht noch da. Da sieht er Eva. Sie winkt, als ob ihre Hände
brennen würden, und redet auf den Schaffner ein. Nichts
wie rein in den Zug!
»Fahrradkette«, japst Ziegler. »Rausgesprungen, nicht
mehr reingekriegt das Ding, ums Verrecken nicht, und keine Taxinummer im Handy.«
»Ist ja alles noch mal gutgegangen«, meint Eva und streichelt seine Hand. Aber Ziegler spürt, dass sie immer noch
auf mindestens tausend Touren läuft. Ihre braunen Augen
blitzen noch nach, wie bei einem sich langsam entfernenden Gewitter, und da ist auch dieses widerspenstige Haarbüschel wieder, das hochsteht, als ob es elektrisch geladen
wäre.
Ziegler bemüht sich, während der Fahrt die Stimmung zu
heben. Er beginnt mit Unverfänglichem. Wie er sich freue.
Wie schön Paris sei. Die Hauptstadt der Welt. Was es dort
nicht alles zu sehen gebe. Dann fragt er nach Letty, ob sie
immer noch kratzbürstig sei. Es interessiert ihn eigentlich
nicht, aber jetzt kann Eva sich ein bisschen ausjammern.
Langsam beruhigt sie sich. Ziegler hält ihre Hand ganz fest
und lehnt sich zurück, soweit das im engen Sitz des Hochgeschwindigkeitszugs überhaupt möglich ist.
Dann übernimmt er wieder das Wort, erzählt vom 18. Arrondissement, wo sie wohnen werden. Montmartre, aber
eben nicht dort, wo sich die Touristenmassen herumschieben, sondern knapp daneben. Eine geschichtsträchtige Gegend in jeder Beziehung. Ein Zentrum der Kommune von
1871. Die Barrikaden des republikanischen Paris, der aufständischen Werktätigen gegen die feige Zentralregierung,
die vor den einmarschierenden Preußen kuschte und stattdessen die Revolutionäre zusammenkartätschte. Die Menschen von Paris, die für die Freiheit ihr Leben geben woll-
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ten, die heldenhafte Louise Michel, la Petroleuse, die Kanonen von Montmartre.
Ziegler beendet seinen Wortschwall, als er Evas verständnislosen Blick bemerkt. Ja, hat sie denn keine Ahnung von
all dem? Paris, die Hauptstadt der Revolte, des Aufstandes.
Die Revolution, die Hoffnung der Geknechteten, der Sturz
der Herrschenden. Geschichten, bei denen es Ziegler immer
warm ums Herz wird. Weil das nicht aus der Welt verschwinden wird. Nicht die Hoffnung, auch nicht die Gewalt
und die Niederlage. Er glaubt nicht an den letzten Kampf,
sondern an eine endlose Folge von Kämpfen und Revolten,
immer neu und immer gleich, denn die Ungerechtigkeit
und die Anmaßung verschwinden nicht von selbst aus der
Welt, die Sklaverei droht stets, und man muss sich schlussendlich einfach wehren, mit allen Mitteln. Das hat er jedenfalls lange geglaubt, aber auch das ist jetzt kein Thema,
um es mit Eva zu besprechen.
»Das kannst du mir alles vor Ort ganz genau erklären, Lieber«, summt sie und lehnt ihren Kopf an seine Schulter.
Ziegler hält seinen Mund und ihre Hand, während draußen
eine grün-braune Landschaft vorbeihuscht. Dabei durchfährt ihn ein Schauer bei der Vorstellung, dass er mit Eva in
den Galeries Lafayette oder anderen gewaltigen Warenhäusern herumirrt, umgeben vom gnadenlosen Gleißen des
Käuflichen.
Zur endgültigen Wiedergutmachung ordert Ziegler am
Gare de Lyon ein Taxi, damit sie bequem zu ihrem Hotel
kommen. Auf Wunsch von Eva hat er ein richtiges Appartement gemietet, aus Platzgründen und auch, damit man
zwischendurch ein Süppchen oder einen Tee kochen
kann.
Das Auto, dessen Kofferraum nur knapp Evas voluminöses Gepäck aufnehmen kann, quält sich durch den Verkehr
um die großen Plätze herum. Der Engel der Freiheit grüßt
glänzend von der Säule an der Place de la Bastille. Vielleicht
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lacht er sie auch aus, wie sie da beide im Taxi sitzen und
plötzlich nicht mehr so genau wissen, was der eine vom anderen zu halten hat. Dann geht es wieder voran. Dann bleibt
man wieder stehen. Nach einer endlosen Fahrt quer durch
die Stadt hält das Taxi genau vor dem Eingang zum Cimetière de Montmartre. Ziegler wundert sich. Eva sieht ihn an
und deutet stumm auf die Grabsteine und Monumente, die
knochengrau und beinweiß durch das offene Tor scheinen.
Sie ist ein bisschen blass um die Nase. Ziegler hätte vorher
nachschauen sollen, wo dieses Apart‘Hotel Citadines genau
liegt.
Der Taxifahrer grinst breit in den Rückspiegel, als könne
er sich über Missstimmungen zwischen seinen Fahrgästen
glänzend amüsieren. »Apart‘Hotel Citadines Montmartre,
c’est justement ici!«
Ihre Bleibe liegt tatsächlich genau neben dem Friedhof.
Ziegler gibt gleich zum Besten, dass hier Heinrich Heine begraben liegt. Und Henri Beyle alias Stendhal, sowie auch
Théophile Gautier, alles große Künstler, und das in unmittelbarer Nachbarschaft. Ziegler tut aufgekratzt und fröhlich,
aber Evas Stimmung kommt schwerlich aus dem Keller heraus, auch wenn das Zweierstudio im Hotel geräumig und
hell ist und es einen hübschen Innenhof gibt, von dem aus
man rein gar nichts vom Friedhof sehen kann. Wortlos beginnt Eva, ihren Koffer auszupacken. Ziegler sitzt programmatisch auf dem Bett, aber nichts passiert.
Er spürt, wie Ärger in ihm aufzieht. Was soll dieses Verstummen, dieses Gezicke wegen des Friedhofs? Die Toten
sind tot, die werden sich nicht rühren und als Geister um
Eva herumschwirren und sie erschrecken. Wobei Ziegler sich
gleich selbst verbessert: Selbstverständlich sind die Toten einerseits mausetot, aber andererseits bleiben sie durch ihre
Taten und Werke am Leben. Heinrich Heine und Stendhal
sind bedeutend lebendiger als so mancher von den Schriftstellern, die sich jetzt gerade in ihrem Metier versuchen.
Und sowieso sind sie lebendiger als alle diese Konsum-
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leichen, die auf der Suche nach dem ultimativen Schnäppchen über die Boulevards schleichen.
Ziegler wartet darauf, dass Eva etwas sagt oder tut. Doch
sie gibt nur einen unterdrückten Laut von sich, als ihr im
Bad das Necessaire zu Boden fällt.
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