Beobachtungen einer geteilten Seele

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Beobachtungen einer geteilten Seele
Periodischer
Patriotismus
Beobachtungen einer geteilten Seele
Von Marcello Buzzanca
Inhaltsverzeichnis:
Prolog
I.
Irrungen, Wirrungen
II.
ABC – Schützenverein
III.
Back to the roots
IV.
Die Reifeprüfung
V.
Il calcio è amore – Erster Teil
VI.
Il calcio è amore – Zweiter Teil
VII.
Apropos Namen
VIII.
Hilavoku
IX.
Apropos Bomberjacken
X.
Melodien für Millionen
XI.
Renegade
XII.
Member Card
XIII.
Sarajevoooo!
XIV.
Poost!
XV.
Ist Ihr Kollege da?
XVI.
Die Mauer in den Köpfen
XVII.
Humane Romanistik
XVIII.
Ausländerradio
XIX.
Licherkette
XX.
For whom the bell tolls
XXII.
Renegade - The first episode
XXIII.
Exil
XXIV.
Schlussendlich
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Prolog
Metaphern sind dem Menschen zueigen wie Wirbeltieren die Krallen. Sie sind
vielgestaltig und anpassungsfähig. So wie der Huf eines Elefanten genauso eine Kralle
darstellt, wie die eines Tigers, so verschieden beider Wirkung ist, so vielfältig kann auch
die Wirkung einer Metapher sein.
Worte sind uns Menschen zueigen wie der Rest unserer verkümmerten animalischen
Instinkte. Sowohl diese Laute, als auch jene impulsiven Handlungen sind jedoch nicht
ausreichend. Es sind Behelfungen.
So wie Fabeln Bilderbücher für Erwachsene sind, versuchen auch die Metaphern, Lücken
zu schließen, die unsere Worte auftun. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel nennen: The
long love that in my thought I harbour (Sir Thomas Wyatt). Diese Liebe, die ich längst
schon in meinem Herzen hege. Welch schönes Bild, um den Wolf (Lust) im Schafspelz
(Liebe) zu beschreiben. Omne malum vino cantoque levato (Ovid). Alles Böse möge durch
Wein und Gesang leichter zu ertragen sein. Auch dies ist wieder ein eindeutiger Beweis
für den skurrilen Versuch, irgend einen Sinn im Leiden und Unglück zu suchen und beides
gleichsam eines Kranes emporzuheben. Haben Sie jemals einen Hasen gesehen, der sich
beklagt, stets gejagt zu werden? Natürlich nicht! Hasen beklagen sich nicht, sie rennen?
Was das Phänomen des Periodischen Patriotismus angeht, möchte ich folgende Metapher
bemühen: Stellen Sie sich bitte eine Mischung aus einem triebgestörten Karnivoren1 und
Herbivoren2, einen sogenannten Karniherbivoris oder auch Allesfresser vor. Bis hierhin
nur allzu menschlich. Entscheidend ist die Triebstörung. Diese Kreatur weiß nie, wann sie
karnivor und wann herbivor ist. Inmitten einer karnivoren Phase bekommt sie Lust auf
frisches Gras oder reißt beim Äste knabbern das nächstbeste vorbeilaufende Säugetier,
ohne sich des Anlasses bewusst zu sein.
Nun, diese stets gegenwärtige Verwirrung findet sich oftmals in der menschlichen Spezies
wieder. Vor allem in der Gemeinschaft der ausländischen Mitbürger (also meiner) ist es
ein häufig zu beobachtendes Phänomen. In erster Linie ist es die 2.Generation (also
meine), die jeden Tag einen gleichsam biologischen Spagat vollziehen muss, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren und damit den ein oder anderen Einheimischen verwirrt.
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Fleischfresser
Pflanzenfresser
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I. Über den Ursprung des Periodischen Patriotismus
Die erste Frage, die sich jedem interessierten Leser stellt, ist die des Ursprungs, der
Keimzelle des Periodischen Patriotismus (auch PP genannt). Nicht zuletzt aufgrund seiner
zutiefst schizophrenen Natur ist er sozusagen ein Cross- Over Geschöpf, der Link, das
fehlende Glied zwischen der Kultur der Eltern und der des fremden Gastlandes.
Um nun die essentielle Frage nach der Herkunft des Periodischen Patriotismus zu
beantworten, könnten wir ein sportliches Bild bemühen. Für den Periodischen Patrioten
gestaltet es sich so, dass entweder beide Elterteile oder nur ein Teil Gastspieler ist, der
andere aber in der Heimmannschaft spielt und bei der Verbindung mit dem Gastspieler,
beim Heimspiel also, quasi in die Gastmannschaft übertritt. Der Periodische Patriot selbst
hingegen, der aus solch einer Verbindung hervorgeht, ist ein kultureller Schattenboxer, der
gegen keinen anderen Gegner als gegen sich selbst kämpft. Doch auch Sie werden wissen,
dass seit Lucky Luke keiner mehr schneller gewesen ist als die eigene dunkle
Lichtreflexion an der Wand.
Die Ursprünge des Periodischen Patriotismus sind oftmals natürliche Quellen für
faszinierende Beobachtungen. Das Bewusstsein über eine gewisse Sonderstellung
innerhalb der ihn umgebenden Gemeinschaft erwacht im Periodischen Patrioten schon
kurz nach dem Einsetzen der Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit. Spätestens
jedoch, wenn seltsame Muttertiere auf Spielplätzen ihre Kinder seiner Nähe entziehen (du
sollst doch nicht mit Ausländern spielen!), wird sich der Hybride seiner Fremdartigkeit
schleichend gewahr. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Entwicklung des Periodischen
Patriotismus, wenngleich sich seine kulturelle Ambiguität noch in einem embrionalen
Zustand befindet.
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II. Irrungen, Wirrungen
Jedes Positiv gewinnt seine Wirkung nur durch sein Negativ. Der Wert eines Menschen,
einer Religion oder einer Phobie wird nur im Vergleich zu anderen Menschen, Religionen
oder eben Phobien gewonnen. Ein Mensch ist z.B. nur dann ein Optimist, wenn es auch
welche gibt, bei denen die Flasche immer halb leer ist; eine monotheistische Religion
macht nur Sinn, wenn es auch eine gibt, die sich bei der Auswahl des jeweiligen Gottes
flexibler, gleichzeitig aber auch zeitaufwendiger als ein monotheistischer Glaube (ein
Gott für alle Probleme, ein Allzweck-Gott sozusagen) darstellt, und je nach Art der Bitte
(Regen, Fruchtbarkeit, Tod für den Nachbarn) einen anderen Gott bemüht; eine Phobie ist
letztendlich nur dann lästig, wenn es auch welche gibt, die hilfreich sind (z.B. die Angst,
Geld auszugeben, d.h. Geiz). Sie sehen, lieber Leser, kein Altruist ohne den Egoisten, kein
Martin Luther ohne die Ablassbriefe der Römischen Kirche und Sigmund Freud wäre
wahrscheinlich Wahrsager im Prater geworden, wären die Phobien nicht schon immer
Teile unserer Urinstinkte gewesen.
Auch Namen als Teil der distinktiven Merkmale basieren auf dem Prinzip der
Unterscheidung. Haben Sie sich schon mal überlegt, warum Sie überhaupt einen Namen
haben? Man könnte Sie doch auch einfach mit Hey! ansprechen bzw. nach Ihnen pfeifen
oder klopfen. Natürlich würden sich dann alle gleichzeitig angesprochen fühlen und das
Identitätschaos wäre vorprogrammiert. Um diesem Chaos jegliche Grundlage zu nehmen,
hat der Mensch aufgehört, sich nur am Geruch wiederzuerkennen. Keiner rennt mehr
durch die Straßen und riecht anderen Menschen am After, um zu detektieren, um wen es
sich handelt. Nein, er hat Namen, die Nummernschilder der Menschen, eingeführt. Es gibt
Namen für Frauen (z.B. Mechthild), für Männer (z.B. Dankwart) und für Periodische
Patrioten (z.B. Mehmet Scholl).
Ich kann mich nur noch skizzenhaft, quasi kafkaesk, an meine Zeit im Kindergarten
erinnern. Was mir jedoch geblieben ist, ist die Erkenntnis, dass meine
Verschiedenartigkeit hier ihren ersten absurden Höhepunkt fand. Es war ein spanischer
Kindergarten. Kein deutscher, kein italienischer. Ein Kindergarten der spanischen
katholischen Mission Frankfurt. Nun, zu meiner Überraschung fand ich in dieser
Aufbewahrungsstätte mehrere Leidensgenossen. Ich war jedoch eine Ausnahme und hier
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wurde es mir zum aller ersten Mal bewusst. Während die übrigen Nicht-Deutschen
wenigstens in ihrer Andersartigkeit komplett waren, war ich weder Fisch noch Fleisch. Ich
war halb und halb, oder weder - noch. Weder Deutsch noch Italienisch. Ich weiß, sehr
verwirrend. Trotzdem ist dies nicht einmal die Talsohle auf dem Weg zum Gipfel der
hässlichen Absurditäten.
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III. ABC-Schützenverein
Während man als PP mit wachsendem Bewusstsein auf seine Andersartigkeit aufmerksam
wird, beginnt das wirkliche Dilemma jedoch erst mit dem Eintritt in die Lehranstalten.
Hier laufen Tausende kleiner Periodischer Patrioten verwirrt durch die Gegend, verwirrt
nicht nur durch die ungewohnte Umgebung. Sie alle wissen, dass irgend etwas nicht
stimmt. Nur, was es genau ist, wird erst später deutlich werden
Die Grundschule war ein zweiter grausamer Hort, an welchem sich die nächsten
Anzeichen dieser Seuche zeigten. Ich fühle noch jetzt das gestaute Blut in meinem Kopf,
als es den Lehrern darum ging meinen Nachnamen auszusprechen (natürlich falsch und
vor der ganzen Klasse): Buzzanza, Butschanza. Die Verwirrungen setzten sich
ununterbrochen fort. Vor allem in der italienischen Nachmittagsschule, die ich seit der
1.Klasse besuchen musste. Schon da wurde mir klar, dass ich eindeutig im Nachteil war
gegenüber meinen deutschen Freunden, die nachmittags frei hatten. Andererseits gab es ja
noch meine ausländischen Kollegen, die genauso sinnlos litten, wie ich es tat. Nun, im
Unterricht wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nicht Italienisch, sondern sizilianisch
sprach (warum hatte mir das keiner gesagt?), und zwar immer dann, wenn mein Lehrer
sich köstlich über irgend ein dialektales Wort amüsierte. Es tat sich ein neuer Virus auf:
Ich war nicht nur ein halber Deutscher, sondern scheinbar auch noch nur ein halber
Italiener. Ich möchte Ihnen diese Rechnung kurz und meiner mathematischen
Unbegabtheit zum Trotz, einmal in einer Formel veranschaulichen: 50% Italiener + 50%
Deutscher = 100% Italo-Deutscher. So weit ganz einfach, aber 50% Italiener + 50%
Sizilianer + 50% Deutscher = 150% Italo-Siziliano-Deutscher. Sehr verwirrend für Sie?
Dann stellen Sie sich bitte ein siebenjähriges, pausbäckig-gescheiteltes Pummelchen vor
mit tiefbraunen Haaren und Augen. Mit Worten ist diese Verzweiflung nicht zu
beschreiben! Bewusst habe ich die Elemente Frankfodder 3oder besser noch Bennemer4
ausgespart, wenngleich auch von dieser Seite die ein oder andere Verunsicherung an mich
herantrat. All dieser Unsicherheiten zum Trotz ging es in den Schulpausen und
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Frankfurter
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Bornheimer; Bornheim ist ein Frankfurter Stadtteil, in dem ich aufwuchs und welcher gerne als dörflich
beschrieben wird.
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nachmittags beim Fußball spielen auf dem Hof immer erst dann richtig zur Sache, wenn
es hieß: Italien gegen Deutschland oder Italien gegen die Türkei, oder Italien gegen
Jugoslawien. Ja, dann spürte ich das Italienische in mir. Dann war ich nicht mehr halb,
sondern ganz, auch, weil mich keiner aus der italienischen Mannschaft je gefragt hatte, ob
ich nicht lieber bei den Deutschen mitspielen wollte. Was mich in dieser Zeit immer
wieder skeptisch machte, waren die Beschimpfungen (Haut ab, ihr Kanakenbälger!), die
uns an manchen Samstagen und Sonntagen von den jeweiligen Anwohnern oder dem
Hausmeister mit den Cola-Böden als Brillengläser zuteil wurden. Zu meiner Verteidigung
hatte ich früh (also zu einer Zeit, in der Feridun Zaimoglu noch keine Bücher schrieb)
gelernt, dass Kanaken das polynesische Wort für Mensch ist. Nur verstand das keiner oder
es war ihnen egal. Immer dann, wenn mich jedoch ein Gleichaltriger deutscher
Abstammung so beschimpfte, stand ich immer sehr ratlos da, auch weil ich nicht wusste,
ob Du Deutscher ihn denn verletzen würde. Kartoffelfresser empfand ich schon sehr früh
als zu abgegriffen, insbesondere, weil mir a) Kartoffeln schmeckten und b) ich damit
meine Mutter und mich selber zur Hälfte beschimpfen würde. Mit den Jugos war das kein
Problem. Die nannte ich immer Zwiebelfresser, obgleich sie dies nie verstanden (War
mein Nachbar im ersten Stock etwa der einzige Jugoslawe, der soviel Zwiebeln aß?).
Insgesamt fand ich auf dieser Schule einige Leidensgenossen. Nur existierte oftmals das
selbe Problem, wie damals im Kindergarten: Sie waren ganz, ich halb. Wann immer eine
Ausnahme auftrat, war ich entweder gleichsam eines Robinson Crusoe beim Anblick
Freitags’ angenehm überrascht oder panisch wie Dr. Richard Kimble auf der Flucht. Man
fühlte sich praktisch wie ein Jungtier, welches seine Herde verloren hat. Ein kleines Reh,
dass sich verlaufen hat und jetzt Anschluss in einem Wolfsrudel sucht. Wie das ausgeht,
wissen Sie nicht erst seit Prof. Grzimek.
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IV.
Back to the roots!
Spricht man von Krankheiten, von psychischen, greift die moderne Psychotherapie gerne
auf Schocktherapien oder aber auch kognitive Verhaltenstherapien zurück, um ohne
Umwege an die Wurzel, den Ursprung der Angst zu gelangen. FYF: Face Your Fears. Sie
haben Höhenangst. O.K., der Therapeut stürzt sie von einem 200-m-Kran. Sie sind
klaustrophobisch? Kein Problem, sie werden lebendig begraben. Sie sind patriophobisch5.
Na dann, ab in die Ferien!
Die Zeiten, in denen meine Persönlichkeit die größten Zerreisproben überstehen musste,
waren die periodischen sommerlichen Sizilien-Urlaube mit Familie. Einmal angekommen,
war es eigentlich jedes Jahr die selbe Prozedur. Verschwitzte Tanten küssten einen
vehement und Onkel mit Schraubstock-Handschlägen begrüßten uns Deutsche etwas
distanzierter. Die Nachbarjungs provozierten einen mit Tedesco- und Kartoffeln- Rufen
(wobei sie bei der Aussprache versuchten, wie die Nazis aus den amerikanischen
Kriegsfilmen zu klingen) und jeder im Dorfe kannte mich, ohne dass ich umgekehrt die
leiseste Ahnung gehabt hätte, wer denn er oder sie war. Kaum hatte man sich an die
raueren Umgangsarten, die verdammt steilen Straßen und die Tatsache, dass man den Ball
hier bergauf schießen musste, gewöhnt, reiste man wieder ab. Hier Wurzeln zu schlagen
war unmöglich, denn sobald sich kleine Triebe gerade zu Ästen entwickeln wollten, wurde
der komplette Baum ausgerissen und nach Deutschland zurückverpflanzt.
In solchen Zeiten lernte ich die vermeintlich andere Seite meiner Seele kennen. Stolz
paarte sich mit Ablehnung. Wenn man mir sagte, ich spräche genauso gut sizilianisch wie
die Einheimischen, empfand ich mich fast als Teil ihre Gemeinschaft. Doch das Gefühl
ein deutscher Städter zu sein und es zu spüren bekommen, ließ mich andererseits als einen
Gefangenen zwischen zwei Welten fühlen. Wann immer ich gefragt wurde, als was ich
mich denn fühle würde, fiel meine Antwort stets so zwiespältig aus, wie ich nun eben
einmal war. Auch die Suggestivfragen (du fühlst dich doch als Italiener, oder?) und die
Verwirrung der anderen (du siehst doch gar nicht wie ein Deutscher aus!) konnten wenig
zu meiner Selbstfindung beitragen. Je mehr ich versuchte, die eine Seite zu unterdrücken,
desto kleiner wurde auch die andere. Doch ich gab nicht auf. Der Zweck heiligte das Ziel,
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Also Periodischer Patriot
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die Einheit zu erreichen. Manchmal war der Versuch, die andere Seite zu töten
vergleichbar mit einer selbstzugefügten Thrombose, bei der sich die Venen verschließen
und ein Teil des Körpers solange nicht mit Blut versorgt wird, bis er abstirbt. Nur waren es
immer scheinbar nicht trennbare Teile meiner Person, die ich versuchte abzutöten. Ich
dachte, ich würde Erleichterung finden durch den Tod eines Teiles. Doch leider gestaltete
es sich nicht wie beim Zähneziehen. Es war keine Erleichterung zu erwarten, wenn der
eine, vermeintlich kranke Teil entfernt würde. Es gestaltete sich eher gegenteilig. Litt die
eine Seite in mir, dann litt auch die andere.
Man könnte das Gefühl vielleicht aber auch anhand eines Oxymorons6 darstellen:
Heimweh!
Verehrter Leser, ich kann Ihren Protestschrei förmlich hören. Natürlich ist Heimweh kein
Oxymoron, werden Sie sagen. Ich muss Sie enttäuschen. Es ist eins, wenn man es für den
Ort empfindet, an welchem man sich befindet und gleichzeitig für den Ort, zu dem man
gerne zurückkehren möchte. Die Kämpfe in meinem Inneren waren teilweise unerträglich.
Der Duft von Pinienwäldern und Meereswasser, die brutalen und einfach von einem
härteren Leben geprägten Jungs, die Verwandten, die glaubten, dass das Geld in
Deutschland auf der Straße liegt. Diese ganzen so unterschiedlichen Empfindungen
paarten sich mit mindestens genauso unterschiedlichen Gefühlen, die mich packten, wenn
ich bei Basel wieder die Grenze überschritten hatte. Das fremde Gefühl beim Betreten der
eigenen Wohnung nach sechs Wochen der Abwesenheit, der fremde eigene Körper im
Spiegel, der Luxus von fließendem Wasser und Telefon, die Freunde. Ja, ich war wieder
zu Hause. Und mit mir der Periodische Patriotismus, noch stärker und noch grausamer in
seiner Gestalt und Macht über mich.
Was ich oftmals an Eindrücken mitnahm, beschäftigte mich auch noch über die Ferien
hinaus. In diesen ganzen Urlauben hatte ich viele kennen gelernt, denen es wie mir ging,
auch sie kannten dieses Gefühl des Fremdseins, ein Fremdsein, dass die Eltern oftmals
nicht verstanden, weil sie dachten, dass man sich doch hier heimisch fühlen müsste. Es
war doch schließlich auch ihre Heimat. Die zahlreichen Schlägereien zwischen
Einheimischen und PPs sprachen eine andere Sprache.
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Rhetorische Figur; Verbindung von zwei widersprüchlichen Worten zu einem Wortpaar, z.B. traurigfroh
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Andererseits gab es welche, die zurückgekehrt waren, freiwillig oder nicht. Eigentlich
waren die Eltern die wirklichen Heimkehrer, ihre Kinder waren nur das Handgepäck, das
man glaubte, einfach von einem zum anderen Ort tragen zu können, ohne dass sich etwas
verändert. Wie sehr diese vermeintlichen Rückkehrer auch versuchten, mir klarzumachen,
dass sie sich hier wohlfühlten, ich konnte es ihnen einfach nicht glauben. Ich dachte, es
müsste sich anfühlen, als ob man als früherer Bergsteiger jetzt nur noch Hügel erklimmen
oder als ehemaliger Kampftaucher nur noch Pfützen erkunden dürfte. Es war ein Tausch,
bei dem sie nicht unbedingt gewannen. Zumindest stellte ich es mir so vor. Die
Überschaubarkeit, die Intriganz und Transparenz des eigenen Lebens, eingetauscht gegen
die gewohnte Anonymität einer, das Individuum ignorierende Großstadt. Ich erkannte,
dass auch eine solche Maßnahme, die ich mir als Heranwachsender öfters vorgestellt hatte,
den inneren Zwiespalt nicht hätte verringern können. Vielmehr hätte sie ihn noch
vergrößert. Was wäre mir alles verloren gegangen? Die braven Schlangensteher, bei denen
niemand unter einer Anzeige davonkommt, der sich einfach vordrängelt, weil er nur eine
kleine Sache hat. Die Busfahrer, die nicht anhalten, um sich an einer Gebirgsquelle Wasser
zu holen oder mitten auf der Straße einen Verwandten begrüßen und einen Plausch halten,
ohne das auch nur die geringste Missbilligung seitens der Fahrgäste laut würde. Hätte ich
wirklich diese wunderbare deutsche Ordnung gegen das mediterrane Chaos eintauschen
wollen?
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V. Reifeprüfung
Hat man die ersten Erfahrungen mit dem Grundschulbetrieb hinter sich gebracht, beginnt
der Ernst erst richtig. Nachdem meine Eltern beschlossen hatten, dass aus mir etwas
werden sollte, schickten sich mich aufs Gymnasium. Ich fand mich unversehens in einem
großen Saal voller aufgeregter, ängstlicher Grundschul-Abgänger wieder, die verängstigt
und aufgeschreckt hin- und herliefen, wie ein Schwarm Fledermäuse, der gerade, durch
das Strahlenfeld eines Ultraschallgeräts fliegend, die Orientierung verloren hat. Der PP
war förmlich zu riechen. Es wimmelte gerade nur so von kleinen Dragans, Ahmeds,
Vasilys und Marcellos. Nach dem gewöhnlichen Blutstau in meinem Kopf (ich war
aufgerufen worden) lernte man sich kennen. Mit der Zeit merkte ich, dass einige in meiner
Klasse das Phänomen des Blutstaus genauso gut kannten wie ich. Sogar mein erster
Mathe-Lehrer schien es zu kennen. Irgendwie machte mich das verlegen. Scheinbar hatte
auch er den Periodischen Patriotismus- Erreger in seinen Mathematiker-Adern (wunderte
mich, da er mir manchmal eher blutarm vorkam). Jedenfalls schrieb man seinen Namen
anders, als man ihn aussprach. Irgendwie schaffe ich es, den Namen richtig auszusprechen.
Er lächelte mich darauf wissend, quasi dankbar an. Wollte er mir etwa mitteilen, dass wir
Verbündete im Blutstau waren.
Beim Musikunterricht erschien es mir stets als opportun, ja fast, als würde man von mir
erwarten, Referate über italienische Künstler zu halten. Also tat ich es, aber nicht, weil ich
wirklich daran interessiert war. Es schien mir eine fast heilige Pflicht, meinen Wurzeln in
Form eines Referates Rechnung zu tragen. Auch wenn sich die Themen der Vorträge
änderten, war die Verkrampfung der Zunge bei jedem italienischen Wort stets dieselbe.
Seltsamerweise befremdete es mich, in einer deutschen Umgebung das r plötzlich zu
rollen. Ich kam mir lächerlich und das gerollte r aufgesetzt vor. Es aber als Kehlkopf -r zu
sprechen, kam mir angesichts der italienischen Namen und Wörter genauso unpassend vor.
Also nuschelte ich irgend etwas dazwischen. Der Periodische Patriotismus hatte wieder
zugeschlagen.
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VI.
Il calcio é amore– Erster Teil
Der Sport ist, neben dem jährlichen Finanzamt-Betrug, augenscheinlich das breiteste
Betätigungsfeld eines Volkes. Hier findet man zusammen, hier wächst man zusammen.
Gibt es was schöneres, als Sonntags vormittags mit 0,8 Promille Restalkohol auf dem
Sandplatz zu stehen und mit zehn anderen gescheiterten Fußballerkarrieren gegen elf
andere, genauso situierte Gestalten zu spielen. Hier ist man eins. Gerade Fußball als
Teamsport ist, ungleich Cricket oder Dressurreiten, ein Sport für jedermann. Also auch für
Periodische Patrioten. Immer, wenn Fußball lief und Italien spielte, war mein Herz grünweiß-rot. Es wurde noch sehr viel grün-weiß-roter, wenn die Azzurri gegen Deutschland
antraten. Zugegeben, das legendäre 4:3 von Mexiko City war knapp vor meiner Zeit, auch
wenn mein Vater mir sooft davon erzählte, dass ich irgendwann das Gefühl bekam,
Beckenbauer getunnelt zu haben. Meine jüngste Erinnerung war die an das 3:1 von
Madrid, 1982. Rossi, Tardelli, Altobelli und Paul „ den- keiner- gefragt –hat Bundestrainer - zu -werden“ Breitner. Ich hatte das Finale auf Sizilien gesehen. Straßen in
Flammen und mein Herz auch, zumindest zur Hälfte. Meine deutschen Freunde waren
etwas enttäuscht. Die deutsche Hälfte in mir war es nicht. Die starb jedes Mal bei
Begegnungen dieser beiden Mannschaften. Könnte auch an der deutschen Spielweise
gelegen haben.
Niederlagen italienischer Teams gegen deutsche waren für mich (und meinen Vater) stets
auch eine kleine persönliche Niederlage. Außerdem waren entweder Betrug und
Schiedsrichterbestechung im Spiel oder die gegnerische Mannschaft spielte destruktiv.
Niemals jedoch hätten wir zugelassen, dass es am Unvermögen der italienischen
Mannschaft gelegen hätte. Siege waren entsprechend auch persönliche Siege. Jedes Spiel
war sozusagen ein Endspiel. Es fühlte sich oftmals so an, als wollte bei solchen Spielen
die eine Hälfte in mir die andere endgültig verdrängen, der Schizophrenie ein Ende
bereiten. Umso frustrierender waren Unentschieden, wenn sich also kein Sieger finden
ließ, auch nicht in mir. Ein besonderer Anfall von Periodischem Patriotismus erfasste
mich im Juni des Jahres 1988. EM in Deutschland. Italien spielte in Frankfurt gegen
Spanien. Es war das erste EM-Spiel, das ich bis zum heutigen Tage erlebt habe. Die extra
von meiner Schwester genähte 2m-Italien-Fahne zu schwenken, auch wenn mich der
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Hintermann mit Nachdruck aufforderte, mich endlich hinzusetzten, dieses Gefühl war
genauso unbeschreiblich, wie die Gänsehaut beim Hören der italienischen Nationalhymne.
Dass Italien gewann, war eigentlich nebensächlich, da das Viertelfinale später sowieso
Endstation war. Außerdem hieß der Gegner Spanien.
Dann kam 1990, das sogenannte Kaiser-Franz--Jahr. WM in Italien, Deutschland wird
Weltmeister, verdient. Es hat mich Jahre gekostet, dieses verdient hinzufügen zu können.
So wie mir muss es vielen PPs ergangen sein. Jahrelang nimmt man überhaupt keine Notiz
von der heimischen Mannschaft. Sobald sie jedoch auf einem internationalen Turnier
auftaucht, ist man ganz Patriot, eben Periodischer Patriot. Es ist eher Nebensache, dass
man die Namen der Spieler gar nicht kennt, geschweige denn irgend ein Gesicht zu irgend
einem Namen zuordnen könnte. Egal, Hauptsache mal patriotisch gewesen. Man könnte es
mit Besuchern einer Comedy – Show vergleichen, die denken, dass, nur weil der Mensch
auf der Bühne Ficken oder Pimmel schreit, dies jetzt witzig sei und deswegen lachen. So
geht es vielen PPs. Es sind praktisch chronische Ingo – Appelt – Besucher.
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VII. Il calcio é amore- Zweiter Teil
Bevor Sie, verehrter Leser, dem Irrtum unterliegen, ich sei stets ein passiver Fußballer
gewesen, möchte ich Sie kurz und themengebunden mit meiner fußballerischen Karriere
vertraut machen. Für die Verbreitung des Periodischen Patriotismus sorgte bereits mein
erster Fußball-Verein. Hier begegnete ich, neben den sowieso schon bekannten
Periodischen Patrioten aus meinem Freundeskreis, vielen anderen jungen PPs, die genauso
wie ich die all sonntägliche Verlesung der Spielerpässe in den Kabinen vor dem
Schiedsrichter hassten, weil unser Trainer auch nach zwei Jahren noch nicht ganz firm in
der Aussprache dieser Kakophonie endlos aneinandergereihter Konsonanten und Vokale
war. Schlimmer konnte es eigentlich nur werden, wenn der Schiedsrichter selbst die
Kontrolle der Pässe in die zittrige Hand nahm. Blutstau! Irgendwann erfasste mich die
Pubertät und die Aufmüpfigkeit gegen bestehende Normen. Ich verließ den Verein, nicht
nur wegen der Verlesung der Spielernamen. Einige Jahre später wechselte ich zu einem
anderen. Schon als ich das erste Mal ins Training gehen wollte und aufgrund meines etwas
degenerierten Orientierungssinnes den ganzen Stadtteil ablief, ohne den Platz zu finden,
wusste ich, dass ich hier zu Hause sein würde. Irgendeinmal fühlte es sich hier wie in
Italien an. Die Leute schrieen aus den Fenstern, der Müll stand auf dem Bürgersteig,
kurzum, ich hatte ein Déjàvu. Als ich den Platz endlich erreicht hatte, war das Gefühl des
Heimischen noch stärker. Spieler, die sich gegenseitig auf Italienisch beschimpften, der
Trainer, der gelangweilt hin- und herlief, Väter und Zaungäste mit Goldkettchen, die sich
wild gestikulierend über das letzte Spiel des SSC Neapel unterhielten. Hier wollte ich
spielen. Zufälligerweise überschnitt sich diese Phase mit der großen Zeit des MaradonaVereins. Mein Trainer war aus dieser Stadt, die Trikots waren blau und die Hälfte der
Spieler Italiener. Kurzum, wir waren eigentlich eine italienische Mannschaft ( fühlten auch
die anderen nicht-italienischen Mitspieler) und ich war dabei. Diese Mannschaft war ein
Sammelort für eine Vielzahl Periodischer Patrioten. Bedeutenderweise unterhielten wir
uns alle fast immer auf Deutsch, schon weil kaum jemand Hochitalienisch sprach,
zumindest nicht so, dass man es verstanden hätte. Irgendwann bemerkte ich, dass dieses
Gefühl, heimisch zu sein, dieses so kostbare, weil seltene Gefühl, in sein Gegenteil
umschlug. Heimisch fühlen bedeutete auch, das heimische italienische Chaos akzeptieren
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zu müssen. Geplatzte Spiele, ungezügeltes Temperament, Narzissmus und der Kult um
einige unserer besten Spieler setzten einen ersten Schlussstrich unter meine Fußballer –
Karriere, obwohl ich an dem aus - dem - fahrenden - Auto - meines - Trainers - auf Frauenhintern- klatschen -Spiel viel Freude hatte. Viel wichtiger schien mir jedoch die
Erkenntnis, dass ich scheinbar gefangen war in einem Zwiespalt von völliger Ablehnung
und bedingungsloser Hingabe, um eben dies eine Gefühl beständig empfinden zu dürfen:
das Gefühl, komplett zu sein.
Engagierte Kreisklasse-Vereine bieten in jedem Fall Raum für interessante Feldstudien.
Äußerst interessant sind hierbei die Menschen mit den ausländischen Namen und dem
ausländischen Gesicht, die besser hessisch babbeln, als manch Hesse und genauso
beklommen sind, wie ich, wenn sie einen Leidensgenossen treffen. Der eine denkt, dass
der andere erwartet, dass man jetzt die andere Sprache sprechen muss, während der andere
jedoch hofft, dass er genau dies hoffentlich nicht tun möge. Die restlichen, nicht PPs
stehen um einen herum und warten darauf, dass man jetzt endlich anfängt, ausländisch zu
sprechen. Außerdem setzten sie voraus, dass man sich mögen muss. Man kommt doch
schließlich aus dem selben Land. Meistens wirft man sich dann, ähnlich wie bei der
Seehund-Fütterung, eben ein paar Gesprächsbrocken zu, den Zaungästen zuliebe.
Folgendes exemplarisches Gespräch soll Ihnen als Modell dienen:
„Bist du auch ?“
„Ja! Du auch?“
„Ja!“
„Woher kommst du?“
„Aus ....!“ Und du?“
„Aus ...!“
„Aha!“
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VIII. Apropos Namen!
Wenn ich Besuch aus Italien hätte…
..würde sich dieser über die seltsamen Namen der Pizzerias und Eisdielen wundern: Da
Franco, Pinocchio, il Cavalluccio Rosso,, San Marco, Michelangelo, Vesuvio, Golfo di
Napoli, Dolomiti. Würden Sie ein deutsches Gasthaus auf Mallorca oder in Zimbabwe
zum Frank, Struwwelpeter, Silberpfeil, Ku´damm, Albrecht Dürer, Goethe, Bodensee
oder Zugspitze nennen? Natürlich würden Sie! Denn auch Sie wollten bei den deutschen
Mitbürgern im Ausland ein Gefühl von Heimat vermitteln. Darin besteht der Trick.
Wiedererkennung oder aber Metonymie verhelfen zu Erfolg. Sie sehen eine Pizzeria di
Golfo di Napoli heißt, erinnern sich an Ihren letzten Capri- oder Ischia-Urlaub und ehe sie
sich’s versehen, haben Sie schon eine Pizza bestellt, ohne zu merken, dass der PizzaBäcker überhaupt kein Italienisch spricht. Eine andere Variante, die der Metonymie,
suggeriert Ihnen, dass diese Golfo – di - Napoli- Pizzeria stellvertretend für das Flair eines
Italien- Urlaubes steht, inklusive Blauer Grotte, Scippo7 (sprich Schippo) und Abstecher
nach Pompeji. Ich habe über einige Alternativen der Namensgebung nachgedacht, denn
auch die Idole und Wahrzeichen einer Nation sind dem dauernden Wandel der Zeit und
dem Gesetz der Endlichkeit unterworfen.
Spontan fiele mir da ein:
Pizzeria/Trattoria/Ristorante
Gelateria
Da Michele Schuhmacher
Reinhold Messner
Da Oliver Bierhoff
Monte Bianco
Da Giovanni Paolo II.
Monte Casino
Da Luciano Pavarotti
Eiscafé Ötzi
Des weiteren sollten Sie bei Ihrem nächsten Stadtbummel mal darauf achten, dass die
regionale Aufteilung der italienischen Gastronomie gleich einem Nord-Süd-Gefälle durch
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So nennt man den Handtaschendiebstahl, bei dem die Diebe auf einer Vespa sitzen und einem die Handtasche
im Vorbeifahren wegreißen.
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die Appeninen -Halbinsel verläuft. Es kommt ganz darauf an, wo Sie Ihren virtuellen
Urlaub verbringen möchten. Möchten Sie eher mediterranes Klima, sind Pizzerias und
Trattorie zu empfehlen. Ist Ihnen jedoch eher nach einem entspannten Lago MaggioreTrip, so sollten Sie eine der zahlreichen Gelaterie besuchen. Mit ein wenig Glück wird es
dann wie im letzten Italien-Urlaub: Sie bestellen auf Italienisch, bekommen aber eine
deutsche Antwort. Sie sagen auf Italienisch, dass Sie bezahlen möchten und bekommen
ein mitleidiges Lächeln gratis dazu.
IX.
Hilavoku
Von Vor- und Nachbildern
In der Zeit, in der sozusagen der Mann in mir erwachte, beschloss ich ein wenig Italianità
in mein Aussehen zu packen und ein Hinten- lang - vorne - kurz- zu werden, weil ich es
so aus meinem letzten Italien-Urlaub in Erinnerung hatte. Identitätssuche durch
Selbstverstümmelung. Als ich mit der Frisur nach Italien kam, war die dort längst schon
wieder out. War ja nicht meine Schuld, dass Haare so langsam wachsen. Nichts desto trotz
ging meine Suche nach einem Heilmittel weiter. Meine Vorbilder wechselten zwar
genauso schnell wie die italienischen Regierungen, trotzdem hatten sie alle eines
gemeinsam. Irgendeinmal besaßen sie alle einen italienischen Teil oder auch zwei:
Maradona, Stallone, Al Pacino. Wahrscheinlich hoffte ich insgeheim, dass auch sie unter
dem Endruck des Periodischen Patriotismus gestanden hätten, aber trotzdem etwas aus
ihrem Leben gemacht hatten. Andere, wie Alberto Tomba z.B., waren zwar keine PPs ,
hatten aber diese typisch italienische Feurigkeit, diesen Olivenöl-Charme, den ich glaubte,
erwecken zu müssen, quasi ein Schneewittchen-Charme. Der Konflikt meiner Seelen
mutierte zu einem Trauma, den auch die, von einer Handtasche abgetrennte Italien-Flagge
an meiner geliehenen Bomberjacke nicht mildern konnte.
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X. Apropos Bomberjacken...
Anfang der Neunziger konnte man einen seltsamen Trend innerhalb der Gemeinschaft der
ausländischen Jugendlichen Frankfurts erkennen. Viele begannen, Gangs mit Namen wie
Turkish Power Boys oder Italy Boys zu gründen und sich Bomberjacken zu kaufen, ihren
Alter- ego-, bzw. Gang-Namen in Monotype Corsiva auf die Jacke zu sticken
und eine Fahne auf den linken Arm nähen zu lassen. Im Prinzip war es vergleichbar mit
der Angewohnheit ihrer Eltern, die Fahne ihres Heimatlandes auf das Auto zu kleben,
neben dem D-Sticker natürlich, was sich als angepasster Ausländer eben gehörte.
Der Periodische Patriotismus manifestierte sich und alle waren Zeugen. Alle sollten auch
Zeugen sein. Jede Fahne an einer Bomberjacke signalisierte, dass man über seine
Herkunft, oder besser gesagt, über die Herkunft eines oder beider Elternteile Stolz seien
wollte, zumindest jedoch die Fahne kannte. Jede Fahne signalisierte, dass sich dessen
Träger über seine Andersartigkeit bewusst war. Doch war es mehr als nur ein Zeichen des
Nationalbewusstseins. Oft mutete es wie eine Kontaktsuche an, ein Versuch, andere
Periodische Patrioten zu finden, gleichsam einer Zeitungsannonce, nur bei weitem nicht
so anonym. Da ich ein Perfektionist zu seien glaube und zu dieser Zeit bereits ahnte, dass
ich beiden Teilen in mir gerecht werden musste, wäre es in meinem Fall wahrscheinlich
besser gewesen, eine hybride Fahne zu erschaffen, zusammengesetzt aus Grün, Weiß und
Rot (für Italien), Gelb und Rot (für Sizilien), Schwarz, Rot, Gold (für Deutschland) und
Weiß und Rot (für Hessen); dazu noch die jeweiligen Wappen von Sizilien (die Trinakría,
das Dreispitz in Form eines medusenhaften Kopfes und drei tintenfisch-artigen
angewinkelten Beinen) und dem Hessischen Löwen, leicht mit seinem Thüringischen
Pendant zu verwechseln. Damit wäre ich so gut wie allen Teilen in mir gerecht geworden.
Es blieb jedoch die Fragen, ob irgend jemand so eine Fahne überhaupt erkannt hätte. Was
glauben Sie?
19
XI.
Melodien für Millionen
Die Musik als kulturelles Transportmittel hat neben den Worten noch einen viel
wichtigeren Verbündeten: die Melodie. Viele Menschen sagen, Italienisch sei wie Musik,
und dies scheint nicht nur daran zu liegen, dass im Italienischen die
Konsonantenverdopplung nicht dazu genutzt wird, den vorhergehenden Vokal zu
verkürzen oder Doppelvokale immer auch als solche gesprochen werden. Ein Italiener
unterhält sich und man glaubt, er streitet sich. Ein Italiener beschimpft Sie und sie sind
fasziniert vom Klang dieser schönen Sprache.
Was für Bomberjacken gilt, gilt somit auch für die Musik. Man kann seine Stereoanlage
bis auf maximale Lautstärke aufdrehen, Fenster runterkurbeln und die Musik einer im
Vaterland berühmten KünstlerIn laufen lassen. Das Ziel ist das gleiche wie bei den Fahnen
auf den Fliegerjacken: Man möchte nicht mehr einsam mit der Last des PP sein. Wenn
sich andere Periodische Patrioten zu erkennen geben, indem sie einen auslachen, dann
vielleicht, weil diese KünstlerIn in der Heimat dasselbe Image besitzt, wie hier ein
Weichspüler wie Howie Carpendale und somit nicht gerade ein positives Licht auf den
Besitzer dieser Kassette wirft, der Besitzer der Kassette dies jedoch nicht weiß, weil er
schon seit Jahren nicht mehr in der Heimat war.
Sie können diese audio-visuellen Kontaktaufnahme-Versuche jedoch auch mit dem süßen
kleinen Klopfkäfer aus Walt Disneys Lustige Welt der Tiere vergleichen: Dieses kleine
schwarze Hartschalen-Insekt rennt sein Leben lang durch die Weiten der Kalahari-Wüste,
das Hinterteil auf den steinernen ausgetrockneten Wüstenboden klopfend, bis es einen
Sexualpartner gefunden hat. Es lässt sich jedoch leicht, wie im Film bewiesen, durch
irgend welche anderen Klopfzeichen irritieren. Dem PP geht es nicht anders. Auch er
denkt, dass der Ethno-Pop ein anderer verlorener Klopfkäfer sei und bemerkt die
klopfende Plattenindustrie nicht.
Für mich spielte die Musik eine entscheidende Rolle auf dem steinigen Irrweg der
Selbstfindung. Gerade Eros Ramazzotti hatte mich in seinen Bann gezogen. Auch er hatte
dieses Italo-Image, dass ich nicht wirklich verstand. Auch er hatte dieses WeichspülerImage in Italien, von dem ich nichts wusste oder nicht wissen wollte. Es war, als säße
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man in einem Cockpit und wüsste genau, dass es einen Knopf gibt, der die ItaloTriebwerke zündet, nur welcher dies sei, das wüsste man nicht. Der Versuch, diesen
Knopf über die Musik zu finden, entwickelte sich zu einer Obsession, die letztendlich
scheiterte. Ich verstand, dass dieser Knopf wahrscheinlich gar nicht existierte oder gar kein
Knopf war, sondern eher einer Geburt glich, einer Metamorphose. Was ich noch nicht
wusste, war, dass bei jeder Metamorphose der alte Teil sterben muss, damit der neue
geboren werde. Ich dachte an Pinocchio. Ich dachte an Julius Hackethal. Wer würde mich
bei dieser Euthanasie unterstützen? Müsste ich mich erhängen, um dem quälenden
Zwiespalt zu entkommen?
Auf den wenigen Konzerten italienischer Musiker, die ich besuchte, musste ich wieder an
die Holzmarionette denken. Auf solchen Konzerten war es, als würde sich der italienische
Teil in mir vervielfältigen, um schließlich einen ganzen Konzertsaal zu füllen. Meine
multiple Persönlichkeit nahm dann zwar jeweils ein verschiedenes Aussehen und
Geschlecht an, im Prinzip war sie jedoch in ihren Nöten, aber auch in ihrer Freude
vervielfältigt und zu einem großen, klatschenden und singenden Publikum vereint.
Gerade in dieser Zeit begannen einige Periodischen Patrioten sich zu differenzieren.
Einige waren gar nicht mehr auf der Suche nach ihren ‚Wurzeln’, sie konzentrierten sich
auf das, was sie eben darstellten und schienen ihre Einheit gefunden zu haben, die ich
immer noch suche : Sie fühlten sich als Deutsche mit ausländischen Namen und Eltern, als
Leute, die das zweifelhafte Privileg hatten, jedes Jahr in den Süden zu fahren, es sei denn,
es waren Kinder dänischer Einwanderer. Die sind jedoch meines Wissens nach eher rar,
zumindest in Hessen. Für sie war es keine Schande, den eigenen ausländischen Pass
abzugeben und den neuen, passenderen deutschen Pass in Empfang zu nehmen. Für mich
war mein italienischer Reisepass nicht nur ein Stück kartoniertes Papier. Er war beseelt. In
diesem Ausweis befand sich ein Teil meiner PP-Seele. Er war mit Leben und alle dem
gefüllt, was so eine irdische Existenz eben ausmacht: Widersprüche und Geborgenheit,
Ablehnung und Entfremdung.
Deswegen fiel es mir so schwer, den Pass abzugeben und einen neuen zu bekommen. Es
fühlte sich an, als verkaufte man seine Seele, als gäbe man sie achtlos weg, als tauschte
man sie aus, wie einen geplatzten Reife. Was hätte Dr. Faust getan?
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XII. Renegade
Wenn man Periodischer - Patriot – Träger ist, dann stellt sich einem oftmals die Frage, ob
es denn schlimm sei, das eigene Vaterland, also jenes, welches man eigentlich nur aus
dem Urlaub kennt, zu verleumden. Wie kann so ein Verrat aussehen? Neben dem
eigentlichen Hochverrat, den deutschen Pass anzunehmen, kann man noch einige andere
in Betracht ziehen. Sollte man verurteilt werden, nur weil man Pünktlichkeit als Tugend
erachtet und es für selbstverständlich erhält, dem Busfahrplan auch vertrauen zu können?
Ist es verachtenswert, den Dialekt des vermeintlichen Gastlandes besser zu sprechen, als
den des vermeintlichen Vaterlandes? Andererseits gewinnt man oft das Gefühl, sich
schämen zu müssen, wenn man nicht weiß, wie eine Matriciana zubereitet wird, wenn
man noch nie in Rom war, oder wenn man keine Gondeln fahren kann.
Es kann jedoch auch drastischer sein. Stellen Sie sich die mittlerweile recht zahlreichen
Periodischen Patrioten bei der deutschen Polizei vor. Wie muss es ihnen ergehen, wenn sie
gerade eine Personenkontrolle bei verdächtigen Personen durchführen und sich vielleicht
daran erinnern, dass sie früher oft auf der anderen Seite standen. Schlimmer kann es
eigentlich nur dann werden, wenn die Kontrollierten ihnen vorwerfen, ausländer-selektiv
bei ihren Personenkontrollen zu sein und sie selber dies nicht reinen Gewissens bestreiten
können. Sollten Sie etwa beginnen, eine Auto-Personenkontrolle durchzuführen?
Dies sind jedoch nur Fragmente der täglichen Leiden der Periodischen Patrioten.
Manchmal ähnelt es einem Rückspiegel, in den man bei voller Fahrt schaut. Während sich
die Landschaft von einem wegbewegt, kommt das Auto hinter einem ständig näher.
Beides ist trotzdem nicht fassbar. Irgendwann wird man jedoch überholt.
Wie gesagt: Objects in mirror are closer than they appear!8
8
Aufschrift auf einem Hyundai-Rückspiegel
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XIII. Member Card
Seit ich ausgehe und Alkohol trinke, gleicht beides für mich einem konditionierten
Dualismus: Wenn es regnet, wird man nass. Wenn man ausgeht, wird man auch nass (also
innerlich). Egal mit was ich mich befeuchtete, in bestimmte Diskotheken ließ man mich
einfach nicht herein. Wie an jenem Abend. Ich machte Anstalten, das Tanzlokal zu
betreten, worauf der Türsteher fragte:
„Hast Du denn ´ne Member Card?“
Ich: „Nö!“ Er: „Ja, dann kann ich dich nicht reinlassen!“
Ich: Wo bekomme ich denn diese Member-Card?“ Der Klotz: „ Drinnen!“
Ich wollte gerade reingehen, als er empört fragte: „ Wo willst du denn hin?“
Ich (verwundert): „Ja, rein!“ Er: Wieso rein?
Ich: Um mir `ne Member-Card zu holen!“ Er: „Hast du denn keine?“
Ich: „Ne!“ Er: Ja, dann kann ich dich leider nicht reinlassen!“
Irgendeinmal war ich davon besessen, diese verdammte Member-Card zu bekommen, aus
Prinzip.
Wie Sie sehn, äußert sich der Periodische Patriotismus manchmal ungewollt in Form der
äußerlichen Erscheinung, die, zumindest bei mir, nicht auf nordeuropäische Wurzeln
schließen lässt. Ich dachte, dass sich Batman so fühlen würde, wenn er sein Cape nicht
mehr ausziehen könnte und jeden Tag in einem Latex-Kostüm verbringen müsste,
obgleich er sich manchmal gerne nackt ausziehen und auf die Toilette gehen würde. Ich
beneidete Fantomas, der seine Identitäten so leicht und unbeschwert wechselte.
Aber nicht nur in solchen Diskotheken erfasste mich ein Gefühl von seltsamer
Beklommenheit. Immer, wenn ich an diesen Eiche-Rustikal-Stammkneipen mit den
schweren grünen oder braunen Vorhängen, dem dichten Qualm, den torkelnden
Mittfünfzigern und den Brauerei-Namen (Binding-Eck, Henninger -Eck) vorbeilief,
stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich einfach hineinginge und ein Bier bestellte.
Würde mich die 50-jährige Dame mit den grauen, wasserstoffblonden Haaren und der
Zigarette im Mundwinkel bedienen? Würde sie mich wahrnehmen? Würde Schorsch mit
der Kutscherweste mich gleich wieder rauswerfen? Noch viel mehr beschäftigte mich aber
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die Wut, warum ich mir überhaupt Gedanken darüber machte, ob man mich bedienen
würde. Schließlich war ich doch auch ein waschechter Frankfodder Bub. Wieso redete ich
mir ein, nicht willkommen zu sein? Ich bewog, die schwarze Bomberjacke auszuziehen.
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XIV. Sarajevoooo!
Verehrter Leser, sicher erinnern Sie sich noch an die Olympischen Winterspiele 1984 in
Sarajevo. Ich nicht, zumindest nicht an irgendwelche sportlichen Höhepunkte oder Sieger
(Heike Drechsler?). Sehr wohl jedoch erinnere ich mich an diesen etwas missratenen
Wolf, der eher wie eine Hyäne aussah und diese nervtötende Trommelfell-Attacke bei
jedem Beginn einer Übertragung startete: Sarajevooo! Als Anfang der neunziger Jahre die
Welt begann, aus den Fugen zu geraten und nichts mehr so war, wie man es vorher
kennen gelernt hatte, als das russische Kurzpassspiel nicht mehr kommunistisch war
(früher hätte es keiner gewagt, den Ball länger zu halten als der andere), sondern jetzt als
der tödliche Dreier-Doppelpass gefürchtet wurde; als die grausamsten Verbrechen an
Menschen von einer mehr als hilflosen Nato toleriert wurden und sich heikle Situationen
für einige Ex-Jugoslawische Periodische Patrioten zu entwickeln begannen, wünschte ich
mir die heile Welt der Wolfshyäne zurück. Andere wünschten sich dies noch viel mehr.
Plötzlich schien es darum zu gehen, nicht mehr nur Periodischer, sondern ein ganzer
Patriot zu sein. Jeder schien seine eigene Lösung finden zu müssen: die einen organisierten
Kleidertransporte für ihre Verwandten, andere zogen in den Krieg und starben mit kaum
18 Jahren auf dem Boden eines Landes, welches sie nur aus den Ferien kannten. Wieder
andere versuchten, den Krieg in Deutschland fortzusetzen, indem sie sich mit ihren
vermeintlichen Feinden prügelten. Es gab jedoch auch welche, die versuchten, diesen
Krieg eben nicht außerhalb seiner geographischen Grenzen weiterzuführen und ihre
bisherigen Freunde nicht nach neuen, nationalistischen Maßstäben zu beurteilen, sondern
auch weiterhin die zugegeben etwas politisch unkorrekten Attribute wie Zuverlässigkeit
und Treue nicht gegen Eigenschaften wie Kroate, Serbe oder Bosnier auszutauschen.
Immer, wenn ich den ihnen beim Debattieren zuhörte oder auch Ustasa – Schriftzüge und
die vier spiegelverkehrten C als Symbol für Großserbien auf den Wänden betrachtete,
verstand ich, dass Phänomen des Periodischen Patriotismus begann eine andere Qualität,
eine andere Dimension zu erlangen. Die Konflikte meiner Ex-Jugoslawischen Freunde
hatten nichts zu tun mit den Problemen (Spaghetti oder Sauerkraut), die ich bis dahin
kennen gelernt hatte.
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XV. Pooost!
Nach dem Abitur und vor dem Studium versuchte ich mich einige Wochen als Briefträger.
Großer Fehler! Ich musste feststellen, dass das Niveau einiger Briefträger genauso hoch
war, wie das Gewicht einer Briefsendung per Luftpost. Leider musste ich mir deren
Theorien über Zäune um Asylbewerber-Heime anhören. Leider hört ich sie mir an, ohne
zu widersprechen. Leider. Der latente Hass gegen Ausländer wurde nur noch durch eine
wirkliche Ironie des Schicksals übertroffen. Ich sollte an meinem letzten Tag eine
`Informationszeitschrift’ der Republikaner austragen. Spontan fielen mir die Pakistani ein,
die Ich- bin -stolz -ein Deutscher-zu- sein -T-Shirts auf Straßenfesten verkauften, oder die
anderen Ausländer, die Republikaner-Wahlplakate an den Laternen festmachten, ohne
Deutsch lesen zu können. Ich beschloss, Flagge zu zeigen und die eine Hälfte dieser
Zeitung im Altpapiercontainer zu entsorgen. Die andere überließ ich meinem Nachfolger,
der sich übrigens mit seinem Palästinenser-Schal einen legendären Ruf erarbeitet hatte, als
er auf einer Exkursion nach Erfurt den zwei Skins, die auf ihn einprügelten, trotzte, anbot,
ihn am Arsch zu lecken. Trotzdem hätten sich auf diesem Postamt genügend Leute
gefunden, die diese Zeitung wahrscheinlich auch noch nach Feierabend ausgetragen
hätten. Insofern war meine kleine Sabotage-Aktion genauso sinnlos wie Schnee am Südpol
zu schippen.
XVI. Ist Ihr Kollege da?
Als ich einen der ungezählten langweiligen Nachmittage in jener U-Bahn-Buchhandlung
verbrachte, näherte sich mir eine befremdend aussehende ältere Dame:
„ Ist Ihr Kollege da?“ „ Welcher Kollege?“ „Der mit der Brille!“ „Nein!“ „ Wieso nicht?“
„ Hat frei!“ „Wann kommt er denn wieder?“ „Morgen!“ „Dann komm ich morgen
wieder!“
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„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ „Nein.. sehen Sie, ich hab’ mich gestern mit Ihrem
Kollegen über Goethe unterhalten, Sie kennen den ja nicht, als Ausländer...!“ Nachdem
ich sie zum Teufel geschickt hatte, wurde mir wieder einmal schlagartig klar, dass die
deutsche Hälfte äußerlich den Kampf der Gene verloren zu haben schien. Und nicht nur
Produktmanager wissen, dass Äußerlichkeiten zählen.
XVII. Die Mauer in den Köpfen
Bevor die Berliner Mauer fiel, war mir nie bewusst, dass da eine einsame Mauer im
kollektiven Bewusstsein des deutschen Volkes West stünde, die zu überwinden sei.
Nach der Einheit, nach Hoyerswerda, nach Lichtenhagen, nach Solingen wollte ich die
Mauer eigentlich wieder hochziehen, zumindest jene in meinem Kopf. Gerade die
Wiedervereinigung verursachte eine neuerliche leichte Verwirrung, was mein
Identitätsgefühl anging. Nach dem Fall der Betonmauer wurde klar, dass es von nun an
ausreichte, Deutscher zu sein. Man musste offiziell nicht mehr differenzieren. Aber nur
offiziell. Scheinbar hatte die Wiedervereinigung weder die alte Trennung aufheben noch
die neue verhindern können. War man sich vorher bewusst, ein Wessi, ein Ossi zu sein,
wollte die Trabbi-Kolonne gerade diese Notwendigkeit einer Differenzierung zerstören,
wobei sie eigentlich das Gegenteil erreichte. In ihren schlimmsten Momenten erschien mir
die Wiedervereinigung wie jene Sachgeschichte aus der Sendung mit der Maus. Ein Herr
lief seines Weges, achtlos seinen Müll auf die Straße werfend. Eine Bande cleverer Kinder
bemerkte dies, hob den Müll auf, rannte dem Herren hinterher und übergab ihm seinen
Müll mit den Worten: „Hier, Sie haben etwas verloren!“ , worauf der Herr nur verdutzt
und peinlich berührt Ja, D... Danke stammeln konnte. Er versuchte es noch einige Male,
doch die Kinder waren unerbittlich, folgten ihm, hoben seinen Müll auf und gaben ihn
dem Herren solange zurück, bis dieser resigniert die nächste Tonne aufsuchte und den
Müll dorthinein warf, so wie es sich eben gehört. Ich glaubte, erst jetzt den tieferen Sinn
hinter dieser unbedarften 70er-Jahre Öko - Message erkannt zu haben.
Ich war verwirrt. Daher versuchte ich, meine persönlichen Konsequenzen zu ziehen und
mir zu überlegen, ob ich jetzt gar ein geteilter junger Erwachsener in einem geographisch
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zwar vereinten, politisch und kulturell jedoch immer noch geteiltem Land war? Hatte es
mich nicht schon genug Kraft gekostet ein PP zu sein?
Was mir jedoch viel mehr Probleme machte, war dieser bis dahin nie da gewesene Hass
gegen Ausländer, diese Leere in den Köpfen, die durch unzählige, sensationsheischende
Spiegel TV – Reportagen gezeigt wurde. Sie waren es, die mich erstarren ließ. Vor Angst.
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XVIII. Humane Romanistik
Hat man die Schule und das große Loch nach Wochen exzessiven Alkoholgenusses
endlich hinter sich gebracht, muss man sich langsam für einen neuen Lebensabschnitt
entscheiden. Meine deutschen Freunde hatten da keine Probleme. Sie mussten entweder
unzählige Bierkästen in den Kasernen im Namen der staatlichen Verteidigung töten oder
unzählige Styropor-Tablettes mit heißem Schlangenfrass zu leicht verwirrten älteren
Herrschaften fahren. Da ich ein PP bin, musste ich weder das eine noch das andere tun.
Wieder einmal war mir mein unentschiedenes Dasein zum Vorteil erwachsen. Ich hatte
also sowieso nichts Besseres zu tun hatte und beschloss nach dem Abitur zu studieren. Da
irgendwas mit Sprachen mein konkretes Ziel war, entschied ich mich, Philosophie zu
studieren. Diesen zugegeben sehr abenteuerlichen Plan gab ich nach zwei Semestern auf,
weil ich es einfach nicht verhindern konnte, beim Prinzip Verantwortung und der
Politheia die Äuglein sanft zu schließen. Irgendwie war man doch sein eigener Philosoph
und jeder hat seine Philosophie. Wozu also studieren, was man sowieso nicht verstehen
wollte? Ich begann mit Romanistik. Vielen, denen ich von meinem Studium erzählte,
konnte man das große Fragezeichen vom Gesicht ablesen. Andere waren völlig verwirrt,
als sie hörten, dass ich Humanistik studieren würde. Wieder andere gaben mir mit ihrem
Gesichtsausdruck zu verstehen, dass es ja für mich als Italiener nicht so schwierig sei,
Romanistik zu studieren. Es gab letztendlich auch welche, die mir irgendwas von TaxiUnternehmen erzählten.
Ich kam mir vor, als müsste ich mich schämen, als hätte ich mir den leichtesten aller Wege
ausgesucht, so wie der Sprössling einer Medizinerdynastie, der, oh Wunder, Medizin
studiert. Dass ich der erste war, der aus meiner Familie eine Universität von innen gesehen
hat, ließ ich nicht gelten. Vielleicht lag es auch an diesem Gefühl,
eigentlich nichts Besonderes zu tun, dass mich anfangs davon ausgehen ließ, alles wissen
zu müssen, was Italienisch angeht. Was ich dabei vergessen hatte, war, dass ich ein
Periodischer Patriot war, ein Puzzle aus vielen Teilen verschiedener Ansichten, Bräuche
und Sprachen war. Nur zusammen bildeten sie meine Persönlichkeit. Dies bedeutet auch,
dass kein Teil von mir perfekt war. Es war eine langwierige und schmerzhafte Erfahrung,
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die ich machen musste. Oftmals, wenn mein schläfriger Blick die Runde in den
Seminarräumen machte, oder auch, wenn ich die Namen auf den Referats- und
Hausarbeitslisten las, überlegte ich mir anhand der zahlreichen PPs, nachdem ich mich
über die Leute mit den zweistelligen Semesterzahlen amüsiert hatte, ob ich dieses
Studium vielleicht gewählt hatte, um nicht mehr alleine zu sein mit meinem Konflikt. Ich
merkte, ich war es nicht, wenngleich viele natürlicher mit ihrer Erkenntnis des PP
umgingen. Sie gaben gar nicht vor, ein Exoten-Dasein zu fristen, sondern akzeptierten
ihren nicht-deutschen Namen als eine Art Schicksalslaune. Andererseits gab es viele, die
genauso wie ich versuchten, ihr Zwiespalt-Trauma durch ein Studium der Romanischen
Philologie zu therapieren. Die Hochschullehrer waren überhaupt nicht erstaunt, wenn man
trotz eines italienischen Namens kein Italienisch sprach. Sie waren sogar erfreut einige
Spuren der Sprache in der ein oder anderen Äußerung entdecken zu können. Ich begann
zu verstehen, dass ich nicht hier war, um schon alles zu können, sondern um es zu lernen.
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XIX. Ausländerradio
Gerade in dieser Zeit rief mich eines Tages eine italienische Dame an, die eine
wöchentliche Hörfunksendung für Ausländer moderierte. Ein Dozent, von dem ich
eigentlich dachte, er würde mich nicht mögen, hatte mich ihr als Gast einer kleinen
Expertenrunde vorgeschlagen. Experte schien ich einzig und alleine dadurch geworden zu
sein, dass ich ein Ausländer an einer deutschen Universität war und auch noch so aussah.
Weder der andere Gast, ein türkischer PP und Medizinstudent, noch ich konnten ihr aber
eigentlich helfen. Das Thema dieser Sendung war Ausländerfeindlichkeit an der
Universität und ich musste mir und ihr eingestehen, dass ich eigentlich wenige
Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit bisher gemacht hatte, es sei denn sie würde es
auch als ausländerfeindlich ansehen, dass man sich einen ganzen Vormittag bei der
Ausländerbehörde um die Ohren schlägt, um sich einen neuen Folien-Umschlag für die
Aufenthaltsgenehmigung zu holen. Natürlich geht keiner auf die Ausländerbehörde, um
sich einen Folien-Umschlag zu holen. Man nimmt ihn aber gerne mit, wenn man, was das
eigentliche Begehren angeht, umsonst angestanden hat, da das Formular nicht vollständig
war oder die Meldebescheinigung fehlte (die man natürlich auf der Meldestelle, also am
anderen Ende der Stadt, bekommt). Nein, mit Ausländerfeindlichkeit konnte ich wirklich
nicht dienen. Über Schikanen wurden wir leider nicht befragt.
31
9
XX. Licherkette
In den ersten Jahren p.W. (post Wiedervereinigung) kam es zu einigen hässlichen Taten
orientierungsloser Jugendlicher. Natürlich war es gelogen orientierungslos zu sagen. Die
Orientierung dieser glatzköpfigen Jugendlichen mit der starken rechten
Schultermuskulatur hatte eine ganz bestimmte Richtung. Die empörte und aufgeklärte
Westdeutsche Gesellschaft beschloss Gegenmaßnahmen gegen die notorischen rechteSchulter-Trainierer zu ergreifen, fernab von den schnuckeligen Jeder Mensch ist ein
Ausländer – Fast überball- Aufklebern der frühen Achtziger. Einige wenige
Westdeutsche bewogen, ein Seminar in latenter Ausländerfeindlichkeit für ihre
ostdeutschen Freunden zu geben: Ausländerfeindlichkeit im Alltag – Zwischen latenter
Gesinnung und spontanem Aktionismus. Sie hatten sich schließlich schon seit über vierzig
Jahren eine gewisse Guerilla-Ausländerfeindlichkeit bewahrt, auch weil der amerikanische
Befreier Ausländerfeindlichkeit oder Rassenhass nicht gerne sah, zumindest nicht in
Deutschland. Schließlich hatte man ja noch keinen Friedensvertrag und wollte nicht schon
wieder die Häuser aufbauen. Andere versuchten, ihre Hilflosigkeit in Form von peinlichen
T-Shirts (Mein Freund ist ein Ausländer) oder gelungenen Großflächen-Plakaten
(Brillenträger raus!) auszudrücken. Ich dachte daran, mir ein T-Shirt mit Meine Mutter ist
Deutsche oder Meine Nachbarin ist eine intrigante Schlampe – Slogans zu drucken.
Wieder andere bildeten Lichterketten. Ich mochte diese Aktionen nicht. Man musste
wildfremden Menschen das Patschehändchen halten, in der anderen die Kerze, ergo blieb
für die Zigarette und das Bier (Licher) keine Hand mehr übrig. Außerdem erinnerte es
mich an den St. Martins-Umzug im Kindergarten. Irgendwie jedoch fühlte ich mein
soziales Engagement gefordert. Ich konnte mich ja nicht ständig aus der Verantwortung
stehlen.
9
So gehört bei Badesalz
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XXI. For whom the bell tolls
Kreise haben die Angewohnheit nirgends zu enden und auch nirgends zu beginnen.
Deswegen ist es eigentlich ein Paradoxon zu sagen, dass sich irgendwo der Kreis schließe.
Nichtsdestotrotz scheint die abstrakte Figur des Kreises ein Ursymbol der Menschheit zu
sein. Begriffe wie Teufelskreis, Kreis des Lebens, Ku-Klux-Klan, das allseits beliebte
Zirkeltraining; alles scheint sich im Kreise zu drehen. Bedeutet es, dass es eigentlich
überhaupt keinen Fortschritt gibt, dass jedes Kind dort aufhört, wo die Eltern begonnen
haben? Keine Ellipsen, keine Geraden, nur Zirkel? Der Archetyp Kreis als Ausdruck für
einen Zustand der Belagerung, aus dem es auszubrechen schwergefallen? Man kann es
auch anders betrachten. Denken Sie an die John-Wayne-Filme, in denen die Siedler
immer einen Kreis aus ihren Wagen bilden und die Indianer Feuerpfeile in die Planen
schießen. Kreis bedeutet also auch Schutz und Geborgenheit, eben weil man gewohntes
Terrain nicht verlässt. Je mehr Zirkeltraining man macht, desto leistungsfähiger wird man
(auch wenn dieser Aspekt bei Schüler unter dem Eindruck der kollektiven
Verwünschungen des Lehrers untergeht).Oder aber der Kreislauf des Lebens. Man wird
geboren, man stirbt. Was bleibt einem auch anderes übrig.
Weiterführen wollte ich die Tradition meiner Eltern eigentlich gar nicht, als ich meine
zukünftige Frau kennen lernte. Dieses wunderbare Geschöpf nahm mich in seiner
Wohnung auf, als ich beschlossen hatte, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich kannte sie
flüchtig und dachte mir nichts dabei, bei einer Frau einzuziehen. Wir fanden sehr schnell
zueinander und beschlossen zu heiraten. Ich als mittlerweile überzeugter Heide oder
zumindest Agnostiker, sträubte mich gegen eine kirchliche Hochzeit, zumindest gegen
eine katholische. Wir heirateten evangelisch. Als der Pfarrer mir vorschlug, ein
italienisches Hochzeitslied singen zu lassen, entschied ich mich für das Ave Maria (er
konnte nichts von Ramazzotti anbieten), was den Seelsorger zwar nicht begeisterte, ihn
jedoch in seiner Aufgabe als guter Hirte unseren Wunsch akzeptierte ließ.
Eigentlich ist es mir schon immer egal gewesen, dass meine Frau Deutsche ist, doch wurde
ich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass dies scheinbar wichtig wäre. Immer,
wenn ich erzählte, verheiratet zu sein, war die erste Frage die nach der Nationalität meiner
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Frau. Bei den wenigen Anlässen, die mich gemeinsam mit ihr nach Sizilien führten,
musste ich mich stets dafür rechtfertigen, dass sie immer noch kein Italienisch sprach. Das
Problem hatte meine Frau jedoch schon selber früh erkannt. Selbst wenn sie Italienisch
gelernt hätte, hätte sie dass nicht weit gebracht, denn auf Sizilien spricht man sizilianisch.
Mittlerweile glaube ich sie davon abgebracht zu haben, sizilianisch lernen zu wollen.
Vielleicht lag es auch an dem Bild, das alle von meiner Mutter hatten. Meine Mutter hatte
in den Jahrzehnten der Ehe mit meinem Vater nicht nur italienisch, sondern auch noch
sizilianisch gelernt. Alle Verwandten bewunderten dies zwar, es schien ihnen jedoch
selbstverständlich, dass die Frau die Sprache des Mannes lernen müsse. In manchen
Sprachen ist es üblich, zwischen einer Frauen- und Männersprache zu unterscheiden, was
das Vokabular, die Endungen der Verben und Nomen angeht. Heiraten zwei Menschen
mit verschiedenen Sprachen, dann wird die Frau die gemeinsamen Kinder in der Sprache
des Mannes erziehen. So wie bei mir. Doch ich wollte aufhören, in Kreisen zu denken. Die
anderen aber scheinbar nicht. Ich begriff, dass mich der PP in diesen Fragen behinderte
und versuchte, ihn zu verbannen. Ich schaute mir keine Fußballspiele mit italienischer
Beteiligung mehr an und versuchte zwei Semester Türkisch zu lernen. Doch es half nichts.
Diese Radikalkur war nicht effektiv. Sie vermochte nicht jenes, was ich an schlechten
Eigenschaften des Periodischen Patriotismus erlebt hatte, auszulöschen. Erstmals begann
ich zu erkennen, dass beide Seiten zusammengehörten und nicht trennbar waren. Sie
bildeten eine Einheit, wie der Schokoladenguss auf dem Mohrenkopf, wie Zorro und
seine schwarze Maske. Jeder Teil brauchte seinen Platz, jeder Teil hatte auch seinen Platz.
Dies hatte ich nun zwar erkannt, jedoch hatte ich noch keinen Weg gefunden, es in die Tat
umzusetzen. Wahrscheinlich wäre ich ein miserabler Parkplatzeinweiser geworden.
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XXII. Renegade – The first episode
In dieser Zeit fühlte es sich an, als würde ich erwachsen werden. Ich dachte mehr als sonst
über meine geteilte Herkunft nach. Ich dachte daran, einen Film zu machen. Der
Arbeitstitel sollte L´emigrante heißen, was auf Deutsch soviel wie, sie werden es bereits
erraten haben, der Emigrant heißt. Natürlich ist Emigrant ein Fremdwort, doch die
eigentliche Lehnübersetzung von e (aus, heraus) und migragre (ausziehen, übersiedeln)
zeigt erst das wahre Gesicht dieses Wortes. Es ist mitunter ein hässliches Gesicht mit
mehreren Seiten. Wenn man auszieht, dann verlässt man einen Ort, um an den anderen zu
gelangen. Orte stehen meistens in Verbindung mit Menschen, mit Namen. Während ich
den Film innerlich entwarf, stellte ich mir vor, wie mein Vater und die anderen
Hundertausenden dieses Gefühl des Ausziehens empfunden haben mögen. In einem Zug in
ein Land gebracht zu werden, das man nur aus Erzählungen kannte, eine Sprache zu hören
und doch nicht zu verstehen. Ich dachte auch an die Seite, die verlassen wurde. Die
Freunde, die Eltern, verlassen für eine unbestimmte Zeit. Ich begann, meinen Vater zu
bewundern für den Mut, den er aufgebracht haben musste, diesen Schritt zu wagen. Ich
begann zu verstehen, dass auch er durch die vielen Jahre im Ausland ein Periodischer
Patriot in der eigenen Heimat geworden war. Er war jetzt ein Mensch mit zwei
Wohnungen und Sprachen, mit zwei Heimaten. Jetzt erst begriff ich, warum der Plural des
Wortes Heimat in vielen Sprachen so unüblich ist. Jetzt erst begriff ich, dass ich nicht
alleine war. Wirklich zu Hause fühlten wir uns beide nicht, nirgends. Als meine Mutter
starb, ließen wir sie auf Sizilien begraben. Ich überlegte, neben der Trauer und dem
unendlichen Schmerz, dass auch meine Mutter eigentlich eine Periodische Patriotin
geworden war und dies letztendlich mit ihrer Bestattung, 2000 km von ihrem Geburtsort
entfernt, manifestierte. Doch war sie nicht als Periodische Patriotin geboren, sondern
durch Heirat geworden. Freiwillig hatte sie das selbe Schicksal wie mein Vater
angenommen. Freiwillig hatte sie beschlossen, zwei Orte zu lieben und zu hassen, zwei
Sorten von Mentalitäten zu erdulden oder sich an ihnen zu erfreuen. Freiwillig hatte sie
jenes Schicksal akzeptiert, über das ich mich schon seit fünfundfünfzig Seiten beklage. Sit
tibi terra levis.10
10
Möge Dir die Erde leicht sein! Inschrift auf römischen Gräbern
35
XXIII. Exil
Im Laufe meines Studiums beschloss ich irgendwann ernst zu machen und ein
Auslandssemester in Spanien zu verbringen. Man hatte mir von Italien abgeraten (Sie sind
doch Italiener. Was wollen Sie denn dann in Italien?). Ein Grund für diesen Schritt war
sicherlich, dass ich mittlerweile auch einer von denen geworden war, über die ich mich
vorher so köstlich amüsiert hatte : Zweistellige Semesterzahl, aber gleichzeitig anwesend
in einem Einführungsseminar.
Ich entschloss mich für Málaga. Die Stadt gefiel mir, da sie mich von ihrer Vegetation und
Mentalität, von ihrer Vitalität und Unruhe so sehr an Italien erinnerte. Außerdem waren
die Unterhaltskosten sehr niedrig. Frohen Mutes verpasste ich ein Seminar nach dem
anderen, da ich mich versehentlich für Kurse eingeschrieben hatte, die erst im nächsten
Semester stattfinden sollten. Ein Seminar jedoch konnte ich finden. Es fand sogar statt.
Thema: Vulgärlatein I11 Anzahl der Teilnehmer: Einer (Ich).
Neben dieser, für mich nicht neuen Erfahrung, lernte ich das Gefühl kennen, sprachlos zu
sein. Ich merkte, wie unangenehm es ist, sprechen zu wollen, die Gedanken jedoch nicht in
Worte fassen zu können, die jeder andere auch verstehen könnte. Ich dachte an H.P.
Lovecrafts Aus Äonen. In dieser Geschichte erzählt Lovecraft von einem schrecklichen
Wesen, dass Menschen äußerlich versteinern lässt, während sie innerlich weiterleben. Ein
gesunder Geist in einem paralytischen Körper, was Hilflosigkeit und Verzweiflung nach
sich zieht.
In Málaga fand ich den endgültigen Beweis, dass sich der Periodische Patriotismus nicht
auf Deutschland beschränkte. Ich lernte senegalesische und holländische Engländer,
portugiesische Franzosen und weitere skurrile Mixturen kennen, die mir zeigten, dass
meine Mischung dagegen eher fade wie ein fettreduziertes Bier im Gegensatz zu einem
ordentlichen Export ist.
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So nennt man in der Sprachwissenschaft das Latein der Kaufleute, Soldaten und Sklave, welches sich neben
dem klassischen Latein der Schrift entwickelte und letztendlich in den verschiedenen Romanischen Sprachen
mündete.
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XXIV. Schlussendlich
Schon während des Studiums hatte ich ständig das beklemmend neurotische Gefühl mit
Sprache mein Geld verdienen zu müssen. Irgendwie müsste ich doch zumindest
materiellen Profit aus meiner ansonsten so undankbaren Situation schlagen können. Also
ließ mich mein Periodischer Patriotismus nach dem Studium beschließen, es u.a. als
Sprachlehrer zu versuchen, da ich als Korrektor (was sollen denn die Leute denken, wen
sie hören, dass ein gewisser Herr BUZZANCA ihren deutschen Text korrigiert hat?) den
falschen Namen besaß.
Meine Italienisch-Schüler fanden es immer höchst erfreulich, dass ich akzentfrei Deutsch
spreche, während die Arbeitgeber immer skeptisch waren, wenn sie keinen Akzent hörten.
Dieser Wille, Sprachlehrer zu werden, glich manchmal einer Therapie. Ich wollte das
Gefühl in mir, beide Teile vereinen zu müssen, sie nebeneinander existieren zu lassen,
ohne einen oder den anderen Teil zu verleumden, mit Taten unterstützen. Also wurde ich
Sprachlehrer für Italienisch und für Deutsch als Fremdsprache.
Der Periodische Patriotismus war längst hoffähig geworden. Selbst der Döner war
mittlerweile periodisch patriotisch: als vegetarische Variante (für die deutsche Tierschutz
-bewusste Hälfte) und klassisch mit Fleisch (für die, die ´s nie lernen werden).
Im Laufe der Zeit merkte ich, dass ich durchaus in der Lage war, meine biologische
Halbherzigkeit zu meinen Gunsten zu nutzen. In Zeiten, in denen sich Periodische
Patrioten dadurch preisgaben, dass sie sich die Melodie des Paten als Handy-Klingelton
ausgesucht hatten, entwickelte ich weiterhin ein feines Gespür für alle die, die sich noch
verbargen. Überall waren sie für mich jetzt sichtbar: auf der Straße, in der Zeitung, im
Fernsehen.12 Man musste sich jedoch auch vor den Fakes, den falschen PPs hüten. Wie
groß war meine Enttäuschung doch gewesen, als ich in meiner Kindheit mitanhören
musste, dass Ivan Rebroff überhaupt kein Periodischer Patriot war, sondern die Leute
veralberte, indem er sich eine hässliche Pelzmütze aufzog, sich einen Bart wachsen ließ
und irgendeinmal von Väterchen Frost brummelte, in guter alter Donkosaken- Manier.
12
Roberto Cappelluti, Charles Friedeck, Zlatko, Mario Adorf, Feridul Zaimoglu, Ranga Jogeshwar.
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Doch wollte ich nicht nur die eine Seite des Periodischen Patriotismus in mir besänftigen.
Ich wollte beide Seiten miteinander versöhnen, sozusagen einen bilateralen
Friedensvertrag unterzeichnen. Aus diesem Grund übte ich mich in Toleranz und in der
Vermeidung von Vorurteilen. Jedes mal, wenn ich jetzt einen einarmigen Filzhut-Opa mit
Kampfrauhaardackel sah, mühte ich mich, keinen potentiellen Feind und latenten bis
militanten Ausländerhasser und Ex-Sturmbannführer in ihm zu sehen. Ich wollte einfach
nur einen einsamen, vielleicht verbitterten, vielleicht einfach nur schweigsamen und
unwissenden alten Menschen sehen, der es immerhin geschafft hatte, einen Krieg zu
überstehen und an Entbehrungen mehr erdulden musste, als ich mir vorstellen konnte. Es
wurde mir bewusst, dass der Periodische Patriotismus eine Weggabelung mit Schildern ist,
vor der man als Analphabet steht und nicht weiß, welcher Weg einen ans Ziel bringen
wird. Das Geheimnis liegt darin, nicht einfach aufs Geradewohl loszulaufen, sondern
Lesen zu lernen, um dann wieder zurückkehren zu können.
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