Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die

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Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die
Nr. 2 | 24. Februar 2013
Jonathan Franzen Weiter weg | Shereen El Feki Sex und die Zitadelle |
Amy Waldman Der amerikanische Architekt | David Grossman Aus der Zeit
fallen | Übersetzerin Gunhild Kübler über die Lyrik von Emily Dickinson |
Neue Bücher zu Richard Wagner | Weitere Rezensionen zu Fidel Castro,
Andrej Tarkovskij, Verena Stössinger, Wilhelm Genazino und anderen
Winterzeit, Lesezeit!
Unsere Buchtipps – wärmstens empfohlen für kalte Tage
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Inhalt
Von Brazzaville
bis
Massachusetts
Jonathan Franzen
(Seite 19).
Illustration von
André Carrilho
Wenn ein Stammgast «Zerbrochenes Glas» heisst und der Wirt «Sture
Schnecke»; wenn die Kneipe den Namen trägt «Hier wird nicht
angeschrieben» und sich dort Leute wie der «Pampers-Typ» oder der
«Drucker» aus dem Irrenhaus ein Stelldichein geben – dann befinden
wir uns in Brazzaville und beim kongolesischen Autor Alain
Mabanckou. Der 42-jährige in Paris ausgebildete Jurist, der zehn Jahre
für einen französischen Wirtschaftskonzern arbeitete, wurde für seine
Romane mehrfach ausgezeichnet, so mit dem «Grand Prix littéraire de
l’Afrique noir». In seinem neusten, furiosen Buch, das David Signer
bespricht, treten Schwadroneure und Dandys aus den Slums auf und
machen den Stammtisch zur Bühne (Seite 10). Kurzum: lebenspralle,
witzige und selbstbewusste Literatur aus Schwarzafrika.
In der Heftmitte nimmt Sie Gunhild Kübler auf ihre Entdeckungsreise
zu Emily Dickinson (1830–1886) mit, einer amerikanischen Lyrikerin,
die zu Lebzeiten bloss zehn Gedichte veröffentlicht hat. Begeistert
erzählt Kübler von ihrer Neuübersetzung der elektrisierenden Verse,
einer Beschäftigung, die ihr Leben verändert habe (S. 12).
Lassen Sie sich anstecken von Mabanckou, von Dickinson – oder von
30 weiteren Autorinnen und Autoren, die wir Ihnen in dieser Nummer
vorstellen. Zögern Sie nicht, sich in der Bar der Weltliteratur einen zu
genehmigen: Hier wird (an)geschrieben! Urs Rauber
Belletristik
Kolumne
24 Conradin A. Burga: Oswald Heer 1809–1883
4
David Grossman: Aus der Zeit fallen
15 Charles Lewinsky
25 Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie!
6
Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht
Von Martin Zingg
Kurzkritiken Sachbuch
Von Charlotte Jacquemart
15 Thomas Sprecher: Schweizer Monat 1921–
2012
Mitra Devi: Der Blutsfeind
7
Das Zitat von Isaak Babel
Amy Waldman: Der amerikanische
Architekt
Von Simone von Büren
8
Andrej Bitow: Der Symmetrielehrer
9
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main
Von Sieglinde Geisel
Von Sandra Leis
Juerg Judin: Uwe Wittwer – Paintings
Von Gerhard Mack
10 Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas
Von David Signer
Kurzkritiken Belletristik
11 Johann Nestroy: Historisch-kritische
Ausgabe
Von Manfred Papst
Katherine Mansfield: In einer deutschen
Pension
Von Regula Freuler
Von Urs Rauber
Toby Lester: Die Symmetrie der Welt
Von Kathrin Meier-Rust
Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in Rom
Von Geneviève Lüscher
Christoph Zürcher: Wie ich Kannibalen, die
Taliban und die stärksten Frauen überlebte
Von Urs Rauber
Von Christine Brand
Essay
12 Endlose Knobeleien
Gunhild Kübler über die Schwierigkeiten
des Übersetzens von Lyrik – am Beispiel des
Werks von Emily Dickinson
Das amerikanische Buch
Sonia Sotomayor: My Beloved World
Von Andreas Mink
Agenda
27 Pascal Ruedin: Die Schule von Savièse
Von Manfred Papst
Bestseller Februar 2013
Veranstaltungshinweise
Agenda März 2013
Von Fritz Trümpi
18 Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle
Von Susanne Schanda
20 Horst Bienek: Workuta
11 Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte
Von Ina Boesch
16 Udo Bermbach: Mythos Wagner
Friedrich Dieckmann: Das Liebesverbot und
die Revolution
Jens Malte Fischer: Richard Wagner und seine
Wirkung
Robert Gernhardt: Hinter der Kurve
E-Krimi des Monats
Von Reinhard Meier
26 Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke
Sachbuch
19 Jonathan Franzen: Weiter weg
Von Manfred Papst
Carlos Widmann: Das letzte Buch über Fidel
Castro
Belletristik und Sachbuch
Techno der Jaguare
Von Regula Freuler
Von Michael Holmes
Von Urs Rauber
Von Anja Hirsch
Philipp Blom, Veronica Buckley: Das russische
Zarenreich
Von Geneviève Lüscher
21 Andrej Tarkovskij: Leben und Werk
Von Christian Jungen
22 Florian Homm: Kopf Geld Jagd
Von Sebastian Bräuer
KRISTOF ARASIM
Von Klara Obermüller
Von Geneviève Lüscher
Rolf Mösli: Eugen Bleuler – Pionier der
Psychiatrie
Von Willi Wottreng
23 Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit
Von Tobias Kaestli
Shereen El Feki hält eine Neubewertung der Sexualität in
arabischen Ländern für unabdingbar (Seite 18).
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Versepos Das neue Buch des israelischen Schriftstellers David Grossman ist Totenklage und
Wiederaneignung des Lebens in einem
Ein Mann sucht
seinen toten Sohn
David Grossman: Aus der Zeit fallen.
Aus dem Hebräischen von Anne
Birkenhauer. Hanser, München 2013.
128 Seiten, Fr. 23.90.
Von Klara Obermüller
Wenn einen ein grosses Unglück treffe,
sagte David Grossman, als er vor zwei
Jahren in Frankfurt den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels entgegennahm, dann sei das ein Gefühl, als ob
man aus dem Leben «ins Exil» vertrieben werde.
David Grossman wusste, wovon er
sprach. Er hatte es selber erlebt, nachdem sein Sohn Uri am 12. August 2006
auf dem Rückzug aus Libanon von einer
Rakete tödlich getroffen worden war.
Mit einem Schlag hatte er damals alles
David Grossman
verloren, worauf er bislang hatte bauen
können: alle Gewissheit, alles Vertrauen, ja selbst das natürliche Recht, sich
im Leben zuhause zu fühlen. Aber er
war aus dem Exil auch wieder zurückgekehrt: zurück an die Arbeit und zurück
ins Leben. Einen Tag nach der Trauerwoche, so berichtete er, habe er sich
wieder an seinen Schreibtisch gesetzt,
um an dem Roman weiterzuschreiben,
den er in Arbeit hatte. Und sei sich dabei
vorgekommen wie einer, der nach einem
Erdbeben aus den Trümmern seines
Hauses kriecht, sich umschaut, hinsetzt
und «beginnt, wieder Steine aufeinanderzulegen».
Oder eben Wörter. Zwei Jahre nach
dem Tod des Sohnes erschien in Israel
der Roman «Eine Frau flieht vor einer
Nachricht»: das Buch, in dem der Autor
von den Ängsten einer israelischen
Mutter erzählte, deren Sohn Militärdienst leistet, und in dem er auf fast
schon prophetische Weise vorwegnahm,
was ihm und seiner Familie zustossen
sollte. Ohne es zu wollen, wurde der
Jahre zuvor begonnene Roman zum Requiem für den toten Sohn und zum Versuch des Vaters, sich sein Heimatrecht
im Leben zurückzuholen.
ATEF SAFADI / EPA
Hohes Mass an Empathie
1954 in Jerusalem geboren, arbeitete
David Grossman als Radiojournalist,
bevor er Romane und Jugendbücher veröffentlichte. Journalistische Arbeiten wie
«Der gelbe Wind» (1988) oder politische
Essays wie «Diesen Krieg kann keiner gewinnen» (2003) liefen stets neben belletristischen Werken wie «Das Lächeln des
Lammes» (1988), «Der Kindheitserfinder» (1994) oder «Eine Frau flieht vor
einer Nachricht» (2009) einher. Er ist
auch ein bekannter Friedensaktivist.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
Dass dies nur zum Teil gelungen war,
macht das Erscheinen eines weiteren
Buches deutlich, das in der hervorragenden Übersetzung von Anne Birkenhauer
nunmehr auch auf Deutsch vorliegt.
«Aus der Zeit gefallen» heisst es und ist
für einmal kein Roman und auch keine
Erzählung, sondern eine Art Versepos
oder dramatisches Gedicht. Ein Werk
jedenfalls, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht, wie sich auch sein
Inhalt jeder Erfahrung entzieht, die der
Autor bisher gemacht hat. «Aus der Zeit
gefallen» ist Totenklage und Wiederaneignung des Lebens in einem. Es ist surreal und furchtbar konkret zugleich.
«Ich muss gehen», sagt ein Mann zu
seiner Frau. «Wohin?», fragt sie. «Zu
ihm. Nach dort», antwortet der Mann.
So beginnt der Text und nimmt ein Bild
wieder auf, das aus einem früheren
Roman des Autors bekannt ist: Auch in
«Stichwort: Liebe» war von einem
«Land Dort» die Rede gewesen.
Die Überlebenden der Shoah verwendeten den Begriff, wenn sie von den Lagern sprachen, denen sie entkommen
waren, ohne je wieder im Leben Fuss
fassen zu können. Jetzt ist mit «dort»
das Reich des Todes gemeint, das kein
Lebender je betreten wird. Der Mann
bricht gleichwohl auf. Er kann nicht anders. Er muss seinen toten Sohn suchen,
noch einmal in Kontakt zu ihm treten,
noch einmal den Schmerz kosten, die
Trauer durchleben, um danach vielleicht tatsächlich aus dem Exil ins Leben
zurückkehren zu können. Grossman
gibt hier einer existenziellen Erfahrung
Ausdruck, die er mit unzähligen israelischen Eltern teilt. Darin lag von jeher
seine Stärke.
Seit er als blutjunger Autor mit dem
Reportage-Band «Der gelbe Wind» das
Augenmerk seiner Landsleute auf «die
israelisch-palästinensische Tragödie»
gelenkt hatte, ist Grossman immer wieder durch ein untrügliches Gespür für
die Virulenz verdrängter Gefühle innerhalb der israelischen Gesellschaft aufgefallen. Ob er in «Das Lächeln des Lammes» über die Begegnung zwischen
einem jungen Israeli und einem alten
Araber schrieb oder in «Stichwort:
Liebe» dem Trauma der Shoah aus der
Sicht eines Kindes beizukommen versuchte; ob er sich in «Der Kindheitserfinder» mit den Mühen des Erwachsenwerdens in Zeiten des Krieges befasste
oder in seinem jüngsten Roman die permanenten Vernichtungsängste israelischer Eltern thematisierte – immer war
er mit seinem Erzählen ganz nah bei
dem, was die israelische Bevölkerung
bewegte.
Dabei zeichnete er sich stets durch
ein hohes Mass an Empathie auch für
die andere, die arabische Seite aus und
nahm Autobiografisches allenfalls zum
Anlass, nie jedoch zum Selbstzweck sei-
RINA CASTELNUOVO / REDUX / LAIF
nes Schreibens. Das ist im Falle seines
neuen Buches nicht anders. David
Grossman weiss, dass die Trauer um ein
totes Kind an keine ethnischen, religiö­
sen oder familiären Grenzen gebunden
ist, sondern im wahrsten Sinne des Wor­
tes eine universale Erfahrung darstellt.
Deshalb ist dies auch sein bis anhin per­
sönlichstes und zugleich am stärksten
verfremdetes Buch geworden.
Es ist sein ganz persönlicher Schmerz,
und es ist der Schmerz der ganzen Welt,
der hier zum Ausdruck kommt. Zwei
Jahre – so sagt es die Datumszeile am
Ende des Textes – hat David Grossman
an diesem Epitaph für seinen gefallenen
Sohn gearbeitet.
Was es ihn gekostet haben muss, die
Wunden noch einmal aufzureissen und
noch einmal allen Schmerz zu durchle­
ben, den die Todesnachricht auslöste,
das kann man bei der Lektüre des
schwierigen und streckenweise herme­
tischen Textes nur ahnen. Die archaisch
anmutende, hoch artifizielle Form, die
der Autor für seine Totenklage gewählt
hat, war aber wohl nötig, um die Ver­
zweiflung in Schach halten und über­
haupt schreiben zu können.
Im Gegensatz zu seinen bisherigen
Werken kennt «Aus der Zeit gefallen»
keine Individuen, sondern nur Typen:
den Gehenden Mann und seine Frau,
den Schuster und die Hebamme, die
Netzflickerin, den Greisen Rechenleh­
rer, den Zentauren, den Chronisten und
seine Frau, den Herzog. Sie alle – das
kristallisiert sich nach und nach heraus
– sind vereint in der Trauer über den
Verlust eines Kindes. Sie geben dem
Mann Geleit. Sie sind, wie er, unterwegs
«nach dort», um in Kontakt zu treten zu
ihren toten Kindern: ein vielstimmiger
Chor von Trauernden, der Sprache zu
finden sucht für seine Qual. Grossman
schafft mit seinem Text eine Art Echo­
raum für Geschichten, die, zu lange
schon totgeschwiegen, endlich nach
Ausdruck verlangen und nach Erlösung.
Neue Poetik des Lebens
In immer wieder neuen Schüben wer­
den Erinnerungen wach und Bilder le­
bendig, die irgendwo in den Tiefen des
Gedächtnisses verschüttet gewesen wa­
ren. Menschen, die in ihrem Leid ver­
stummt waren, kehren zurück aus dem
Exil ihrer Sprachlosigkeit und fangen an,
Trauern um ein Kind:
David Grossman hat
2006 einen Sohn im
Krieg verloren. Im Bild
eine trauernde Mutter
2008 im israelischen
Militärfriedhof Mount
Herzl in Jerusalem.
von ihren Kindern zu erzählen. Und so
wie die Mutter in Grossmans letztem
Roman ihren Sohn durch Erzählen vor
dem Tod zu bewahren versucht, so
holen hier die trauernden Eltern ihre
toten Kinder durch Erzählen noch ein­
mal ins Leben zurück.
Die Mauer, die das Land der Leben­
den vom Land der Toten trennt, über­
winden sie damit zwar nicht. Aber
indem sie bis an den äussersten Rand
des Menschenmöglichen gehen, begin­
nen die Grenzen zwischen hier und dort
sich zu verwischen. Leben und Tod
«pendeln sich aus» und es entsteht ein
«beinah zartes Gleichgewicht», sagt die
Frau des Chronisten und ahnt, dass es
Zeit wird, die Toten ruhen zu lassen und
ins Leben zurückzukehren. «Das Kind
ist tot», sagt der Gehende Mann. «Nichts
mehr von dir wollen, auch nicht dich
selbst», sagt der Chronist. «Und mir
bricht es das Herz, mein Augenstern,
wenn ich daran denk, dass ich – ist’s
möglich?! –, dass ich dafür die Worte
fand», sagt der Zentaur. Auch David
Grossman hat sie gefunden und mit die­
ser Poetik der Trauer den Weg zu einer
neuen Poetik des Lebens freigelegt. l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman In Verena Stössingers berührendem Buch geht es um einen Mann, dessen Biografie sich im
Dunkeln der Geschichte verliert
Auf das Gedächtnis ist kein Verlass
Wallimann, Luzern 2012. 189 Seiten,
Fr. 29.–.
Von Martin Zingg
Die Reise ist überfällig, und irgendwann
duldet sie keinen Aufschub mehr. Sie
führt einen Mann zurück an die Orte
seiner Kindheit: Jürgen Ramm hat Jahrgang 1934 und ist geboren in Braunsberg,
einer kleinen Stadt an der Ostsee, die
heute Braniewo heisst und zu Polen gehört. Er ist aufgewachsen in Orten, die
nach dem Zweiten Weltkrieg zu neuen
Ländern geschlagen wurden und inzwischen auch andere Namen tragen. Er hat
seine Wurzeln in einer Welt, die längst
eine andere geworden ist.
Die ostpreussische Gegend hat er seit
der Flucht nie mehr gesehen, nun will er
auf einer Reise den wenigen Spuren
nachgehen, denen er zu trauen wagt.
Was er in frühen Jahren erlebt hat,
scheint längst geronnen zu einer Handvoll zeit- und ortloser Geschichten. An
seine Kindheit und frühe Jugend kann
sich Ramm nämlich nur vage erinnern,
was auch darum schwer wiegt, weil ihm
keine Gegenstände geblieben sind, nur
gerade vier Fotografien hat er aus jener
Zeit, mehr nicht.
Jürgen Ramm und seine Frau Bea sind
die zentralen Figuren in Verena Stössingers berührendem Roman «Bäume fliehen nicht». Bei ihrer gemeinsamen
Reise zu den Städten, in denen er vor
Kriegsende gelebt hat, wird es um vieles
gehen, um mehr als nur um Orte, das
steht früh schon fest. Denn vieles in Jürgens Biografie hat sich im Dunkel der
Geschichte verlaufen. Als er 1945 nach
längerer Irrfahrt in Berlin landet, hat er
bereits seine Eltern und einen Bruder
verloren. Seine Mutter hat er sogar selber bestatten müssen, aber immerhin
hat er bis zuletzt bei ihr bleiben können.
Von seinem früh verstorbenen Vater
hingegen hat er nur ein undeutliches
Bild vor Augen, der Vater war ein seltener Gast in der Familie. Geblieben sind
drängende Fragen, die niemand beantworten kann. Was hat er gearbeitet, der
Vater? Und: wo? Wieso kam er nur am
Wochenende nach Hause? War er am
Ende gar mitbeteiligt am Krieg? Und:
Gibt es Zeugen oder Dokumente, die
darüber Aufschluss geben könnten?
Vor Ort, unterwegs entlang der Ostsee, wollen sich die ersehnten Klärungen nur zögernd einstellen. Die beiden
Reisenden sind im Mietwagen unter-
CLAUDE GIGER
Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht.
Verena Stössinger, geboren 1951 in Luzern, ist ausgebildete Nordistin,
Mitinitiantin des Literaturhauses Basel und Schriftstellerin.
wegs, aber die Strassen haben inzwischen andere Namen, vieles ist zerstört
worden, das Gedächtnis gibt lange Zeit
wenig frei. Behutsam bewegt sich das
Paar durch das fremde Land, die beiden
fragen und hören und sehen sich um,
offen für alles, was der vagen Erinnerung helfen könnte. Am ehesten stellen
sich Glücksgefühle ein, wenn der alte
Jürgen auf kulinarische Spezialitäten
stösst, die der junge Jürgen besonders
mochte, etwa «Glumse», bröckeligen
Quark.
Das Essen vermag immer wieder
Kindheitsmomente abzurufen. Daneben
melden sich unvermittelt Liedfetzen,
plötzlich stellen sich kleine, meist randscharfe Bilder ein, aber es schiessen
auch manche Fragen hoch. So vieles ist
offen und muss wohl offen bleiben. Ein
Glück, das die jüngere Frau in ihrem einfühlsamen Pragmatismus diese Offenheit schützt.
Auf das Gedächtnis ist bekanntlich
kein Verlass, Präzises steht oft neben
Vagem, und beides infiziert sich wechselseitig. In ihrer Erzählweise nimmt
Verena Stössinger auf raffinierte Weise
gerade das Unverlässliche der Erinnerung auf und macht es zu einem tragenden Moment der Handlung. Bis in deren
Struktur, in die Sätze hinein bildet die
Erzählerin das Instabile ab, und daraus
wird eine lebendige und spannende
Suchbewegung, die ein Stück weit auch
das Gesuchte selber ist. Denn der ältere
Jürgen, der die Spuren des Jüngeren
sucht, stellt hinter dem eigenen Rücken
auch die Frage nach einem sinnvollen
Leben. Aus einer Existenz, die über ihre
Anfänge nicht genügend wissen kann
und darum mit der Lückenhaftigkeit der
Biografie zurechtkommen muss, wird
hier ein eindrücklicher Lebensroman. l
Kriminalroman Die Zürcher Autorin Mitra Devi lässt ihrer Privatdetektivin alte Fälle lösen
Spannend wie die TV-Serie «24»
Mitra Devi: Der Blutsfeind. Nora Tabanis
fünfter Fall. Appenzeller-Verlag, Herisau
2012. 286 S., Fr. 38.–, E-Book 17.90.
Von Charlotte Jacquemart
Dass Mord und Totschlag Mitra Devi
faszinieren, ist bekannt. In ihrem fünften Kriminalroman mit dem Titel «Der
Blutsfeind» gelingt es der Zürcher Autorin, aktuelle Tat und Vergangenheit so
zu verbinden, dass ungeklärte Fragen
der letzten Krimis beantwortet werden.
So kommt endlich zu Tage, wer für den
gewaltsamen Tod des Vaters der Protagonistin, der Privatdetektivin Nora Tabani, verantwortlich ist. Jahre zuvor war
er ermordet worden – eine Tat, die Nora
bis heute nicht verarbeitet hat.
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
In «Der Blutsfeind» gerät die leicht
chaotisch veranlagte Privatdetektivin
vermeintlich zufällig an den Tatort.
Aber eben nur vermeintlich: Sie wird
aus ganz bestimmten Gründen in die
Zürich Credit Bank bestellt, in der sich
in der Folge ein Banküberfall abspielt,
der übel endet. Nora löst den Fall nicht
wirklich, sondern ist Teil des makaberen
Geschehens, das sich zwischen sieben
Uhr morgens und sieben Uhr abends an
nur einem Tage abspielt. Wer die Fernsehserie «24» kennt, weiss, wie unstimmig die Handlungen in einem solch
engen Zeitkorsett wirken können. Devi
jedoch gelingt der Zeitraffer hervorragend: Nie wirken Szenerie oder Aktionen bemüht. Der Banküberfall in der
Mitte Zürichs, mit dramatischer Geiselnahme und sich in die Haare geratenden
Gangstern, fesselt selbst abgebrühte
Krimi-Leser.
Der Sinn des Buchtitels «Blutsfeind»
erschliesst sich dabei den Lesern erst
auf den letzten Seiten des Krimis. Die
Wende, die das Buch zum Schluss
nimmt, kommt zwar überraschend und
mag auf den ersten Blick etwas konstruiert wirken. Devis gelungene Schreibe
jedoch lässt dies in den Hintergrund treten. Auch lässt das Ende von «Der Blutsfeind» der Autorin alle Möglichkeiten
offen für die Zukunft: Sie könnte sich
von Nora ein für allemal verabschieden
Ω oder der Privatdetektivin einen sechsten Fall bescheren. Auch wenn Mitra
Devi an Lesungen in jüngster Zeit ein
mögliches Ende von Nora in den Raum
stellte, deutet der Epilog eher darauf
hin, dass bald ein weiteres Buch folgt. l
Roman Im mehrfach ausgezeichneten Debüt von Amy Waldman geht es um den Umgang mit 9/11
Wenn eigene Positionen
ins Wanken geraten
Amy Waldman: Der amerikanische
Architekt. Aus dem Amerikanischen von
Brigitte Walitzek. Schöffling & Co.,
Frankfurt 2013. 512 Seiten, Fr. 35.50.
2003 wurden beim internationalen
Wettbewerb für die 9/11-Gedenkstätte in
Manhattan 5000 Entwürfe aus 63 Ländern eingereicht. Ausgewählt wurde
«Reflecting Absence» des in Israel geborenen Architekten Michael Arad und
des amerikanischen Landschaftsarchitekten Peter Walker: eine riesige baumbepflanzte Fläche mit zwei Wasserbecken an der Stelle der zusammengestürzten Twin Towers.
Bäume und Wasser dominieren auch
den Entwurf, für den sich die Jury in
Amy Waldmans Debütroman «Der amerikanische Architekt» entscheidet, der
den Wettbewerb für die Gedenkstätte
als Ausgangspunkt nimmt. «Der Garten» ist ein geometrischer Raum mit
Wasserkanälen sowie echten und aus
den Stahlüberresten der Türme geformten Bäumen. Für alles Weitere weicht
Waldman von der jüngsten amerikanischen Geschichte ab. Denn in ihrem
vielfach ausgezeichneten Roman gerät
der demokratisch gefällte Juryentscheid
ins Wanken, als die Identität des Architekten bekannt wird: Mohammad Khan,
kurz Mo genannt, Sohn indischer Eltern,
in den USA aufgewachsen, ein attraktiver Enddreissiger, «ein aufsteigender
Stern am Architektenhimmel» – und
Muslim, wenn auch kein gläubiger. Der
Versuch, den Entwurf unter anderem
Namen zu veröffentlichen, scheitert, als
die brisante Information versehentlich
an die Presse gelangt.
Ambitiöse Reporterin
Sofort instrumentalisieren verschiedene Gruppen und Individuen die Situation für ihre eigenen Anliegen: Die Gouverneurin nutzt die Popularität islamfeindlicher Argumente für ihren Wahlkampf. Die ambitiöse Reporterin kennt
keine Skrupel in ihrer Jagd auf eine explosive Exklusivstory. Die AngehörigenVertreterin in der Jury, die für den Garten gekämpft hatte, gerät unter Beschuss
von Angehörigen, die in einer unguten
Koalition mit der extremistischen Organisation «Save America from Islam»
gegen eine von einem Muslim entworfene Gedenkstätte kämpfen.
Die einen finden, «der Mohammedaner» sei per definitionem ungeeignet.
Die anderen projizieren ihre Bedenken
gegenüber der Person auf den Entwurf,
indem sie den Garten – vom Historiker
in der Jury als «Fetisch der europäischen Aristokratie» bezeichnet – als islamische Tradition und «Märtyrerpara-
GÜNTER GOLLNICK / OKAPIA
Von Simone von Büren
Darf ein Muslim den
Ground Zero (im
Bild) gestalten? Um
diese Frage kreist das
Buch der «New York
Times»-Journalistin
Amy Waldman.
dies» auslegen, mit dem man islamistischen Extremisten signalisieren würde,
sie hätten gewonnen.
Politische und persönliche Beweggründe vermischen sich, Haltungen verfestigen sich, Prinzipien geraten ins
Wanken, Anwälte kommen ins Spiel. Die
Situation eskaliert: Es gibt abgerissene
Kopftücher, Drohungen, Demonstrationen, eine öffentliche Anhörung, einen
Mord. Wie ein «Kind in einem Sorgerechtsstreit oder wie die Falkland-Inseln» kann es Mo nicht allen recht machen. Man wirft ihm vor, den Wettbewerb als Karriereschritt zu nutzen, und
unterstellt ihm «einen verdeckten Versuch der Islamisierung». Man beschuldigt ihn, Amerika zu spalten, und erwartet, dass er für dessen Prinzip einsteht,
dass «allein die Leistung zählt und nicht
Namen, Religion oder Herkunft». Irritiert erkennt er, dass sein Bemühen,
nicht wie ein Verbrecher zu wirken,
dazu führt, «dass er sich wie einer verhielt, sich wie einer fühlte». Er weigert
sich in der Folge, seinen Entwurf zu erklären, lässt sich einen Bart wachsen,
rasiert sich wieder und fastet zum ersten Mal in seinem Leben, ohne genau zu
wissen, wieso.
Amy Waldman hat als Reporterin der
«New York Times» über 9/11 und dessen
Folgen berichtet. Sie kennt ihr Material
ausgezeichnet und legt das breite Spektrum der Argumente und Dilemmata in
intellektueller Schärfe offen. Sie spiegelt
die kollektive Verunsicherung anhand
individueller Schicksale und bleibt
dabei nahe an der Realität – abgesehen
von der amüsanten Karikierung von Reportern der Klatschpresse und rechts-
politischen Aktivisten. Ihre Figuren entfalten sich weniger in der Beschreibung
von Befindlichkeiten und narrativen
Konstrukten – es gibt einige unglaubwürdige Affären – als in den lebendigen
Dialogen, die die unterschiedlichen Haltungen in schnörkelloser Sprache auf
den Punkt bringen.
Wer sich wem unterwirft
Geschickt nutzt die 43-jährige Autorin
eine konkrete fiktive Situation, um Konflikte und Themen freizulegen, die unsere Gesellschaft verunsichern und die
dem Leser vertraut sind. Der Roman
wirft komplexe Fragen auf über das
westliche Verhältnis zum Islam, über
den Status der Muslime nach 9/11. Aber
auch über kollektives und individuelles
Trauern, privates und öffentliches Erinnern. Ist der Trauernde moralisch überlegen? Wie kann ein kollektiver Verlust
erinnert werden? Wer hat welche Ansprüche an dieses Gedenken? Wer
schlägt Nutzen daraus?
Das Aufräumen der Geschichte im
Epilog maskiert geschickt eine bleibende Unsicherheit. Auf Letztere weist
auch der Originaltitel «The Submission» hin: «Submission» bedeutet sowohl «Eingabe» für einen Wettbewerb
wie «Unterwerfung» und spielt zudem
an auf die Etymologie des arabischen
Wortes «Muslim» als «der sich Gott unterwirft». Wer sich wem unterwirft,
bleibt als grosse Frage am Ende des Romans stehen. Und die eigene liberale
Position, aus der man als Leser bestens
unterhalten die Turbulenzen im Text
verfolgt hat, gerät unter Umständen
doch noch ein wenig ins Wanken. l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Andrej Bitow treibt mit seinen Lesern ein raffiniertes Spiel. Beim Lesen schwankt man
zwischen Frustration und Vergnügen
Nichtschreiben darf man alles
Decodierungsbemühungen vom AutorÜbersetzer ignoriert, wenn nicht sabotiert werden. Lauter lose Enden, die sich
nicht zu einem Ganzen fügen lassen.
Was machen wir, zum Beispiel, mit
der Insel-Episode? Vanoski strandet auf
einer Insel, die sich, wie es in Mythen
vorkommen kann, als Rücken eines
Wals entpuppt – wenn dieser auch in
den vergangenen fünfzig Jahren kein
einziges Mal abgetaucht sei; ausserdem
ist von Tsunamis die Rede. Zwei weibliche Wesen hausen auf dieser einsamen
Insel, Lili und Marleen, sie entpuppen
sich als Zwillingsschwestern, und in
beide verliebt sich Vanoski, obwohl eine
von ihnen ein Hund ist, normalerweise
angekettet im Keller. Dann wieder heisst
es, die beiden seien ein einziges Wesen,
doch keineswegs eines namens Lili Marleen, denn: «Das ist ein Lied, kein
Mensch», so die empörte Lili.
Der gebildete Leser mag an Odysseus
auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso
denken, doch was bringt’s? Liegt es in
der Verantwortung des Lesers, Sinn zu
finden, oder in der Verantwortung des
Autors, Sinn zu stiften? Haben wir es mit
blossem l’art pour l’art zu tun, oder gibt
es Nachrichten zu entschlüsseln, über
das Leben und die Liebe, an der Vanoski
auf so viele Arten scheitert?
Andrej Bitow: Der Symmetrielehrer.
Ein Echoroman. Aus dem Russischen
von Rosemarie Tietze. Suhrkamp, Berlin
2012. 333 Seiten, Fr. 36.90.
Von Sieglinde Geisel
Dickicht von Bezügen
Eine literarische Anspielung jagt die andere in diesem «Echoroman». So verdankt etwa der «Tristram-Club» dem
«Tristram Shandy» von Laurence Sterne
seinen Namen, diesem Urroman der
ausschweifenden Abschweifung; das abgründig ironische Kapitel «Die posthumen Papiere des Tristram-Clubs» (oder
«The Inevitability of the Unwritten»)
handelt von scheiternden Schriftstellern und somit nicht vom Schreiben,
sondern vom Nichtschreiben: «Nichtschreiben darf man alles, was man
möchte. Schreiben darf man nur, was gelingt», so zwei der Regeln der Satzungen
dieses Clubs, der sich schliesslich in
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
Brillante Formulierungen
BEAT SCHWEIZER
Was heisst lesen, was heisst verstehen?
Beim Versuch der Lektüre von Andrej
Bitows Roman «Der Symmetrielehrer»
kann man an solchen Fragen verzweifeln. Der Autor gibt sich als Übersetzer
eines verschollenen Romans mit dem
Titel «The Symmetry Teacher» aus. Bereits «in vorschriftstellerischen Jugendjahren», so Bitow in der Vorbemerkung,
habe er diesen Text «aus dem Ausländischen» ins Russische übersetzt, wobei
er längst nicht alles verstanden habe; die
Übersetzung sei verloren gegangen,
doch Jahre später habe sich dieses vergessene Buch wieder seiner Phantasie
bemächtigt, so dass er aufgeschrieben
habe, an was er sich erinnerte. «Zurückverfolgen lässt sich nun kaum mehr
etwas», so das Fazit dieser (traditionsreichen) literarischen Verdunkelungsstrategie. In «Anm. d. Ü.» wendet sich
der Übersetzer-Autor gerne direkt an
den Leser, bisweilen tut das auch die
Übersetzerin aus dem Russischen, Rosemarie Tietze.
Unmöglich zu sagen, worum es in
diesem Buch geht. In seinem «Vorwort
des Übersetzers» gibt uns Bitow Einblick in eine ausgetüftelte Konstruktion
aus Symmetrien, Zeitebenen und Paradoxien, samt entsprechenden Tabellen.
Und in der Tat: Spiegeleffekte finden
sich sowohl auf der Ebene der Figuren
wie der einzelnen Sätze. So erweist sich
etwa der Ich-Erzähler Urbino Vanoski
(«ein englischer Dichter von gemischt
polnisch-holländisch-japanischer Herkunft») als Autor und Romanfigur zugleich. Man stösst auf symmetrisch formulierte Meta-Sentenzen wie: «Verstehen Sie, Leben ist Text. (…) Aber auch
Text ist Leben!», oder: «Was zuerst da
war, weiss ich nicht. Ob die Romanidee
die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse die Romanidee vorantrieben.»
Der russische Autor Andrej Bitow, 75, hier im Juli 2009 am
Internationalen Literaturfestival in Leukerbad.
«Verein zum Schutz literarischer Helden vor ihren Autoren» umbenennt.
Es brauche Leser, «die sich unerschrocken ins akustische Spiegelkabinett»
dieses Romans hineinwagen, heisst es
im Verlagstext. Denn so brillant, ironisch und vielstimmig die einzelnen Novellen, Dialogszenen und Miniatur-Essays mitunter sind – über weite Strecken
hinweg müht sich der «unerschrockene
Leser» (Kommentar des Verlags) vergeblich, aus dem Dickicht der Bezüge
klug zu werden. Denn natürlich ist die
vermeintlich raffinierte Konstruktion
nur ein Spiel, und zwar eins auf Kosten
des Lesers, dessen Entzifferungs- und
Beides dürfte der Fall sein, und deshalb
ist die Lektüre ein Wechselbad zwischen
Frustration und luzidem Vergnügen.
Vanoski verzweifelt angesichts der
«schwindelerregend unverständlichen»
auf Englisch radegebrechten Erzählungen eines Russen, der Anton heisst – wie
Tschechow, natürlich! – und der bei der
Südpol-Expedition von Robert Scott die
Ponys betreut haben soll. Vergnügen bereiten anderseits Sätze wie: «The more
we live – / The more we leave. / The
more we choose – / The more we loose.»
Manches gelingt phänomenal, und manches entgleitet dem Autor, denn was wir
in den Händen halten, ist ein work in
progress.
Seit den frühen siebziger Jahren, so
erfährt man in der editorischen Notiz,
habe Andrej Bitow an dem Text gearbeitet – im Grunde schreibe er sein ganzes
Leben an einem einzigen Roman. Zu den
Sujets dieses Lebensromans, der zugleich alle Sujets verfolgt und keines,
gehört das Verhältnis von Leben und
Schreiben. «Sie wüssten gern, wie alles
in Wirklichkeit war?», fragt Urbino Vanoski den Reporter am Ende seines Lebens und am Anfang des Buchs. «Ich
erinnere mich aber nicht, was ich geschrieben habe und was gelebt.»
Wenn wir das Leben deuten, sind wir
gleichzeitig Autor und Figur. Wir erkennen Sinn, wo keiner ist, und oft sind wir
blind für Zusammenhänge, die in unserem Leben wirksam sind. Doch will man
Bücher lesen wie das Leben? l
Betrachtungen Zu seinem 70. Geburtstag schreibt Wilhelm Genazino ein Buch über Frankfurt
Chronist des deutschen Alltags
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main.
Spaziergänge in der Mitte Deutschlands.
Hanser, München 2013. 139 Seiten,
Fr. 23.90.
Von Sandra Leis
«Als die Post noch Deutsche Bundespost hiess und keine Gewinne machen
musste», schreibt Wilhelm Genazino in
seinem neuen Buch, «gab es in den
Stadtteilen schöne, grosse und – im
Winter – auch geheizte Schalterhallen.»
Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post
eine «Tendenz zur Gemeinnützigkeit»:
Mütter machten ihre Säuglinge frisch,
Rentnerinnen verzehrten ihre mitgebrachten Brote und alte Herren kontrollierten ihre Brieftaschen. Heute sind die
grossen Posthallen weitgehend verschwunden – die Post ist zur Untermiete. Man könne nicht sagen, dass die Post
ihre Aufgaben vernachlässige, so Genazino, es gehe alles seinen Gang wie früher. «Nur: Beeindruckt ist von dieser
Post niemand mehr.»
Wilhelm Genazino nimmt in seinen
Romanen und Essays wie früher auch in
seinen Hörspielen und Sketches das Unscheinbare und Alltägliche in den Blick;
er fahndet nicht nach dem Spektakulären, sondern nach dem Zeittypischen.
Den literarischen Durchbruch schaffte
er mit seiner Romantrilogie «Abschaffel» (1977), «Die Vernichtung der Sorgen» (1978) und «Falsche Jahre» (1979)
über das Leben des Büroangestellten
Abschaffel: Diesem wird sein Beruf
fremd, und in der sogenannten Freizeit
weiss er je länger, desto weniger etwas
mit sich anzufangen. Allmählich kommt
er sich abhanden, und Genazino beschreibt diese Entwicklung nüchtern
und genau.
Seit vielen Jahren lebt der Autor in
Frankfurt am Main, wo er einst als Redaktor der Satirezeitschrift «Pardon»
anheuerte. In der Stadt, die sich zum
einen in ihrer «hausbackenen EppelwoiSeligkeit» gefällt und zum anderen als
«Mainhattan» gelten will, ist Wilhelm
Genazino daheim. Und so macht er
Frankfurt regelmässig zum Schauplatz
seiner Bücher.
Auch in «Tarzan am Main», seinem
jüngsten Band, der zum 70. Geburtstag
des Autors erschienen ist. In seinen Betrachtungen schreibt Genazino detailliert und trotzdem immer kurz und bündig über Supermärkte und Kleinmarkthallen, über den Bahnhof und die UBahn, über Pendler und Ausländer, Verwahrloste und Bettler und über Trinker,
die diskret ihre leeren Flaschen entsorgen und den Nachschub verschämt im
Rucksack verstauen. Er schreibt über
den «Verdruss der Enge» und über die
oft lieblose Architektur seiner Stadt, die
nach dem Krieg möglichst schnell wieder aufgebaut werden musste.
In seinen Prosaminiaturen zu Frankfurt versammelt Genazino kleine Beobachtungen, Gedanken und Erinnerungen. In kurzen, präzisen Betrachtungen
reflektiert er Gegenwart und Vergangenheit und ist, was er immer ist: ein
Chronist des deutschen Alltags. Nicht
mehr, aber auch nicht weniger. Aufgemotzt und irreführend wirken deshalb
Sätze aus der Werbeabteilung des Hanser-Verlags, gemäss denen das gewöhnliche Deutschland «exotischer» sei «als
die Ferne, die inzwischen jeder kennt».
«Tarzan am Main» ist nicht nur ein
Buch über Frankfurt, es ist genauso ein
Buch über Genazino selbst – über seine
kleinbürgerliche Herkunft, über seine
Angst vor dem nächsten Buch und über
die Frage, ob ein sinnvoll abgeschlossenes Ende eines Schriftstellerlebens
überhaupt möglich ist. In einem Kapitel
beschreibt er, wie ihn zwei Herren vom
Deutschen Literaturarchiv besuchen,
um seinen Vorlass zu inspizieren. In
mehr als dreissig Ordnern hat Genazino
Entwürfe, Vorstufen und Kapitelskizzen
zu kommenden Romanen aufbewahrt.
Er schreibt: «Die Aufzeichnungen sind
oft nur deshalb entstanden, weil ich
meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas entgegenhalten musste. Ohne diese
Vor-Notizen wären die ‹eigentlichen›
Werke nie entstanden.»
Das wäre furchtbar für einen, der bereits mit 14 wusste, dass er Schriftsteller
werden wollte und sonst nichts. Sein
Glück steckt in der Arbeit. Genauer: Der
Augenblick des Glücks ist der «Augenblick der Verwandlung» – in einen, der
bald schreiben wird. l
Malerei Von der Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen
Die Sonne scheint zwischen kahlen Bäumen hindurch. Zwei Pferde warten darauf, dass die Männer
ihnen den Befehl geben, einen Stamm wegzuziehen.
Eine winterliche Szene aus einer anderen Zeit. Uwe
Wittwer, der 1954 in Zürich geborene Künstler, hat
nach einer Fotografie gemalt. Er sammelt historische
Aufnahmen. Viele von ihnen findet er im Internet. Ein
Konvolut wurde in Ostpreussen zur Zeit des Zweiten
Weltkriegs gemacht. Die Familie seines Vaters
stammt aus der Gegend zwischen Berlin und dem
alten Königsberg. Die biografische Assoziation ist für
Wittwer allerdings nicht entscheidend. Er schätzt
historische Vorlagen – gerne dürfen es auch Gemälde
berühmter Vorgänger sein –, weil er mit ihnen
leichter austesten kann, wie ein Bild funktioniert. Wie
es sich verändert, wenn man Lichtpunkte und
Schatten setzt. Und vor allem wie ein Bild verblasst,
so dass es eher dem Versinken als dem Wecken einer
Erinnerung gleicht. Denn Wittwer ist der Maler des
zerbrechlichen Gedächtnisses. Er führt uns die
Notwendigkeit und die Unmöglichkeit vor, sich ein
Bild zu machen. Gerhard Mack
Juerg Judin u. a. (Hrsg.): Uwe Wittwer – Paintings.
Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 208 Seiten, Fr. 69.90.
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Im Buch des Kongolesen Alain Mabanckou wird eine Bar in Brazzaville zur Bühne der Welt
Schluss mit all den
Afro-Klischees!
Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas.
Aus dem Französischen von Holger Fock
und Sabine Müller. Liebeskind,
München 2013. 224 Seiten, Fr. 27.50.
Afrikanische Literatur hat hierzulande
einen schweren Stand. Die Begeisterung
für «Dritte Welt»-Literatur ist verflogen. Kommt hinzu, dass auch die Situation in Afrika selbst für Schriftsteller
desolat ist. In einer Zehn-MillionenStadt wie Kinshasa gibt es inzwischen
keinen einzigen Buchverlag mehr. Die
meisten der zeitgenössischen Autoren
schreiben aus dem Exil, in ihren Texten
geht es nicht mehr um «Authentizität»,
um Palmwein, Strohhütten, Urwald,
Löwen und Trommeln, sondern um Migration, Modernisierung, Subkulturen,
Rassismus und hybride Identitäten. Im
Allgemeinen wollen sie nicht als «Afrikaner» etikettiert und schubladisiert,
sondern einfach als Schriftsteller und
Individuen ernstgenommen werden.
Tatsächlich: Schafft es heute ein solcher
Autor in einen deutschsprachigen Verlag, dann nicht dank, sondern eher trotz
der Tatsache, dass er aus Afrika kommt.
Auch die Biografie und das Werk von
Alain Mabanckou stehen im Zeichen der
Globalisierung. 1966 in der Republik
Kongo geboren, ging er zum Jurastudium nach Paris. Im Folgenden war er
zehn Jahre lang als Berater in einem
französischen Wirtschaftskonzern tätig
und veröffentlichte die Romane «African Psycho», «Black Bazar» und «Stachelschweins Memoiren». Letztes Jahr
wurde er von der Académie française
für sein Gesamtwerk mit dem Grand
Prix de Littérature ausgezeichnet. Heute
lebt Mabanckou in Santa Monica und
unterrichtet an der University of California in Los Angeles.
Den Spiegel vorgehalten
Seinen Roman «Zerbrochenes Glas»
könnte man nach den ersten paar Seiten
leicht unterschätzen. Da schwatzt ein
Mann namens «Zerbrochenes Glas»,
Stammgast in der Bar «Angeschrieben
wird nicht» in Brazzaville, drauflos,
ohne Punkt und Absatz, unzensiert,
wild, vulgär. Hellhörig wird man spätestens bei der Stelle, wo es heisst: «Der
Wirt des ‹Angeschrieben wird nicht›
kann Binsenwahrheiten von der Art
‹Wenn in Afrika ein Greis stirbt, verbrennt eine Bibliothek› nicht leiden, und
wenn er dieses ausgelatschte Klischee
hört, wird er mehr als sauer und schiesst
sofort zurück: ‹Hängt doch ganz davon
ab, welcher Greis, also hört auf mit dem
Stuss›.» Offensichtlich geht es nicht
mehr um eine Ehrenrettung des afrika10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
HECTOR MEDIAVILLA / POLARIS / DUKAS
Von David Signer
Bar in Brazzaville,
Kongo, wie sie im
neuen Roman von
Alain Mabanckou als
Schauplatz auftaucht.
nischen Erbes wie seinerzeit beim malischen Schriftsteller Hampâté Bâ, von
dem das Greis-Diktum stammt, sondern
darum, den Leuten in Brazzaville schonungslos den Spiegel vorzuhalten.
Nach und nach werden die Bargäste
vorgestellt. Da ist der «Pampers-Typ»,
der wegen seiner Inkontinenz Windeln
tragen muss, von seiner Frau mit dem
Priester betrogen, um Haus und Habe
gebracht und schliesslich sogar ins Gefängnis abgeschoben wurde. Oder der
«Drucker», der es bis nach Paris schaffte, eine Französin heiratete, einen guten
Job ergatterte, seinen unehelichen Sohn
zu sich holte, der dann jedoch eine Liaison mit seiner Stiefmutter begann, was
den armen «Drucker» ins Irrenhaus
brachte, von wo aus er schliesslich in
seine Heimat verfrachtet wurde. Eher
als an Bâ erinnert Mabanckou hier an
Céline, und wohl nicht zufällig trägt die
Ehefrau des «Druckers» den Namen des
berühmt-berüchtigten Autors. Jedes
Porträt in «Zerbrochenes Glas» ist eine
kleine Reise ans Ende der Nacht.
Allerdings ändert sich die Perspektive in der zweiten Hälfte des Buches.
Stellte sich der Ich-Erzähler anfangs
noch als getreuer und relativ nüchterner
Chronist des Treibens dar, erzählt er
nun von seinen eigenen Odysseen in
den Bars und Bordellen des Rotlichtviertels Rex, und je mehr er sich als
armes Opfer seiner bösen Ehefrau darstellt, umso mehr ahnen wir, dass er als
objektiver Berichterstatter vielleicht
doch nicht über alle Zweifel erhaben ist.
So erscheinen auf einmal auch die
Schicksale im ersten Teil des Buches in
einem anderen Licht. Spätestens bei diesen Passagen wird klar, was für ein raffinierter Autor Mabanckou ist, trotz seines schnoddrigen Erzählstils. Am Ende
des Buches, wenn man weiss, wer da eigentlich spricht, hätte man Lust, nochmals von vorne zu beginnen. Man würde
die Schilderungen dann nämlich ganz
anders lesen, in Hinblick darauf, was
verdreht oder verschwiegen wird.
Hinreissende Schwadroneure
In einer selbstironischen Wendung
gerät das Notizheft des Ich-Erzählers
kurz vor dessen Selbstmord dem Wirt in
die Hände. Er findet, die Geschichten
seien unlesbar: «Das ist nicht normal,
du musst das ein bisschen ins Reine
bringen… du musst noch einmal von
vorne anfangen.» Das kann er nicht.
«Hat man schon einmal gesehen, dass
jemand ein zerbrochenes Glas wieder
reparieren konnte?», fragt er. Zum Glück
hat er das Buch nicht «ins Reine gebracht». Dessen Faszination besteht gerade in den Ungereimtheiten und «Fehlern». Und so berührend all die tragikomischen Geschichten sind, wird man
doch auch an Mabanckous kontroversen
Essay «Le sanglot de l’homme noir» erinnert, in dem er sich über die «Wir
armen Opfer»-Jeremiaden vieler Afrikaner mokiert. Die hinreissenden Schwadroneure aus der «Angeschrieben wird
nicht»-Bar würden dort gut als anschauliche Exempel hineinpassen. l
Kurzkritiken Belletristik
Johann Nestroy: Historisch-kritische
Ausgabe. Ergänzungen. Deuticke,
Wien 2012. 652 Seiten, Fr. 89.90.
Katherine Mansfield: In einer deutschen
Pension. Erzählungen. Illustriert von Joe
Villion. Büchergilde, 2012. 276 S., Fr. 35.40.
Dass der Ergänzungsband einer historisch-kritischen Ausgabe dem allgemeinen Publikum zur Lektüre empfohlen
wird, bedarf der Erklärung. Hier ist sie:
Der Wiener Johann Nestroy ist, Grillparzer hin, Hebbel her, der bedeutendste deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts nach Goethe, Schiller, Kleist und
Büchner. Ein Komiker von Shakespeare’schem Format. Deshalb ist er in
einer gründlichen, wenngleich hässlichen Gesamtausgabe gewürdigt worden. Nun ist jedoch etwas eingetreten,
das der Albtraum aller Editoren, aber
der Traum der geneigten Leser ist. Just
als die emsigen Germanisten ihre Arbeit
für abgeschlossen hielten, sind entscheidende neue Manuskripte aufgetaucht:
jene der Dramen «Der Weltuntergang»
und «Die schlimmen Buben in der Schule». Sie erscheinen hier erstmals in
authentischer Gestalt. Lustigeres kann
man schwerlich lesen.
Manfred Papst
Die gebürtige Neuseeländerin Katherine Mansfield, die vor 90 Jahren erst
34-jährig an Tuberkulose starb, gehört
zu den Wegbereiterinnen der modernen
englischen Shortstory: Kühl und knapp
sind ihre Geschichten. In Anbetracht
der Überschaubarkeit ihres Werks von
73 Storys ist Mansfield eine erstaunlich
kontinuierlich rezipierte Autorin. Erst
letztes Jahr hat der Diogenes-Verlag
sämtliche Erzählungen neu aufgelegt, in
Elisabeth Schnacks Übersetzung von
1980. Von diesen gibt die Edition Büchergilde jene 13 heraus, mit denen die
Autorin 1909 debütierte. Die deutsche
Künstlerin Joe Villion, eine Schülerin
Henning Wagenbreths, hat sie illustriert: in Konfekt-Farben und mit ArtDéco-Anleihen. Bei Diogenes bekommt
man für den doppelten Preis zwar fast
sechsmal so viele Texte, aber Villions
Bilder machen die Büchergilde-Ausgabe
zum zigfach schöneren Geschenk.
Regula Freuler
Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen
aus Georgien. Frankfurter Verlags-Anstalt,
Frankfurt a. M. 2013. 256 Seiten, Fr. 28.40.
Robert Gernhardt: Hinter der Kurve.
Reisen 1978–2005. S. Fischer, Frankfurt 2012.
302 Seiten, mit Abbildungen, Fr. 29.90.
Ist nicht allein der Titel ein Versprechen? «Techno»: laut und durchdringend. «Jaguare»: gefährlich und geschmeidig. Wir lesen hier vier Erzählungen, einen Auszug aus einer Erzählung,
einen aus einem Roman – der diesem
Sammelband den Titel lieh – sowie ein
Theaterstück. In den Texten der sieben
georgischen Autorinnen, Jahrgänge zwischen 1964 und 1983, finden wir zwar
jenen rauen Exotismus, den wir spontan
mit dem Land am Schwarzen Meer verbinden: Kriege, patriarchalische Strukturen. Doch dann erleben die Protagonistinnen auch ganz ähnliche Dramen
wie wir; oder es geht um die Ausgrenzung von Behinderten. Was «Techno
der Jaguare» zu einer Bereicherung unserer angelsächsisch dominierten Lektüre macht, ist mitunter das Suchende,
Fordernde im Ton. Auf jeden Fall möchte man mehr aus dieser Fremde lesen.
Regula Freuler
Sechs Jahre sind es nun schon her, seit
uns der grosse Lyriker, Erzähler und Essayist, Maler und Zeichner Robert Gernhardt (1937–2006) abhandengekommen
ist. Er fehlt uns nach wie vor. Immerhin
erreichen uns mit schöner Regelmässigkeit Publikationen aus seinem Nachlass.
Deren jüngste ist ein von Kristina MaidtZinke herausgegebener Band mit Erzählungen, Zeichnungen und Essays von
Reisen, wie sie sich in grosser Zahl in
Gernhardts «Brunnen-Heften» – 675
Notiz- und Zeichenheften der Marke
«Brunnen» – befinden. Die Sammlung
«Hinter der Kurve» vereint Texte zu
Estland, Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Kanada, den USA, Brasilien, Indonesien, Thailand, Südafrika, Botswana.
Gerade in ihrer pointierten Skizzenhaftigkeit, in der unverstellten Neugier des
Autors erweist sich ihr besonderer Reiz.
Manfred Papst
E-Krimi des Monats
Die Fahnder austricksen
Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 320 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 18.90.
Die alleinerziehende Mutter Yasuko
Hanaoka lebt mit ihrer Tochter in
Tokio ein unauffälliges Leben. Bis eines
Tages ihr Ex-Mann vor der Wohnungstür steht. Er will Geld. Er will Yasuko
zurück. Er belästigt ihre Tochter. Diese
schlägt zu, mit der Vase, auf seinen
Kopf. Der Ex-Mann stürzt sich auf die
Tochter, ausser sich vor Wut. Yasuko
schlingt ihm ein Kabel um den Hals
und zieht zu. Er wehrt sich heftig. Die
Tochter hilft ihrer Mutter. Und plötzlich rührt er sich nicht mehr, liegt
regungslos da, tot, mitten in Yasukos
Wohnung. Und nun, was tun? Sich
stellen – und riskieren, dass auch die
Tochter nicht unbehelligt davonkommt? In diesem Moment klingelt das
Telefon. Der Nachbar Ishigami ist am
Apparat. «Frau Hanaoko, es ist sehr
schwer, eine menschliche Leiche verschwinden zu lassen», sagt er. «Eine
Frau schafft das nicht alleine. Wie wäre
es, wenn ich zu ihnen rüberkäme?»
All dies ereignet sich auf den ersten
dreissig Seiten des Romans «Verdächtige Geliebte» des japanischen Autors
Keigo Higashino. Von Beginn weg ist
klar, wer die Täterin ist. Und es
scheint klar, um welches Delikt es
geht. Auch wenn am Schluss dann
einiges ganz anders kommt.
Nachbar Ishigami, der Yasuko heimlich liebt, ist ein Mathe-Genie und ein
Experte des logischen Denkens. Sein
Ziel: Den Totschlag nachträglich so
darzustellen, dass Yasuko nicht als
Täterin überführt werden kann, weil
sie über ein nahezu perfektes Alibi
verfügt. Er lässt die Polizei Spuren finden, die in Wirklichkeit keine sind. Er
macht sich die Blindheit zunutze, die
durch vorgefasste Überzeugungen entsteht. Er trickst die Fahnder auf dieselbe Weise aus wie seine Studenten,
die er glauben lässt, sie müssten eine
geometrische Aufgabe lösen, dabei
geht es um Algebra.
Der Plan könnte gelingen. Wäre
sein Widersacher, ein Helfer der
Polizei, nicht ein ehemaliger
Studienkollege mit fast
ebenso hellem Kopf. Dieser
stellt Ishigami die Frage:
«Was ist schwieriger, ein
unlösbares Problem zu
schaffen oder es zu lösen?»
Nicht nur der Buchtitel,
auch Keigo Higashinos
schnörkelloser Stil erinnert
an seinen weit bekannteren
Landsmann Haruki Murakami.
Was ausschliesslich als Kompliment zu verstehen ist.
Higashino erzählt eine
aussergewöhnliche
Kriminalgeschichte:
spannend und überaus intelligent.
Von Christine Brand l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Übersetzungen von Klassikern boomen. Worin liegt der Reiz, sich
jahrelang mit einer Lyrikerin zu beschäftigen? Unter anderem darin, sich
der Verführungskraft eines grossartigen Werks auszusetzen, schreibt die
Emily-Dickinson-Übersetzerin Gunhild Kübler
Endlose
Knobeleien
Gewagte Bilder
Unlustig öffnete ich also das Reclam-Bändchen
in der ersten Hälfte, und mein Blick fiel auf ein
Gedicht, von dem ich heute weiss, dass es in
Dickinsons Werk nicht gerade zu den bedeutenden gehört. «If I should’nt be alive / When
the Robins come / Give the one in Red Cravat,
/ A Memorial crumb», hiess es da in kraftvollen, gereimten Versen. Rechts davon in umständlicher deutscher Prosa: «Wenn ich nicht
am Leben sein sollte / Wenn die Drosseln kommen / Gib der einen in roter Krawatte / Einen
Erinnerungskrumen.»
Ich weiss noch, dass mir diese Vogel-FütterSzene als Ritual des Andenkens an eine verstorbene Freundin sentimental vorkam – so lange,
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
bis ich die zweite und letzte Strophe gelesen
hatte: «If I could’nt thank you, / Being fast asleep, / You will know I’m trying / With my Granite lip!»
Von seinem Schlussvers her wird der Achtzeiler wie unter Strom gesetzt. Starkes Zooming reisst einen beim Lesen plötzlich unter
den Boden, wo die jetzt noch lebendige Freundin einst mit geschlossenen Augen ruhen wird
wie eine Statue. Riesig vergrössert erscheint ihr
Mund und zeigt sie für immer unerreichbar und
radikal verwandelt, nämlich in Granit – aber
«Metrum, Rhythmus und
Reim bringen den Text im
Original in ein weiches
Wiegen und Ziehen, laden
ihn auf mit Leiden und
mit Leidenschaft.»
trotzdem noch der angeredeten Person liebevoll zugetan. Anders ist nicht zu erklären, dass
sie auch noch als Tote versucht, mit ihr zu
reden. Der kleine, von seinem Ende her herzzerreissende Text inszeniert prägnant die brutale Endgültigkeit des Tods und zugleich den
hinfälligen Versuch eines Einspruchs der Liebe.
Gleich darauf las ich mich fest an einem Liebesgedicht. Darin gesteht eine Frau, dass sie
alle beneidet, die an ihrer Statt mit dem abgereisten Geliebten zusammen sein dürfen: das
Meer, auf dem er fortsegelt, die Räder seines
Wagens, die ihm nachblickende Landschaft,
Spatzen auf seinem Dach, Fliegen am Fenster,
zuletzt sogar das pure Tageslicht um ihn herum
und ganz besonders die Mittagsglocken. Sie
selbst wolle ihm Mittag sein, heisst es mysteriös. Ein gewagtes Bild. Wer genauer hinsieht,
erkennt weit mehr als die beiden mittags aufeinanderliegenden Zeiger einer Turmuhr.
Im Original beginnt das Ganze so: «I envy
Seas, whereon He rides – / I envy Spokes of
Wheels / Of Chariots, that Him convey – I envy
Crooked Hills // That gaze opon His journey – /
How easy All can see / What is forbidden utterly / As Heaven – unto me!»
Und so weiter über sechs Strophen hin. Metrum, Rhythmus und Reim bringen den Text im
Original in ein weiches Wiegen und Ziehen,
laden ihn auf mit Leiden und Leidenschaft. Die
deutsche Version jedoch bleibt bei Prosa und
beginnt mit einem unfreiwilligen Witz: «Ich beneide das Meer, auf dem er schifft.»
Ihre Stimme zum Leuchten bringen
Trotzdem hat die Lektüre dieses Reclam-Bändchens – feierlich gesagt – mein Leben verändert. Nicht nur wegen meiner Freude am Original, sondern sicher auch weil die Übersetzung
so unbefriedigend war. Hätte ich damals gleich
das Bändchen von Lola Gruenthal in der Hand
gehabt, die mit viel Sinn für den Klang deutscher Verse circa hundert Gedichte übersetzt
hat, oder die Ausgabe von Werner von Koppenfels, der mehr als dreihundert Gedichte vorlegte – wer weiss, ob ich selber hätte in Aktion
treten wollen.
So aber drängte es mich, meine Begeisterung
produktiv zu machen, das heisst, diese Dichterin und ihre Zeit so gründlich wie nur möglich
kennenzulernen und gleichzeitig auszuprobieren, ob sich das, was diese wunderbare Geistesstimme aus der Vergangenheit einst zum Ausdruck gebracht hatte, auf Deutsch mit ähnlicher
Leuchtkraft würde sagen lassen. Mehrere
Schulhefte füllten sich nun mit meinen metrisch strengen und gereimten Versionen des
Reclam-Bändchens: «Ich neid dem Meer, dass
es Ihn trägt – / Beneid des Rades Speichen / An
Wagen, die ihn fahren – / Beneid die Hügelreiche // Landschaft die Seine Reise sieht – / Wie
leicht fällt jeder Blick / Auf das was ganz verborgen ist – / Für mich – wie Himmelsglück!»
und so weiter.
Zur gleichen Zeit erschien bei Harvard Press
eine neue dreibändige Dickinson-Ausgabe. Es
war die erste, die auf Grund der Originalhandschriften eine Chronologie ihrer Lyrik fest-
▼
Am Anfang war die Freude am Original: ein
verblüfftes Aufhorchen, dann Begeisterung,
eine Art Erhebung – oder, um es mit dem Titel
eines Gedichtbands von Niklaus Meienberg zu
sagen: «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge». Wobei das Hochgebirge
in meinem Fall ein orangerotes Reclam-Bändchen mit etwas über hundert Gedichten der
amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson
(1830–1886) war.
Bald fünfzehn Jahre ist das nun her. Einer der
Freunde in einem Lesezirkel, dem ich seit Jahrzehnten angehöre, hatte vorgeschlagen, Emily
Dickinsons Lyrik auf unser monatliches Lektüreprogramm zu setzen. Auf diese Idee wäre ich
selbst nie gekommen. Während meines Anglistikstudiums hatte ich nichts von dieser Dichterin gehört, was damit zusammenhängen mag,
dass sie zu Lebzeiten von den rund 1800 Gedichten ihres Gesamtwerks nur 10 anonym veröffentlicht hat und die spätere Edition ihrer
Lyrik mehr als ein halbes Jahrhundert lang von
Familienfehden behindert war. Auch fand ihre
feministische Entdeckung erst statt, als ich
schon nicht mehr an der Universität war. Und
zudem war mit den Jahren mein früher intensives Interesse an Lyrik abgekühlt. Ich konnte mir
nicht vorstellen, dass es noch einmal aufflammen würde.
Emily Dickinson
SUSAN PEASE / ALAMY
Links: Die einzige heute noch existierende Fotografie
von Emily Dickinson (um 1847/1848). Unten: Das
Haus in Amherst, Massachusetts, wo sie Zeit ihres
Lebens wohnte, ist heute ein Museum. Ganz unten: Das
Schlafzimmer der Dichterin.
JESSICA MESTRE / AP
AMHERST COLLEGE ARCHIVES AND SPECIAL COLLECTIONS AND THE EMILY DICKINSON / AP
Die amerikanische Schriftstellerin Emily
Dickinson (1830–1886) entstammt einer streng
puritanischen Familie des College-Städtchens
Amherst (Massachusetts), das sie zeitlebens
kaum verlassen hat. Sie publizierte zu Lebzeiten
nur 10, hinterliess aber rund 1800 Gedichte.
Lieferbare deutsche Übersetzungen ihrer Lyrik:
• Gertrud Liepe, Reclam, ca. 100 Gedichte.
• Lola Gruenthal, Diogenes, ca. 100 Gedichte.
• Werner von Koppenfels, Dieterich’sche
Verlagsbuchhandlung, ca. 300 Gedichte.
• Wolfgang Schlenker, Engeler,
51 Gedichte.
• Gunhild Kübler, Hanser, ca. 600 Gedichte.
Diese 2008 mit dem Paul-Scheerbart-Preis
ausgezeichnete Ausgabe gibt es mittlerweile
auch als Fischer-Taschenbuch.
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
«Emily Dickinsons Lyrik
ist mutig, frei und radikal,
verwegen bis zur
Blasphemie und mitunter
schockierend rückhaltlos in
ihrer Selbstenthüllung.»
gen im Ohr und setzte sie ein als die zauberischen Suggestionstechniken, die sie von Alters
her waren – ein das Denken und Sprechen auf
Touren bringendes und seine Logik, Eindringlichkeit und Schlagkraft erhöhendes Instrument.
Das sollte in meiner Übersetzung hörbar
sein, nahm ich mir vor. Doch genau dagegen
leisten Gedichte, eben weil sie Gedichte sind,
extremen Widerstand. Schillernd vor Vieldeutigkeiten, spielen sie gleichzeitig auf mehreren
Ebenen. Unmöglich, das alles in einer anderen
Sprache nachzubilden, noch dazu, wenn der
dafür vorgesehene Raum durch Metrum und
Reim so streng eingeengt ist wie sonst nie. Das
BETH HARPAZ / AP
▼
legte und Schluss machte mit der weit verbreiteten Vorstellung, Dickinson sei eine Dichterin ohne jede Entwicklung. Ich stürzte mich
drauf. Es war atemberaubend, zu beobachten,
wie sich dieses riesige Werk in seiner ganzen
Fülle Zug um Zug entfaltete. Um meinem Verständnis auf die Sprünge zu helfen und mir so
etwas wie eine Vertrautheit aus der Ferne anzueignen, las ich mich nebenbei durch ganze Regale von Sekundärliteratur, die ich aus der Zürcher Zentralbibliothek nach Hause schleppte –
Biografien, Geschichtsbücher und Stapel von
Einzeldarstellungen. Nur die beiden stockfleckigen Bände eines Websters aus dem Jahr 1832
(fast das gleiche Wörterbuch lag bei Emily Dickinson ständig auf dem Tisch) mussten im Lesesaal bleiben.
So viel verstand ich, je mehr ich las: Diese
Dichterin ist weit mehr als hundert Jahre weit
weg von der damals von Frauen ihres puritanischen Milieus geforderten biederen Schicklichkeit. Ihre Lyrik ist mutig, frei und radikal in der
Erforschung von Lebens- und Liebesfragen,
verwegen bis zur Blasphemie in der Durchleuchtung von Glaubensinhalten und mitunter
schockierend rückhaltlos im Ausmass der
Selbstenthüllung. Kein Wunder, dass sie ihre
Kühnheiten lebenslang unter Verschluss hielt.
Unerschütterlich ist dabei ihr Vertrauen in
die Bannkraft der poetischen Sprache. Die
akustischen Finessen der lyrischen Tradition
hatte sie von Kirchenliedern her seit Kinderta-
Der Grabstein von Emily Dickinson auf dem Friedhof von
Amherst (MA), im Nordosten der USA.
kann nicht gutgehen. Jacob Grimm hat es schon
vor über 200 Jahren gewusst: «Eine treue Übersetzung eines wahren Gedichts ist unmöglich,
sie müsste, um nicht schlechter zu sein, mit
dem Original zusammenfallen.»
Also lässt man besser die Finger davon? –
«Impossibility, like Wine / Exhilirates the Man
/ Who tastes it» (Unmöglichkeit, wie Wein /
Beschwingt den, der sie kostet) – so beginnt
eins von Dickinsons Gedichten. Man kann es
auf viele Spielarten der Unmöglichkeit beziehen, und natürlich sind die hier Angesprochenen nicht nur Männer. Rechnet man auch die
Unmöglichkeit, Dickinsons Lyrik zu übersetzen, dazu, dann redet das Gedicht vom belebenden Bedürfnis, es trotzdem zu tun.
Dickinson-Liebhaber in aller Welt
Dass es ungeachtet aller Hindernisse gelingen
kann, dafür steht kein Geringerer als Paul
Celan. Insgesamt zehn Gedichte von Emily Dickinson hat er 1959 und 1963 mit einer umwerfenden Prägnanz übersetzt, die mir bewusst
machte, was auf Deutsch möglich ist. Ein Beispiel: Die Verszeile «We slowly drove – He
knew no haste» (aus dem Gedicht «Because I
could not stop for Death») übersetzt Celan:
«Ihm gings auch langsam schnell genug.» Seine
Version mit dem Zusammenprall der antithetischen Kontraste genau in der Versmitte gefällt
mir noch besser als das Original. Man kann von
ihr lernen. Sie zu kopieren, verbietet sich von
selbst. Meine Version desselben Verses ist zwar
näher am Original, aber weniger brillant: «Gemächlich gings – Ihm eilt es nicht.» Die Ermunterung durch Celans Version war jedoch be-
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14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
trächtlich. Sie setzte Massstäbe. Dass man Einfallsreichtum trainieren kann wie die Fingerfertigkeit beim Klavierspielen, ist eine alte Übersetzerweisheit. Weit davon entfernt, meine Tätigkeit als Dichten einzuschätzen, sehe ich mich
selber als mittlerweile gut trainierte Vermittlerin, respektvoll hingegeben an eine überwältigende Arbeit. Die hat mir mit den Jahren auch
ihre elende Seite offenbart, doch will ich hier
nicht jammern. Denn klar steht mir vor Augen,
was Emily Dickinson mir inzwischen geschenkt
hat zusätzlich zu ihrer Lyrik: ergiebige (wenn
auch oft nur elektronische) Kontakte mit Dickinson-Liebhabern und -Experten in aller Welt
und viele Freunde, die ich mit meiner Freude
angesteckt habe.
Diese so spät entdeckte Dichterin durchquert inzwischen Zeiten und Räume. Schon vor
Jahrzehnten ist eine erste japanische Übersetzung ihrer sämtlichen Gedichte erschienen. Es
gibt italienische und französische Gesamtausgaben. Zurzeit entsteht eine Übersetzung ins
Chinesische, und in Shanghai wird eine Konferenz vorbereitet zum Thema «Emily Dickinson
– a World Poet».
Skrupulöser geworden
Meine zweisprachige Anthologie mit etwas
über 600 Gedichten ist 2006 bei Hanser erschienen, und seit zwei Jahren gibt es davon
eine Taschenbuchausgabe bei Fischer.
Doch habe ich mit dem Übersetzen nicht aufgehört und arbeite seit Jahren kontinuierlich an
der ersten deutschen Ausgabe sämtlicher Gedichte. Es geht langsam voran, nicht nur, weil
jetzt auch eine Reihe von fast unlösbar rätselhaften Gedichten auf dem Programm steht,
sondern auch, weil ich bei der Arbeit in all den
Jahren nicht etwa routinierter, sondern vorsichtiger, skrupulöser geworden bin. Schier endlose
Knobeleien verfolgen mich weit jenseits vom
Schreibtisch mittlerweile überallhin. Und ich
bin glücklich damit.
Emily Dickinson hat, seit ich ihr Gesamtwerk
in- und auswendig kenne, für mich ein neues
Gesicht bekommen. Jetzt sehe ich den tiefen
Abdruck der Schrecken des amerikanischen
Bürgerkriegs in ihren Gedichten. Noch abgründiger kommt mir nun ihr Reden vom Tod vor,
noch intensiver ihre Diesseitsfreude, noch moderner ihre Skepsis in religiösen Dingen und
ihre Erforschung der «Keller» unserer Seele.
Und manchmal sehe ich aus dem 19. Jahrhundert eine Zeitgenossin auf mich zukommen.
Wenn das keine wundersame Erweiterung der
Pupillen ist. l
Gunhild Kübler übersetzt zurzeit sämtliche
1800 Gedichte von Emily Dickinson. Der
Erscheinungstermin ist noch offen.
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Ich war schon als kleiner
Junge ein Lügner.
Das kam vom Lesen.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neues
Buch «Schweizen –
vierundzwanzig
Zukünfte» ist soeben
im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Thomas Sprecher: Schweizer Monat
1921-2012. Eine Geschichte der Zeitschrift.
SMH Verlag, Zürich 2013. 272 Seiten, Fr. 39.–.
Toby Lester: Die Symmetrie der Welt.
Leonardo und seine berühmteste Zeichnung.
Berlin Verlag, Berlin 2012. 287 S., Fr. 37.90.
Im Oktober 2012 feierte der «Schweizer
Monat» seine 1000. Ausgabe. Nun wirft
Thomas Sprecher, Jurist und Germanist,
einen Blick auf die wechselvolle Geschichte des Journals, dessen Verlag er
präsidiert. 1921 gegründet, geriet das
Blatt erst unter frontistisch-deutschfreundlichen Einfluss bis 1934. Im Zweiten Weltkrieg schaffte es die Wende,
seither versteht es sich als intellektueller Vorposten des Liberalismus mit stark
kultureller Ausrichtung. Zu den Mitarbeitern zählten Persönlichkeiten wie
Carl J. Burckhardt, Friedrich August von
Hayek, Ludwig Erhard, Herbert Lüthy,
Hugo Loetscher und François Bondy.
Seit 2008 führt eine freche junge Crew
die Publikation zu neuem Erfolg. Auch
wenn ein paar Kürzungen der Chronik
gut getan hätten, illustriert sie doch lebhaft das Werden einer Zeitschrift, die
der Autor Rolf Dobelli heute «das intelligenteste Magazin der Schweiz» nennt.
Urs Rauber
Der nackte Mann im Kreis und Quadrat
ziert heute T-Shirts, Euromünzen und
Kaffeetassen. Leonardo da Vinci hat ihn
wohl im Jahr 1490 als Selbstporträt gezeichnet. Mit diesem «vitruvianischen
Menschen» gelingt dem 38-jährigen Leonardo die Visualisierung einer Theorie, die der römische Architekt Vitruv in
Worten dargelegt hatte und die, von der
Antike ins mittelalterliche Christentum
tradiert, über 2000 Jahre lebendig war:
die Idee nämlich, dass der menschliche
Körper einen Mikrokosmos darstelle, in
dem sich die göttliche Ordnung von
Kosmos und Welt im Kleinen darstellt.
Wo diese Idee auftaucht (in den Visionen der Hildegard von Bingen etwa, in
frühen Weltkarten, in Christus-Darstellungen) und wie nach anderen Architekten-Künstlern der Renaissance gerade
Leonardo ihre ideale Darstellung gelang
– dies ist das Thema dieses brillanten
und wunderbar illustrierten Buches.
Kathrin Meier-Rust
Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in
Rom. Nünnerich-Asmus, Mainz 2012.
146 Seiten, Fr. 40.90.
Christoph Zürcher: Wie ich Kannibalen,
die Taliban und die stärksten Frauen
überlebte. Orell Füssli 2013. 219 S., Fr. 26.90.
Auf dem Forum in Rom steht ganz allein
eine fast 40 Meter hohe, innen begehbare Marmorsäule. Auf ihrer Aussenseite
windet sich ein 200 Meter langer Fries
in die Höhe; wie ein Comicstreifen stellt
er den Sieg Kaiser Traians über die
Daker dar. Der heutige Besucher vermag
die Bilder kaum noch zu erkennen,
zumal die ätzende Luft Roms vieles bereits weggefressen hat. Schade, denn die
vielen Details geben das lebendige Bild
eines Heereszuges ab. 1400 neue Fotos
des steinernen Frieses hat der Autor für
das Buch aufgenommen, am Computer
entzerrt und koloriert, denn auch die
Traianssäule war einst farbig bemalt.
2500 Figuren – Legionäre, Offiziere,
Pferde, Wagen – bevölkern die Bilder,
auch kleinste Details wie Schuhe oder
Waffen sind liebevoll dargestellt. Die
Handlung wird in einem kurzen Begleittext erläutert. Für Romfans ein Muss!
Geneviève Lüscher
Eine Expedition zu Menschenfressern.
Skirennen in Afghanistan. Auf der Suche
nach Bin Laden in Pakistan. Besuch
beim Matriarchat in China. Christoph
Zürchers grosse Reisereportagen im
Gesellschafts-Bund der «NZZ am Sonntag» sind legendär: weil sie polarisieren,
vom Publikum entweder als «ignorant»
und «despektierlich» verdammt oder
als gnadenlos unterhaltender Lesestoff
verschlungen werden. Der Autor pflegt
einen radikal subjektiven, umwerfend
selbstironischen und gleichzeitig gesellschaftskritischen Journalismus. Man
kann ihn nur lieben – oder hassen. Auch
ich bekenne mich, nach anfänglicher
Skepsis, als Fan der blühenden Abenteuergeschichten. Das Buch versammelt 18
von ihnen in geballter Wucht. Wie recht
hat doch ein Leser: «Christoph Zürcher
ist der Karl May der Gegenwart – nur
authentischer, humorvoller, packender.»
Urs Rauber
Isaak Babel
«Alle Autoren sind Lügner», sagt ein
chinesisches Sprichwort. (Und fügt,
gegen alle fernöstliche Höflichkeit
hinzu: «Alle Leser sind Idioten, weil sie
die Lügen glauben.») Der Satz hat was.
(Nur der erste Teil natürlich.) Ein Buch
zu schreiben ist eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Arten, die
Unwahrheit zu sagen.
Zugegeben, es gibt auch andere Berufe, bei denen der ökonomische Umgang mit der Wahrheit zum professionellen Alltag gehört. Politiker, zum Beispiel, oder Werbeleute.
Aber die dürfen den mangelnden
Wirklichkeitsbezug ihrer Aussagen
nicht offen zugeben, sondern müssen
im Brustton der Überzeugung behaupten, immer nur die Wahrheit und nichts
als die Wahrheit zu sagen. Weil sie
sonst nämlich Gefahr laufen, ihr Amt
zu verlieren. Oder, noch viel schlimmer,
ihren Account.
Wir Schreiberlinge hingegen…
Wir dürfen von Heldentaten erzählen, die nie stattgefunden haben,
dürfen uns Liebesgeschichten mit
bonbonrosafarbigen Happyends ausdenken,
dürfen unsere Protagonisten
Schlachten schlagen lassen, in denen
wir ganz allein über Sieger und Verlierer entscheiden.
Wir dürfen alles. Manchmal bekommen wir sogar Preise dafür.
Und der Leser, dieser nette Mensch,
ist stets bereit, uns unsere Lügen zu
glauben. Nicht etwa, weil er ein Idiot
ist – Schande über den unhöflichen
chinesischen Sprichworterfinder! –,
sondern weil er weiss, dass die sonst so
gut bewachte Grenze zwischen Wahrheit und Erfindung in einem Buch
durchlässig wird. Und weil die literarische Lüge manchmal viel wahrer sein
kann als die Wirklichkeit, die sie zu
beschreiben vorgibt.
Einmal, ich erinnere mich gern
daran, ist mir so ein perfektes Täuschungsmanöver gelungen. Als ein
Kritiker «Melnitz» rezensierte und
meinte, manche der Figuren, die darin
vorkämen, müssten wohl ein reales
Vorbild haben. Weil man nämlich,
schrieb er, so lebendige Charaktere
nicht erfinden könne.
Für den schreibenden Berufslügner
ist so eine Bemerkung schon fast der
Münchhausen-Pokal.
Ja, wir dürfen rund um die Uhr nach
Herzenslust lügen und schummeln.
Und nur schon deshalb ist das Schreiberleben auch immer ein reines Vergnügen und hat mit wirklicher Arbeit
überhaupt nichts zu tun.
(Was eben, falls Sie es
nicht gemerkt haben
sollten, auch schon
wieder gelogen war.)
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Musik Vor 200 Jahren wurde Richard Wagner geboren. Die radikale politische Haltung des
deutschen Komponisten und Opernregisseurs polarisiert bis heute
Rauschmusik
für Unmusikalische
Udo Bermbach: Mythos Wagner. Rowohlt,
Berlin 2013. 336 Seiten, Fr. 28.50,
E-Book 20.90.
Friedrich Dieckmann: Das Liebesverbot
und die Revolution. Insel, Berlin 2013.
235 Seiten, Fr. 32.90.
Jens Malte Fischer: Richard Wagner und
seine Wirkung. Zsolnay, Wien 2013.
320 Seiten, Fr. 27.90.
Von Fritz Trümpi
Dass Richard Wagner (1813-1883) bis
heute polarisiert, wird derzeit wieder
besonders deutlich. Aus der Flut an
neuen Publikationen über den Komponisten und dessen Werk ist eine betonte
Mehrstimmigkeit herauszuhören, vor
allem Wagners politische Positionen erfahren grosse Aufmerksamkeit. Sie werden aber auf sehr unterschiedliche
Weise durchleuchtet, wie an drei ausgewählten Neuerscheinungen unschwer
abzulesen ist.
Udo Bermbach spürt dem «Mythos
Wagner» nach. Dessen Entwicklungsgeschichte sieht der Hamburger Politologe
Wagner-Jahr 2013
Richard Wagners 200. Geburtstag liefert
nicht nur für den Musikbetrieb einen
willkommenen Anlass, dem Opernrevolutionär zu huldigen. Auch die
Buchproduktion läuft dieses Jahr auf
Hochtouren. Unter den weiteren
Neuerscheinungen sind zu erwähnen:
• Dieter Borchmeyer: Richard Wagner.
Leben – Werk – Zeit (Reclam 2013,
408 Seiten).
• Enrik Lauer, Regine Müller: Der kleine
Wagnerianer. Zehn Lektionen für Anfänger und Fortgeschrittene (C. H. Beck
2013, 261 Seiten).
• Sven Oliver Müller: Richard Wagner und
die Deutschen (C. H. Beck 2013,
320 Seiten).
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
eng mit den politischen Konstellationen
verknüpft – jenen zu Wagners Lebzeiten
ebenso wie jenen nach dessen Tod 1883.
In chronologischer Folge steckt Bermbach die wichtigsten Stationen der Mythenbildung ab: Die ärmliche Existenz
in Paris als «Katharsis», das Zürcher
Exil als Schaffensquell für seine Opernproduktion, die Münchner Jahre als Verwirklichung seiner politischen Träume,
sodann das luzernische Tribschen als
idyllischer Kraftort, Bayreuth hingegen
als Festspielmekka und Vollendung des
Mythos. Der Ausgangspunkt für diese
Mythenkonstruktion liegt jedoch im
Dresden der 1840er Jahre – das heisst in
Wagners Revolutionsphase.
Schon früh Antisemit
Zweifellos war Wagner bereits in jungen
Jahren ein äusserst politischer Kopf, Revolution und Kunst gehörten für ihn
schon früh untrennbar zusammen. Es
war darum kein Zufall, dass der Entwurf
sämtlicher späterer Werke – mit Ausnahme des «Tristan» – zwischen 1842
und 1849 entstanden, während der Phase
der bürgerlichen Revolution in Dresden.
In dieser Zeit, so hebt Bermbach hervor,
sei auch Wagners zentrale Überzeugung
entstanden, dass «das Leben in der
Kunst und die Kunst im Leben aufgehen
sollen». Doch damit dies gelinge, müsse
das Volk zunächst in seine Rechte eingesetzt werden, so Bermbach über Wagners Revolutionsanspruch.
Dieser zunächst emanzipatorisch verstandene Volksbegriff verwandelte sich
aber bald in einen aggressiven völkischen Nationalismus. Die Ursachen
dafür sucht Bermbach – und dies ist sein
blinder Fleck – allerdings nicht bei Wagner selbst, sondern ausschliesslich bei
den Nachlassverwaltern, die sehr früh
ins nationalsozialistische Fahrwasser
gerieten. «Braune Indienstnahme des
Mythos Wagner» nennt dies der Autor
zu Recht – dass der Wagnerclan bald zur
begeisterten Hitler-Anhängerschaft gehörte, ist hinlänglich bekannt. Doch
ohne Wagners eigenes Zutun hätte diese
«Indienstnahme» nicht so ungehindert
verlaufen können. Wagners Antisemitismus, der schon früh in diversen Schriften auftaucht und in der hetzerischen
Schmähschrift «Das Judenthum in der
Musik» ihren Höhepunkt findet, erwähnt Bermbach nur nebenher. Als Erklärungshilfe dafür, warum die braune
Einfärbung gerade beim «Mythos Wagner» so leicht gelang, zieht er ihn nicht
herbei. Das ist gelinde ausgedrückt erstaunlich.
Noch erstaunlicher ist allerdings,
dass Friedrich Dieckmann ein ganzes
Buch lang ohne einen einzigen Hinweis
auf Wagners Antisemitismus auskommt.
Und dies, obschon der deutsche Publizist vermeintlich akribisch analysiert,
inwiefern sich die politische Revolutionsbewegung in Wagners Opern abbilde. Unter beträchtlichem sprachlichem
Verzierungsaufwand erzählt Dieckmann
ausführlich von Wagners Dasein als unerschrockenem Politaktivisten, der allerdings stets das Theater im Kopf gehabt habe: «Auch wenn Wagner Handgranaten bestellt, denkt er zuletzt an
nichts anderes als an die Oper.»
Für Dieckmann bildet sich Wagners
politischer Aktivismus deshalb auch
überdeutlich in dessen Werken ab. Der
Autor belegt dies an zahlreichen Analogien zwischen biografischen Überlieferungen und werkimmanenten Figuren
und sucht ausserdem nach Parallelen
zwischen der Person Wagner und anderen Polit-Künstlern. Das ist ein hochspekulativer, mitunter aber erkenntnisreicher Ansatz. Durchwegs nachvollziehbar gestaltet Dieckmann etwa das
Motiv von Wagners unterdrückter Geschwisterliebe, die er mit dem revolutionären Gestus des Komponisten kurzschliesst und zur Gesellschaftskritik gewendet insbesondere in Wagners frühen
Opern aufspürt – im «Liebesverbot»
etwa, dann aber auch in den «Feen», ja
noch im «Rienzi» und im «Fliegenden
Holländer».
Doch Dieckmanns Analogiebildungen greifen manchmal auch gründlich
Gesamkunstwerk als Idee
Es braucht einen Jens Malte Fischer, der
diese Lücke schliesst und schonungslos
kenntlich macht, wie eng Wagners antisemitische Theorieschriften mit seinem
Schaffen als Komponist zusammenhängen. Die vielfach geäusserte Entschuldigung, Wagners Antisemitismus sei damals eine reine Modeerscheinung gewesen, lässt der renommierte Musikhistoriker nicht gelten. Im Gegensatz zur
damals weitverbreiteten antijüdischen
Stimmung habe man es bei Wagner
nämlich mit einem Frührassismus zu
tun, der den Juden «unabänderliche Unterschiede» gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung unterstelle, womit
Wagner bereits bei einer «rassischen»
Distinktion angelangt sei. Von Wagner
seien somit Ideen ausgegangen, die
nicht nur von späteren Antisemiten wie
Houston Stewart Chamberlain, Otto
Weininger oder Adolf Hitler, sondern
auch von der gesamten «völkisch-nationalsozialistischen»
Musikpublizistik
übernommen worden seien.
Wagner redet etwa vom «verfluchten
Judengeschmeiss» und vergleicht die
Juden in seinen Tagebüchern mit «natürlichen schmarotzenden Parasiten».
Im Pamphlet «Das Judenthum in der
Musik», dessen erste Ausgabe von 1850
noch unter dem Pseudonym K. Freigedank veröffentlicht wurde, appelliert
«Auch wenn Wagner
Handgranaten
bestellt, denkt er an
nichts anderes als an
die Oper»: Richard
Wagner (1813–1883),
Musikrevolutionär
und Nationalist.
AUSTRIAN ARCHIVES / IMAGNO
ins Leere. Die
These über die
grosse Ähnlichkeit zwischen
Wagner
und
Brecht etwa ist
nicht nur aufgrund inhaltlicher, sondern
auch allgemein
historischer Unschärfen nicht
haltbar.
Das Problematischste an dieser
Publikation ist jedoch das konsequente Ausblenden
von Wagners Antisemitismus. Es ist nicht
nachvollziehbar, dass
der Autor gerade diesen Aspekt in seiner politischen Ausdeutung von
Wagners Werk vollständig
ignoriert. Dieckmanns vielfach spannende Opernanalysen werden in ihrem Aussagewert dadurch jedenfalls beträchtlich beschnitten.
der Komponist
an die Assimilationsbereitschaft der Juden, hält jedoch
zugleich
fest:
«Aber bedenkt,
dass nur Eines
Eure Erlösung
von dem auf
Euch lastenden
Fluche
sein
kann, die Erlösung Ahasvers:
Der Untergang!»
Anhand
solcher
Zitate erweist sich
Fischers pointierte
Argumentation
durchwegs als stichhaltig.
Obwohl die Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus bei
Fischer eine zentrale Rolle
spielt, hat er auch zu anderen Aspekten von Wagners
Leben und Werk Gewichtiges
beizutragen. Seine detailreichen
Ausführungen zur Geschichte der
Aufführungspraxis etwa, vom frühen
«Rienzi» über «Tristan und Isolde» bis
zum «Ring des Nibelungen» und des
späten «Parsifal», liefern vielerlei neue
Einsichten in Wagners schillernde Idee
des «Gesamtkunstwerks», das Tanz-,
Ton- und Dichtkunst ebenso umfassen
sollte wie Bau-, Bildhauer- und Malerkunst. Was Wagner daraus fertigte,
könnte man oberflächlich betrachtet
zwar als «Rauschmusik für Unmusikalische» abtun. Doch ob aller Kritikbereitschaft gegenüber dem Phänomen Wagner attestiert Fischer dem revolutionären Komponisten eine ungebrochene
Vormachtstellung in der Musikgeschichte: Kein Komponist habe «bis
heute eine solche sengende Strahlung
(im Positiven wie im Negativen) ausgesendet wie Richard Wagner.» Dem ist
nichts hinzuzufügen. l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Arabischer Frühling Während autoritäre Regimes gestürzt wurden, verharren Sexualität und das
Geschlechterverhältnis in alten Strukturen
Gretchenfrage der Revolution
Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle.
Liebesleben in der sich wandelnden
arabischen Welt. Hanser, Berlin 2013.
408 Seiten, Fr. 34.90.
Zwei Jahre nach Beginn der Volksaufstände in der arabischen Welt ist die
Zeit reif für eine Zwischenbilanz. Was
ist aus der euphorischen Aufbruchsstimmung geworden? Wo ist die Meinungsfreiheit, wo sind die Frauenrechte? Bereits wenige Monate nach dem
Sturz Mubaraks wurden in Ägypten erneut Demonstranten auf der Strasse von
Sicherheitskräften zusammengeschlagen und brutal gefoltert. An festgenommenen Demonstrantinnen führten Polizeiärzte sogenannte Jungfräulichkeitstests durch. Gegen diese Akte der Gewalt wird lautstark protestiert und vor
Gericht prozessiert, aber niemand stellt
die gesellschaftliche Funktion der Jungfräulichkeit in Frage.
An diesem Punkt setzt Shereen El
Feki mit ihrem Buch an. Die ägyptischbritische Immunologin und Wissenschaftsjournalistin untersucht die Rolle
der Sexualität, die Beziehung der Geschlechter und die Machtbeziehungen
innerhalb der Familie vor dem Hintergrund des politischen Umbruchprozesses in Ägypten und anderen arabischen
Ländern. Sie weiss, dass die politischen
Revolutionen zum Scheitern verurteilt
sind, wenn sie nicht von sozialen, sexuellen und kulturellen Veränderungsprozessen im Bewusstsein begleitet werden. «Es ist schwer vorstellbar, wie die
Demokratie in einer Gesellschaft florieren soll, wenn deren konstitutioneller
und kultureller Eckpfeiler in der Familie
so undemokratisch ist», schreibt die Autorin und stellt fest, dass es für junge
Frauen und Männer in Ägypten leichter
ist, den Präsidenten zu stürzen, als von
zu Hause auszuziehen.
Doppelmoral im Islam
Shereen El Feki wuchs als Tochter eines
ägyptischen Muslims und einer britischen Christin, die zum Islam konvertierte, in Kanada auf. Der Islam wurde
ihr als Kind weder aufgedrängt, noch interessierte sie sich dafür. Erst mit den
Terroranschlägen vom 11. September
2001 begann sie, sich mit ihrer ägyptisch-muslimischen Herkunft zu beschäftigen. Bei ihren Recherchen im
Rahmen einer UN-Kommission über
Aids im arabischen Raum fiel ihr «die
Kluft zwischen dem öffentlichen Anschein, wie er sich in den Statistiken niederschlug, und privater Wirklichkeit»
auf. Diese Kluft zwischen Sein und
Schein geht nirgends so tief wie in der
Sexualität. So wird in Jemen und SaudiArabien die voreheliche Beziehung zwischen Jugendlichen nicht toleriert, aber
mit der Verheiratung von Mädchen an
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
FEMEN
Von Susanne Schanda
Die ägyptische Nacktfoto-Revolutionärin
Aliaa Elmahdy (Mitte)
protestiert mit zwei
ukrainischen FemenAktivistinnen in
Stockholm gegen die
neue Verfassung in
Ägypten (Dez. 2012).
ältere Männer der institutionalisierten
Pädophilie Vorschub geleistet. Prostitution ist in Ägypten illegal, funktioniert
aber unter dem Deckmantel von «Vertragsehen», wie sie oft von Touristen
aus den Golfstaaten für die Dauer der
Sommerferien mit Ägypterinnen abgeschlossen werden.
Während fünf Jahren reiste Shereen
El Feki quer durch die arabische Welt,
sprach mit verheirateten, ledigen und
geschiedenen Frauen und Männern,
Bloggerinnen, Salafisten und Muslimbrüdern, mit einer Fernseh-Sextherapeutin und Zuhältern, die sich Ehevermittler nennen. Dabei kommt ihr die
doppelte Identität als Ägypterin und
Aussenstehende zugute. Sie zeigt sowohl Einfühlungsvermögen wie kritische Distanz. Die Menschen vertrauen
ihr, weil sie zu ihnen gehört, und sehen
ihr die etwas anrüchige Beschäftigung
mit der Sexualität nach, weil sie eine
Frau aus dem Westen ist. Die Autorin
spannt den historischen Bogen weit zurück in die heute vergessene Hochzeit
der islamischen Kultur vom 8. bis zum
10. Jahrhundert. Diese war nicht nur
eine Blütezeit der arabischen Wissenschaft, sondern auch der Sexualität.
In der «Enzyklopädie der Lust» von
Ali ibn Nasr al-Katib aus dem Bagdad
des 10. Jahrhunderts reicht das Themenspektrum von Bisexualität über Techniken des Beischlafs, Eifersucht, die Steigerung der Lust bei Mann und Frau bis
zur Beschreibung des Geschlechtsverkehrs und von anzüglichem Sex. All dies
mit der deutlichen Botschaft, dass Sex
ein Geschenk Gottes an die Menschheit
sei und genossen werden soll. Nichts
davon ist übrig geblieben in der Verteufelung der Sexualität durch die radikalkonservativen Salafisten. Den Niedergang der lustvollen Kultur führt El Feki
auf die Kolonisierung im 19. Jahrhundert
zurück, auf die die Araber mit Abschottung reagierten. Die einstige sexuelle
Freizügigkeit wurde nun als Symptom
von Dekadenz gesehen, als Gegenbewegung entstand der islamische Fundamentalismus. Dieser droht nun die Kinder der Revolution zu fressen.
Frauen mit Zivilcourage
Shereen El Feki beschönigt nichts in
ihrem Buch. Sie verschweigt weder die
in Ägypten trotz Verbot weit verbreitete
Genitalverstümmelung bei Frauen noch
die gesellschaftliche Stigmatisierung
von geschiedenen Frauen oder die heimliche Prostitution aus materieller Not.
Aber sie zeigt auch, wie es in dieser Gesellschaft brodelt – dank zahlreicher
Frauen mit Zivilcourage, wie der Studentin Aliaa Elmahdy, die als «Nacktfoto-Revolutionärin» die Scheinheiligkeit der Gesellschaft blossgestellt hat,
oder die Radiomacherin Mahasin Sabir,
die geschiedenen Frauen eine Stimme
gibt. Die arabischen Revolten haben
weit mehr als die Korruptheit des politischen Systems ans Tageslicht gezerrt
und zur Debatte gestellt. An eine sexuelle Revolution in der arabischen Welt
glaubt Shereen El Feki nicht – wohl aber
an eine sexuelle Neubewertung. Ein
langwieriger Prozess, der jetzt immerhin begonnen hat. l
Susanne Schanda ist Ägypten-Expertin;
im April erscheint im Rotpunktverlag ihr
Buch «Literatur der Rebellion».
Essays Der US-Autor Jonathan Franzen seziert sein Leben und die Mühen des Schreibens
Mit jedem Buch ein neuer Mensch
Jonathan Franzen: Weiter weg. Essays.
Rowohlt, Reinbek 2013. 365 Seiten,
Fr. 20.90.
Als Jonathan Franzen mit «Freiheit»
(2010) seinen letzten grossen Erfolg feierte, stand neben den klassischen Ingredienzen Liebe, Familie und Betrug ein
Thema im Mittelpunkt seines Romans:
der Einsatz eines fanatischen Umweltaktivisten (Walter Berglund) für den
Schutz einer bedrohten Vogelart. Im
neuen Sammelband von 21 Essays, Reden
und Buchbesprechungen, die Franzen
zwischen 1998 und 2011 verfasst hat, ist
ebenfalls oft von Tierschutz die Rede.
Im Essay «Der leergefegte Himmel»
erzählt der passionierte Vogelbeobachter Franzen von seinen Exkursionen mit
kombattanten Ornithologen auf Zypern,
Malta und Italien. Dort, wo Vögel trotz
strenger EU-Richtlinien immer noch
häufig auf dem Teller landen – in Italien
zum Beispiel als «pulenta e osei». Anschaulich schildert er, wie die Auseinandersetzung mit den Wilderern gelegentlich in einer Schlägerei mit zerstörten
Kameras und in einer Flucht endet. So
grossartig Franzens Landschafts- und
Tierbeschreibungen sind, so furios lässt
er seinem Hass auf «Vogelmörder» und
Umweltzerstörer freien Lauf.
Doch immer bleibt Franzen der sensible, zweifelnde Reporter, der dem
zwiespältigen Ich viel Raum gibt. Einen
jungen italienischen Jäger lässt er sagen:
«Mein Raubtierinstinkt steht in krassem
Widerspruch zur Vernunft, (doch) die
selektive Jagd ist mein Versuch, diesen
Instinkt zu bändigen.» Selbstkritisch
fragt sich der Autor, ob sein eigenes Engagement für die Artenvielfalt und das
Wohlergehen der Tiere «nicht vielleicht
eine Art Regression in mein Kinderzimmer und dessen Gemeinschaft der
Plüschtiere ist». Es ist diese schonungslose Radikalität auch sich gegenüber,
die uns den vehement-fragilen Zivilisationskritiker so sympathisch macht.
MICHAEL LOCCISANO / GETTY IMAGES
Von Urs Rauber
Jonathan Franzen ist
auch ein passionierter
Vogelbeobachter. Hier
vor der Premiere des
Films «Birders» im
New Yorker Central
Park (Juni 2012).
Ein zweites Franzen-Thema ist die
Einsamkeit. Nach jedem grossen Roman
und dem damit verbundenen Lese-Marathon flüchtet er sich ein paar Monate
in das Alleinsein. Nach seinem letzten
Opus suchte er eine 800 Kilometer vor
der chilenischen Küste liegende Vulkaninsel im Südpazifik auf, die von Millionen Seevögeln und Tausenden Seebären
bevölkert ist. Auf dieser Insel namens
«Weiter weg» (sie gab dem Buch den
Titel) versuchte er mit ausreichend Vorräten, einem Zelt und dem Buch «Robinson Crusoe» einige Wochen ohne Laptop, nur mir einem Satellitentelefon und
einem GPS zu leben. Dort zerstreute er
auch eine Zündholzschachtel voll Asche
seines Schriftsteller-Freundes und Rivalen David Foster Wallace im Auftrag von
dessen Witwe Karen.
Jonathan Franzens Buchrezensionen
über Werke von Alice Munroe, Paula
Fox, Fjodor Dostojewski oder Frank Wedekind sind derart enthusiastisch geschrieben, dass man nach der Lektüre
gleich die besprochenen Bücher lesen
möchte. Auf der anderen Seite zeigt der
Romancier, mit welch ungeheurer Anstrengung sein Handwerk verbunden
ist. «Mit jedem Buch muss man so tief
wie möglich graben und so weit wie
möglich ausholen.» Und wenn einem
dann ein halbwegs gutes Buch gelinge,
müsse man beim nächsten noch tiefer
graben und noch weiter ausholen. Für
jedes neue Buch müsse der Autor ein
anderer Mensch werden, weil er «das
beste Buch, das er schreiben konnte, ja
bereits geschrieben hat».
Berührend an Franzens Essaysammlung sind nicht nur solche Einsichten,
sondern auch die Verletzlichkeit, mit
der er seiner Leserschaft gegenüber
tritt. Er erzählt von seiner Scham und
den Schuldgefühlen, die er nach seiner
Depression und der gescheiterten ersten Ehe mit einer erfolglosen Schriftstellerin überwinden musste; von seinem «schlimmsten Jahr» 1993, als sein
Vater im Sterben lag und ihm das Geld
ausging. «Mitte dreissig schämte ich
mich für so ziemlich alles, was ich in den
fünfzehn vorangegangenen Jahren meines Lebens getan hatte», schreibt der
heute 53-Jährige. Vielleicht gerade deswegen entstand in jener Zeit sein Meisterwerk «Die Korrekturen», für das er
2001 mit dem National Book Award geehrt wurde und das in der Folge zu
einem Welt-Bestseller wurde. l
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24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Gulag Posthum erscheinen die Erinnerungen von Horst Bienek über seine Zeit in Lagerhaft
«Meine Seele war wie aus Blei»
Horst Bienek: Workuta. Wallstein,
Göttingen 2013. 80 Seiten, Fr. 21.90.
Von Anja Hirsch
Arbeit. Hunger. Liebe/Sex. Beschreibung der Mithäftlinge. Das waren die
ersten Stichworte, unter denen der
Schriftsteller Horst Bienek (1930–1990),
angeregt von seinem Lektor, dem Hanser-Verleger Michael Krüger, seine Erinnerung aufwecken sollte, vierzig Jahre
danach. Mit 22 Jahren war Horst Bienek,
der als Vertriebener aus Oberschlesien
in der damaligen DDR eine neue Heimat
gefunden hatte, in das Lager Workuta
gebracht worden – ins Polargebiet, wo
grosse Kohlevorkommen unter der Erde
ruhten.
Unter Stalin arbeiteten hier zeitweise
über eine Million Gefangene, oft wegen
einer Lappalie als Vorwand verurteilt –
wie Bienek, dem unter anderem ein Telefonbuch, das er in den Westen brachte,
zum Verhängnis wurde. Das Urteil über
zwanzig Jahre Zwangsarbeit wegen
Spionage wurde inzwischen aufgehoben. Vier Jahre, von 1952 bis 1955, verbrachte Bienek in Workuta, von einem
Tag auf den anderen herausgerissen aus
dem Leben. Er wollte sich gerade als
Künstler etablieren. Bertolt Brecht hatte
ihn als Schauspielschüler in sein Ensem-
Fotografie Schnappschüsse aus dem Zarenreich
1905 verspürte der russische Zar Nikolaus II. den
Wunsch, sein riesiges Land besser kennenzulernen.
Eine Reise war ihm aber zu beschwerlich und so
schickte er einen Fotografen los, der ihm Landschaften und Menschen bequem in den Palast liefern
sollte. 10 Jahre war Sergei Prokudin-Gorski (1863–
1944) in einem Spezialzug inklusive Dunkelkammer
unterwegs, 10 000 mit einer eigens entwickelten
Kamera aufgenommene Farbbilder waren seine
Ausbeute. Die Drei-Farben-Fotografien, heute in der
Library of Congress in Washington archiviert, galten
lange als Geheimtipp. Zusammen mit Schwarz-WeissFotos anderer zeitgenössischer Fotografen sind nun
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
die schönsten unter ihnen erstmals im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Das Panorama zeigt
das Zarenreich kurz vor seinem Zusammenbruch, mit
seinen schönen und auch weniger schönen Seiten.
Die Reise der Autoren Veronica Buckley und Philipp
Blom beginnt in St. Petersburg, führt in den Westen
und Nordwesten, dann nach Zentralasien (im Bild:
jüdische Kinder mit ihrem Lehrer in Samarkand,
1911), erreicht den fernen Osten, Sibirien, den Ural
und endet in Moskau. Geneviève Lüscher
Philipp Blom, Veronica Buckley (Hrsg.): Das
russische Zarenreich. Eine fotografische Reise 1855–
1918. Brandstätter, Wien 2012. 248 Seiten, Fr. 66.90.
ble geholt. Nach der skandalösen Verhaftung rührte Brecht jedoch keinen
Finger für ihn.
Der Autor, Lektor und Kulturredaktor
Horst Bienek, heute bekannt vor allem
durch die literarische Verarbeitung seiner oberschlesischen Kindheit, hatte
zwar in seinen ersten Roman «Die
Zelle» (1968) schon eigene Erfahrungen
einfliessen lassen, verstand sein damaliges Buch aber allgemeiner: Die Zelle
war ihm der herausragende Ort des
20. Jahrhunderts schlechthin.
Wie aber war es wirklich? Das erzählt
er in «Workuta» mit grosser Klarheit. Er
schafft allein durch die Chronologie der
Details eine schockierende Nähe. Am
Anfang steht die Ohnmacht in ersten,
nächtlichen Verhören, die mit Willkür
als zermürbender Strategie arbeiten.
«Als ich einmal fragte, warum ich nicht
verhört würde, schob er meine Worte
mit der Hand zurück. Hier hatte nur
einer zu fragen, und das war er. In der
dritten Nacht fing ich an zu schreien.»
Bis Workuta folgt man dem Wirken
dieses Gifts der Mächtigen. Bienek, zeitweise in der Einzelzelle, beginnt mit absurden Selbstbefragungen auf der Suche
nach der ihm unterstellten Schuld – weil
er in Berlin eine surrealistische Gruppe
mitgründete? Weil der Mitbegründer als
Trotzkist gebrandmarkt war oder Kontakt zu einem Jugendfreund bestand, der
sich rühmte, CIA-Agent zu sein? «Meine
Seele war wie aus Blei.»
Man begleitet Bienek mit anderen
Häftlingen auf Transporte ins Zwischenlager. Das anfängliche Abkapseln verschwindet schnell: «Ich hörte zu, und
ich merkte, ich gehörte schon zu ihnen.»
Selten denkt er noch an den Geschmack
der Sahnebonbons, die er als Kind liebte. Zwischen die sich immer wiederholenden Erzählrituale, mit denen man
gegen die Wartezeit angeht, mischt sich
anfangs noch vage Hoffnung. Lieber ein
deutsches Gefängnis als Sibirien. Und es
gibt auch «Humor, der uns überleben
half und der die Zeit verkürzte». Oder
jenen namenlosen Litauer, der den
Schwächeren unter die Fittiche nimmt
und «für zwei schuftete».
Doch der lange, unaufhaltsame Weg
nach Workuta, wo Zehn-StundenSchichten auf Kohleschacht 29 die Regel
sind, ist eine Fallstrecke. Irgendetwas
zerbricht. Das hat sich diesem Erinnerungstext von Horst Bienek tief eingebrannt, gerade weil es selten direkt benannt wird.
Schwierigkeiten bei der Sichtung des
Nachlasses sind auch ein Grund dafür,
warum dieser Text erst heute veröffentlicht wird. In einem sehr persönlichen
Nachwort schreibt Michael Krüger, wie
er Bienek, der anfangs konsequent alles
klein schrieb, zu normaler Schreibweise
überredete: Inhalt und Form schienen
abstrakt genug; warum unnötig das
Lesen erschweren? Bienek aber wollte
das «Eingesperrtsein» im Vordergrund
haben. Er starb 1990 über den Aufzeichnungen zu «Workuta», die das abgrundtief vermitteln. l
Werkbiografie Die Filme Andrej Tarkovskijs sind wuchtige, aber enigmatische Meisterwerke. Eine
Monografie erschliesst nun das grandiose Werk
Russischer Bildmagier
Andrej Tarkovskij, Leben und Werk: Filme,
Schriften, Stills & Polaroids. Schirmer/
Mosel, München 2012. 320 Seiten,
Fr. 88.90.
Von Christian Jungen
In den Sechzigerjahren begannen Filmregisseure sich als Künstler zu verstehen und prägten mit unverwechselbaren
Handschriften ihre Werke. Ihre Erneuerungen gingen als neue Wellen in die
Filmgeschichte ein. Aus dieser Epoche
ragen jedoch Monumenten gleich drei
Regisseure heraus, die sich kaum schubladisieren lassen und die kraft ihrer philosophischen Durchdringung der Filmkunst einen ebenso aufmerksamen wie
demütigen Zuschauer erfordern: Ingmar
Bergman, Jean-Luc Godard und Andrej
Tarkovskij. Ihre Œuvres widersetzen
sich der schnellen Aneignung.
Vorbild Ikonenmalerei
Das Werk des russischen Bildmagiers
Tarkovskij (1932–1986) ist für westliche
Filmfreunde vielleicht das schwierigste
der drei, weil unsere rationale Art der
Analyse bei ihm zum Scheitern verurteilt ist. Im Science-Fiction-Klassiker
«Stalker» (1978) führt der Titelheld
einen Schriftsteller und einen Wissenschafter in eine geheimnisvolle Zone,
wo es ein Zimmer geben soll, in dem alle
Wünsche in Erfüllung gehen. Kritiker
rätselten vergebens über den Sinn dieser in Bildern von archaischer Wucht
erzählten Odyssee. «Häufig wurde ich
gefragt, was denn nun eigentlich die
Zone in Stalker symbolisiert», schrieb
Tarkovskij einst. «Derlei Fragen bringen
mich jedes Mal in Verzweiflung und Raserei. In keinem meiner Filme wird irgendetwas symbolisiert. Und auch die
Zone tut das nicht. Die Zone ist einfach
die Zone.»
All jenen, die das Schaffen Tarkovskijs besser verstehen wollen, ist die herausragende Monografie empfohlen, die
der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel zusammen mit Tarkovskijs Sohn Andrej kuratiert hat. Schlegel ist einer der
profundesten Kenner des osteuropäischen Kinos. Er hat Tarkovskij persönlich gekannt und seine Tagebücher wie
auch seine filmtheoretischen Schriften
ins Deutsche übersetzt.
In einem luziden Essay führt er aus,
dass Filme wie «Ivans Kindheit» oder
«Solaris» weniger einen analytisch fragenden Zuschauer als vielmehr einen
naiven Beobachter erforderten. Denn
Tarkovskij wollte mit seinen Filmen das
eigene Denken transzendieren, die
Suche nach einem filmischen Stil war
ihm Mittel, seine Gefühle auszudrücken
und beim Zuschauer über die ästhetische Bildwirkung seine Sicht der Welt
fassbar zu machen. Eine wichtige Quelle
von Tarkovskijs Streben sei das spirituelle Bildverständnis der Ostkirche ge-
Szene aus dem
Filmklassiker
«Stalker» von Andrej
Tarkovskij (1978), der
sich der rationalen
Analyse entzieht.
wesen, insbesondere die Ikonenmalerei,
die eine Ahnung des Göttlichen gebe.
Schlegel skizziert auch, wie Tarkovskij früh Probleme mit der Sowjetzensur
bekam. Tarkovskij polemisierte nicht
nur gegen die intellektuelle Montagetheorie von Sergej Eisenstein, er wehrte
sich auch gegen schulmeisterliche Einwände der staatlichen Studios: «Eine
dogmatische Sprache kann nicht sprechen.» Deren Auflagen unterlief er unter
anderem, indem er in seinen Filmen ein
poetisches Ich auftreten liess. Der gegen
die Kirche rebellierende Ikonenmaler in
«Andrej Rubljov» (1969) ist auch ein
Alter ego des Regisseurs, der indirekt
von seinen eigenen Schwierigkeiten
kündet, in einem ideologisch starrsinnigen Umfeld kreativ zu sein.
Neue Sehgewohnheiten
Man merkt, dass Schlegel die Schriften
Tarkovskijs übersetzt hat. Er nimmt den
Regisseur oft beim Wort, etwa wenn er
erläutert, warum Tarkovskij sich im
Westen nicht wohl fühlte. «Der Osten
war der ewigen Wahrheit stets näher als
der Westen», schrieb Tarkovskij dazu.
«Man vergleiche nur einmal östliche
Musik und westliche Musik. Der Westen
schreit: Hier – das bin ich! Schaut auf
mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe! Wie unglücklich und
glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!!
Der Osten sagt kein einziges Wort über
sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott,
in der Natur, in der Zeit, und er findet
sich in all dem wieder.»
Der Band verdeutlicht, dass Tarkovskijs grösste Leistung in der Schöpfung
einer eigenen filmischen Zeit war, die
den Betrachter von seiner utilitaristischen, auf der Einstellung «Zeit ist
Geld» basierenden Sehgewohnheit des
westlichen Kulturkonsums herausreisst.
Nebst Kommentaren zu Filmen, Auszügen aus Tarkovskijs Schriften und
einer Biografie des Regisseurs enthält
das Buch Zeugnisse von Intellektuellen
wie Jean-Paul Sartre, der 1962 Tarkovskij
gegen schlechte Kritiken verteidigte,
oder von Ingmar Bergman, der 1986
festhielt: «Tarkovskij ist für mich der
Grösste, weil er dem Kino eine neue, besondere Sprache gegeben hat, die es ihm
erlaubt, das Leben als Vision, als ein
Traumbild zu erfassen.»
Die Quellenausschnitte widerspiegeln die Debatten, welche die Filme Andrej Tarkovskijs auslösten. Ein Manko
ist, dass die Herausgeber nicht erklären,
wer die Autoren sind. Wer nicht weiss,
dass Erland Josephson ein schwedischer
Schauspieler ist, der in «Nostalghia»
und «Opfer» für Tarkovskij vor der Kamera stand, dem hilft das Buch nicht
weiter.
Abgesehen davon ist das Werk allgemeinverständlich. Es wird dem Schaffen
des Regiepoeten auch insofern gerecht,
als es nebst fundierten Essays auf fast
300 Seiten Filmstills und Polaroidaufnahmen enthält, die Tarkovskij von
Dreharbeiten und seiner Familie machte. Und nur über die Bilder lässt sich
dieses Schaffen letztlich ergründen. l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Autobiografie Das exzentrische Leben des untergetauchten deutschen Hedge-Fund-Managers
Florian Homm, von ihm selbst erzählt
Rauchzeichen eines Phantoms
Florian Homm: Kopf Geld Jagd. Wie ich in
Venezuela niedergeschossen wurde,
während ich versuchte, Borussia
Dortmund zu retten. Finanzbuch,
München 2013. 362 Seiten, Fr. 29.90,
E-Book 19.30.
Von Sebastian Bräuer
Inbegriff der
Heuschrecke: der
Hedge-Fund-Manager
Florian Homm. Hier
als Grossaktionär von
Borussia Dortmund,
16. November 2004.
einer früheren Version soll allerdings
auch noch gestanden haben, er habe ein
paar Dinge erfunden, um den «allgemeinen Unterhaltungswert» zu steigern.
Das wäre nicht schlimm. Es ist nämlich unterhaltsam, wie sich Homm zeitlebens aus Prinzip nicht an gesellschaftliche Konventionen hält. Wie er als Jugendlicher bei einem Kurzbesuch in
einer Nervenheilanstalt die teils schwerkranken Patienten dazu gebracht haben
will, «Scheissfaschisten, Psychoterroristen» zu skandieren. Oder wie er, in jungen Jahren ein begnadeter Basketballer,
angeblich bei einem Freundschaftsspiel
in Detroit zusammen mit der NBA-Legende Earvin «Magic» Johnson aufläuft.
Wobei sie das gegnerische Team natürlich nicht besiegen, sondern demütigen.
Die Elite-Uni Harvard absolviert er, obwohl in dieser Zeit mit Drogengeschäften beschäftigt, praktisch im Schlaf.
LARS BARON / GETTY IMAGES
Dies ist kein normales Buch. «Wichtiger
Hinweis: Der Verlag und alle an diesem
Buch beteiligten Personen wissen nicht,
wo sich Florian Homm aufhält», heisst
es noch vor dem Inhaltsverzeichnis in
fett gedruckten Buchstaben, und wer
das für merkwürdig hält, dem sei gesagt:
Auf den folgenden 362 Seiten ist einiges
noch viel merkwürdiger.
Der deutsche Hedge-Fund-Manager
Homm, heute 53 Jahre alt, ist seit September 2007 verschwunden. So lange
von keiner Behörde entdeckt zu werden,
wäre schon für einen weniger gefragten
Menschen ein Kunststück. Aber Homm,
mit seinen 2,03 Metern ein Hüne, ausgestattet mit markanten Gesichtszügen, ist
von der amerikanischen Börsenaufsicht
angeklagt, Bilanzen gefälscht zu haben.
Private Investoren verlangen Schadensersatz: sie haben viel Geld verloren. Und
sogar die US-Drogenpolizei DEA sucht
Homm, angeblich unterhält er Kontakte
zu südamerikanischen Drogenbossen.
Als würde das nicht reichen, hat vor
einigen Monaten auch noch ein kaum
weniger obskurer Gegenspieler ein
Kopfgeld von 1,5 Millionen Euro auf den
Unternehmer ausgesetzt. Der Mann
meint es ernst: Er hat ein Video ins Internet gestellt, in dem er das Geld in dicken Bündeln auf den Tisch legt.
Schon vor seinem Verschwinden galt
er in Deutschland als Inbegriff der skrupellosen Heuschrecke. Er verdiente an
der Zerschlagung von Firmen und an
fallenden Aktienkursen. Wobei er nicht
davor zurückschreckte, mit der Verbrei-
tung negativer Analysen dafür zu sorgen, dass die Kurse auch wirklich in die
Tiefe rauschen. Am Ende riss er mit seinem abrupten Abgang auch noch die eigene Firma ACMH in den Abgrund. Und
verschwand mit 500 000 Dollar in Aktenkoffer, Zigarrenkiste und Unterhose.
Dass so jemand aus dem Untergrund
heraus eine Autobiografie schreibt, in
der er mit geschäftlichen und persönlichen Erfolgen prahlt, ist eine gewaltige
Provokation gegenüber Anlegern und
Mitarbeitern. Dass er dabei auch Details
über seine Flucht verrät, zeugt von seiner Überheblichkeit. Es ist auch nicht zu
beurteilen, ob sich sämtliche der teils
schrillen Anekdoten wirklich so zugetragen haben. Homm schreibt im Vorwort, die Geschichte beruhe auf Tatsachen, er habe lediglich gewisse Namen
und Orte geändert, um juristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. In
Medizin Streiflichter auf Leben und Werk von Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler (1857–1939)
Psychiatrie-Pionier wäre noch zu entdecken
Rolf Mösli (Hrsg.): Eugen Bleuler – Pionier
der Psychiatrie. Römerhof, Zürich 2012.
228 Seiten, Fr. 44.–.
Von Willi Wottreng
Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler
(1857–1939) war eine komplexe, spannende Persönlichkeit. Ein Arzt, der aus
der Praxis lernte und Theorien suchte,
die dem Erlebten entsprachen. Ein
Mensch, der zugleich in sich verschlossen war, aber offen für das Leiden der
Mitmenschen in seinen Kliniken. Bleuler hat den Begriff der Schizophrenie
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
entwickelt, welcher die Patienten in
ihrem Leiden widerspiegeln sollte und
der sie nicht wie der bisherige Ausdruck
Demenz abqualifizierte. Doch in der
Praxis hat er Behandlungsmethoden –
etwa die Malaria-Fieberkur – zugelassen, die den Charakter von Menschenversuchen hatten.
Die Persönlichkeit Bleulers hätte eine
bessere Biografie verdient als das vorliegende Werk. Genau genommen handelt
es sich nicht um eine Biografie, auch
nicht um eine Darstellung seines Wirkens, sondern um Textelemente und
Dokumente, die einzeln für sich Interesse beanspruchen können, aber sich
weder zu einer Biografie noch zu einem
impressionistischen Panoramabild der
psychiatrischen Welt fügen.
Da findet sich etwa ein subtiler Text
des einstigen «Burghölzli»-Direktors
Daniel Hell über Herkunft und junge
Jahre Bleulers, der Neugier weckt über
den weiteren Lebensweg – welcher dann
nicht geschildert wird. Denn über weite
Strecken wird die Person Bleulers verlassen und das Gewicht auf die Wiedergabe von Pflegerberichten über ihr Tun
in der Klinik gelegt. Eingestreut sind ansprechende Fotodokumente. Anschaulich auch die Ausführungen über die
Ehefrau Hedwig Bleuler-Waser, die eine
Aber auch auf einer ernsthafteren
Ebene gibt es sehr gute Gründe, das
Buch zu lesen. Florian Homm geht gnadenlos mit sich selbst ins Gericht. Er reflektiert seinen rasanten Auf- und Abstieg mit einer Radikalität, die seinem
Charakter entsprechen mag, die aber
selbst in seiner von Exzentrikern bestimmten Branche ihresgleichen sucht.
Homms Leben ist eine Abfolge von
Exzessen. In teils derber Sprache berichtet er von Prügeleien, Drogen- und
Sexeskapaden. Immer auf der Suche
nach dem nächsten Kick, mit immer
mehr Geld um sich schmeissend. Aber
eines will sich einfach nicht einstellen:
innere Zufriedenheit. «Mein Leben war
äusserst intensiv und technisch betrachtet erfolgreich», schreibt Homm. «Dabei
fühlte ich mich leerer als eine aufgeblasene Sexpuppe.»
Alles ist dem Ziel untergeordnet, die
Milliarde zu schaffen. Auch eine Ehe
hält so etwas auf Dauer nicht aus, so
dass es schliesslich zu einer hässlichen
Scheidung kommt, bei der ihm seine
Frau die gemeinsame Kunstsammlung
sprichwörtlich vor der Nase wegreisst.
Und damit einmal in ihrem Leben
schneller ist als er: Homm hatte dasselbe vor. Wenige Monate später kommt es
in ihrer Beziehung zu einer weiteren
eindrücklichen Szene. Homm wird in
Venezuela angeschossen und schwer
verletzt, wobei unklar bleibt, ob es sich
um einen Raubüberfall oder ein gezieltes Attentat handelt. Er fürchtet zu verbluten. Daher ruft er seine Ex-Frau an.
Und rät ihr, die Aktien seines Unternehmens zu verkaufen, bevor die Todesnachricht in den Nachrichten kommt.
«Ich bin nicht völlig psychotisch und gefühlskalt», meint Florian Homm rückblickend. «Ich war zu dem Zeitpunkt
nur stark auf Finanzen fokussiert.»
Das Buch enthält die implizite Botschaft, dass Geld niemals glücklich
macht – wenn der Rest nicht stimmt. l
wissenschaftliche Karriere schmiss, um
als Ehefrau da zu sein und an der Klinik
Weihnachtsveranstaltungen zu organisieren. Und zum Schluss eine Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen
Bleulers durch den Chefarzt der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, Paul Hoff,
die Thesen vorlegt, ohne dass zuvor das
Material ausgebreitet worden ist, das
analysiert wird. Das betrifft etwa den
heiklen Punkt der Degenerationslehre.
Der Herausgeber des Buches hatte
seinerzeit als Pfleger im Burghölzli gearbeitet und ein kleines Hausmuseum
aufgebaut. Nun hat er seine gesammelten Funde in ein Buch überführt. l
ULLSTEIN
Operettenhafter
Putschversuch der
Franquisten am
23. Februar 1981:
Oberst Antonio
Tejero mit Pistole
und bewaffneten
Putschisten im spanischen Parlament.
Spanien Opfer des Franquismus fordern eine historische Aufarbeitung
Verdrängte Erinnerung
Georg Pichler: Gegenwart der
Vergangenheit. Die Kontroverse um
Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien.
Rotpunktverlag, Zürich 2013.
250 Seiten, Fr. 33.90.
Von Tobias Kaestli
Spanien leidet nicht nur an ökonomischen Problemen, sondern auch an seiner verdrängten Geschichte. Die Regierungszeit Francos (1939–1975) hat gesellschaftliche Beschädigungen hinterlassen, von denen man im Ausland kaum
etwas weiss. Das Buch von Georg Pichler gibt dazu präzise Auskünfte. Der in
Graz geborene Autor ist Professor für
deutsche Sprache und Literatur in Madrid. Sein Interesse für die literarische
Verarbeitung politischer Kämpfe zwischen links und rechts hat ihn dazu motiviert, ein Buch über die vergangene
Zeit des Franquismus, die danach beginnende Zeit der «Transición» und die gegenwärtige Veränderung des kollektiven
Gedächtnisses zu schreiben. Einen
guten Teil des Buches machen die eingestreuten Interviews mit Menschenrechtsaktivisten, Juristen und Angehörigen von Opfern des Franquismus aus.
Das Ende eines Unrechtsregimes bedeutet in vielen Fällen, dass früher oder
später die Hauptverantwortlichen für
ihre menschenrechtswidrige Politik verurteilt werden. Nicht so in Spanien. General Franco, der im Juli 1936 mit seinen
nordafrikanischen Truppen gegen die
gewählte links-republikanische Regierung rebelliert und in einem blutigen
Bürgerkrieg die Macht erobert hatte,
blieb so lange an der Spitze des Staates,
dass er zuerst alle linken Gruppierungen blutig unterdrücken oder ins Exil
treiben konnte, um dann zumindest dem
Anschein nach sein Gewaltregime ein
wenig zu mildern. So blieb er von der
Justiz unbehelligt.
Der Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie war schon vorbereitet,
als er im November 1975 starb. In der Periode der «Transición» blieben die Fran-
quisten vorerst an der Macht und verhinderten eine neue Sicht auf die von
ihnen schöngeredete Vergangenheit.
1977 verabschiedeten sie das Amnestiegesetz, das ihnen Straffreiheit für alle
zuvor geschehenen politischen (Un-)
Taten garantierte. Doch die Opfer des
Franquismus bauten zunehmend Druck
auf und forderten Gerechtigkeit. Die
linke Opposition erstarkte. Da drang am
23. Februar 1981 der franquistische
Oberst Antonio Tejero ins spanische
Parlament ein und fuchtelte mit seiner
Pistole herum. Der Putschversuch misslang, doch die Linken waren gewarnt:
Rührt nicht an die Vergangenheit,
schweigt über die Verbrechen des Franquismus, sonst droht ein Rückfall in die
blutigen Auseinandersetzungen der
Bürgerkriegszeit!
Viele Gegner Francos waren nach
pauschalen Urteilen erschossen und irgendwo in Massengräbern verscharrt
worden. Viele Angehörigen verlangten,
dass die Leichen gesucht und anständig
begraben würden. Im Jahr 2000 wurde
ein Verein gegründet, der die Exhumierungen und die DNA-Analyse der sterblichen Überreste organisierte und finanzierte. Was zuerst als private Angelegenheit aufgefasst wurde, entwickelte
sich zu einer politischen Bewegung, die
endlich die verdrängte Erinnerung hervorholte und die historische Aufarbeitung des Franquismus ermöglichte.
«Memoria histórica» nennen das die
Spanier. Doch das Amnestiegesetz ist
weiterhin in Kraft, was der mutige Richter Baltasar Garzón, der seinerzeit gegen
Pinochet Klage einreichte, schmerzhaft
zu spüren bekam. Als er gegen Franco
und seine Gehilfen posthum Klage erheben wollte, wurde er im Mai 2010 in seinem Amt suspendiert.
Pichlers Buch ist reich an Informationen über die jüngste Geschichte Spanien, macht gesellschaftliche Widersprüche sichtbar und öffnet den Blick für
ähnliche Probleme in anderen Ländern.
Wer sich für Spanien oder für Erinnerungspolitik interessiert, sollte es unbedingt lesen. l
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Paläontologie Der Naturforscher Oswald Heer (1809 bis
1883) war Lehrer Alfred Eschers, Doppelprofessor und
erster Direktor des Botanischen Gartens Zürich
Conradin A. Burga (Hrsg.): Oswald Heer
1809–1883. Paläobotaniker, Entomologe,
Gründerpersönlichkeit. NZZ Libro,
Zürich 2013. 511 Seiten, Fr. 64.90.
Von Geneviève Lüscher
Sie hatten den gleichen Jahrgang – 1809
– und kannten einander. Während aber
der eine zu Weltruhm gelangte, geriet
der andere in Vergessenheit. Natürlich
sind die wissenschaftlichen Verdienste
des Schweizers Oswald Heer mit denen
von Charles Darwin nicht vergleichbar.
Aber auch Heer beschäftigte sich mit
der Erdgeschichte, der Evolution, auch
er war, wie Darwin, zuerst Theologe.
Beide lieferten Argumente und fossile
Belege für eine Abfolge von ausgestorbenen und neu entstandenen Tier- und
Pflanzenarten im Lauf der Zeit. Mehrfach verwies Darwin in seinen Werken
auf die Funde aus Schweizer Pfahlbausiedlungen und gab dabei Heer als Informationsquelle an. Wer also war Oswald
Heer?
Conradin A. Burga, Dozent an der
Universität Zürich, versucht unter Mithilfe zahlreicher Spezialisten und Spezialistinnen, eine Antwort auf diese
Frage zu geben. Über 500 Seiten schwer
ist die Biografie geworden und in ihrem
Detailreichtum bisweilen verwirrend.
Von Gott zu den Käfern
1809 kommt Oswald Heer als zweites
von neun Geschwistern im sanktgallischen Niederuzwil zur Welt. Der Vater
ist Pfarrer und amtet ab 1817 in Matt im
Kanton Glarus, wo Oswald seine Kindheit verbringt. Vater Heer betreibt
neben dem Pfarramt eine Art privates
Gymnasium, wo er seine Kinder und
auch auswärtige Schüler unterrichtet.
Schon als Kind sammelt Oswald eifrig
Pflanzen, legt Herbarien an, unternimmt
Exkursionen in die Bergwelt. Ab 1828
studiert er Theologie in Halle. Neben
Kirchengeschichte, Exegese und Psalmenstudium besucht er Vorlesungen in
Entomologie (Insektenkunde), Mineralogie, Botanik und Zoologie. In Halle
begegnet er auch Arnold Escher von der
Linth, mit dem ihn eine lebenslange
Freundschaft verbinden wird.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
1831 folgt die Ordination. Heer kehrt
aber der Theologie den Rücken und
nimmt in Zürich eine Stelle als Konservator der Käfersammlung von Heinrich
Escher an. Gleichzeitig ist er Hauslehrer
der beiden Sprösslinge Alfred und Clementine; der später sehr einflussreiche
Alfred Escher wird seinen Lehrer Zeit
seines Lebens fördern. 1838 heiratet
Heer Margarethe Trümpy, sie wird ihm
vier Kinder schenken. Er doktoriert und
habilitiert an der neugegründeten Zürcher Universität, steigt rasch vom Extraordinarius zum Professor auf und wird
gleichzeitig Direktor des Botanischen
Gartens. 1855 kommt noch die Professur
für Botanik, Paläobotanik und Entomologie an der neugegründeten ETH dazu.
Erst spät, mit 72 Jahren, tritt er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Zwei
Jahre später, 1883, stirbt er.
Das Hauptinteresse Heers gehörte –
nach den frühen Forschungen zur Höhenverbreitung von Insekten und Pflanzen – der paläobotanischen Erforschung
der Schweiz und Europas im Tertiär. Er
schuf dazu die Grundlagen, er entwickelte neue Bestimmungsmethoden fossiler Pflanzen und leistete Pionierarbeit
in der Erforschung fossiler Früchte und
Samen. Heer interessierte sich darüber
hinaus auch für die Botanik im Eiszeitalter, für die Pflanzenfunde aus den prähistorischen Pfahlbausiedlungen und
sogar für die Landwirtschaft. Seine Publikationen füllen Regale. Populär wurde
er 1865 mit dem Buch «Die Urwelt der
Schweiz», wo er als erster die Funde aus
300 Millionen Jahren epochenweise zu
anschaulichen Lebensbildern zusammenstellte. Für sein Werk wurde er vielfach auch international geehrt.
Der Gelehrte war ein passionierter
Briefschreiber. Die neue Biografie hat
sich verdankenswerterweise dieser
noch kaum angetasteten Quelle besonders intensiv angenommen und zitiert
zahlreiche Briefpassagen. Die Korrespondenz in verschiedenen in- und ausländischen Archiven richtete sich an
über 650 Adressaten! Zu den berühmtesten zählen Alexander von Humboldt
und Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie Heer scharf kritisierte. Heer war
ein vehementer Verfechter der «Umprägungstheorie», die von einer unregel-
LANDESARCHIV DES KANTONS GLARUS, FOTOSAMMLUNG 2.1 HEER
Darwins
kleiner Bruder
Der Botaniker Oswald
Heer um 1835.
Das Aquarell soll
Clementine StockarEscher gemalt haben,
die Schwester von
Alfred Escher.
mässigen und sprunghaften Entwicklung der Organismen ausging. Als gläubiger Mensch suchte er damit einen
Kompromiss zwischen Schöpfungslehre
und Evolutionstheorie. «Ich halte dafür,
dass Gesetze auch einen Gesetzgeber
voraussetzen», schrieb er 1859. Mit der
Ablehnung der zukunftsweisenden Evolutionstheorie hatte sich Heer aber ins
Abseits manövriert, sicher mit ein
Grund, weshalb er heute in Vergessenheit geraten ist.
Überfülle an Fachlichem
Heer kannte zahlreiche Persönlichkeiten und gründete etliche Institutionen.
Viele werden im vorliegenden Buch in
aller Breite vorgestellt. Manchmal geht
das so weit, dass beim Botanischen Garten auch noch die Obergärtner porträtiert werden. Unter der überbordenden
Fülle an Informationen, die wegen der
Aufsplitterung des Stoffs in zahllose Kapitel bisweilen redundant sind, droht
der Leser den roten Faden zu verlieren.
Das Ausbreiten von Fachdetails im entsprechenden Jargon überfordert den
Laien, was insofern schade ist, als damit
die Chance, Heers Werk einem breiten
Publikum bekannt zu machen, verpasst
worden ist. Auf der anderen Seite erfährt man fast nichts über Heers Leben
ausserhalb der Forschung, zum Beispiel
über sein Wirken im Zürcher Kantonsrat, dem er immerhin von 1850 bis 1868
angehörte. Eine Einbettung in die damalige Zeit findet kaum statt.
Insgesamt wäre weniger Fachliches
mehr gewesen; eine straffe Lektorierung
und das Beiziehen eines versierten Historikers hätten dem Werk sicher gut
getan. Dem Laien bleibt aber zum
Schmökern eine Fülle an Wissenswertem aus dem Leben des grossen Paläontologen Oswald Heer. l
Utopie Das linksradikale Philosophenduo Hardt/Negri kämpft weiter für die echte Demokratie
Alle Macht den Ferienlagern!
Michael Hardt, Antonio Negri:
Demokratie! Wofür wir kämpfen.
Campus, Frankfurt a. M. 2013.
127 Seiten, Fr. 18.90.
Von Michael Holmes
Zelte und Feuer, Fahnen und Lieder. Am
Tage wird Räuber und Gendarm gespielt. Abends erzählt man Geschichten
von tapferen Superhelden, die fest zusammenhalten, um die Bösewichter zu
vernichten und die Welt zu retten.
Wie Ferienlager schildert das linksradikale Philosophenduo Antonio Negri
und Michael Hardt die Protestcamps
der Bewegungen, die sie zur revolutionären Avantgarde erkoren haben. Ihr
Hauptwerk «Empire» wurde als die
Bibel der Globalisierungsgegner gefeiert. Ihre neue Kampfschrift «Demokra-
tie!» glorifiziert die Occupy-Proteste,
die arabischen Aufstände sowie die Unruhen in Frankreich und England als
Spielarten einer authentischen, tiefen,
lebendigen Demokratie – der «Herrschaft der Multitude».
Hinter einem Wirrwarr aus Angeberwörtern verbirgt sich die alte Mär: Die
repräsentative Demokratie und der liberale Rechtsstaat verschleierten die
«Kontrolle des gesamten Lebens durch
den Finanzmarkt» und müssten überwunden werden. Das Kapital habe den
«dauernden Ausnahmezustand» und
«totalen Überwachungsstaat», ja einen
«absoluten Despotismus» geschaffen,
der die Gesellschaft in eine Fabrik, einen
Alptraum, ein Gefängnis verwandle. Die
Bürger seien hypnotisiert, korrupt, blind
für ihre «unsichtbaren Ketten».
Echte Demokratie lässt sich den Autoren zufolge «nur von einer Multitude
verwirklichen, die in der Lage ist, sie zu
verstehen.» Die Bewegungen kommunizieren mittels Gebärden und Zurufen
und erfassen «Frequenzen, die Menschen ausserhalb des Kampfes weder
hören noch verstehen können». Da ihre
kollektive Intelligenz das Wissen aller
nutze, müsse kein Andersdenkender um
seine Stimme bangen.
Michael Hardt und Antonio Negri unterstreichen, dass die Multitude Zwangsmittel gegen Konzerne und Nationalstaaten einsetzen müsse, um einen
eigentumsfreien Kommunismus zu verwirklichen. Ihre Macht äussert sich in
Brandstiftungen, Plünderungen und
Guerillakriegen.
Bleibt die Frage, warum sich der Campus-Verlag in Frankfurt dazu hergibt, die
Hetzschriften dieser militanten Extremisten zu publizieren. Demokratie ist
kein Kinderspiel. l
Kuba Der deutsche Journalist Carlos Widmann analysiert das Phänomen Fidel Castro
Der Verehrung folgt die Abrechnung
Carlos Widmann: Das letzte Buch über
Fidel Castro. Hanser, München 2012.
335 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 19.30.
Von Reinhard Meier
An Fidel Castro scheiden sich die Geister – schon seit einem halben Jahrhundert. Die heutige kubanische Jugend,
schreibt Carlos Widmann, habe vom Regime des alten Zuchtmeisters «die
Schnauze voll». In Venezuela und in anderen lateinamerikanischen Ländern
dagegen wird der Mythos des Revolutionärs und Herausforderers Amerikas
von linken Populisten neu beschworen.
Widmann, in Argentinien geboren und
aufgewachsen, ist als welterfahrener
Korrespondent mit dem Phänomen Castro und dessen streckenweise dramati-
scher Ausstrahlung weit über die Karibik-Insel hinaus eng vertraut. Der Titel
seines Buches ist offenbar eine ironische Anspielung darauf, dass Castros
Herrschaftsexperiment historisch eigentlich abgelaufen ist, auch wenn der
inzwischen 86-jährige, kranke Revolutionsführer weiterhin als «charismatisches Gespenst» umhergeistert. Zeit
also, für eine Abrechnung.
Widmann geht es bei seiner Bilanz
nicht um ideologisches Schwarz-Weiss.
Er schildert packend und mit dem sicheren Blick des gewieften Reporters für
signifikante Einzelheiten Kernelemente
von Fidel Castros flamboyanter Persönlichkeit. Dazu gehören seine privilegierte Herkunft aus einer Grossgrundbesitzerfamilie und seine skrupellosen, mitunter stalinistischen Methoden bei der
Durchsetzung seiner Machtansprüche.
Der Autor verhehlt bei seiner Abrechnung nicht frühere eigene Anfälligkeiten für die romantische Verklärung
der Diktatur in Kuba. Er berichtet, dass
er 1969 als junger Reporter für die «Süddeutsche Zeitung» die später zum Evangelium («Die Geschichte wird mich freisprechen») aufbereitete Verteidigungsrede Castros von 1953 nach dem gescheiterten Sturm auf eine Kaserne «als eine
der grössten rhetorischen Leistungen
spanischer Sprache im 20. Jahrhundert»
gefeiert hatte. Jetzt fragt sich Carlos
Widmann selbstkritisch, welcher Dämon ihn damals geritten habe, denn «in
Wirklichkeit troff Fidel Castros 100-mal
nachgebessertes Plädoyer von Eigenlob,
Opportunismus und Klischees …». Ausser Kraftmeierei sei nichts an dieser
Rhetorik zu finden, «vor allem keine
Substanz». l
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24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Berlin Ilma Rakusa hat ein Journal über ihren Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt geführt
Ebenso lebendig wie geschichtsträchtig
Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Berlin-
Journal. Droschl, Graz 2013. 112 Seiten,
Fr. 24.90.
Von Ina Boesch
Die «Vorbemerkung» ist eine Liebeserklärung an Berlin. Sie sei von Berlin «berührt», bekennt die Schriftstellerin Ilma
Rakusa auf der ersten Seite, «gerade
weil die Stadt weh tut». Weil Geschichte
nicht «wegretuschiert» wird. Weil Berlin ein «Scharnier zwischen Ost und
West» ist. Und wegen seiner Vitalität:
«Mit Phantasie werden triste Höfe umgenutzt, Brachen bebaut, marode Räume
in quirlige Galerien verwandelt.»
Tatsächlich ist es dieser lebendige,
widerspenstige und geschichtsträchtige
Charakter, der für viele treue Besucher
den unwiderstehlichen Charme Berlins
ausmacht. Entsprechend hoch sind die
Erwartungen an die Lektüre des Jour-
nals, das die Autorin während ihres Berlin-Aufenthalts (Oktober 2010 bis Juli
2011) als Fellow am Wissenschaftskolleg
geführt hat.
Gleich zu Beginn nimmt die Autorin
uns mit zum S-Bahnhof Grunewald, zu
Gleis 17, von wo Juden deportiert
wurden, schlendert weiter durchs Villenviertel, erzählt von einer witzigen
Begegnung mit einem Deux-CheveauxBesitzer, um schliesslich den Tagebucheintrag mit einer Reflexion über ihre
Arbeit am Wissenschaftskolleg zu beenden. In wenigen Sätzen bringt Rakusa
zusammen, was in der Stadt ebenfalls
auf knappem Raum zu erfahren ist: der
Schrecken des Nationalsozialismus, der
Reichtum Weniger, die Begegnung mit
einem Original, das intellektuelle Leben.
Solche Verdichtungen sind rar, leider.
Auf den folgenden Seiten des schmalen Bändchens hält Rakusa fest, was sie
an ausgewählten Tagen bewegt oder erfahren hat: Sie notiert, wie das Wetter
war und ob es sie gesundheitlich beeinträchtigt hat; sie berichtet von Theater-,
Kino-, Konzert- und Ausstellungsbesuchen; sie erzählt von Begegnungen mit
der internationalen, vor allem osteuropäischen Kulturprominenz, vom Gulasch-Essen mit den Ehepaaren Esterhàzy und Kertèsz oder von Gesprächen
mit dem libanesischen Autor Elias
Khoury.
Ilma Rakusa zitiert auch andere Journale (beispielsweise von Emine Sevgi
Özdamar) oder was andere Schriftstellerinnen (zum Beispiel Ingeborg Bachmann) über Berlin geschrieben haben.
Sie holt die weite Welt – die Katastrophe
von Fukushima – mittels Zeitungslektüre in ihre Studierstube. Zu selten hält sie
Episoden fest, die Berlin-spezifisch und
berührend sind wie diese: Mit dünner
Stimme preist ein Obdachloser in der UBahn sein Magazin an, doch keiner
blickt auf, worauf er sich verzweifelt
fragt: Mache ich etwas falsch? l
Das amerikanische Buch Aus der Bronx ins Oberste Gericht der USA
«Kleine, stetige Schritte» haben sie
einen denkbar langen Weg getragen,
schreibt Sonia Sotomayor in ihren
Memoiren My Beloved World (Alfred A.
Knopf, 315 Seiten): Er führte aus der Armut puerto-ricanischer Einwanderer in
der Bronx bis hinter die Marmorsäulen
des amerikanischen Verfassungsgerichts. Von Präsident Barack Obama
ausgewählt, nahm Sotomayor 2009 als
erste Persönlichkeit lateinamerikanischer Herkunft Einsitz am obersten
Gericht der USA. Sie wurde damit eine
historische Figur. Aber dies scheint erst
heute wirklich in der breiten Öffentlichkeit und auch in ihrer eigenen
«Community» anzukommen. Dafür
spricht das enorme Echo auf «My Beloved World». Das Buch ist umgehend
an die Spitze der Bestsellerlisten gesprungen und die Lesereise der Richterin im Februar geriet zu einem
Triumphzug mit begeistertem Publikum in überfüllten Hallen.
1955 geboren, wuchs Sotomayor mit
einer distanzierten Mutter und einem
alkoholsüchtigen Vater auf, der nach
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. Februar 2013
PRIVAT
Sotomayor notiert zudem, dass ihre
Karriere nur deshalb möglich war, weil
Institutionen in Staat und Gesellschaft
der USA während der 1970er Jahre allmählich Türen für ehrgeizige «Hispanics» öffneten. Sie verteidigt die bis
heute umstrittene «affirmative action»,
also die gezielte Förderung von Angehörigen farbiger Minoritäten, stellt
aber selbstbewusst fest: «Meine Herkunft mag mir ein Princeton-Stipendium ermöglicht haben. Aber den
Abschluss summa cum laude habe ich
mir aus eigener Kraft verdient!»
Sonia Sotomayor
feiert ihren vierten
Geburtstag (1959).
Heute ist sie die
erste Richterin mit
puerto-ricanischen
Wurzeln am USVerfassungsgericht
(unten).
REUTERS
Die durchwegs positiven Kritiken nahmen diesen Erfolg vorweg. Das Buch
endet zwar bereits 1992, als Sotomayor
an das Bundesgericht für den südlichen
Bezirk ihrer Heimatstadt berufen
wurde. So vermeidet die Juristin
Diskussionen ihrer von Republikanern
bekämpften Nominierung für den
Supreme Court und ihrer Haltung zu
aktuellen Fällen. Dafür wird der Leser
mit einer packenden und anrührenden
Lebensgeschichte belohnt. Diese zieht
ihre emotionale Kraft ebenso aus der
Offenheit der Autorin, wie aus den
Prüfungen, die sie auf ihrem Weg zu
bestehen hatte.
Freunde. Dazu zählt der einflussreiche
Jurist José Cabranes, der heute am Berufungsgericht für den amerikanischen
Nordosten wirkt.
ihrem neunten Geburtstag verstarb.
Erschwert wurde ihre Kindheit durch
Diabetes, die sie bereits als Siebenjährige allein meistern musste. Die Kleine
lernte, sich selbst die tägliche Insulinspritze zu setzen, und realisierte, dass
sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen
musste. Rückschläge nahm das mit
einer scharfen Intelligenz begabte Mädchen fortan als Lektionen wahr, die sie
mit Fleiss und Beharrlichkeit bewältigen konnte. Wie Sotomayor dankbar
hervorhebt, standen ihr dabei an jeder
Station Mentoren zur Seite. Nie scheute
sie sich, um Rat zu fragen. So gewann sie
an der Princeton University und danach
an der Yale Law School, bei der New
Yorker Staatsanwaltschaft und schliesslich als junge Partnerin einer renomierten Kanzlei in Manhattan lebenslange
Doch, obwohl ihr Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem die Hispanics
auch als politischer Faktor den endgültigen Durchbruch erzielt haben, ist
«My Beloved World» keineswegs eine
Streitschrift auf dem Schlachtfeld der
Identitätspolitik in den USA. Sotomayor möchte Beispiel sein für die Möglichkeit des klassisch-amerikanischen
Aufstiegs und plädiert für schrittweise
Reformen: Aufgewachsen in Chaos und
Not, hält die Richterin das Recht als
Regelwerk hoch, das speziell Bürgern
aus benachteiligten Milieus Sicherheit
und Chancen gewähren sollte.
Dabei hält sie an ihren Wurzeln fest.
Dazu zählt eine afrokaribische Spiritualität, die sie an ihrer Grossmutter
Mercedes aus Puerto Rico festmacht.
So würdigt Sotomayor auch den Geist
der geliebten «Abuelita» als Beistand,
der sie auf ihrer imponierenden Lebensreise mit Rat und Tat begleitet hat.
Von Andreas Mink l
Agenda
Künstlerkolonie Die Schule von Savièse
Agenda März 2013
Basel
Freitag, 1. März, 20 Uhr
Emil Steinberger: Drei Engel. Bühnenprogramm mit Lesung. Theater Fauteuil,
Spalenberg 12. Info: www.fauteuil.ch.
Freitag, 8. März, 19 Uhr
Rafik Schami: Poetischer Spaziergang
durch Damaskus. Lesung, Fr. 25.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. 061 261 29 50.
M. MARTINEZ / WALLISER KUNSTMUSEUM
EPA
Montag, 25. März, 19 Uhr
Ursula Krechel: Landgericht.
Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. 061 261 29 50.
Bern
Mittwoch, 13. März, 20 Uhr
Pedro Lenz: Liebesgschichte. Lesung,
Fr. 15.–. Buchhandlung Stauffacher,
Neuengasse 25/27, Tel. 031 313 63 63.
Montag, 25. März, 19 Uhr
Ums Jahr 1900 wurde das ländliche Wallis durch
Künstler aus der Stadt bevölkert, die auf der Suche
nach einer unversehrten alpinen Welt waren. Als
«Schule von Savièse» kolonisierten sie die Berglandschaft und schilderten sie als verlorenes
Paradies. Paul Virchaux (1862–1930) stellt auf einem
1901 entstandenen Ölgemälde Älplerinnen und Älpler
auf der Heimkehr von der Messe in Evolène dar. Drei
junge Frauen führen den Zug an, der in der prallen
Mittagssonne aus der Kirche kommt. Landschaft und
Menschen feiern in realistischer Manier die Heimat.
Das Bild ist ein Beispiel für die Ideologie der heilen
Welt, welche die damalige Kolonie prägte. Im Spannungsfeld mit anderen künstlerischen Bewegungen
wie jener weit farbigeren und anarchischeren auf dem
Monte Verità im Tessin gewinnt diese Strömung ihre
besondere Bedeutung. Manfred Papst
Pascal Ruedin u. a. (Hrsg.): Die Schule von Savièse.
Eine Künstlerkolonie in den Alpen um 1900.
Kunstmuseum Wallis, Sitten 2012. 296 S., Fr. 59.–.
Belletristik
Sachbuch
1 Dtv. 656 Seiten, Fr. 27.90.
2 Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90.
3 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.
4 Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90.
5 Blanvalet. 544 Seiten, Fr. 28.50.
6 Carl's Books. 366 Seiten, Fr. 18.90.
7 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90.
8
Carl's Books. 352 Seiten, Fr. 18.90.
9 List. 480 Seiten, Fr. 28.90.
10 Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90.
1
2 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.
3
Fischer. 319 Seiten, Fr. 28.90.
4 Insel. 267 Seiten, Fr. 28.40.
5 Beobachter. 228 Seiten, Fr. 38.90.
6 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.
7
Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90.
8 Bibliographisches Institut. 285 S., Fr. 32.40.
9 Gassmann. 128 Seiten, Fr. 39.90.
10 Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90.
Paulo Coelho: Die Schriften von Accra.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff.
Sandra Brown: Blinder Stolz.
Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Lust.
Martin Suter: Die Zeit, die Zeit.
Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Erfüllung.
Camilla Läckberg: Der Leuchtturmwärter.
Timur Vermes: Er ist wieder da.
Mittwoch, 27. März, 19 Uhr
7. Bund-Essay-Wettbewerb unter dem
Motto: Der Mutter und die Vaterin;
Preisverleihung und Lesungen. Dampfzentrale, Marzilistrasse 47. Eintritt und
Reservation: www.essay.derbund.ch.
Zürich
Mittwoch, 6. März, 19.30 Uhr
Bestseller Februar 2013
Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret.
Ulrich Beseler empfiehlt Bücher zu
Ostern. Lesung, Eintritt frei inkl. Apéro.
Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14.
Info: www.haupt.ch.
Thomas Jaenisch, Felix Rohland: myboshi –
mützenundmehr. Frech. 111 Seiten, Fr. 21.90.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Florian Illies: 1913 – der Sommer des Jahrhunderts.
Pola Kinski: Kindermund.
Christoph Stockar: Der Schweizer Knigge.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.
Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt
ihr nie.
Guinness World Records 2013.
Beat Kuhn: Ziemlich wild.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25.
Aufl.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12.2.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Katja Fusek, Valentin Herzog und
Gabriele Markus lesen aus ihren Werken.
ZSV Forum im Gartensaal, Cramerstr. 7.
Info: www.zsv-online.ch.
Dienstag, 12. März, 20 Uhr
Joey Goebel: Ich gegen Osborne. Lesung,
Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Montag, 18. März, 19.30 Uhr
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren.
Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Montag, 25. März, 19.30 Uhr
Corina Caduff: Szenen des
Todes. Lesung, Fr. 18.– inkl.
Apéro. Literaturhaus
(s. oben).
Mittwoch, 27. März, 19.30 Uhr
Zebra oder weisser Tiger und Fledermaus
au Chocolat. Die Lesung zum Tier. Erfundenes und Erfahrbares aus dem Tierreich. Restaurant Zeughaushof, Kanonengasse 20. Info: www.zeughaushof.ch.
Bücher am Sonntag Nr. 3
erscheint am 31.3.2013
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
24. Februar 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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Tom Buchanan holte kurz und
gezielt aus und brach ihr mit
der flachen Hand die Nase.
Knack.
Aus «Der grosse Gatsby» von F. Scott Fitzgerald
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Ausgabe Nr. 2
Ausgabe Nr. 3
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Ausgabe Nr. 6
Ausgabe Nr. 7
Ausgabe Nr. 8
Ausgabe Nr. 9
Ausgabe Nr. 10
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Ausgabe Nr. 1
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Die Erzählungen
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Schi Nai An
Die Räuber
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Gatsby
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