Andrea Jahn Louise Bourgeois - Schmerzensfrau oder feministische

Transcrição

Andrea Jahn Louise Bourgeois - Schmerzensfrau oder feministische
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Andrea Jahn
Louise Bourgeois - Schmerzensfrau oder feministische Provokateurin der
amerikanischen Kunstgeschichte?"
Ein Vortrag zu Bourgeois' Körperbildern im Kontext der künstlerischen
Strömungen der 60er und 70er Jahre
Die 1911 in Paris geborene New Yorker Künstlerin Louise Bourgeois gilt mit ihrem fast
sechzig Jahre umfassenden Werk als Ausnahmeerscheinung in der Kunstgeschichte
des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit Beginn ihrer Rezeption in den 50er Jahren wird ihr
die Rolle der Einzelgängerin am Rande des sogenannten Mainstream der
zeitgenössischen Kunst zugewiesen. Mit zunehmender Bekanntheit in den 80er Jahren
ist es dann die geradezu pathologische Abarbeitung an den eigenen
Kindheitsneurosen, die der Künstlerin als unerschöpfliche Inspirationsquelle unterstellt
und als Begründung für ihre vermeintliche Isolation und ihre unbequeme Haltung
gegenüber dem Kunstmarkt verantwortlich gemacht wird.
ABB. Ich habe zur Einstimmung das hintergründige Porträt von Robert Mapplethorpe
aus dem Jahr 1982 gewählt, weil es diese Einschätzung auf wunderbare Weise
konterkariert. Als diese Fotografie entstand, erlebte Louise Bourgeois im Alter von 71
Jahren ihren künstlerischen Durchbruch in der ersten großangelegten Retrospektive
am Museum of Modern Art. Da war sie bereits eine bekannte und mitunter gefürchtete
Größe in der amerikanischen Kunstszene!
Umso erstaunlicher ist es, dass sich bis heute der Mythos gehalten hat, Louise
Bourgeois sei eine in ihre Neurosen verliebte Außenseiterin. Ich zitiere aus dem FAZ
Magazin vom 17. Januar 1997, überschrieben mit dem Titel "Die Kunst als Fest der
gequälten Seele":
"Indirekt bestimmt die Kindheitserfahrung ihr gesamtes Oeuvre. Der Schmerz
hat nicht nachgelassen, die Narben wollen nicht verheilen. Was ihr aber Pein
im Leben verursacht, ist für ihre Kunst ein Segen. [...] Sie steckt voller ungelöster Probleme und dringender Geschichten, ist also gezwungen, ob mit oder
ohne Publikumserfolg zu Werke zu gehen. Jeden Morgen eilt sie ins Atelier,
um ihre Verletzungen zu pflegen, um ihre Seelenqual zu lindern, um die
Angst, die nicht zu bannen ist, zumindest verstehen und ertragen zu können."
Wenn diese Sätze überhaupt etwas über Bourgeois' Kunst aussagen, dann, dass ihre
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Arbeiten anscheinend persönlicher, intimer Natur sind. So, als ob diese Künstlerin, die
1938 nach ihrer Ausbildung an den Pariser Akademien der Ecole des Beaux Arts und
anderen renommierten Kunsthochschulen (Académie Ranson, der Académie Julian,
Académie de la Grande Chaumière) mit 27 Jahren von Paris nach New York übersiedelte, "unbefleckt" von den künstlerischen Entwicklungen ihrer Zeit arbeiten würde.
In den 40er Jahren orientierte sie sich deutlich am Kubismus, besonders an ihrem
Lehrer Fernand Léger, und stand in Kontakt mit den Surrealisten. Dass ihre künstlerische Orientierung sehr vielseitig war, hat sie selbst immer wieder betont und nennt
neben Léger Othon Friesz, Paul Colin, Michèle Leiris und André Breton. Diesem lebhaften Austausch mit anderen Künstlern und Intellektuellen werden beharrlich Argumente entgegengehalten, die die Künstlerin selbst in Umlauf setzt. Ich zitiere erneut
aus dem FAZ Magazin:
"Eine Langstreckenläuferin hat sich Bourgeois genannt, und das ist sie und
eine einsame dazu. [...] Keiner Gruppe schloß sie sich an, keine Kunstrichtung
war für sie die richtige, weder der Kubismus und Surrealismus ihrer Jugendjahre in Paris, noch der Abstrakte Expressionismus ihrer amerikanischen
Kollegen, noch die Pop-art samt mannigfacher Wirkung und Gegenwirkung.
Wenig beachtet stand sie im Abseits, obwohl nicht unbedingt in der Opposition."1
Warum die Künstlerin selbst dieses Klischee immer wieder aufs Neue ins Gespräch
bringt, kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. Dass es sich dabei aber um eine
stereotype Einschätzung handelt, die der künstlerischen Praxis Bourgeois' in keiner
Weise gerecht wird, läßt sich bereits am Beispiel ihrer frühen Entwicklung erkennen,
die eben nicht eine vermeintliche Isolation der Künstlerin, sondern ihre kritische und
subversive Auseinandersetzung sowohl mit der politischen Realität der Nachkriegszeit,
als auch mit ästhetischen Konventionen deutlich macht.
Louise Bourgeois und ihr Mann, der Kunsthistoriker Robert Goldwater, pflegten bereits
Ende der 30er Jahre den Kontakt zu europäischen und amerikanischen Intellektuellen,
Künstlern und Literaten, die im Apartment der Familie an der Park Avenue ein- und
ausgingen.2 Während des Krieges engagierte sich Bourgeois in politisch motivierten
1
zit.n. Jordan Mejias, "Die Kunst als Fest der gequälten Seele", in: Frankfurter Allgemeine Magazin, S. 8-14.)
2
Vgl. Kuspit (1988) S. 81 und Wye (1982) S. 106, 107.
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Ausstellungen für die Alliierten.3 Im Juni 1945 organisierte sie in der Norlyst Gallery
selbst eine Ausstellung über die französische Untergrundbewegung in Kunst und
Literatur. Ihre erste Einzelausstellung mit Gemälden zeigte sie bereits 1945 in der New
Yorker Berta Schaefer Gallery, der 1947 bei Norlyst eine weitere folgte. 1949 und 1950
trat sie erstmals mit eigenen Skulpturenausstellungen in der New Yorker Galerie
Peridot an die Öffentlichkeit. (ABB.)
Mit ihren frühen Personnages übernahm Bourgeois auf dem Gebiet der Assemblage
eine wegweisende Rolle in der amerikanischen Bildhauerei, als die führenden Vertreter
der New York School (Herbert Ferber, Seymour Lipton ABB: "Moloch", "Cloak",
David Hare, David Smith, u.a.) mit Techniken der direkten Metallverarbeitung
experimentierten. Dass Bourgeois nicht die einzige Künstlerin war, die sich mit der
Entwicklung der Personnages-Ästhetik befasste, zeigt das umfangreiche Werk Louise
Nevelsons (ABB.)
Dabei war sich die Künstlerin der aktuellen Entwicklungen in der Kunstszene New
Yorks natürlich bewusst und sie beteiligte sich engagiert an der kritischen
Bestandsaufnahme zur Situation der amerikanischen Avantgarde und ihren Zielen.
ABB: Rauschenberg/Bourgeois. Im Herbst 1948 hatten die Maler William Baziotes,
Robert Motherwell, Mark Rothko und der Bildhauer David Hare im New Yorker Stadtteil
Greenwich Village die Artist's School gegründet mit der Absicht, ein Künstlerforum zu
schaffen, das durch offene Vorlesungen über Malerei, Skulptur, Literatur, Musik,
Philosophie und Psychologie ein breites Erfahrungsangebot liefern sollte. Diese, später
legendären Freitagabendvorlesungen waren darauf ausgerichtet, Gemeinsamkeiten
einer authentischen, ursprünglichen Bildsprache zu finden, und zwar in Form einer
eigenständigen, amerikanischen Kunst. Das alles geschah vor dem Hintergrund der
etablierten Kunstszene, in der immer noch europäische Kunst den status quo
bestimmte.
Diesen künstlerischen Initiativen lagen gleichzeitig handfeste politische und
gesellschaftliche Veränderungen zugrunde, die zum einen auf die atomare Bedrohung
und die Folgen des Kalten Krieges zurückzuführen waren und zum anderen aus der
reaktionären Politik der Republikaner resultierten, gefolgt von Senator McCarthys
Kampfansage an den Kommunismus. Im Zuge der Prozesse gegen unamerikanische
Umtriebe und des damit verbundenen Terrors gegen Künstler und Intellektuelle spitzte
sich die Lage der politischen Linken immer weiter zu. Louise Bourgeois gehörte selbst
3
"It was divided into sections on the secret anti-Nazi press, on art, poetry, and so on. It had posters and
photographs, works by Bonnard and Picasso, poems, by Aragon and Pierre Seghers, texts by Gide,Triolet, and
Getrude Stein
a great many things. And in this case Duchamp was actually very helpful to me." Bourgeois zit.
n. Storr (1990) S. 100.
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zum Kreis derer, die verhört wurden – gemeinsam mit Marcel Duchamp und Amedée
Ozentfant.
I.
Vor dem Hintergrund ihres gesellschafts- und kunstpolitischen Engagements
überrascht es nicht, dass Bourgeois Anfang der 70er Jahre lebhaften Anteil an der
Diskussion um Frauenrechte nimmt. 1972 war sie bei der Gruppenausstellung des
Women's Ad Hoc Committee, »13 Women Artists«, vertreten und bis Ende der 70er
Jahre immer wieder an Demonstrationen, Wohltätigkeitsveranstaltungen,
Diskussionsrunden und Ausstellungen beteiligt, die sich mit feministischen Fragen
auseinandersetzten. (ABB. Gruppenfoto mit Hannah Wilke, Ana Mendieta et al.)
Dabei möchte ich klarstellen, dass die sogenannte feministische Bewegung in der
Kunst auch zur Zeit ihrer Entstehung keine einheitliche Richtung vertrat, sondern von
verschiedenen Gruppen von Künstlerinnen getragen wurde, die sich auf sehr kontroverse und durchaus widersprüchliche Weise mit kulturellen und politischen Problembereichen auseinandersetzten. Ihr Aktivismus führte zwar zu gemeinsamen Aktionen,
war jedoch auch immer von der Debatte darüber beherrscht, was unter Feminismus
überhaupt zu verstehen sei und welche Ziele verfolgt werden sollten.
Louise Bourgeois ist unter diesen Voraussetzungen als eine Künstlerin zu sehen, die
sich schon immer mit den Fragestellungen beschäftigt hatte, die nun im Brennpunkt
der Diskussion standen. Ihr Engagement für die Rechte von Frauen war ein zentrales
Anliegen, das sich bereits von Anfang an in ihrer künstlerischen Arbeit äußerte.
Seit den 40er Jahren thematisiert Bourgeois in ihren Werken »frauenspezifische«
Erfahrungen wie Geburt, Schwangerschaft oder Prostitution, und stellt die Beschäftigung mit dem Körper in seinen vielfältigen 'weiblichen' und 'männlichen' Aspekten in
den Mittelpunkt ihrer Arbeit. ABB: PREGNANT WOMAN (1947-49), FIGURE (19609,
FRAGILE GODDESS, FEMME PIEU (1970)
Bourgeois' künstlerischen Lösungen der 60er Jahre weisen dabei nicht nur auf die
Praktiken vieler feministischer Künstlerinnen der jüngeren Generation voraus, sondern
zeigen auch, dass sie sich in ihrer Arbeit mit ganz aktuellen Themen auseinandersetzt,
und anstelle ihrer angeblich selbstgewählten Isolation tatsächlich eine prominente
Stellung im lebhaften Umfeld der New Yorker Kunstszene einnimmt. Das möchte ich
an einzelnen Beispielen veranschaulichen.
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II.
Bourgeois greift in ihren Werken seit den 60er Jahren tabuisierte Themen und Motive
auf, die sich mit den verworfenen Aspekten des Körpers beschäftigen. (ABB.) "LE
REGARD" (1966), "DOUBLE NEGATIVE (1963)", "SOFT LANDSCAPE" (1963) .
Diese hybriden und biomorphen Objekte sind voller Anspielungen auf Körperteile und öffnungen, genitale oder fäkale Formen. Die Künstlerin geht in diesen Latex- und
Gipsskulpturen jedoch nicht nur auf visueller Ebene sehr unorthodox mit bildhauerischen Konventionen um, sondern spielt mit den Erwartungen ihres Publikums, indem
sie mit dem Verlangen nach Berührung gleichzeitig den Abscheu vor diesen organischen und eingeweideähnlichen Formen herausfordert.
Ein weiterer Aspekt, der in Bourgeois' Werken aus dieser Zeit eine zentrale Rolle
spielt, ist die Darstellung einzelner Körperteile, die aus dem Funktionszusammenhang
des Körpers herausgelöst, vervielfacht oder metamorphisiert werden. So findet sich in
Bourgeois' JANUS FLEURI (1968), Bronze (25,7 x 31,8 x 21,2 cm) das Motiv einer,
von brust- oder hodenähnlichen Gebilden eingerahmten Vulva, wobei die Ambiguität
der dargestellten Glieder von entscheidender Bedeutung ist. Die Skulptur impliziert
bereits im Titel (JANUS FLEURI = frz.: blühender Janus) eine Mehrdeutigkeit, die auf
die Nähe des Objekts zu pflanzlichen Formen und die damit verbundene Analogie
Vagina = Blüte/Blume verweist. Zugleich unterstreicht sie mit dieser Bezeichnung seine
janusköpfige Gestalt und damit die Ambivalenz seiner Erscheinung. Die Skulptur weckt
vor allem deshalb die verschiedensten Assoziationen, weil es sich um die Darstellung
vom körperlichen Kontext losgelöster, miteinander verwachsener weiblicher und
männlicher Genitalien handelt, die auf diese Weise von ihrem konventionellen
Bedeutungszusammenhang als Geschlechtsmerkmale isoliert werden. Diese
Vielschichtigkeit wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass das Objekt frei im Raum
installiert ist. Die Künstlerin differenziert seine Wirkung in ihrem Kommentar zur ersten
Veröffentlichung der Arbeit im Jahre 1969, wenn sie schreibt:
Es hängt, es besitzt einfache Konturen, ist aber schwer faßbar und ambivalent in seiner Bedeutung. Da es an einem einzigen Punkt in Augenhöhe
aufgehängt ist, kann es sich drehen und schwingen, [...]
Es ist symmetrisch, wie der menschliche Körper, und es hat die Größe
der verschiedenen Körperteile, auf die es sich vielleicht bezieht: eine
doppelgesichtige Maske, zwei Brüste, zwei Knie [...].4
Den assoziierten Körperteilen kommt demnach eine gewisse Beliebigkeit zu, die von
4
Louise Bourgeois, Art Now, (Sept. 1969) o.S.
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der Phantasie der Betrachter abhängig ist.
Bourgeois arbeitet hier mit amorphen Formen und aufgebrochenen Oberflächen, um
sich über körperliche wie ästhetische Konventionen und Tabuzonen gleichermaßen
hinwegzusetzen.5 Die aus der Mitte von JANUS FLEURI hervortretenden schamlippenartigen Falten, die sich von oben betrachtet ineinanderschieben und aus der Vorderansicht an eine vergrößerte, aus sich heraus wuchernde Schamöffnung erinnern,
stellen für sich bereits eine radikale Grenzüberschreitung dar, indem sie etwas repräsentieren, das als nicht-repräsentierbar gilt: Das weibliche Geschlecht, das allenfalls
als 'Mangel', nicht aber in seiner fleischlichen Materialität abbildbar ist.
Ein anderes Werk, bei dem Bourgeois vergleichbare Mittel einsetzt, ist LA FILLETTE
(1968), 59,7 x 26,6 x 19,5 cm, ein überdimensionaler Latex-Phallus, dessen Spitze
von einer Drahtschlinge durchbohrt wird und so an der Decke befestigt ist, dass die
kugelförmigen Hoden über den Köpfen der Betrachter hängen.6 Eine ledrige, dunkelbraune Latexhaut überzieht seine Form und erweckt den Eindruck alternden männlichen Fleisches, das nicht nur abstoßend und beunruhigend wirkt, weil es im Zerfall
begriffen scheint, sondern weil es sich aus dieser Perspektive wie ein, oder genauer
gesagt: wie das abgetrennte Geschlechtsteil darstellt, dessen abschreckender Anblick
Kastrationsängste heraufbeschwört.
Die Künstlerin bricht hier nicht nur ästhetische Tabus, indem sie die empfindlichsten
Teile des männlichen Geschlechts und die des weiblichen überhaupt zu sehen gibt,
sondern auch dadurch, dass sie diese zur Befestigung mit einer Drahtschlinge durchbohrt, um so auf den Objektcharakter des Körpers und seine Verletzlichkeit anzuspielen.
Diese biomorphen Objekte der 60er Jahre gaben Anlaß für gleichsam wohlwollende
und marginalisierende Ausstellungs- und Werkbesprechungen, in denen Bourgeois'
Sonderstellung dadurch gerechtfertigt wird, dass es unmöglich sei, diese Plastiken in
einen stilistischen Zusammenhang mit ihren Zeitgenossen zu stellen. Beispielsweise
zu den Pop Art-Künstlern oder den Vertretern der Minimal Art.
ABB: "LE REGARD" (1966)
5
Ein Anspruch, den sicherlich auch Bellmer
besonders in seinen Buchillustrationen und Fotografien
geltend
macht, während er im plastischen Bereich die glatte, ästhetische Schale des weiblichen Körpers nicht verletzt.
6
Ich beziehe mich dabei auf die aktuelle Hängung des Objekts in den Ausstellungsräumen des Museum of Modern Art
in New York.
6
7
So spricht der Kritiker Daniel Robbins in seinem ausführlichen Artikel zur BourgeoisAusstellung in der Stable Gallery 1964 von ihrer "beständigen und unversöhnlichen
Eigenartigkeit"7 und kommt zu dem Schluß, dass "die formale Unabhängigkeit der
Arbeiten und die noch schwierigere Frage nach ihrem genauen Bezug zur Kunst in der
Mitte dieses Jahrhunderts ein künstlerisches und historisches Rätsel darstellen."8
Der Kunsthistoriker William Rubin zog Bourgeois' biomorphe Gebilde dazu heran, die
hierarchischen Unterschiede in der amerikanischen Malerei und Bildhauerei zu benennen und in der Schwäche der Nachkriegsskulptur die Gründe für Bourgeois' Erfolg
zu finden9:
"die Tatsache, dass überragende Meister, wie [Jackson] Pollock in der
Geschichte der Nachkriegsskulptur praktisch fehlten, hat authentische und intime
Künstler, wie Miss Bourgeois von jeglichem Druck befreit. In der Bildhauerei ist
es einfacher, in Randbereichen zu arbeiten, sich auf bescheidenere,
persönlichere Ideen einzulassen. Ihre Bescheidenheit bestand darin, dass sie die
Möglichkeiten modellierter Massen ausschöpfte. Und das in einem Moment, als
solche volumetrischen Belange längst durch die Entwicklungen der Zeit überholt
waren."10
Damit beschränkt sich Rubin in seiner Analyse nicht nur auf formale Aspekte, sondern
erfindet für Bourgeois' Arbeiten der 60er Jahre das Kriterium der "bildhauerischen
Bescheidenheit". Mit dieser Argumentation ignoriert er nicht nur die inhaltliche
Komplexität ihres Werks, sondern unterstellt ihr gleichzeitig einen konservativen Umgang mit plastischen Medien gerade dort, wo sie mit der Verfremdung traditioneller Mittel, konventioneller Sujets und Darstellungsweisen arbeitet.
Auch andere Kunstwissenschaftler, wie Albert Elsen11 schlossen sich diesen
Interpretationsansätzen an und betonten Bourgeois' "intuitiven Symbolismus", der
autobiographischer und "bescheidener" sei, als bei anderen Bildhauern. Auf diese
Weise entschärft auch er die provozierenden, unbequemen Aspekte ihrer Kunst, die
gerade in den Latex- und Gipsobjekten der 60er Jahre zum Ausdruck kommen.
7
Daniel Robbins, "Sculpture by Louise Bourgeois", in: Art International , vol. 8 (Oct., 1964) S. 29.
8
Robbins (1964) S. 31. Hervorhebungen meine.
9
William Rubin, "Some Reflections Prompted by the Recent Work of Louise Bourgeois", in: Art International , vol. 8
(April, 1969) S. 17.
10
Rubin (1969) S. 18. Hervorhebungen meine.
11
Albert E. Elsen, The Partial Figur in Modern Sculpture - From Rodin to 1969 [Ausst.Kat.: The Baltimore Museum of
Art (Baltimore, 1969)]
7
8
Daniel Robbins12, den ich bereits zitiert habe, stellt wiederum an diesen Arbeiten eine
Entwicklung fest, "[die] uns als unwiderstehliche und gefährliche Provokation begegnet;
sie wirft Fragen auf, die schwer zu beantworten sind."13 Dieser unwiderstehliche,
provozierende und gefährliche Effekt, der Bourgeois' Plastiken zugeschrieben wird,
scheint darauf zurückzuführen, dass die Objekte als "beunruhigend" und
"beeindruckend aber ziemlich abstoßend" erfahren werden.14
Doch diese verwirrende Wirkung bleibt bei Robbins gänzlich unreflektiert. Stattdessen bringt er die befremdlichen Veränderungen, mit denen er Bourgeois' Arbeiten
charakterisiert ("fleischig, kalkig, rund und organisch") in einer naturgeschichtlichen
Begrifflichkeit unter, die darauf angelegt ist, ihnen das Bedrohliche zu nehmen:
"Indem Bourgeois' Werk gleichzeitig Wachstum und Beständigkeit suggeriert, erscheint es der Natur näher als je zuvor [...] es beschwört eine Welt der Wälder,
Hügel, Ozeane, Höhlen herauf, und das Geräusch von Wellen mit seinem hohlen
Echo. Der Betrachter richtet den Blick auf eine kleine Öffnung und erfährt eine
Welt der unbegrenzten Perspektiven und Wahrnehmungsmöglichkeiten."15
Das direkt neben diesen Text plazierte Detailfoto einer solchen Latex-Öffnung (ABB.)
wirkt wie ein höhnischer, obszöner Kommentar auf soviel in Naturmetaphern gekleidete
Naivität. Stattdessen erscheint das, was hier durch eine Nahaufnahme in den Blick
genommen wird, nicht nur, wie Robbins vorschlägt, "wie das Innere einer Mundhöhle "
(zumal dieser die Zähne fehlen), sondern gibt sich ebenso deutlich als Darstellung
einer Vaginalöffnung zu erkennen.
So werden naheliegende Assoziationen, die den Körper und seine Öffnungen
selbst berühren, sprachlich auf geschickte Weise ihrer Obszönität beraubt. Selbst dann
noch, wenn der Autor die 'Fleischlichkeit' der Objekte vorübergehend wahrnimmt: "...in
ihrem Wachsen von innen nach außen "
das heißt, im Produktionsprozeß
"sind
die Lairs von Louise Bourgeois wie Eingeweide, viszeral. Wie lebendiges Fleisch zuckt
und wackelt der Gummi. Er wird geschnitten und zusammengeklebt, formt Kanäle,
Wellen, Sehnen und Brücken [...]."16
12
Daniel Robbins, "Sculpture by Louise Bourgeois", in: Art International , vol. 8 (Oct., 1964) S. 29-31.
13
Robbins (1964) S. 29.
14
ibid.
15
Und weiter: "[...] If one could contemplate the perfection of Earth as a geological creation from somewhere high
above the globe, seeing and sensing the internal structure that holds the crust to the core
the layers of rock
that mesh firmly below ist surface, the deep scooped depressions filled with water
then one would know and
understand these sculptures." Robbins (1964) S. 30.
16
ibid.
8
9
Die Naturmetaphorik wird hier von architektonischem Vokabular durchsetzt, das
schließlich in eine detaillierte Beschreibung der künstlerischen Verfahren mündet, die,
einem Wachstumsprozeß gleich, ohne (künstlerisches) Subjekt auszukommen scheinen. So überrascht es nicht, dass Robbins am Ende auch die Schöpfung dieser Werke
im Bereich des Mysteriösen ansiedelt:
"Wie diese zerbrechlichen Hüllen genau zu den häufig verkrampften und
komplexen inneren Organen werden, bleibt ein Geheimnis. So erstaunlich, wie
das architektonische Wunder eines Bienenstocks."17
Die Künstlerin und ihre Arbeit wird somit selbst zur 'Natur' (wie eine Biene im Bienenstock eben) und jeder Anspruch auf eine bewußte künstlerische Leistung scheint
fehl am Platz.
Dabei reflektieren Bourgeois' anti-ästhetische Abstraktionen eine Entwicklung, die sich,
unabhängig von den vorherrschenden Tendenzen zu Hard Edge und Minimal Art, auch
bei anderen plastischen Künstlerinnen und Künstlern während der 60er Jahre
abzeichnete, "...ein nicht-bildhauerischer Stil, der sowohl eine Menge mit Urformen zu
tun hat, als auch mit dem Surrealismus." So die Kunstkritikerin Lucy Lippard, die dafür
den Begriff der »Eccentric Abstraction« prägte und ihn zum Titel ihrer wegweisenden
Ausstellung machte, die sie 1966 für die Fischbach Gallery in New York
zusammengestellt und organisiert hatte.
[...] Exzentrische Abstraktion hat wenig gemeinsam mit der Bildhauerei der
50er Jahre, da sie sich selten mit Raumerfahrung auseinandersetzt, noch
mit Assemblage, in der erkennbare Objekte verarbeitet wurden, und die
gewöhnlich klein im Format war und additive Techniken bevorzugte.
Tatsächlich steht der Begriff des Exzentrischen der abstrakten Malerei
näher als jeder plastischen Form..18
Was Lippard damit meinte, äußerte sich in den Arbeiten so verschiedener Künstlerinnen und Künstler, wie Linda Benglis (ABB. "Modern Art No.1" 1970), Eva Hesse
(ABB. "Metronomic Irregularity" 1966, "Sequel" 1966), Yayoi Kusama (ABB.
"Chair" 1963), Claes Oldenburg (ABB. "Pepsi Cola Sign" 1961), und nicht zuletzt
Bourgeois (ABB. "Portrait" 1963), die ebenfalls an dieser Gruppenausstellung
17
Robbins (1964) S. 31.
18
Lucy Lippard (1966) S. 28.
9
10
beteiligt war.
Lippard zufolge hatten diese Künstler unabhängig voneinander eine Bildsprache
entwickelt, die eine assoziative, sinnliche Erfahrung vermittelt, ohne die formalen
Aspekte zu ignorieren, die im Vordergrund der aktuellen, nicht-gegenständlichen Kunst
standen. Damit unterschieden sie sich grundsätzlich von der Pop Art oder
Assemblage-Kunst.19 Die Konfrontation mit unbekannten Formen und unerwarteten
Materialien, deren Reiz und zugleich abstoßende Wirkung gerade durch ihre Nähe zu
vertrauten haptischen und visuellen Erfahrungen hervorgerufen wurde, kennzeichnete
sämtliche Plastiken dieser Ausstellung.
Welche Zusammenhänge bestehen nun zwischen diesen künstlerischen Praktiken der
Eccentric Abstraction, zu denen auch Bourgeois' Werke zählen, und den feministischen
Strategien der 60er und 70er Jahre, die sich ungefähr zur selben Zeit abzuzeichnen
begannen?
Die Forderungen der Frauenbewegung regten unter den beteiligten Künstlerinnen eine
Auseinandersetzung an, die sich auf einen 'eigenen Diskurs' und verschiedene Methoden der Selbstbefragung konzentrierte.
Auf diesen Voraussetzungen basieren die Entwicklungen der 60er und 70er Jahre, als
viele Künstlerinnen die Auseinandersetzung mit 'weiblicher' Sexualität und anderen
tabuisierten Themen forcierten. Dabei forderten sie das 'Weibliche' als das Andere für
sich ein, das
aus bekannten Gründen
in der traditionellen männlichen, weißen
Kunstgeschichte keinen Platz hatte, bzw. nur im männlichen Blick existierte. Mit
diesem Anspruch beharrten viele Feministinnen auf der gezielten Trennung der Geschlechter, die schließlich in einer Bildsprache Ausdruck finden sollte, in der die Geschlechterdifferenz per se und die damit einhergehenden unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen zum Programm gemacht wurden.
Die Praktiken, die feministische Künstlerinnen in dieser Zeit entwickelten, umfaßten den Einsatz künstlerischer Methoden, die bis dahin als sog. 'Frauenkunst'
(Handarbeiten, Kunsthandwerk, dekorative Tätigkeiten, etc.) abgewertet worden waren
und nun positiv besetzt wurden. In Anlehnung an die Strategien feministischer
Selbsterfahrungsgruppen konzentrierten sich viele Künstlerinnen auf die Erforschung
des eigenen Körpers, der eigenen Sexualität und Erotik, die in der Vaginal-Ikonogra19
Lippard verweist im Laufe ihrer Betrachtungen auf die Bedeutung der Pop Art, die zwar nicht als Voraussetzung
dieser Entwicklung zu sehen ist, und doch mit der Auseinandersetzung und Verwendung minderwertiger,
alltäglicher Materialien und Abfallprodukte die Bedingungen schuf für ein neues Verständnis gegenüber
"kunsttauglichen" Grundstoffen.
10
11
phie sogenannter central core oder cunt art20 resultierte. Sie war Ausdruck eines neuen
"weiblichen" Selbstbewußtseins, das auch die Position der Künstlerinnen stärkte. Als
prominentestes Beispiel dürfte bis heute Judy Chicagos "Dinner Party" 1979 gelten,
eine äußerst komplexe Installation, in der sämtliche sozialpolitischen und
künstlerischen Aspekte ineinandergreifen, die viele Künstlerinnen zu dieser Zeit für
sich einforderten. (ABB.)
Ihre Auseinandersetzung mit organisch-viszeralem Bildmaterial, Körper und Körpersprache fand in Formen und Materialien Ausdruck, die nicht den etablierten Bereichen
der Kunst entstammten und der Vorherrschaft der visuellen Ästhetik durch die
Einbeziehung haptischer Sinneserfahrungen begegneten. Es ist die subversive Qualität
dieser Bildsprache, die bereits zu Beginn der 70er Jahre betont wird. Denn diese
Kategorie der Kunst von Frauen ist deshalb zutiefst radikal, weil sie die Grundlagen
männlicher Dominanz aus der Position der Tiefenpsychologie angreift. Zur Debatte
steht die Furcht vor den weiblichen Genitalien, die als geheimnisvoll, versteckt, unbekannt und deshalb als bedrohlich gelten.21
Dieser Ansatz bereits von Anfang an heftig umstritten war, suchte die biologischen
Voraussetzungen für das 'Anderssein' von Frauen, die ihrerseits tabuisiert und für
männliche Zwecke mißbraucht worden waren, zur Quelle eines neuen 'weiblichen'
Selbstbewußtseins zu machen. Als besonders problematisch erwies sich dabei der
Anspruch, einer 'weiblichen' Erfahrungswelt Ausdruck zu verleihen, die von universaler
Gültigkeit sein sollte
ohne Rücksicht auf die spezifischen Lebensumstände oder
körperlichen Bedingungen von Frauen, wie Alter, Hautfarbe, Schicht, Nationalität oder
sexuelle Orientierung.
Ich möchte allerdings betonen, dass auch darin nur eine Richtung feministischer
Praxis zu sehen ist, die zwar von vielen Künstlerinnen wahrgenommen wurde, jedoch
zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Diese durchaus heterogenen Ansätze wurden allerdings von der Rezeption als solche nicht reflektiert.
Verschiedene New Yorker Künstlerinnen22, wie Louise Bourgeois, Linda Benglis,
20
Die Idee der "central core" oder "cunt art" wurden in den frühen 70er Jahren von den Künstlerinnen Miriam
Schapiro und Judy Chicago entwickelt und später auch von Kritikerinnen, wie Lucy Lippard aufgegriffen.
21
Barbara Rose, "Vaginal Iconology", in: New York Magazine, vol. 7 (Feb. 11, 1974) S. 59.
22
Ich betrachte an dieser Stelle nur die Entwicklungen in New York, da Bourgeois die Tendenzen an der Westküste
nicht unmittelbar rezipiert.
11
12
Marisol, Hannah Wilke u.a. brachten diese Tabus zur Sprache und artikulierten
gleichzeitig ihre Kritik an den Verfahren und Kategorien des herrschenden Repräsentationssystems.
Um ein Beispiel zu nennen, möchte ich Hannah Wilke (1940 - 1993) zitieren, die den
feministischen und häretischen Aspekt der 'Vaginal-Ikonographie' an ihrer Arbeit
ROSEBUD (1976) (ABB.) deutlich gemacht hat:
Meine Kunst ist etwas sehr weibliches; sie befaßt sich mit mehrschichtigen
Formen und ist organisch wie Blumen. Als ich meine hängenden LatexArbeiten entwickelte, beschloß ich Metall-Clips zu verwenden, um die
Falten zusammenzuhalten, aber auch um Härte und Sanftheit miteinander
zu verbinden. Das hat eine beunruhigende Wirkung auf manche Leute,
aber ich mag die blanke, grobe Anstößigkeit und die Tatsache, dass die
Klammern dazu da sind, diese Form herzustellen und zugleich ihre Verletzlichkeit zu offenbaren.23
Die Ambiguität dieses an der Wand in Augenhöhe installierten Latexobjekts wirkt irritierend, da es weder die Wunschvorstellungen eines männlichen Publikums befriedigt,
noch als Bestätigung »weiblicher« Identität dienen kann. Stattdessen spielt die
Künstlerin mit diesen Erwartungen, indem sie zarte »weiblich« anmutende Formen mit
mechanischen Metallelementen kombiniert. Der Reiz des Verführerischen wird dadurch
gestört, dass die Künstlerin das Objekt als gemachtes vorführt, indem die Klammern,
die ihm seine Form geben, sichtbar bleiben.
Eine solche Verunsicherung zielt nicht nur auf Bildkonventionen und etablierte
Sehweisen, sondern auf die Methoden der Darstellung, die den weiblichen Körper zum
Fetisch männlicher Schaulust machen. Wenn eine Künstlerin, wie Wilke, ein begehrtes,
fetischisiertes und zugleich gefürchtetes Objekt (bzw. Körperteil), wie die Vulva als
Konstruktion zu sehen gibt, verweist sie auf die Mechanismen des patriarchalen
Repräsentationssystems selbst, das immer wieder neue Bilder des 'Weiblichen'
konstruieren muß, um dessen Phantasma und Faszination aufrechtzuerhalten.
Zugleich stört sie damit die Entstehung voyeuristischer Lust und 'weiblicher' Identifikation — eine Wirkung, mit der sie weniger beabsichtigt Begehren als Befremden
auszulösen.
23
Hannah Wilke zit. n. Dorothea Seiberling, New York Magazine , vol. 7 (11. Feb. 1974) S. 58.
12
13
Eine weitere Künstlerin, die mit den Aspekten des Verworfenen experimentierte und
provozierte, ist die japanische Künstlerin Yayoi Kusama (*1929 in Matsumoto/Japan).
Sie kam 1957 nach New York und machte sich bald darauf als Enfant terrible der
Kunst-, Mode- und Undergroundszene einen Namen. (ABB.)
Nach ihrer ersten New Yorker Einzelausstellung mit Gemälden 1959 begann sie im
Herbst 1961 mit sogenannten accumulations zu arbeiten. (ABB.)
Haushaltsgegenstände, wie Möbel, Kleidung und Toilettenartikel, die sie auf der Straße
aufgesammelt hatte, überzog sie mit kleinen ausgestopften Stoffsäckchen, die sie
anschließend weiß oder silberfarben bemalte. Von 1964 bis '65 entwarf sie mit diesen
accumulations ganze Environments, in denen sich ihre phallischen oder pilzförmigen
Gebilde bis zur Besessenheit wiederholen. Die stoff- oder hautähnliche Oberfläche
ihrer accumulations setzt sie in sogenannten "obsessional" series ("Sex-Obsession",
"Food-Obsession", "Compulsion Furniture", "Repetitive Vision", "Macaroni Room") ein.
Dabei stellt Kusama ihre Erfahrungen mit einer »frauenspezifischen« Alltagswelt in den
Vordergrund, wenn sie Möbel, Kinderwagen, Salatschüsseln, hochhackige Schuhe und
Bratpfannen mit ihren Ausstülpungen verfremdete.
Von diesen Objekten geht eine ambivalente Wirkung aus, die gleichzeitig anzieht und abstößt, indem sie den befremdlichen Eindruck 'krankhaft' veränderter
Oberflächen erwecken. Darin sind sie Bourgeois' FINGERS (ABB.) vergleichbar. Und
wie im Falle Bourgeois' zeichnet sich auch in Kusamas Rezeption die Tendenz ab, die
krankhaften, unangenehmen oder ungehörigen Aspekte ihrer Werke dadurch zu
entschärfen, dass sie auf einen Ausdruck "elementarer Gefühle" und "unbegrenzter
Prozesse des Wachstums und der Fortpflanzung in der Natur"24 reduziert wurden.
Derartige Deutungsansätze verleugnen die Provokation oder Bedrohung, die
von dieser formzersetzenden, unaufhaltsamen Ausdehnung ausgeht. In einem
Statement, das Kusama zu ihren später entwickelten, gepunkteten Environments
abgibt, erläutert sie diesen Effekt: "[...] rote Tupfen suggerieren Flecken, wie krankhafte
Ausschläge. Diese Krankheit ist die Haltung der menschlichen Rasse gegenüber Sex,
die total krank ist. Ich verwende Spiegel, um zu zeigen, dass dieses Problem immer
weitergeht, ohne aufzuhören."25
Eine Absicht, die folglich sämtlichen dieser Praktiken Bourgeois', Wilkes und Kusamas
24
Beide zit. n. Leslie C. Jones, "Transgressive Femininity: Art and Gender in the Sixties and Seventies", in: Abject
Art (New York, 1993) S. 41.
25
Kusama zit. n. L.C. Jones (1995) S. 42.
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zugrundeliegt, besteht also darin, ihr Betrachter- oder Zuschauerpublikum zu irritieren,
und zwar durch Einbeziehung nicht vertrauter oder tabuisierter Substanzen und
Objekte, bzw. amorpher Formen, die bei allen drei Künstlerinnen ins Verhältnis zum
eigenen Körper gesetzt werden. Damit sind auch Bourgeois' Darstellungsformen als
Teil einer Entwicklung zu sehen, die im Rahmen von Happenings, Body Art und
Performances den Körper selbst in den Mittelpunkt stellt. (ABB: CONFRONTATION
COSTUME (1978) Ich zeige Ihnen dazu ein letztes Beispiel.
II.
Video und Performance Kunst erwiesen sich in den 60er und 70er Jahren als
ergiebiges Experimentierfeld, das besonders von Künstlerinnen ausgeschöpft wurde,
da es noch nicht vom männlich dominierten Kunstbetrieb eingenommen und damit
bereits mit bestimmten geschlechtsgebundenen Kriterien besetzt war.26 Den an diesen
Projekten beteiligten Künstlerinnen ging es unter anderem darum, ihr Publikum zu
schockieren und aufzurütteln, um die Grenzen der auf Kunst und Frauen projizierten
gesellschaftlichen Erwartungen (als Vermittlerinnen von Idealen und Moral)
aufzubrechen.
Der Vorteil dieser Praxis bestand vor allem in der Unmittelbarkeit der
Darstellung, das heißt in der direkten Einbeziehung der Zuschauer in die Aktionen, die
meist in einer Galerie oder im öffentlichen Raum stattfanden. Durch die Auflösung der
Distanz zwischen Werk/Künstlerin und Publikum wurde die traditionelle Auffassung von
Künstlersubjekt, Körperbildern und Werkbegriff grundsätzlich in Frage gestellt. Die
Performance bot sich dabei als grenzüberschreitendes Medium an, bestehende
Identitätskonzepte anzufechten, stereotype Rollenmuster zu parodieren und durch
direkte Konfrontation eine unmittelbare Wirkung auszulösen, der sich das Zuschauerpublikum nicht so leicht entziehen konnte. Darüber hinaus integrierten Performances
die verschiedensten künstlerischen Bereiche, wie Theater, Musik, Tanz, Video, Malerei
und Skulptur in einer einzigen Präsentation. Sie erweiterten die Kunst jenseits
musealer Bedingungen und äußerten sich in einer Form, die nicht länger als Ware oder
Sammlerobjekt verfügbar war.
26
Eines der ersten Projekte war WOMANHOUSE (1972), ein gemeinschaftlich konzipiertes Environment von 21
Studentinnen des Feminist Art Program am California Institute of the Arts unter der Leitung von Judy Chicago und
Miriam Shapiro. Siehe dazu: Arlene Raven, "Womanhouse", in: Broude/Garrard (Hg.) The Power of Feminist Art
(New York, 1994) S. 48-65.
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(ABB.) Louise Bourgeois' erste Performance fand am 21.Oktober 1978 in der New
Yorker Hamilton Gallery of Contemporary Art statt und wurde mit dem Titel »A Banquet
/ A Fashion Show of Body Parts«, also als Modenschau der Körperteile, angekündigt.
Die dazu verschickte Einladungskarte trug den Hinweis: "Wear Your Uniform (Tragen
Sie Ihre Uniform)".
Mittelpunkt dieser Veranstaltung war Bourgeois' Installation CONFRONTATION
— eine 11,3 x 6,10 m große ovale Anordnung offener Kästen, die aufrecht
nebeneinandergestellt waren und eine Art Arena bildeten. Inmitten dieses 'Theaters'
befand sich eine lange, stoffbedeckte Tafel, auf der verschiedene Latexobjekte
angeordnet waren. Bourgeois selbst liefert eine detaillierte Beschreibung dieses
Arrangements:
The Confrontation zeigt einen langen Tisch, umgeben von einem Oval aus
Holzkisten, die tatsächlich Särge darstellen. Der Tisch ist eine Bahre, die
zum Transport von Toten oder Verwundeten dient. Eine Person oder Figur
befindet sich auf der einen Seite, eine auf der anderen.27
Die beiden angesprochenen 'Figuren' erscheinen auf der Tragbahre nicht als Körperbilder, sondern werden durch weibliche und männliche Attribute repräsentiert. In der
Mitte des Tisches sind die eingefallenen Wölbungen eines überdimensionierten Hodenpaares erkennbar, während sich zwischen ihnen ein verhältnismäßig kleiner,
phallischer Fortsatz aufrichtet. Diese Form, die von der Künstlerin als "old creature"
bezeichnet wird, findet ihre Ergänzung in einer von unzähligen Höckern übersähten
Latexhaut, die über die linke Tischhälfte gespannt ist und ebenso faltig und in sich
zusammengefallen erscheint wie das Modell des männlichen Geschlechtsteils. Die
rechte Tischhälfte wird von ähnlichen Höckern bedeckt, die jedoch prall aufgerichtet
nebeneinander gruppiert sind und eine glänzende, glatte Oberfläche besitzen.
Bourgeois zufolge repräsentieren diese, über einer hellblauen Stoffdrapierung
ausgebreiteten Ausstülpungen eine junge Person. Sie macht allerdings keine Aussagen darüber, ob es sich im einen oder anderen Fall um eine weibliche oder männliche Figur handelt. Vielmehr scheinen die dargestellten Geschlechtsattribute miteinander zu verschmelzen, ohne auf einen Körper und damit auf eine bestimmte sexuelle Identität zu verweisen.
27
Bourgeis zit. n. Meyer-Thoss (1992) S. 153.
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An der Performance selbst beteiligte Bourgeois namhafte Vertreter der New Yorker
Kunstszene. (ABB.) Ich zitiere Bourgeois:
Kritiker, Sammler und große Kunsthändler, sie alle wurden eingeladen, an
der Performance teilzunehmen [...] Die Museumsleute und die Kritiker
waren alle erschienen, sie saßen in ihren Särgen, ohne es zu wissen.28
Den Ablauf der Performance beschreibt der Kunstkritiker Paul Gardner als "ein wildes,
surreales Ereignis, ein Theater des Lächerlichen, bei dem sich Punk-Models in Szene
setzten [...] die sich, spärlich in eng anliegendes Latex gehüllt, gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen und sich in der Öffentlichkeit mit enormen Geschlechtsteilen präsentierten (entworfen von Bourgeois, die während der ganzen Zeit unanständig grinste). Dann kehrte Stille ein, während eine rothaarige Punkerin namens
Suzan Cooper
Stern
ein Geschöpf mit blutroten Fingernägeln wie von einem anderen
einen Gesang über ihre 'Einsamkeit' anstimmte. Das Publikum
Kritiker, Kuratoren und ein paar Neugierige
Sammler,
kauerten unterdessen in ihren hölzernen
29
'Särgen'."
Bourgeois arbeitet in ihrer Performance folglich auf mehreren Ebenen. Zum einen
thematisiert sie mit der Installation CONFRONTATION erneut eine Verschiebung und
Verwirrung von Geschlechterdefinitionen und parodiert damit das 'uralte Drama' von
Liebe, Leidenschaft und Tod, wie sie es selbst formuliert.30 Zum anderen bringt sie die
Vertreter der etablierten New Yorker Kunstszene dazu, in ihren eigenen Särgen Platz
zu nehmen, und verspottet so unter Einbeziehung autoritätskritischer Ausdrucksformen
wie Punk31, die Machthaber eines Systems, mit dessen diskriminierenden
Ausschlußverfahren sie selbst durchaus konfrontiert war. Eine Aufnahme, die während
der Aktion entstand, zeigt die Künstlerin als amüsierte Zuschauerin beim Auftritt des
bekannten Kunstkritikers Gert Schiff, der sich, in eines der Confrontation-Kostüme
28
Bourgeois zit. n. Meyer-Thoss (1992) S. 126.
29
Paul Gardner, "The Discreet Charm of Louise Bourgeois", in: ARTnews (Feb. 1980) S. 82.
30
"You see that many of the forms are full and firm, to present a young person. Another one was shriveled up and
very old. So we have the passion between young and old. I was brought up on the fact that the ransom of any
great passion is death." Bourgeois zit. n. Meyer-Thoss (1992) S. 124.
31
Bourgeois is fascinated by 'punk' — the playfully aggressive style in fashion and music that mercilessly parodies
the bland '50s, with excessively cropped hair, harsh make-up and an 'Elvis attitude' of phony-tough switchblade
glamour." Paul Gardner (1980) S. 82. "Punks are rude, loud, outrageous and anti-taste (...) They have contempt
for authority. They are nice. They are also totally ignorant, which is something refreshing." Bourgeois zit. n. Paul
Gardner (1980) S. 82.
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gekleidet, seinen Zuschauern präsentiert.32 (ABB.)
Auch hier ist es die Wechselwirkung zwischen den Objekten der Installation, bzw. den
Kostümen und den Ausführenden, die das Spiel mit Geschlechtsidentitäten in Bewegung bringt. Ich zitiere wieder Bourgeois:
(ABB.) Bei THE CONFRONTATION waren die Mitwirkenden Laien; erst
durch die starke emotionale Wirkung, die meine Objekte ihnen verliehen,
wurden sie zu Schauspielern. Ihr Auftreten hat eher mit Selbstdarstellung
zu tun als mit Schauspielerei. Es gab kein richtiges Script. [...] Diese Frau
war ein Playboy bunny, aber sie schämte sich deswegen
sie hatte in
Kunstgeschichte promoviert. Sie spielte gern Doppelrollen. [...] Dieser alter
Herr kam in Lackpumps, und wie Sie sehen, gefällt er sich sehr darin. Ich
habe ihn mit dem Kostüm einer schwangeren Frau ausgestattet, und das
war für ihn ausgesprochen angenehm..."33
Bourgeois bietet mit ihrer Installation einen 'Laufsteg' an, auf dem sich die Akteure in
ihren verschiedenen sexuellen Rollen präsentieren und diese parodieren — nicht umsonst stülpt sie der 'Vaterfigur' das Kostüm eines weiblichen, schwangeren Körpers
über, um so seine phallische Macht der Lächerlichkeit preiszugeben.
Diese Parodierung der väterlichen Autorität ist bei Bourgeois immer auch eine
Parodie auf das auf Oppositionen basierende System der Geschlechtsidentitäten, in
dem alles Nicht-Männliche das 'Andere' ist, gebunden an einen Körper, dessen
'Mängel' für die Unzulänglichkeiten seines 'Andersseins' (also seine »Weiblichkeit«)
verantwortlich sind.
Bourgeois' Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren erweisen sich damit nicht
ihre Kritiker behaupteten
wie
als Ausdruck einer bodenständigen, vermeintlich
"natürlichen" Sexualität. Oder gar im Sinne ihrer eigenen psychobiographischen
Deutungsansätze als Bewältigungen eines von Kindheitsneurosen geprägten Künstlerinnendaseins.
Vielmehr zeigt sich im Kontext der radikalen, systemkritischen Forderungen und
32
Bourgeois' Kommentar läßt über ihre Absichten keine Zweifel aufkommen:"Look at my face in this photograph, you
see how pleased I am. This occurred when Gert Schiff appeared in the splendor of his costume. I managed to
make the older man look like a fool. The point was to make the father look ridiculous. That was the purpose and
that was the accomplishment." Zit. n. Meyer-Thoss (1992) S. 126.
33
Bourgeois, zit. n. Meyer-Thoss (1992) S. 124.
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plastischen Lösungen, mit denen viele feministische Künstlerinnen in diesen Jahren an
die Öffentlichkeit kamen, dass Bourgeois diese Entwicklung bereits in früheren
Arbeiten vorbereitet hat, um sich später noch engagierter mit den aktuellen Tendenzen
auseinanderzusetzen.
Dass es auch Bourgeois bei ihrer Performance nicht um Verkleidungen, sondern um
den parodistischen Umgang mit dem Körper selbst (als Träger identitätsstiftender
Bedeutungen) geht, wurde durch ihre Konzentration auf Körperfragmente und Geschlechtsteile sichtbar, die bei ihr immer vieldeutig sind. Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht meines Erachtens die Infragestellung einer gesellschaftlichen Praxis,
die das Individuum über sein Geschlecht definiert, es als männlich, weiß und heterosexuell voraussetzt, und jede Abweichung von der Norm bestraft. Die Künstlerin
formuliert in ihren Werken jedoch keine neuen Möglichkeiten »weiblicher« Identität,
sondern fordert die Aufhebung und Verschiebung der patriarchalen, binären Geschlechtermodelle zugunsten einer Wahrnehmung des Subjekts, das in einem vielseitig sexuellen Körper aufgehoben ist. Bei Bourgeois' Körperbildern handelt es sich
folglich nicht um utopische, sondern um dekonstruktive Entwürfe, die sich einer
simplifizierenden Be-Deutung entziehen und damit offen bleiben.
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