Guus Kuijer – Schriftsteller und Empfänger des Astrid
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Guus Kuijer – Schriftsteller und Empfänger des Astrid
Guus Kuijer – Schriftsteller und Empfänger des Astrid-LindgrenGedächtnis-Preises für Literatur 2012 Mit vorurteilsfreiem Blick und intellektueller Schärfe beschreibt Guus Kuijer sowohl gesellschaftliche Probleme als auch große Lebensfragen. In seinen Büchern ist der Respekt vor Kindern genauso selbstverständlich wie die Ablehnung von Intoleranz und Unterdrückung. Kuijer verbindet eine tiefe Ernsthaftigkeit mit messerscharfem Realismus, mit Wärme, präzisem Humor und visionären Fantasien. Sein einfacher, klarer und akribischer Stil lässt dennoch Raum für philosophische Tiefsinnigkeit und federleichte Poesie. Begründung der Jury Im Jahr 1942 geboren wuchs Guus Kuijer in einem streng religiösen Elternhaus in Amsterdam auf. Zur Schule ging er selbst nicht so gern, entschloss sich dennoch für die Laufbahn eines Grundschullehrers. In diesem Beruf war er bis zum Erscheinen seines ersten Romans (1973) sechs Jahre lang tätig. Dann entschied er sich hauptberuflich für die Schriftstellerei. Zwei Jahre später debütierte er als Kinder- und Jugendbuchautor mit Met de poppen gooien. Insgesamt veröffentlichte Guus Kuijer rund 30 Kinder- und Jugendbücher. Die meisten richten sich an Leser im jüngeren Teenager-Alter. Viele seiner Bücher wurden verfilmt oder dramatisiert. Guus Kuijer trat schon frühzeitig aktiv in der gesellschaftlichen Debatte hervor. Anfang der 1980er Jahre gab er eine Essaysammlung heraus, die sich mit der Sicht auf das Kind beschäftigte: Het geminachte kind. In den letzten Jahren widmete er sich in mehreren Veröffentlichungen den Themen Intoleranz und Fanatismus – brennenden und hochaktuellen Fragen der heutigen niederländischen Gesellschaft. Seine schriftstellerische Tätigkeit zeichnet sich maßgeblich durch den Respekt vor dem Kind als Individuum aus. Er spricht zu Kindern mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Offenheit wie zu Erwachsenen und schreckt auch vor schwierigen Themenstellungen nicht zurück. Wie ein roter Faden ziehen sich Toleranz, Verständnis und Weitblick durch sein Werk. Sein Engagement umfasst gleichermaßen soziale und religiöse Fragen. Guus Kuijer distanziert sich stark von religiösem Dogmatismus. Zugleich ist er offen für private grenzüberschreitende und existenzielle Erfahrungen. Die von ihm geschaffenen Figuren tauchen häufig in Fantasiewelten ein, die von ihm mit der gleichen Glaubwürdigkeit wie die Wirklichkeit gestaltet werden. Guus Kuijer vereint Offenheit mit intellektueller Schärfe und einem großen Verständnis für die Bedeutung von Fantasie. Bereits in seinem Frühwerk Met de poppen gooien ist bereits vieles von dem angelegt, was sein späteres schriftstellerisches Werk auszeichnet: eine starke und selbstbewusste weibliche Hauptperson sowie ein scharfer Blick für soziale Belange. Dieses Buch erschien als erstes in einer Reihe von fünf Büchern mit der neunjährigen Madelief als Protagonistin. Die Bücher erschienen zwischen 1975 und 1979. Besondere Aufmerksamkeit erregte das vierte Buch dieser Reihe Krassen in het tafelblad (dt. Erzähl mir von Oma), in dem Madelief herauszufinden versucht, warum niemand ihre verstorbene Großmutter mochte. Dabei formt sich das Bild einer Frau, die sich nicht in Konventionen und die traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter schickte. Die Bücher mit Madelief waren sehr erfolgreich. Um die darauf folgende Satire Hoe Mieke Mom haar maffe moeder vindt (1978) entspann sich eine recht hitzig geführte Debatte. Mieke Mom ist ein gänzlich unkonventionelles Kinderbuch, durch das sich viele Menschen provoziert fühlten. Dies lag nicht nur am teilweise absurden Stil dieses Buchs, sondern vor allem an der schonungslosen Kritik der Erwachsenen und ihrem Verhalten gegenüber Kindern. Seinen großen Durchbruch erzielte Guus Kuijer mit seinen fünf Büchern um Polleke, die zwischen 1999 und 2001 herausgegeben wurden. Im ersten Band dieser Reihe Voor altijd samen, amen (dt. Wir alle für immer zusammen) spricht die elfjährige Hauptperson zu uns. Gleichzeitig breitet Guus Kuijer das gesellschaftliche Tableau vor uns aus: angefangen von den Herausforderungen der modernen Gesellschaft über ethnische Gegensätze, Drogensucht und neue Familienkonstellationen. Dies spiegelt sich alles in der Welt von Polleke wider. Guus Kuijer hebt keineswegs den moralischen Zeigefinger, sondern lässt den Leser aus der glasklaren Perspektive von Polleke die Welt betrachten. Die Polleke-Reihe richtet sich wie viele weitere Bücher von Guus Kuijer an Leser, die sich an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend befinden. In seinen Büchern werden die Hauptpersonen sowohl mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen als auch mit den großen Lebensfragen konfrontiert. In seinen Werken treten Kinder als Individuen mit eigenen Ansichten und Gedanken auf, die es wert sind, ernstgenommen zu werden. Seine letzten beiden Kinder- und Jugendbücher Het boek van alle dingen (dt. Das Buch von allen Dingen) und Florian Knol (dt. Ein himmlischer Platz) stehen in einem eher fantastischeren Kontext. Ersteres spielt im Jahr 1951. Er handelt vom neunjährigen Thomas, der genau im gleichen Jahr wie Guus Kuijer geboren wurde. Thomas wächst in einem streng religiösen Zuhause mit einem Vater auf, der Sohn und Frau misshandelt. Das Buch zeichnet sich durch eine deutliche Absage an Unterdrückung und religiösem Dogmatismus aus, aber auch durch Humor und Wärme. Selbst in dieser Erzählung über die Uneingeschränktheit von Macht herrscht ein lichter Grundton. Thomas' einziger Wunsch ist es, als Erwachsener glücklich zu sein. Er entdeckt, dass der Weg zum Glück darin besteht, keine Angst mehr zu haben. Het boek van alle dingen (dt. Das Buch von allen Dingen) ist genau wie die Polleke-Reihe stark in seiner Zeit verankert. Parallel dazu erfolgt jedoch auch eine Verwandlung der Wirklichkeit, die surrealistischen Bildern und visionären Fantasien Raum lässt. Während sich Thomas in einer Welt zwischen Realität und Imagination bewegt, ist seinem Vater die kindliche Seele gänzlich abhanden gekommen – ebenso wie die Einschätzung dessen, was richtig und falsch ist. Het boek van alle dingen handelt davon, was passiert, wenn man sich selbst und seine eigenständigen Gedanken verleugnet. Die Erzählung wird stark von Dialogen getragen. Das ist typisch für das Werk von Guus Kuijer. Dialoge dienen den nuancierten und feinfühligen Charakterschilderungen in erheblichem Maße als Stütze. Diese Mischung aus Realität und Fantasie begegnet dem Leser auch in Florian Knol (dt. Ein himmlischer Platz) wieder. Florian ist ein philosophisch veranlagter Zehnjähriger, der schon bald entdeckt, dass das, was einem selbst gänzlich normal erscheint, anderen durchaus merkwürdig vorkommen kann. Eines Tages lässt sich nämlich in seinem roten Haar ein Spatz nieder. Doch rasch zeigt sich, dass der Spatz eigentlich im roten Haar einer alten Frau sein Zuhause hat. Ziemlich schnell erkennen Florian und seine Schulkameradin Katja, dass diese Frau dement ist. Wie können sie der alten Frau helfen? Was ist eigentlich merkwürdiger? Schlüssel als Gabeln zu bezeichnen oder zum Frühstück Bier zu trinken, so wie Katjas Vater? Florian erkennt, dass bestimmte Probleme von den Erwachsenen selbst gelöst werden müssen, eine generationsübergreifende Freundschaft jedoch möglich und sogar überaus hilfreich ist. Guus Kuijer schildert stets aus der kompromisslosen Kinderperspektive heraus und vermittelt über die Hauptpersonen ein eindringliches Bild der Erwachsenenwelt. Mit Mitmenschlichkeit und Wärme, einer schnörkellosen und gleichwohl nuancierten Sprache bildet er ein facettenreiches Geschehen ab.