Tunnel oben wie unten - zu einer Sammlung von Recherchen zu

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Tunnel oben wie unten - zu einer Sammlung von Recherchen zu
Tunnel oben wie unten
zu Green/Reed: Der Dritte Mann
von
Marco Han…
© www.peroma.de
Juni 2006
© Marco Han… | www.peroma.de | Tunnel; Der dritte Mann
Inhalt
V O R W EG ............................................................................................. 3
V O R G EH EN S W EI S E ................................................................................. 3
K U R Z B E SC H R E I B U N G „D ER D R I T T E M A N N “ ................................................. 4
Handelnde/Schauspieler, Set:
4
Plot
4
Machart
5
Drehort
5
U N T ER WE L T
UND
O B ER WE L T ................................................................... 6
Kanalisation
6
Das oberirdische Wien
7
K U R I O SI T Ä T E N
AM
R A N D E ....................................................................... 8
Namen der Protagonisten
8
Hansi
9
T U N N EL , K A N Ä L E , E N G PÄ S SE .................................................................. 9
Intro-Versionen
9
Torbögen
10
Fenster
12
Gänge
13
Licht und Schatten
15
H A R R Y L I M E ....................................................................................... 16
Kanalisation
16
Z U SA M M EN F Ü H R U N G ............................................................................ 18
Q U EL L EN
UND
V ER W EI S E ...................................................................... 19
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VorWeg
„Der dritte Mann“ von Graham Green und Carol Reed ist Gegenstand der folgenden interpretierenden
Betrachtung. Längst nicht jede intendierte Absicht des Autors und des Produzenten können tatsächlich
nachvollzogen werden. Andererseits gibt dieser Film aus dem Jahr 1950 – wie auch viele andere – viel
Spielraum für Auslegungen, an die die beiden möglicherweise nicht einmal ansatzweise dachten.
Auf den folgenden Seiten werden Möglichkeiten betrachtet, unabhängig von der Diskussion, wie viel
Doppel- oder Mehrfachdeutigkeit Autor und Produzent beabsichtigten. Sicherlich werden dabei längst nicht
alle Möglichkeiten zur Sprache kommen, nicht einmal innerhalb der Einschränkung auf Tunnel, Kanäle und
Engpässe.
Denkbar ist durchaus auch eine gewisse – vielleicht ironisch gemeinte – Verspieltheit in der
Verwendung von Symbolik, Andeutung und Referenz; Anspielungen auf Sichtweisen, die vielmehr aus
allgemein üblichen Vorstellungen resultieren und eher durch ihre weite Verbreitung, ihr häufiges
Aufkommen eine gewisse Tatsächlichkeit erlangen, ohne jedoch rational begründet werden zu können.
In erster Linie ist „Der dritte Mann“ eine Kriminalgeschichte, die es spannend mit damaligen Mitteln
darzustellen galt. Dies haben Carol Reed und sein ausgezeichneter Kameramann Robert Krasker
umgesetzt. Dabei spielen sie vordergründig mit einfacher Symbolik à la Schwarz vs. Weiß, die zahlreichen
Schatten mögen etwaige Zwischentöne sein.
Darüber hinaus lassen sich zahlreiche Mittel, Aussagen zwischen den Zeilen, aus der Darstellung der
Ereignisse herauslesen und in Bezug zur Geschichte des Filmes setzen. Selbst diese wirken im Grunde
einfach gestrickt, ohne nachvollziehbar in die Tiefen antiker Philosophie einzusteigen. Es handelt sich
jedoch nicht um einen politischen oder grundsätzlich gesellschaftskritischen Film, so dass versteckte
Anspielungen, wie in solchen Werken üblich, hier nun wirklich nicht zu erwarten sind.
Daher bietet es sich an, in „Der dritte Mann“ nach einfachen Doppeldeutigkeiten zu suchen, die auf
allgemeingültigen Codes und Erfahrungen basieren, auf nachvollziehbaren Sichtweisen, die nicht
zwanghaft stringent sein müssen, sondern so intuitiv und – wiederum je nach Betrachter – mitunter
„unlogisch“ sein können, wie die Wege des Denkens unterschiedlicher Menschen für den einen evident, für
den anderen zu simpel, den nächsten widersinnig und für wieder einen anderen zwar klar, aber nicht den
eigenen entsprechend sein müssen.
Es geht im Folgenden um Denkwege anhand eines Filmes. Diese Denkwege liegen in den Bahnen, die
der Film zulässt, vielleicht auch anbietet, und werden gelenkt von ureigenst subjektiven Sichtweisen, die
wohl ebenso labyrinthisch verwoben sein mögen, wie die Tunnel, Hohlgassen und Kanäle im Wien Harry
Limes und Holly Martins.
Vorgehensweise
Seriöse Literatur findet sich, außer in Form von Nachschlagewerken, kaum zu „Der dritte Mann“. Die
meisten digital verfügbaren Quellen sind inhaltlich einander sehr ähnlich. Diskussionen gibt es ebenfalls
per Internet.
Um die Entstehungsumstände in die folgenden Überlegungen und deren Bewertung einzubeziehen,
sind selbstverständlich Recherchen vorangegangen. Einige Quellen sind im Anhang gelistet. Diese mittels
Fußnoten einzelnen Textteilen zuzuordnen würde jedoch nur dazu dienlich sein, eine Wissenschaftlichkeit
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vorzutäuschen, die mit dieser Arbeit nicht gegeben werden kann. Sie als tatsächlich wissenschaftlich zu
bezeichnen wäre möglicherweise vermessen, denn in diesem Falle wären Arbeiten in Archiven, anhand
von – sofern je angefertigt und auffindbar – Dreh-Protokollen und unveröffentlichten Aufnahmen
notwendig. Dies ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich – und auch nicht beabsichtigt, so dass die
folgenden Interpretationen vorrangig als Überlegungen, vielleicht Ansätze, zu werten sind – von denen
einige weit vor’m Ziel enden mögen und andere möglicherweise weit übers Ziel hinausschießen.
Auch auf mutmaßliche Referenzen zu Fritz-Lang-Filmen wird hier nicht weiter eingegangen.
Kurzbeschreibung „Der Dritte Mann“
Handelnde/Schauspieler, Set:
-
Holly Martins – (Joseph Cotton) Schriftsteller aus US, der seinen Freund Harry Lime besuchen will;
-
Harry Lime – (Orson Welles) Schmuggler, Jugendfreund von Martins;
-
Anna Schmid – (Aida Walli) – Tschechin, Freundin Lime;
-
Major Calloway – (Trevor Howard), Polizist der US-Besatzungsmacht Polizei;
-
Sergeant Paine – Gehilfe des Major Calloway – Brite; (später in James-Bond-Filmen 1962-1979);
-
Buch: Graham Green, 1949/50;
-
Direktor, Drehbuch: Carol Reed;
-
Zither-Musik: Anton Karas;
-
Kamera: Robert Krasker, (Oskar 1949/50 beste s/w-Kamera).
Plot
Das Nachkriegs-Wien ist in Zonen der Besatzungsmächte aufgeteilt. Der US-amerikanische
Groschenroman-Autor Holly Martins kommt nach Wien, auf Einladung seines einstigen Schulfreundes
Harry Lime. In Wien erfährt Martins, dass Lime bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Er beginnt
zu recherchieren; Widersprüche zwischen den Aussagen Limes Hausmeisters und mysteriöser
österreichischer Freunde Limes tun sich auf. Von dem britischen Besatzungsoffizier Calloway erfährt er,
dass Lime mit tödlich verpanschten Medikamenten gehandelt habe; es ergibt sich, dass Lime offenbar lebt
und im russischen Sektor untergetaucht sein mag. Im Zuge der Recherchen lernt Martin Anna Schmidt
kennen, eine illegal in Wien lebende Tschechin und Freundin Limes. Schmidt wird zwischen der
russischen und britischen Militärpolizei hin und her gereicht, als Druckmittel gegen sie selbst und Martin,
um Lime zu finden.
Lime nimmt Kontakt mit Martin auf; auf dem Riesenrad im Prater versucht Lime, Martin zu überzeugen,
dass der Medikamentenhandel ein legitimes Geschäft sei. Martin hilft der britischen Polizei, Lime zu
fassen. Am Ende einer Verfolgungsjagd durch die Kanalisation Wiens erschießt Martin seinen alten
Schulfreund nach dessen – möglicherweise dazu auffordernden – Kopfnicken. Wie der Film mit dem
Begräbnis des vermeintlichen Lime beginnt, endet er mit dem des tatsächlichen Lime.
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Machart
Wohl durchdacht eingesetzte Schatten, mehr ein Schwarz-Weiß als Graustufen, sind wohl eines der
wesentlichsten Merkmale des Filmes. Die meist schräg gehaltene Kamera verstärkt den Eindruck der
Orientierungslosigkeit im vom Krieg zerstörten Wien, verstärkt den verwirrenden Effekt der Ruinen: Die
Schrägen anstelle der Horizontalen und Vertikalen, die ein Stadtbild üblicherweise prägen, verstärkt diese
Kamerahaltung noch.
Die Ruinen und nur selten vollständig gezeigten Häuser, teilweise bereits schräg stehende Gebäude an
ansteigenden Straßen, von einer schrägen Kamera gefilmt, lassen den Betrachter die gewohnten Linien
einer Stadt – die normalerweise horizontal oder vertikal verlaufen, selten aber schräg – vermissen;
Schrägen, die dem Auge die üblichen Strukturen vorenthalten, stattdessen mit einer Unzahl von Winkeln
ihn allein lassen. Zugleich sagt diese Perspektive klar: Hier stimmt ’was nicht.
Die meisten Szenen sind sehr dunkel gehalten, als würde die Nacht in Wien nie enden. Diese
Dunkelheit erhöht nicht nur allein durch sich die Spannung, vielmehr ermöglicht sie den ausgiebigen
Einsatz von Schatten und Lichtkegeln, sie verändert die Wahrnehmung von Geschwindigkeiten, ermöglicht
die Fokussierung auf das gerade Wichtige.
Diese optische Unordnung repräsentiert Unberechenbarkeit, Durcheinander – sie scheint ein idealer
Raum für Verbrechen zu sein.
Innerhalb von nur fünf Wochen war der Film abgedreht worden, Orson Welles, bereits ein Star, war
nicht die gesamte Drehzeit über am Set.
Drehort
Der Plot verlangte nach einem Ort, an dem ein (nach-)kriegsbedingter Schwarzhandel stattfindet und
von wirren Zuständen profitiert. Als Nachkriegsszenerie wären allein auf dem kontinentalen Europa
mehrere Städte in Frage gekommen. Doch nur in Wien ließen sich
-
barocke Gebäude, riesige, vor allem hohe Räume und deren Ruinen, durch diese Verbindung
(Schmuck und Verfall) um so mysteriöser wirkend,
-
die Präsenz einer Militärpolizei verschiedener (Besatzungs-) Mächte,
-
der Charme des vermeintlich alt-ehrwürdigen,
-
der Widerspruch zwischen Obrigkeitsstolz und K.u.K.-„Charme“ einerseits und dem rauen
Nachkriegsleben andererseits (was ja die inneren Widersprüche der Protagonisten Holly Martin
und weniger Anna Schmidt spiegelt),
-
eine ausgedehnte katakombenartige Kloake, resp. Kanalsystem,
-
die Wienern gemeinhin zugeschriebene Gemütlichkeit im Widerspruch zur Angespanntheit der
Situation
zu einer Kulisse komponieren, die die Inhalte der Geschichte widerspiegelt.
Gedreht wurde also im besetzten Wien. Wie in Filmen üblich wurden dabei verschiedene Orte
miteinander verbunden, d.h. eine Straßenbiegung führt im Film nicht zwangsläufig dorthin, wohin sie in
der Realität führt. Darüber hinaus haben Reed und sein Team in einzelnen Bildern wohl auch
verschiedene Häuser, Straßenzüge zu einem Bild zusammenkopiert.
Die verspielten Details der Wiener Architektur geben dem filmischen Spielen mit Schatten noch mehr
Möglichkeiten, als etwa eine stärker zerstörte Stadt oder eine einfachere Architektur.
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Dieses Wien des Dritten Mannes, insbesondere die Kanalisation, wurde durch diesen Film zur bis heute
beliebten Touristen-Attraktion.
Da das Verbrechen, das Harry Lime vorgeworfen wird, eher nebensächlich ist, durchaus durch irgend
ein anderes adäquates schweres Vergehen hätte ersetzt werden oder in jede beliebige Stadt und Zeit
hätte verlagert werden können,
scheint es jedoch denkbar, dass Green bereits Wien als Ort des
Geschehens im Auge hatte, als er die Geschichte konstruierte. Demnach wäre es Green und Reed, da sie
gemeinsam am Buch arbeiteten, wichtig gewesen sein, die Situation des Nachkriegs-Wien filmisch zu
nutzen.
Unterwelt und Oberwelt
Kanalisation
Jeder größeren Stadt Europas und US-Amerikas werden labyrinthartige Katakomben unterstellt. Der
Glaube an weit verzweigte, nie vollständig kartierte bzw. dokumentierte, teilweise vergessene unterirdische
Tunnelsysteme ist weit verbreitet und dient bis heute dem Glauben an geheime Gesellschaften, die die
Geschicke dieser Welt lenkten, ohne Beteiligung der betroffenen Mehrheit, ja ohne deren Wissen.
Gefördert werden solche Mysterien sicherlich vor allem dadurch, da es sich um Räume handelt, die als
grundsätzlich nicht zugänglich gelten. Selbst wenn der Zutritt einfach möglich wäre, würden wegen der
Möglichkeit des Verlaufens, der Dunkelheit, dem gemutmaßten Dreck und unberechenbaren Wasserstand
– kurz wegen allerlei befürchteter Gefahren – wohl kaum jemand wagen, tiefer in diese Labyrinthe
vorzudringen.
Diese Unkenntnis eines vermeintlich bekannten Ortes dürfte dessen Unheimlichkeit jedoch nur
erhöhen. Er erscheint als der ideale Platz, wo Verbrechen ausgeheckt und Gesuchte versteckt werden.
Leer und ungenutzt mag sich offenbar niemand diese Kanalsysteme vorstellen, eine Nutzung nur zu ihrem
ursprünglichen Zweck wäre wahrscheinlich gar zu langweilig. Somit bleibt nur, dorthin jene zu verlagern,
von deren Existenz die Allgemeinheit zu wissen meint – Verbrecher, Illegale, die Öffentlichkeit
Scheuende – die aber niemand persönlich kennt. Daher, dass niemand diese Menschen kennt, aber wohl
die meisten von ihrer Existenz überzeugt sind, bleibt den meisten offenbar nichts anderes übrig, als sie in
eine Region zu verlagern, wohin sie selbst nie kommen. Dies erklärte ja scheinbar, warum die Guten und
die Bösen einander nie begegnen – ausgenommen im Falle des Unglück für „die Guten“. Dass „die
Bösen“ unterirdisch leben ergibt sich allein in diesem Zusammenhang daraus, dass die Masse – die sich
für „die Guten“ hält – ja oberirdisch lebt. Und da die Bösen weder weit weg sein können, aber auch nicht
unter „den Guten“, bleibt ja nichts anderes, als sie in die Welt unter dem Straßenpflaster zu verlegen. Und
da sie schon mal dort sind, lässt es sich auch einfacher auf sie herabschauen.
Dies passt auch ganz gut zu der Vorstellung, dass diese „Bösen“ außerhalb der Gesellschaften
klischeehafterweise ja überwiegend nachts, resp. im Dunkel aktiv sind.
Die Allgemeinheit sieht das Resultat von Verbrechen, selten jedoch die Verbrechen selbst. Sie sieht
den Ermordeten, aber nicht den gerade mordenden Mörder. So passt es, dem Mörder ein Heim im Dunkel
zuzuschreiben, einem Ort, an dem er nicht gesehen werden kann – ungeachtet der Tatsache, dass er dort
auch selbst nicht mehr sehen könnte, als „der Gute“.
Die Idee vom Verbrecher oder gar Geheimbund im tatsächlichen, wörtlich genommenen Untergrund,
krankt vor allem daran, dass insb. organisierte Verbrecher wohl mit dem Ziel am Werk sind, ihren
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Lebensstandard zu verbessern. Dabei denken sie sicher auch eher an eine komfortable Wohnung oder
Villa, denn an feucht-kalte Wohngemeinschaften mit Ratten.
Dass das „Böse“ seinen Wohnort überlicherweise in der Unterwelt zugeschrieben bekommt, ist auch
über religiöse und mythische Historie begründbar. Doch ist dies in diesem Zusammenhang gar nicht weiter
notwendig.
Das oberirdische Wien
Das oberirdische Wien des „dritten Mann“ ist kaum heller, kaum komfortabler als dessen Unterwelt. Ob
unterirdische Tunnel oder oberirdische Straßen – die Wege, die Zahl der Richtungen ist an beiden Orten
stark eingeschränkt. Die einzig – auch nicht gänzlich – freien Räume im Film sind der Friedhof, auf dem
anfangs der vermeintliche und am Ende der tatsächliche Harry Lime beigesetzt wird, sowie die Aussicht
vom Riesenrad des Prater.
Gassen, der die Enge betonende Widerhall von Schritten, tiefe winterlich lange Schatten, die Unruhe,
die aus den ungeordneten Linien entsteht, die die Ruinen bilden, lassen das oberirdische Wien kaum
seriöser, zuverlässiger, „besser“ wirken, als das unterirdische. Während im oberirdischen Wien einzig die
Orientierungslosigkeit dreidimensional ist – durch Schutthaufen, schrägen Kanten an halb-zerbomten
Fassaden, fassungslosen Treppen – stehen in der Unterwelt auch den Wegen drei Dimensionen zur
Verfügung: Es geht nicht nur vor, zurück, zur Seite – sondern auch nach oben und unten. Wenngleich der
Weg nach oben in letzter Konsequenz an die Pforte des oberirdischen Wien führt, von wo sich neue Wege,
Richtungen und Verstecke finden lassen.
Der Weg vom oberirdischen Wien nach oben führt dagegen nur aufs Dach des jeweiligen Hauses, von
wo der Flüchtenden zusehen muss, alsbald wieder auf den Boden zurück zu finden. Der Weg nach oben
kann nur temporär sein. Ebenso die andere Richtung der dritten Dimension, das Nachunten, führt zu
keinem akzeptablen Ort, stellt der Boden des oberirdischen Wien doch nur das Dach der Unterwelt dar.
Was also zeichnet das oberirdische Wien als den Ort des „Guten“ aus? Weder ist er heller, deutlicher,
geordneter – ja, eher sogar ungeordneter – als das unterirdische Wien, noch bietet er weniger
Möglichkeiten des Versteckens. Einzig die – im Film seltene, aber gewohnheitsmäßig anzunehmende –
Präsenz einer größeren Anzahl von Personen sowie insbesondere der Polizei macht das oberirdische
Wien zu einem Ort, in dem zumindest die Illusion von Ordnung eine Überlebenschance hat.
Davon ausgehend, dass Sicherheit als Folge von Ordnung; oder Ordnung als notwendige Grundlage
für Sicherheit angesehen wird: Dass das Vorhandensein von größeren Menschenmengen den Glauben an
das Vorhandensein von Sicherheit unterstützt, kann doch wiederum nur darin begründet sein, dass der
Einzelne den anderen eine gewisse Überwachungsfunktion zuschreibt – auf dass das Verbrechen durch
die Anwesenheit der „Guten“ rechtzeitig erkannt würde und daher gar nicht erst stattfinden könne.
Die Unterwelt Wiens mag eigentlich erheblich ordentlicher – im Sinne: übersichtlicher – sein, denn die
Richtung der Gänge ist nicht veränderbar, einzuschlagende Wege sind berechenbarer. Einzig findet hier
keine Kontrolle statt und sind diese Wege den meisten Oberirdischen völlig unbekannt – und nur daher
kann diese Unterwelt ihre Bestimmung als Un-Ort zugeschrieben werden.
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Kuriositäten am Rande
Neben zahlreich symbolisch gedachten Elementen in den gewählten Kulissen, Handlungsorten und der
Beleuchtung des Filmes sind auch eher kurios anmutende Doppeldeutigkeiten im Film „Der dritte Mann“
enthalten. Eindeutig nachvollziehbar scheint nicht zu sein, ob – und ggf. welche – Absicht hinter der
Verwendung dieser Elemente steckte. Aber sie geben Spielraum für Interpretationen und beleuchten den
Sinn für Humor und das Bedürfnis nach Anspielungen vonseiten Carol Reed und Graham Green. Je
nachdem, ob diese Elemente als beabsichtigt oder unbeabsichtigt angenommen werden, kann sich damit
vor allem die Ernsthaftigkeit der offensichtlich symbolisch gemeinten Elemente abschätzen lassen.
Beispielhaft werden im folgenden nur zwei der Kuriositäten benannt, die nicht in unmittelbarem
Zusammenhang zum Inhalt des hier vorliegenden Texts stehen, aber Möglichkeiten bieten, die
Ernsthaftigkeit der Macher einzuschätzen, woraus sich wiederum rückschließen ließe im Falle der
offensichtlichen Anspielungen.
Namen der Protagonisten
Ein Aufhorchen bewirken die Namen der russischen Protagonisten: Muss ein russischer Offizier
ausgerechnet Smirnoff heißen, wie der Wodka, der zu Zeiten des ausgeprägten Schwarzmarkthandels
längst etabliert und verbreitet war? Merkwürdiger wirkt in diesem Zusammenhang, dass jener russische
Oberst, der über Anna Schmidts weiteres Leben entscheiden soll, den eher polnisch klingenden Namen
Protzky trägt, der sich bei näherer Betrachtung als nahezu inexistent erweist.1 Dem gegenüber steht die
mitklingende Doppeldeutigkeit in der deutschen Sprache: der Protz, protzen. Die Verwendung von
charakterbezeichnenden
Anspielungen
in
den
Namen
der
Akteure
erscheint
angesichts
des
deutschsprachigen Handlungsortes Wien durchaus denkbar. Zu bedenken ist hierbei, dass die Autoren
diese Anspielungen per Übersetzung aus dem Englischen erdacht haben müssten.
Das Spiel mit den Namen der Akteure vonseiten der Autoren erscheint wenig wahrscheinlich, da sie –
zumindest auf den ersten Blick – im Zusammenhang mit dem Plot kaum Sinn zu ergeben scheinen. Auch
werden die Namen offenbar nirgends diskutiert.
Doch aufmerksam geworden durch die russischen Namen, bietet sich ein kurzer Blick auch auf die
anderen Handelnden an. Im Zusammenhang mit diesem Text kann dies bestenfalls als ein möglicher
Hinweis auf beinah schon Uderzo’schem Humor gedeutet werden.
-
englisch-sprachige Namen:
o Harry Lime – Lime ! Limone, Linde/Lindenbaum
" Eine Zuordnung der Figur des mörderischen Geschäftemachers mit der sauren
Zitrone erscheint ein wenig platt.
o Holly Martin – Holy ! Stechpalme; Martin ! Schwalbe
" Der Name des amerikanischen Schriftstellers dürfte wohl am ehesten wegen
seiner häufigkeitsbedingten Gewöhnlichkeit gewählt worden sein, da er damit den
Charakter der Figur am ehesten widerspiegelt.
o Major Calloway ! (Pflanze) Calla
" im Verlauf des Films kommt es wiederholt zu der gern zitierten Verwechslung
durch Holly Martin mit „Callahan“ („…Engländer, kein Ire“).
o Sergeant Paine – Pain ! Schmerz
" In diesen eher häufigen Namen würde der klangliche Bezug durchaus zum
Schicksal des Sergeant passen, insofern er am Ende erschossen wird.
1
In der genealogischen Datenbank www.familysearch.org finden sich für den namen Protzky resp. Protzki nur eine handvoll
Eintragungen.
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o
-
Bis auf Sergeant Pain hätten also alle englischsprachigen Figuren Namen, die auf
Pflanzen verweisen.
deutsch-sprachige Namen (hier zu beachten sind etwaige Übersetzungs-Ungereimtheiten der
Film-Autoren)
o Anna Schmidt ! Schmied ! hat als illegal eingereiste Tschechin einen wohl mehr als
gewöhnlichen deutschen Namen.
o Dr. Winkel ! corner ! zeigt sich während der Recherchen Martins tatsächlich nicht als
gerader Weg zur Wahrheit.
o Baron Kurtz ! kurz ! lässt sich auch zu „lakonisch“ rückübersetzen.
Hansi
Jene Passage, als der kleine Junge „Hansi“ Holly Martin als den Mörder des Hausmeisters denunziert
ist – wie andere Passagen auch – in keiner Sprachfassung übersetzt. In jenen Internet-Foren, die sich mit
dem Film befassen und in denen immer wieder nach Übersetzungen von Hansis stark wienerischem
Akzent gefragt wird, wird wiederholt eine Parallele zu einer Kinderfigur in Fritz-Lang-Filmen gezogen; aber
auch zu Reeds früherem Film „The fallen idol / Kleines Herz in Not“ (1948); insbesondere wegen seines
Ballspiels im Hintergrund in einer vorangegangenen Szene.
Der auf seiner Vermutung insistierende Hansi kann aber ebenso also Anspielung auf die – aus
anglophoner Nachkriegs-Sicht pauschalisierbare – Denunziationsfreudigkeit Deutscher, resp. von
Österreichern, verstanden werden.
Tunnel, Kanäle, Engpässe
Im Verlauf des Filmes werden verschiedene Elemente eingesetzt, die sowohl den Blick des
Betrachters, als auch die Wege der Handelnden vorgeben. Die Entscheidung für die Richtung scheint
oftmals das Licht, der Fall des Schattens zu bestimmen. Die einzelnen Elemente – Torbögen, Licht und
Schatten, eingeschränkte Wege und Richtungsmöglichkeiten – verdichten sich im Verlauf des Filmes,
werden in unterschiedlichen Rhythmen angewendet und kulminieren zu einem Crescendo in den
Kanalisationsszenen am Ende.
Intro-Versionen
Passend zur Zither-Musik sind im Vorspann der originalen Fassung des Filmes – wie auch in der
französischen Version – die Saiten des Instrumentes zu sehen: vor schwarzem Hintergrund und hinter
dem
Text.
Wenngleich dies
durchaus
Sinne
im
von
Wegen, die zwar
bewegt,
doch
aber
direkt
von A nach B führen, gewertet werden kann, geht’s
hier wahrscheinlich nur um die Erklärung des
Instrumentes, das mit Anton Karas für die Musik des
gesamten Films eingesetzt wird.
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Lediglich für die deutsche Fassung erstellte die Berliner Synchron einen komplett neuen Vorspann. In
Quadraten und Kreisen – wechselweise sind diese Schwarz auf weißem Hintergrund, und umgekehrt –
scheint dies eine deutliche Anspielung auf Kasimir Sewerinowitsch Malevich zu sein:
„Das Quadrat ist die Empfindung, das weiße Feld ist das 'Nichts' außerhalb dieser Empfindung“. Und es
sind „Theorie und Logik, welche das Irrationale des Unterbewusstseins unter die
Kontrolle des
Bewusstseins stellen.” sagt Malevich zu seinen Bildern, die noch in den letzten Jahren vor dem zweiten
Weltkrieg umfassend diskutiert wurden.2 Diese Zitate lassen sich ohne weiteres in Beziehung zum Plot des
Filmes setzen: Der Schriftsteller Holly Martin will lange nicht glauben, dass sein alter Schulfreund Harry
Lime in einer Weise mit Medikamenten gehandelt hat, die Tote zur Folge hatte. Sogar als Martin dies klar
ist, scheint er sich nicht sicher zu sein, ob er der Militärpolizei helfen soll, Lime zu fassen. Seine
Empfindungen stehen nachvollziehbar im Widerspruch zu seinem logischen Verstand. Letztlich
entscheidet er sich, seinen Freund auszuliefern und erschießt ihn gar selbst, was im Zusammenhang
dieses Filmes auch als Akt der Freundschaft gewertet werden kann: Martin tötet seinen Freund Lime nach
dessen als zustimmend interpretierbaren Nicken – und bewahrt ihn so vor dem Tribunal.
Damit führt Martin aus, was Anna Schmidt, die verlassene Geliebte Limes und Martins Erstrebte,
deutlich aussprach, als sie erfuhr, dass Lime wider Erwarten lebte: Sie wünschte, Lime wäre besser tot, als
von der britischen Militärpolizei verfolgt zu werden.
Beide, Schmidt und Martin, stehen deutlich im Widerspruch zwischen Verstand und Logik einerseits
und instinktiven Wünschen andererseits. Insbesondere Martins Weg zwischen diesen beiden Seiten ist
eines der grundlegenden inhaltlichen Elemente des Films.
Zugleich sind diese Bilder Malevichs auch hervorragend in den Zusammenhang mit Tunneln, Gängen
zu setzen: Wie weit ist es von einem schwarzen Quadrat in einem weißen zum Eingang in einen Tunnel?
Wer mag, kann auch den weißen Kreis im schwarzen nehmen. Das schwarze Loch als der Eingang in den
Tunnel der Geschichte, eine Geschichte, die demnach abgeschlossen stattfände von der realen Welt, wie
auch das Bild die reale Welt stark vereinfacht darstellen mag.
Insofern passt der Vorspann der deutsch-sprachigen Fassung – ob so gewollt oder nicht – in
symbolischer Hinsicht besser zum Film, als die englische Fassung.
Torbögen
Auftritt: Die beiden Schauspieler betreten
die Bühne, auf der das Schauspiel stattfindet.
Die
Kriminalgeschichte
wird
mit
einem
angedeuteten Gang durch einen Torbogen
eröffnet: Der Österreicher Kurtz und Holly
Martin kommen offenbar durch einen Torgang;
nach den Erklärungen Kurtz’ zum angeblichen
Hergang des Unfalls, bei dem Harry Lime
umgekommen sein soll, gehen die Beiden
wieder zurück in Richtung dieses Torbogens,
2
Bezug zu „Black Circle“ und „Black Square“, beide 1913; weitere Infos: www.ibiblio.org/wm/paint/auth/malevich (Bildquelle);
www.gabela.de/artists/bios/malevich.htm; Zitate: http://suparc.net/x-NObject-D.htm
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dabei umgehen Sie einen – vermutlich – Polizisten, ohne diesen zu beachten. Die Umgehung dieses
Polizisten mag deutlich dessen Unwichtigkeit (im Denken der Protagonisten) darstellen: Zwar wird er
wahrgenommen, immerhin nicht umgerannt, doch andererseits wird er nicht beachtet – denn das
gegenwärtige Leben findet halt nicht im Rahmen des von ihm repräsentierten Rechts statt.
Der Gang der Beiden durch den Torbogen ist weder beim Szenenbeginn noch beim Abgang zu sehen,
wird von der Kamera jedoch offensichtlich intendiert. Als fände hinter diesem Tor ein möglicherweise
komplexes, normales, vor allem alltägliches Leben statt, während hier, auf dem Platz vor dem Haus Harry
Limes, eine eigene Geschichte geschieht, ohne (unmittelbaren) Zusammenhang zum – realen? – Leben
hinter dem Tor.
In der Überblendung zu dieser Szene füllt Kurtz’ Kopf das Bild, den Kopf nach unten geneigt, dabei
aufschauend gibt er seinem Ausdruck etwas Zweideutiges.
Die Szene endet mit Kurtz’ Small-Talk-Lob über ein Buch Martins. Die Geschichte ist begonnen.
Neu vorgestellte Handelnde stehen immer in Verbindung zu Torbögen, als beträten sie durch diese
die Geschichte, in der sie spielen.
Torbögen finden sich während
des gesamten Films zahlreiche.
Bereits bei dem Treffen Martins
und der englischen Militär-Polizei
in einer Souterrain-Bar dominiert
den Hintergrund ein Portal. Halb
geöffnet
hinter
im
Raum
aufsteigenden Treppen gibt es –
merkwürdig genug –
den
Blick
frei auf ein Fensterkreuz. Nicht,
dass sich der Zuschauer tief
genug befände, um schräg genug
nach oben in den ersten Stock
des gegenüberliegenden Gebäudes zu blicken. Das Fenster muss sich zu ebener Erde befinden. Es
begegnen sich Tor und Fenster: Eingang und Aussicht, aber auch Ausgang und Notausgang.
Zugleich kann diese Perspektive als Hinweis in einer der ersten Szenen verstanden werden, dass die
folgende Geschichte vom Untergrund handelt und auch diese beiden Akteure – der britische Militärpolizist
Calloway und Holly Martins – auch einer Welt zwischen oben und unten verhaftet sein können.
Das erste Auftreten Harry Limes benötigt den Schatten
eines Torbogens, um sein Gesicht im Dunkeln zu lassen, bis
ihn ein Licht beleuchtet, dass ihn in einer realen Welt nie
erreicht hätte: aus einem Fenster über dem Portal. Dass dies
Harry Lime sein muss erschließt sich bereits zum SzenenBeginn, weil seine – nebenbei eingeführte – weiße Katze sich
zu seinen Füßen putzt: Jenes Tier, dem Eigensinn und
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Unabhängig unterstellt werden. Hier in der Farbe der Unschuld, stellt es nicht nur farblich den Kontrast
zum nächtlichen Wien dar, sondern dient wohl auch zur
Charakterisierung der Figur Lime.
Übrigens ist hier die Kamera-Haltung durchweg
schräg, ganz gleich ob (der mutmaßliche) Lime oder
sein – erst verärgerter, dann verwunderter – Freund
Martin im Fokus stehen.
So wie Türen und Tore den Handelnden in den
Film eintreten lassen, so sind sie zugleich Marksteine im
Verlauf der Handlung: Durch sie betritt auch der
Zuschauer die meisten Szenen. Immer wieder stellen sie den Zugang dar zum Geschehen – und legen
damit nahe, dass es sich hier um eine Geschichte handelt, die abseits des realen Lebens stattfindet; als
beträte der Zuschauer einen Raum. So folgt er im Verlauf des Filmes nicht nur der kriminologischen
Geschichte, sondern verfolgt sie gleichsam in einem Labyrinth, wo ihn Gänge zu Räumen zu Türen zu
Gängen führen. Die Referenz zum Ende des Filmes in der Kanalisation ist damit gegeben.
Fenster
Den Schatten und der Kleidung der Darsteller nach, muss es kalt sein in Wien. Und dennoch sind
immer wieder Fenster geöffnet, vor allem in der Wohnung der Anna Schmidt, wenn Holly Martin sie
besucht. Diese Fenster geben den Blick frei auf
schemenhaft erkennbares Gemäuer, das gleichermaßen
der Palatin vom Forum Romanum aus gesehen oder das
nächtliche Nachkriegs-Wien sein kann. Durch diese
Fenster fällt mehr Licht in den Raum, als der Himmel der
Stadt bieten kann.
Vorzugshalber steht Holly Martin an den großen
Fenstern. Dabei schaut er weniger in die Ferne, als ins
Raumesinnere zu Anna oder auf die Straße.
Von diesem Fenster aus fokussiert der Betrachter
auch jenen Hauseingang gegenüber von Annas Haus, in
dessen Schatten sich Harry Lime versteckt; durch den
Tunnel, der sich durch den Blick und die Bewegung der
Kamera durch die Blumen vor dem Fenster ergibt.3 Der
Weg des Blickes Harry Limes wird hier von der Kamera
in umgekehrter Richtung genommen.
Fenster sind auch wesentliches Bestandteil jener
Szenen, da Anna Schmidt in den Büros der britischen
und
russischen
Besatzungspolizei ihrem Schicksal
harren muss: Durch ein Fenster hindurch über einen
3
(wie sich wenige Minuten später zeigt; siehe vorangegangenes Kapitel).
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Gang – der Grenze zwischen Ost und West – hinweg,
muss sie zuschauen, wie der russische Oberst und der
britische Major über ihr Schicksal verhandeln: Sie sieht
was geschieht, hört vermutlich jedoch nicht, hat vor
allem aber keinen direkten Einfluss auf die Handlung.
Sie ist gleichermaßen in das Geschehen einbezogen,
wie ausgeschlossen.
Dieser Raum des britischen Major bietet ihr
Sicherheit vor dem russischen Oberst, und birgt
zugleich die Gefahr, dass hier die Entscheidung fallen
wird, ob sie an diesen ausgeliefert wird. Über den
Korridor, über den hinweg durch einen Türspalt sie die beiden Offiziere beobachtet, entscheidet sich ihr
Schicksal.
Gänge
Nur wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg dürften für das Gros des deutschsprachigen Publikums
Keller auch Synonym für unbequeme Sicherheit, für Enge, ungewisses Warten und Spannung gewesen
sein: kanalartige Gänge, kleine Räume, Dunkelheit, in einigen Fällen sicher auch unübersichtlich
verzweigt. Dagegen sind die „Gänge“ des oberirdischen Wien – in Form der Gassen, Hausdurchfahrten
und der Trampfelpfade zwischen Schuttbergen – ein vergleichsweise weiter Raum.
Doch aus Sicht der nicht-deutschen Filmemacher sowie des heutigen Publikums ist eben auch dieses
dunkle Wien des „dritten Mannes“ ein labyrinth-artiger Ort. Zwar sind die Wege nach oben offen – ein Blick
zum Himmel lässt sich zumindest erwarten – doch kann dies, wie in den meisten Labyrinthen, nur der
Selbsttäuschung dienen, denn gegangen werden kann dieser Weg nach oben ja nicht.
So begegnen dem Zuschauer im oberirdischen Wien bereits
zahlreiche Kanäle, Gänge, mithin Tunnel: Jene Fokussierung des
Hauseingangs, in dem Lime zum ersten Mal auftritt durch die
Fensterblumen hindurch, die Gasse, durch die hallenden Schrittes
Martin den vermeintlich toten Lime verfolgt, der Korridor im Büro
der Alliierten, über den hinweg Annas Schicksal entschieden wird
oder etwa der Hausflur, durch den die Tschechin zu ihrer Wohnung
gelangt und durch den hindurch sie abgeführt wird.
Durch diesen Flur, Korridor, der gleichermaßen
angenehm groß wirkt, zugleich aber durch seine
Höhe zum Tunnel wird, schreitet Anna Schmidt in
eine
Unendlichkeit:
den
Protagonisten
nachschauend sieht der Zuschauer längst durch den
sichtlich reich geschmückten Raum zur nächsten
Tür. In deren Rahmen ist, perspektivisch verkleinert,
der nächste Durchgang zu sehen – und so fort: Als
würde mit einer Kamera abgefilmt, was diese
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gerade aufnimmt, als stünde der Betrachter zwischen zwei Spiegeln. Der vor dem Protagonisten liegende
Weg scheint vorgegeben, im Voraus erkennbar, dabei sich selbst wiederholend.
Eine andere Art von Tunnel ergibt sich mit der Wendeltreppe, über die Holly Martins flüchten muss. Er
flüchtet auf ihr nach oben. Die Kamera blickt ihm nach, aus der Sicht der Verfolger sehen diese von unten
nach oben in einzelnen Windungen kurz Holly Martin. Die Verfolger sieht der Zuschauer dagegen aus der
Sicht Martins, von oben auf sie herab. So wie der Weg, den diese Wendetreppe ermöglicht, einen
senkrechten, schachtartigen Tunnel bildet, so kegelförmig ist der Blick durch ihren Hof, die Luftsäule, um
die die Treppe kreist. Dieser Weg nach
oben im oberirdischen Wien wird zur
Rettung
Holly
Martins,
der
über
die
Wendeltreppe zu einem Raum, dessen
Fenster und über ein Dach in Sicherheit
flüchten
kann:
Entscheidung,
Die
einen
Tür
ist
die
bestimmten
Weg
einzuschlagen, einen Raum zu betreten,
dessen
Fenster
zum
rettenden
Notausgang wird.
Zum
Verhängnis
wird
eine
Wendeltreppe dagegen für Harry Lime.
Seine Verfolgung endet an einer solchen. Sie könnte sein Weg aus der Welt des vermeintlich Bösen, aus
der Unterwelt der Kanalisation zum oberirdischen Wien sein, doch ihr Ausgang ist versperrt. Die
Entscheidung über sein Ende fällt auf den Stufen dieser Wendeltreppe.
Der Tunnel, den die Wendeltreppe bildet, ist beleuchtet, während ihr Ende im Dunklen, Ungewissen
liegt. Im Gegensatz dazu sind die Tunnel der Kanalisation am Ende des Filmes dunkel, jedoch scheint an
ihrem sichtbaren Ende ein Licht; ebenso bei der Wendeltreppe, die Limes Ende bedeutet.
In diesem Zusammenhang wird der gewundene Weg – darum aber nicht minder einem Tunnel
ähnlich – zur Rettung des Ehrlichen, des „Guten“ und zum Verhängnis des Unehrlichen, des „Bösen“.
Der am hellsten beleuchtete, aber dennoch richtungsweisend kanalartige Weg ist jener auf dem
Friedhof. Auch er führt nur in zwei Richtungen, deren nur eine sinnvoll ist: Weg vom Geschehenen hin ins
ungewisse. So wird auf diesem Wege denn auch nicht gezeigt, wohin er führt: Die Kamera blickt zurück,
den Protagonisten entgegen, die auf diesem Weg den Friedhof verlassen – wohl ins Unbekannte.
Querfeldein zu gehen ist hier wohl ebenso wenig sinnvoll, wie im labyrinthen System aus Gassen oder
Kanalisationstunneln möglich. Durch helles Licht und eine Brise Weite verheißt der Friedhof eine Freiheit,
derer er nicht mehr bietet, als die Tunnel: Auch hier ist der Weg vorgegeben, und auch hier liegen die
Entscheidungen auf dem Weg und müssen an dessen Gabelungen gefällt werden, etwa wenn Anna
Schmidt schweigend am auf sie wartenden Holly Martin vorbei geht.
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Licht und Schatten
Wenige Szenen, finden im Tageslicht statt: Wenn etwas erklärt wird, dessen Grundlage offenbar eine
Lüge ist. So etwa zu Beginn, da Baron Kurtz den angeblichen Unfallhergang erzählt. Auf dem Riesenrad
versucht Harry Lime seinen Freund Martin zu überzeugen, dass die Geschäfte mehr wert seien, als die
unbekannten, entfernten Menschen – die indirekte Art, in der Lime von seinen Geschäften redet, die
künstliche Distanz die er mit dem Blick vom Riesenrad zu verdeutlichen versucht, können durchaus darauf
hindeuten, dass er sich selbst bemühen muss, seine
moralischen Ausreden zu glauben.
Die meisten anderen Szenen finden im Dunkeln
statt. Graustufen sind selten, es überwiegt ein
eindeutiges Schwarz-Weiß. Spots leiten den Blick des
Betrachters wie durch eine Röhre, einen Tunnel mit
meist kreisförmigem Querschnitt: Im Licht steht, was
gerade
wichtig
ist,
im
Schatten
findet
die
nebensächliche Handlung statt. Tore, Fenster betonen
Handelnde, gerade Redende.
Aber auch anzunehmende Straßenlaternen und
Deckenbeleuchtung sind nur vorgebliche Lichtquellen.
Oft genug haben sich die Macher des Filmes nicht einmal bemüht, die Herkunft des Lichtes glaubwürdig
zu machen. Im Treppenhaus der Alliierten etwa fallen die Schatten deutlich in die falsche Richtung,
gemessen an der sichtbaren und deduktiv anzunehmenden Flurbeleuchtung. Ebenso erschließt sich nicht,
woher das helle Licht kommen soll, dass am Ende der Kanalisationstunnel zu sehen ist, deren Weg aber
leidlich beleuchtet.
Die Schatten sind lang, wie an Winter-Abenden, was die Atmosphäre des ohnehin wenig gemütlichen
Wiens noch unangenehmer macht: die Vorstellung, dass es winterlich kalt ist. Ohnehin gehören Schatten
seit jeher zur Grundausstattung der Spannung, der Geister und des Verbrechers. Sie verstärken den
maroden Anblick des ruinenreichen Wiens, sie kündigen Kommendes an. Sie können die Analogie zum
Miteinander des tatsächlichen Geschehens und dessen Abbilds sein: Jedes Original hat sein Abbild und
jedes Abbild seine Vorlage. Aber kein Abbild gibt seine Vorlage in all seiner Komplexität wieder; das
Aussehen des Schattens hängt stark davon ab, wie Licht, Original und Betrachter zueinander positioniert
sind. Das Bild gibt der Interpretation den Weg bereits vor und vermehrt zugleich deren mögliche Wege,
dank seiner vereinfachten Darstellung des Originals.
Dass Schatten als dramaturgisches Mittel gemeint sind ergibt sich aus deren überdimensionaler Größe,
beispielsweise im Moment des Ballonverkäufers, als die Polizei Harry Lime auflauert.
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Harry Lime
Die Figur des Harry Lime bleibt mystisch. Nur kurz ist er erstmalig nach etwa zwei Dritteln des Filmes
zu sehen, im Schatten eines Hausflurs. Deutlich wird er erst auf dem Riesenrad im Prater – gleichzeitig
optisch, wie auch hinsichtlich seine Ansichten, die er in dieser Szene darlegt.
Während der Verfolgungsszene in der Kanalisation ist Lime kaum deutlich zu sehen, sein Gesicht meist
im Schatten. Eigens in bestimmten Momenten, da seine Mimik relevant ist, ist sein Gesicht im Chose Up
aufgenommen – die „Graustufen“ dazwischen, etwa ein klares Gesicht umgeben von anderen deutlichen
Dingen gibt es nicht; ganzes Gesicht, oder keines.
Kanalisation
Tunnel haben auch einen Sog. Wer einen Tunnel, einen geschlossenen Kanal betritt, kommt aus einer
Richtung; es bleibt ihm (bis zum Umkehren) also nur eine Richtung, in die er sich bewegen kann. Der
Entschluss, in einen Tunnel zu gehen, beinhaltet also das Vertrauen, dass dieser Tunnel irgendwo hin
führen wird, zum Vorteil dessen, der ihm folgt. Sobald dieses vertrauen schwindet, wird er umkehren. Im
Falle einer Verfolgung hieße das, sich zu stellen – der Tunnel müsste also zu etwas Üblerem führen, als
der Verfolgte von den Verfolgern zu erwarten hat.
Kaum dass Harry Lime die Tunnel der Wiener Kanalisation betreten hat, sucht er auch wieder nach
deren Ausgang. Sie sollen ihm nur dienen, um einen bestimmten Weg zu gehen und auf diesem den
Verfolgern zu entkommen. Doch die Ausgänge, die er findet, sind oberirdisch bereits von Verfolgern
besetzt. Er muss weiter flüchten.
Dramaturgisch liegt es nahe, die Verfolgung in die Kanalisation zu verlegen, sofern ihre Zugehörigkeit
zu den einzelnen Besatzungsmächten möglicherweise nicht festgelegt ist4: Oberirdisch galt Harry Lime im
russischen Sektor als sicher, unterirdisch stellt sich diese Frage offenbar nicht.
Dass Harry Lime in die Kanalisation flüchtet soll wohl nahe legen, dass er sie besser zu kennen meint,
als er von seinen Verfolgern annimmt. Insofern kann er von dieser Unterwelt einen Vorteil erwarten. Dies
wiederum legt nahe, dass Lime, der Verbrecher, im unterirdischen Wien heimischer ist, als die
Repräsentanten des Rechts. Die Unterwelt wird dem Verbrecher zugeordnet, jedoch ist sie den guten
ebenso wenig unzugänglich, wie das oberirdische Wien dem „Bösen“. Letztlich sieht Lime seine Rettung ja
auch nicht in den Tunneln selbst, sondern nur darin, über sie an sicherere Orte der Oberwelt zu gelangen.
Sicherlich soll dies sein Streben nach oben nicht als Reue gemeint sein, bestenfalls als Erkenntnis, dass
er die oberirdische – vermeintlich bessere – Welt die sicherere ist, insofern dort das Verbrechen nicht sein
Zuhause hätte.
Lime flüchtet mit dem sprichwörtlichen Ausdruck des gehetzten Tieres. Die Tunnel, durch die er
flüchtet, ergeben ein Labyrinth. Ein Labyrinth dass ihm dank seiner Anlage zeitweise Schutz bietet, das
zugleich aber auch Gefängnis ist. Wie viel Schutz es bietet und wie sehr es Gefängnis ist, hängt vom Grad
ab, wie genau der Flüchtende den Raum kennt, wie verwirrend der Raum ist.
Alle paar Meter muss er sich neu entscheiden, in welche Richtung er geht. Dabei stehen ihm nicht nur
die Horizontalen, sondern auch die Vertikalen zur Verfügung. Je mehr Möglichkeiten sich ihm auftun, desto
4
Inwieweit die Kanalisation Wiens in der geografischen Aufteilung der Stadt unter den Besatzungsmächten vereinbart – oder
nicht – war, ist an dieser Stelle nicht recherchiert. Danach bliebe noch die Frage, ob Carol Reed und Graham Green davon wusste
und wie willig sie waren, dies in der Geschichte aufzunehmen.
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verzweifelter wird der Ausdruck in seinem Gesicht, deutlich gezeigt in jener Szene, da er in einer Art Halle
steht: Auf den zwei Längsseiten enden und beginnen zahlreiche Gänge. Aus ihren Portalen hört er die
Laute der Verfolger. Doch der Hall, die Dunkelheit verwirren seine menschlichen Sinne – der Verbrecher
scheint doch nicht so vertraut zu sein mit den Notwendigkeiten des ihm zugeschriebenen Ortes: Weder
kann er die Geräusche besser ihrer Herkunftsrichtung zuordnen, noch kann er besser sehen als seine
Verfolger. Diese dagegen scheinen sich recht gut auszukennen, finden hinter Wasserfällen versteckte
Gänge und nennen die Richtung beim Namen.
Schatten und Spots, Durchgänge und Ausblicke – die im oberirdischen Wien angedeuteten
Elemente und Mittel kulminieren in der Verfolgungsjagd. Die (erstaunlich leuchtstarken) Taschenlampen
der Verfolger bilden Tunnel aus Licht in den Kanälen der Kanalisation; Lichtkegel, durch die der Zuschauer
Wände, Wasser, Bögen und Wege sieht, während die Umgebung umso dunkler ist. Die Gruppe der
Verfolger zersplittert in mehreren Gängen, der Zuschauer bleibt mit den Protagonisten.
Am Ende der Gänge scheint Harry Lime ein Licht entgegen, dass sichtlich nicht das der
Taschenlampen ist – sonst würde er ihm wohl nicht entgegen hetzen. Verheißt ihm das Licht das Gute –
nämlich das Gelingen der Flucht? Dann wäre dieses Licht am Ende des Tunnels das Gute im Sinne des
Bösen; in der Sichtweise der Guten wäre dieses Licht der Fluchthelfer des Verbrechers.
Da die Kanäle nicht beleuchtet sind und das Drehbuch dem Verfolgten keine Taschenlampe mitgeben
wollte, ist es möglicherweise einfach nur die geeignetste Möglichkeit, die Enge der Tunnel erkennbar zu
machen, die Wände spärlich zu beleuchten. Andererseits macht
dieses Licht am Ende des Tunnels nichts anderes als die
Dunkelheit: Sie blendet so sehr, dass nicht zu erkennen ist, wohin
der Tunnel führt. Einzig der Moment, nur die wenigen Meter um
den Verfolgten herum sind erkennbar.
Das Licht am Ende der Tunnel vor sich, das Licht der Verfolger
hinter sich wird Lime in die Enge getrieben. So bedeutet für den
Gejagten Licht gleichermaßen die Hoffnung auf Rettung wie auch
sein Ende. Im Schein der Taschenlampen steht er für einen kurzen
Moment, ihnen zugewandt, mit ausgebreiteten Armen; als wollte er
verhindern, von einer Meute umgerannt zu werden oder als suche er verzweifelt die Balance auf dem
sicherlich glatten Grund. Das Licht umgibt, aus Sicht des Zuschauers, den Körper des Gehetzten wie
einen Heiligen, der in die falsche – weil ungewöhnliche – Richtung schaut.
Einzig dieser Einsatz des Lichtes – am Ende des Tunnels, durch den der Gehetzte rennt und sein
kreuzförmiges Stehen im Licht der Lampen – sowie der Anschein, dass er das Labyrinth wohl doch nicht
so gut kennt, könnten als Andeutung verstanden werden, dass Lime gar kein Verbrecher ist. Ohne die
Szene auf dem Riesenrad wäre diese Interpretation denkbar, dass alles vonseiten der britischen Polizei
über
Lime
Gesagte
Verleumdung
ist.
Doch
auf
dem
Riesenrad
hat
Lime
selbst
seine
menschenverachtenden Geschäftspraktiken angedeutet; auch wäre dieses Spiel mit dem Licht ein wenig
dürftig, nur mit ihnen nach all den vorangegangen Szenen den Unschuldigen zu markieren. Das Licht
markiert den Verbrecher, den Schwarzen im schwarzen Raum. Es holt ihn heraus aus seiner vermeintlich
natürlichen Umgebung.
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Die Verfolgung endet an einem Gulli-Gitter. Der angeschossene Lime versucht, es von einer kleinen
Wendeltreppe aus nach oben, in Richtung zur Oberwelt, zu öffnen. Wie Würmer winden sich seine Finger
durch das Gitter, streben vergeblich über das regennasse Straßenpflaster, über das plötzlich ein stärkerer
Wind weht, als noch wenige Minuten zuvor. Seine Hand ragt aus der Straße wie die eines Ertrinkenden.
Draußen herrscht die gleiche Unruhe, wie unterirdisch.5
Holly Martins hält unschlüssig eine Pistole gegen seinen einstigen Freund. Dieser sieht ihn an, mit dem
Gesicht eines Kindes aus unergründlichen
Augen. Lime nickt leicht, blinzelt schwach, was sich als
Zustimmung, Aufforderung zu schießen, aber auch als Bitte um Hilfe, um Gnade deuten lässt. Sie hören
den britischen Major rufen, der wohl nicht weit ist.
Der Zuschauer sieht den Briten und hört den Schuss in der Ferne. Aus dem Licht am Ende des Tunnels
tritt Holly Martin. In der nächsten Szene wird Harry Lime beigesetzt. Letztlich steht das Licht in diesem Film
für das Ende des Verbrechers.
Zusammenführung
Tunnel und Kanäle bilden Labyrinthe, Tore und Türen sind der Zugang zu Labyrinthen – und ebenso ihr
Ausgang. Tunnel, Kanäle – und so auch Gassen und Flure – sind Wege, die Richtungen vorgeben, Wege
aus denen etwas Kommendes erwartet wird, oder in denen etwas zu erreichendes zu vermuten ist. Nie
sind alle Richtungen möglich, das Querfeldein gibt es weder in der Unterwelt noch im oberirdischen Wien.
Doch es gibt Richtungen: An Weggabelungen entscheiden sich Protagonisten, wohin sie gehen, wo sie
das Gesuchte erwarten. Fenster sind der Ausblick, mitunter auch das Tor zum nächsten Weg. Jede Tür,
jedes Tor verlangt, dass der vor ihm Stehende aktiv wird: Es will die Entscheidung, ob der dahinter
liegenden Weg eingeschlagen wird6. Dieser führt zu weiteren Kreuzungen, Eingängen und Ausgängen und
somit zu weiteren Entscheidungen. Licht führt durch diese Entscheidungen.
Auch Licht in diesen Tunneln ist nichts als ein weiterer Tunnel: Scheinwerfer-Spots müssen in
bestimmte Richtungen gehalten werden, geben wieder nur die Auswahl von Richtungen vor.
Die Möglichkeit, das „Böse“ in die Unterwelt zu verlagern, basiert darauf, dass das Unbekannte ebenso
reizvoll wie unangenehm ist: Es bietet die Hoffnung auf Neues, Besserung und Rettung – und es birgt die
Angst vor dem Unberechenbaren.
Dunkle Räume bieten die Möglichkeit der Freiheit: Eine Überwachung des eigenen Handels durch
Andere wird erschwert durch die kurze Reichweite des Blickes. Diese Freiheit wird – der allgemeinen
Annahme nach – vorzugshalber vom Bösen genutzt, denn aus welchem Grund sollte sich der zu Recht
Handelnde vor den Blicken Anderer verbergen7. Im Falle des „dritten Mannes“ ist der Böse sich seiner
Schuld offenbar bewusst, er ist tatsächlich der Verbrecher. Sein verbrecherisches Handeln jedoch hat
oberirdisch, in der Welt der Anständigen, stattgefunden.
Die schattenhafte Welt des „dritten Mann“ spielt mit der Faszination des Uneindeutigen. Das sichtbare
gibt, wie die Wege und Tunnel, eine Richtung vor. In ihren Räumen bleibt jedoch ausreichend Raum für
Phantasie, und mit ihr für Anspielungen auf allgemeingültige Referenzen, Vorstellungen, Bilder – und
Pseudo-Erklärungen.
5
Das der Böse in ähnlicher Weise auch oberirdisch verfolgt werden kann, zeigt Fritz Langs „M“.
selbst das Warten, dass etwa etwas aus dem Tunnel käme, wäre eine Entscheidung.
7
(Auf dieser Denkweise beruht doch heute die Argumentation zugunsten bürger-überwachender Systeme und Datenbanken:
Davon ausgehend, dass der rechthandelnde ja problemlos im Licht stehen kann, beobachtet werden kann.)
6
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Quellen und Verweise
-
Brigitte Timmermann, Frederick Baker: Der dritte Mann. Auf den Spuren eines Filmklassikers.
Czernin, Wien 2002
-
Graham Greene: Der dritte Mann. [Jubiläums-Sonderausgabe.]; München 2004,
-
http://german.imdb.com/title/tt0041959/quotes
-
http://members.aon.at/3mpc/start.htm (Privates Dritte-Mann-Museum Wien)
-
Schweizer Kulturstiftung “Pro Helvetia”
-
Vincent Pinel: Le Siècle du Cinéma, (Larousse); Paris 1994
-
www.derdrittemann.at
-
www.jump-cut.de/backlist-derdrittemann.html
-
www.xenix.ch
-
wwwcs.uni-paderborn.de/~winkler/vorlieb.pdf
(Internet-Links wurden im Juni 2006 verifiziert.)
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