Zeichnen gegen die Diktatur
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Zeichnen gegen die Diktatur
Lebendige Antike Laura Gemelli hat die Vorsokratiker neu übersetzt. Seite 57 Aus eigener Sicht Fotografien vom indischen Subkontinent in Winterthur. Seite 59 Chollywood Will Smiths Sohn soll als «Karate Kid» Chinas Kino erobern. Seite 56 DAMIR SAGOLJ / REUTERS 55 Kultur DDP IMAGES NZZ am Sonntag 18. Juli 2010 D Protestzug durch Teheran nach den Wahlen 2009, Panel aus «Zahra’s Paradise». ie Geschichte setzt mit dem 16. Juni 2009 ein, vier Tage nach den Wahlen. Der 19-jährige Mehdi hat an der Grossdemonstration am Platz der Freiheit teilgenommen, als über eine Million Menschen durch die Strassen Teherans zogen und riefen: «Wo ist meine Stimme?» Seither ist er verstummt und verschwunden. Seine Mutter Zahra und sein Bruder, ein Blogger, machen sich auf die Suche nach Mehdi. Sie gehen zum Freiheitsplatz, wo es am Vortag zu gewaltsamen Zusammenstössen zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten gekommen ist. Dann pilgern sie von Spital zu Spital, sehen viel Blut und schwer verletzte Menschen. Doch nirgends eine Spur von Mehdi, auch nicht vor dem berüchtigten Evin-Gefängnis für politische Häftlinge. Im nächtlich erleuchteten Teheran sehen wir zahlreiche Männer und Frauen auf den Dächern stehen, die Arme gegen den Himmel gereckt und herausfordernd «Allahu Akbar» rufend. Eine Art Collage Teheraner Demonstrantin mit dem Bild von Moussavi, dem Herausforderer von Präsident Ahmadinejad. (9. Juni 2009) Zeichnen gegen die Diktatur Die Protestwelle im Juni 2009 hat Irans Gottesstaat ins Wanken gebracht. Davon erzählt der Internetcomic «Zahra’s Paradise», nahezu in Echtzeit. Humorvoll und hochpolitisch. Und von Zehntausenden gelesen. Von Susanne Schanda Es ist die Geschichte, die im Webroman «Zahra’s Paradise» erzählt wird. Ihr Autor heisst Amir, ihr Zeichner Khalil. Ihre genaue Identität geben sie aus Sicherheitsgründen nicht preis. Im Telefoninterview gibt Amir Auskunft über ihren gemeinsamen Webroman. «Die Religion war schon immer sehr wichtig für die Iranerinnen und Iraner», sagt er. Der heute in den USA lebende Iraner war 12 Jahre alt, als seine Familie während der islamischen Revolution 1979 das Land verliess. «Meine Erfahrung mit der Religion in Iran war von einer liebevollen Grossmutter geprägt und war selbstverständlicher Teil unserer Kultur. Der Islam, wie er heute in Iran indoktriniert wird, ist verdorben und korrupt. Ich halte die 30-jährige Islamische Republik für ein Experiment, wie es der Marxismus war, und das Experiment ist gescheitert», sagt er dezidiert. Amir ist Journalist, Dokumentarfilmer und Menschenrechtsaktivist. Er hat in Afghanistan gelebt, in Europa und Kanada. Über Blogs und Websites der Reformbewegung sowie durch Ge- spräche mit Freunden und Verwandten ist er immer mit seiner alten Heimat in Verbindung geblieben. «Ich gehöre zu einer Generation von Iranern, die zwischen den Kulturen aufgewachsen sind», sagt er. «Meine Wurzeln sind in Iran, aber meine Flügel kann ich in den USA entfalten.» «Zahra’s Paradise» ist sein erster Comicroman. Die Rohfassung hat er fertig geschrieben, doch die einzelnen Seiten erarbeitet er fortlaufend mit dem arabischen Zeichner Khalil. «Khalil hat ein wunderbares Gespür für den Iran und seine Menschen, obwohl er nicht Iraner ist», sagt Amir. Neben bewegten Demonstrationszügen in Teherans Strassen gelingen Khalil die Gesichter der finsteren Schergen des Regimes mit ihren Bärten sowie die Frauenfiguren besonders gut. Der Comicroman wird vom jüdischamerikanischen Comicautor Mark Siegel beziehungsweise dessen Verlag First Second Books in New York online publiziert. Diese persisch-arabisch-jüdische Zusammenarbeit ist per se ein Statement gegen das gängige Feindschaftsschema im Namen der Religion. «Ich habe schon länger mit Khalil über einem Iran-Comic gebrütet und auch mit Mark Siegel darüber gesprochen», erzählt Amir. «Dann kamen die Wahlen und die Protestwellen, die Bilder voller Energie und Hoffnung auf Veränderung. Da wussten wir, dass wir uns diese Geschichte nicht entgehen lassen dürfen.» Als Journalist habe er es oft mit Splittern der Realität zu tun. Der Comic habe ihm erlaubt, eine Geschichte zu entwickeln, die sich aus der Realität nähre, aber die Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen, sagt Amir – «eine Art Collage». Frauen sind die wahren Helden Der Titel «Zahra’s Paradise» bezieht sich auf den Friedhof Behesht-e Zahra im Süden Teherans, wo viele Opfer der Staatsgewalt begraben sind; unter ihnen die Studentin Neda, die zum Symbol des Widerstands geworden ist. Behesht-e Zahra ist für Amir aber nicht nur ein Friedhof, «sondern auch ein Garten, in dem die Welt wiedergeboren wird». Er ist überzeugt: «Die Toten sind nur tot, wenn wir sie vergessen. .................................................................................. a Fortsetzung Seite 56 56 Kultur NZZ am Sonntag § 18. Juli 2010 Hollywood erobert China Ein Film namens «The Karate Kid» dreht sich um Karate. Würde man meinen. Doch die Sportart, die in der Neuverfilmung des Hits von 1984 geübt wird, ist Kung-Fu. In Asien kennt jedes Kind den Unterschied zwischen den Kampfsportarten. Deshalb kommt der Blockbuster in China mit dem Mandarin-Titel «Gongfu Meng» (Kung-FuTraum) ins Kino. Im Westen bleibt der alte Titel. Der Produzent des Originals hat die Columbia-Studios rechtlich gezwungen, ihn beizubehalten. Das Original erzählt, wie ein japanischer Karate-Meister einem Teenager in Los Angeles die Philosophie der waffenlosen Selbstverteidigung beibringt, auf dass er sich vor den Augen seiner Angebeteten nicht länger wehrlos vermöbeln lassen muss. Das Meisterwerk von «Rocky»-Regisseur John G. Avildson löste einen KampfsportBoom aus: Karateschulen schossen in der Schweiz wie Pilze aus dem Boden, kleine Buben strebten nach dem schwarzen Gürtel. Das Remake wird bei der Jugend andere Reaktionen auslösen. Etwa die Frage «Papi, wann fliegen wir nach China in die Ferien?». Der Film erzählt, wie der 12-jährige Dre (Jaden Smith, Sohn von Will Smith) mit seiner Mutter von Chicago nach Peking zieht, in der Schule verprügelt und vom Hausmeister Mister Han (Jackie Chan) in die Schlagkraft des Kung-Fu eingeweiht wird. Die Trainingseinheiten dienen als Vorwand, dem Teenager und dem Kinopublikum die Schönheiten des Tourismuslandes China vor Augen zu führen: Die Chinesische Mauer, die Verbotene Stadt und die Wudang-Berge werden in prächtigen Bildern mit Sonnenuntergängen gefeiert, Peking besteht vorwiegend aus folkloristisch geschmückten Gässchen. INTERTOPICS Das Remake des 80er-Jahre-Films «The Karate Kid» ist die grösste amerikanisch-chinesische Co-Produktion der Geschichte. Die Traumfabrik kommt ihrem Ziel Chollywood immer näher. Von Christian Jungen Mr. Han (Jackie Chan) trainiert den jungen Amerikaner Dre (Jaden Smith) in Postkarten-Umgebung. Boom der Multiplexe «The Karate Kid» dauert 140 Minuten, 20 zu lang – was etwa der Dauer der touristischen Werbeblöcke entspricht. Der Film ist eine Koproduktion der Columbia-Studios mit der staatlichen China Film Group, die 5 Millionen zum Budget von 40 Millionen Dollar beisteuerte. Gedreht wurde in Peking. Mit solchen Gemeinschaftswerken hofft Hollywood, das Reich der Mitte zu erobern. China wird in fünf bis zehn Jahren der grösste und einträglichste Kinomarkt der Welt sein. In den neuen Shoppingcentern entstehen Hunderte von Multiplexkinos, gewisse Gemeinden verteilen zur Ankurbelung des Geschäfts Freikarten. Die Wachstumsraten sind hoch: 2009 stiegen die Einnahmen gegenüber dem Vorjahr um 44 Prozent. Der Mittelstand wird wohlhabender, und da Chinesen nur ein Kind haben dürfen, verfügen sie über Zeit und Geld für Unterhaltung. Gigantische Filmnationen China ist der grösste Wachstumsmarkt USA China 0,31 Mrd. 1,3 Mrd. 39 028 5640 Produzierte Filme /Jahr 677 456 Heimmarktanteil 99% 87% Einwohner Kinoleinwände Kino-Umsatz 2009 in $ 9,8 Mrd. 0,91 Mrd. Quelle: SARFT/MPAA Über 40 Jahre lang durften in der Volksrepublik nur einheimische Filme gezeigt werden. «Die grundsätzliche Aufgabe der Filmindustrie bleibt die Bildung einer Zivilisation im sozialistischen Geist», lautete die Vorgabe des Büros für Radio, Film und Fernsehen. Erst 1994 lief mit «The Fugitive» erstmals ein westlicher Blockbuster. Doch dann verhängte die Einheitspartei wegen chinakritischer Werke einen Boykott über Disney (wegen «Kundun»), MGM / United Artists («Red Corner») und Columbia («Seven Years in Tibet»). Doch als China 2001 der Welthandelsorganisation WTO beitrat, verpflichtete diese es zur Öffnung. Heute dürfen 20 nichtchinesische Filme pro Jahr gezeigt werden. Obwohl nur 13 Prozent der Einnahmen an die Produzenten zurückgehen, handelt es sich um ein lukratives Geschäft: Allein «Avatar» spielte in China 195 Millionen Dollar ein, mehr als in jedem anderen Land ausserhalb der USA. Nun versuchen vor allem Sony, Universal und Dreamworks dem Regime zu schmeicheln: «Kung Fu Panda» und «2012» spielen in China und zeigen das Land von der Honigseite. Disney und Fox umgehen den drakonischen Protektionismus mit lokalen Produktionen wie dem chinesischen «High School Musical» und der Mandarin-Romanze «Hot Summer Days». Für China hat die zaghafte Öffnung den Vorteil, dass man – wie in der Automobil- und der Elektronikindustrie – ausländisches Know-how anzapfen kann. Zudem verhindert es, dass eigene Stars wie Regisseur John Woo oder die Schauspieler Jackie Chan und Gong Li nur in Hollywood drehen. Columbia nahm bei «The Karate Kid» sogar Demütigungen in Kauf. Die Zensur verlangte das Herausschneiden einer Kussszene und einer Schlägerei, in der ein chinesischer Schüler der Bösewicht ist. Warner Bros. hingegen hat sich als Kinobetreiber aus China zurückgezogen, nachdem der BatmanFilm «The Dark Knight» kein Visum erhalten hatte. Beliebte US-Blockbuster Amerikanische Blockbuster sind in China extrem beliebt, vor allem Comic-Adaptionen, Animations- und Actionfilme. Wegen der Einfuhrbeschränkung gibt es einen gigantischen Zeichnen . . . Comic-Roman online c Fortsetzung von Seite 55 Bald auch auf Deutsch .................................................................................. Wenn wir hingegen an sie denken, spüren wir die Kraft und Energie, die von ihnen ausgeht.» Die iranischen Medien leiden seit langem unter der Zensur. Als im vergangenen Sommer auch die ausländischen Medien weitgehend ausgeschaltet wurden, erlebten elektronische Kommunikationsformen mit Blog und Twitter einen Boom. Auch Amir, der vor acht Jahren zum letzten Mal in Iran war, hält sich über diese Kanäle auf dem Laufenden. Kein Wunder, spielt das Bloggen in «Zahra’s Paradise» eine zentrale Rolle. Im Seitenkopf ist neben dem Titel und den Autorennamen jeweils ein junger Mann am Laptop zu sehen – der Erzähler der Geschichte. Er ist Mehdis älterer Bruder, der zehn Jahre zuvor während der Studentenunruhen verhaftet wurde. Nach seiner Freilassung verhielt er sich lange ruhig. Doch jetzt kann er nicht mehr schweigen. Gegen die zensurierte Presse setzt er seine individuelle Stimme. Damit spiegelt der Autor seine eigene Arbeitsweise. «Wir erleben heute eine Internet-Revolution, die sich zu einer gesellschaftlichen Bewegung weiterentwickelt hat», sagt Amir. «Im Internet lösen sich die Grenzen zwischen den Kulturen auf. «Zahra’s Paradise» erscheint seit Februar 2010 montags, mittwochs und freitags in zehn Sprachen im Internet: Englisch, Persisch, Arabisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Koreanisch, Hebräisch und Portugiesisch. Der Knesebeck-Verlag arbeitet derzeit an einer deutschen Übersetzung, die im Herbst online geht. www.zahrasparadise.com wird in über 140 Ländern gelesen. Der Fortsetzungscomic läuft bis Anfang 2011 im Internet und erscheint später in Buchform (First Second Books). Dann wollen die Autoren Amir (Text) und Khalil (Bilder) ihre Identität lüften. S. Schanda Im berüchtigten Evin-Gefängnis (oben Mitte) werden politische Häftlinge festgehalten. Das öffnet der künstlerischen Tätigkeit neue Horizonte.» Als Material für seine Geschichte verwende er nicht nur Texte, sondern vor allem Bilder. Comicromane boomen. Das weiss der Autor: «Heute sind wir durch die Medien stark visuell geprägt. Deshalb spricht sie eine Bilder-Geschichte stärker an als ein blosser Text. Comic ist ein phantastisches Medium unserer Zeit.» Die Helden dieses Webcomics sind Heldinnen. Die Mutter Zahra zieht auf der Suche nach ihrem Sohn stundenlang durch Teheran und schreckt auch nicht davor zurück, vor dem Evin-Gefängnis einen hohen Beamten herauszufordern; Zahras Freundin Miriam, die gerne Alkohol trinkt, macht sich wenig aus religiösen und anderen Verboten. Als Zahra ihr erzählt, wie ihr die Geburt Mehdis damals wie ein Geschenk Gottes vorgekommen sei, erwidert Miriam sarkastisch: «Nun, Gott hat uns auch Khomeini gegeben. Jetzt brauch ich aber noch einen Scotch.» Für die Zivilcourage der iranischen Frauen im Alltag steht die junge Frau im Internet-Café, die mit ihrem Nachbarn flirtet und den neugierig beobachtenden Besitzer in die Schranken ver- Schwarzmarkt für DVD, welcher Hollywood Milliardenverluste beschert. Die Motion Picture Association of America (MPAA), die mächtige Lobbyorganisation der Studios, drängt schon lange auf Durchsetzung des Urheberrechtsschutzes und eine Erhöhung der Einfuhrkontingente. Amerika sei schliesslich auch ein freier Markt. Das stimmt de iure, doch de facto ist der US-Markt der hermetischste weltweit: Weil die dominierenden Kinoketten fast nur Filme der Studios zeigen, erreichen ausländische Werke bloss einen Marktanteil von etwa 1 Prozent. Insofern lässt sich der unterhaltsame Film «The Karate Kid» mit dem charmant spielenden Smith-Spross Jaden auch als Parabel von der Eroberungspolitik Hollywoods lesen: Ein juveniler Afroamerikaner aus dem ökonomisch gebeutelten Obama-Amerika lässt sich im Reich der Mitte von einem traditionsbewussten Chinesen die lokalen Sitten und Gebräuche erläutern und haut dann im Final den einheimischen Konkurrenten auf dessen angestammtem Terrain aus dem Ring. .................................................................................. «The Karate Kid» läuft ab 22. 7. im Kino. weist mit der Bemerkung: «Ich bezahle hier für die Internet-Zeit. Wenn ich einen Zensor brauche, zahle ich extra; was verlangen Sie dafür?» Der Studentin Neda, deren Sterben mit einer Handy-Kamera gefilmt und über Twitter weltweit verbreitet wurde, widmet der Comic eine ganze Seite. Auch Zahra Kazemi, die 2003 im Gefängnis zu Tode gefolterte iranisch-kanadische Fotojournalistin, erhält eine Hommage. Amir und Khalil stehen mit «Zahra’s Paradise» in der Tradition der in Paris lebenden iranischen Künstlerin Marjane Satrapi. In ihrem Comicroman «Persepolis» (2000–2003) hat sie anhand ihrer Biografie die islamische Revolution künstlerisch dokumentiert. Satrapi ist für Amir Vorbild und Inspirationsquelle: «Ihr kommt das Verdienst zu, in ihrem Comic Iraner gezeigt zu haben, die hinter der Fassade der islamischen Republik an der Veränderung arbeiten, engagierte, intelligente Personen, von denen man im Westen nie etwas hört.» «Zahra’s Paradise» erzählt ein fiktionales Geschehen auf dem Hintergrund der jüngsten politischen Ereignisse, die noch gar nicht abgeschlossen sind – nahezu in Echtzeit. Als Journalist weiss Amir, wie rasch politische Ereignisse wieder aus dem Scheinwerferlicht der Medien verschwinden. «Unser Comic will dazu beitragen, dass Irans jüngste Geschichte im Bewusstsein präsent bleibt.»