achte Elegie - Jean Gebser Gesellschaft

Transcrição

achte Elegie - Jean Gebser Gesellschaft
Daniel Zöllner
Bewusstsein als Verhängnis?
Eine Kritik von Rilkes Begriff des „Offenen“ in der
achten Duineser Elegie
Inhaltsverzeichnis
Die achte Elegie
3
Einleitung
5
1. Überlegungen zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie
5
2. Das Bild der Tiere in den vorangehenden Elegien
7
3. Die Rangordnung der Bewusstheit im Tierreich
8
3.1. Drei Texte Rilkes
8
3.2. Mücke und Vogel
9
3.3. Fledermaus und „warmes Tier“
9
3.4. Die Rangordnung
10
4. „Das Offene“ als der Schoß
11
5. Das menschliche Bewusstsein
12
5.1. Gegenüber I: Zukunft und Tod
13
5.2. Gegenüber II: Die gedeutete Welt
14
5.3. Das perspektivische Bewusstsein
15
6. Vorläufige Zusammenfassung
16
7. Fluchtbewegungen ins „Offene“
17
8. Ein Einwand
19
9. Kritik von Rilkes Begriff des „Offenen“
20
9.1. Die Begrenztheit des „Offenen“
20
9.2. Eine Warnung
21
Abschließende Bemerkungen
22
Literaturverzeichnis
24
2
Rainer Maria Rilke:
Die achte Elegie
1
Rudolf Kassner zugeeignet
1
5
10
15
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25
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35
1
Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.
Ihn sehen wir allein; das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.
Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,
den reinen Raum vor uns, in den die Blumen
unendlich aufgehn. Immer ist es Welt
und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,
Unüberwachte, das man atmet und
unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind
verliert sich eins im Stilln an dies und wird
gerüttelt. Oder jener stirbt und ists.
Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr
und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.
Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern... Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,
von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber.
Wäre Bewußtheit unsrer Art in dem
sicheren Tier, das uns entgegenzieht
in anderer Richtung –, riß es uns herum
Entstanden am 7./8. Februar 1922 (vgl. WA 2, S. 873).
3
40
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50
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mit seinem Wandel. Doch sein Sein ist ihm
unendlich, ungefaßt und ohne Blick
auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.
Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles
und sich in Allem und geheilt für immer.
Und doch ist in dem wachsam warmen Tier
Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.
Denn ihm auch haftet immer an, was uns
oft überwältigt, – die Erinnerung,
als sei schon einmal das, wonach man drängt,
näher gewesen, treuer und sein Anschluß
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat
ist ihm die zweite zwitterig und windig.
O Seligkeit der kleinen Kreatur,
die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;
o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,
selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.
Und sieh die halbe Sicherheit des Vogels,
der beinah beides weiß aus seinem Ursprung,
als wär er eine Seele der Etrusker,
aus einem Toten, den ein Raum empfing,
doch mit der ruhenden Figur als Deckel.
Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.
Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
70
75
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.
(WA 2, S. 714-716.)
4
Einleitung
Mit dieser Arbeit wird den bereits zahlreichen paraphrasierenden Deutungen der achten Elegie keine weitere hinzugefügt. Ebenso wenig soll diese Arbeit eine bloße Zusammenfassung
der Ergebnisse bereits vorhandener Deutungen sein, so hilfreich einige davon bei ihrer Erstellung auch waren. Vielmehr soll hier Rilkes Begriff des „Offenen“, der Zentralbegriff der
achten Elegie, kritisiert werden. Deshalb erhebt die hier gegebene Interpretation der achten
Elegie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht nicht darum, alles, was dieses umfangreiche und vielschichtige Gedicht sagt, zu deuten und zu erklären, sondern lediglich die Aspekte herauszustellen, die bei der Diskussion der hier vertretenen These wichtig sind.
Diese These lautet, dass das, was Rilke als „das Offene“ bezeichnet, in Wirklichkeit ein verschlossener, begrenzter Daseinsraum2 ist. Kritik setzt zwar eine Auslegung der Elegie voraus,
muss aber gleichzeitig über das bloße Auslegen hinausgehen: Sie muss das Gedicht auch als
Gedachtes Ernst nehmen. Entscheidende Anregungen zu diesem Schritt verdanke ich erstens
Guardini.3 In der Einleitung zu seiner Interpretation der Elegien begründet er, warum er „aus
der historisch verstehenden und ästhetisch würdigenden Behandlung dichterischer Texte zu
ihrer philosophischen Beurteilung“ überging.4 Warum ich mich meinerseits berechtigt fühle,
einen ähnlichen Schritt zu tun, werde ich im ersten Kapitel dieser Arbeit begründen.
Wichtige Anregungen verdanke ich Heideggers Interpretation von Rilkes Begriff des „Offenen“. Auch Heidegger versucht Rilkes Dichtung nach-zudenken und formuliert in dem Vortrag „Wozu Dichter?“ seinerseits die These, die hier begründet werden soll: „[...] was Rilke
als das Offene erfährt, ist gerade das Geschlossene, Ungelichtete [...].“5
1. Überlegungen zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie
Es lässt sich nicht leugnen, dass die achte Elegie große Ähnlichkeiten mit einem philosophischen Text aufweist. So stellt Fues fest: „Die achte Elegie beginnt, wie philosophisches
Denken seit Platon beginnt: mit einem Reflexionsgegensatz.“6 Auch Katharina Kippenberg
rückt die achte Elegie zunächst in die Nähe der Philosophie, indem sie meint, man könne sie
„ein Gegenstück der philosophischen Erkenntnis nennen, die lehrt, daß wir die Welt nur so
2
Zum Ausdruck „Daseinsraum“ vgl. Peter Szondi: Die achte Elegie. In: Ders.: Das lyrische Drama des Fin de
Siècle. Hrsg. v. Henriette Beese. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975. S. 428. (Im Folgenden abgekürzt als „Szondi“.)
3
Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. München: Kösel 1953. (Im Folgenden abgekürzt als „Guardini“.)
4
Ebd. S. 21.
5
Martin Heidegger: Wozu Dichter? In: Ders.: Holzwege. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann 1963. S. 262.
(Im Folgenden abgekürzt als „Heidegger 1963“.)
6
Wolfram Malte Fues: Schwere Transporte. Überlegungen mit der achten Duineser Elegie. In: Interpretationen.
Gedichte von Rainer Maria Rilke. Hrsg. v. Wolfram Groddeck. Stuttgart: Reclam 1999. S. 158.
5
erfahren, wie die Form unseres Verstandes und unsere Sinne sie uns zubereiten.“ Dann fährt
sie jedoch fort: „Hier entspringt die Einsicht aus der Welt des Gefühls“.7 Entsprechend sagt
Szondi: „Die Haltung der achten Elegie könnte [...] als eine philosophisch-systematische bezeichnet werden, würde in ihr nicht alles Begrifflich-Abstrakte ins Bildhaft-Konkrete, ins
Räumlich-Sichtbare übersetzt.“8 Alle drei Zitierten wollen die achte Elegie zwar als dichterischen Text nehmen, erkennen aber starke Affinitäten zum Philosophischen in ihr.
Schon 1807 beklagte sich Hegel über „Gebilde, die weder Fisch noch Fleisch, weder Poesie
noch Philosophie sind.“9 Oskar Loerke kritisiert diese „zwitterhaften“ Gebilde, die unter dem
Namen „Gedankenlyrik“ firmieren:
Was bedeutet der Sammelname Gedankenlyrik? Er ist wohl im Hinblick auf gewisse Erzeugnisse einer nicht
sehr breiten Zeitspanne entstanden, in der die lyrische Kunst Umwege machte oder Irrwege ging. [...] Er deckt
noch immer allerlei Zwitterhaftes, was preisgegeben werden muß. Er beschützt schwache Denker, falls sie sich
eines anerkannten Vers- oder Strophenschemas bedienen. Er beschützt die trockene Abstraktion, wenn sie zu
geborgter Musik vorgetragen wird. [...]
Aber das Übelste an dem Begriff Gedankenlyrik ist sein Gegenbegriff Stimmungslyrik. [...] Sein Befehl lautet:
das Gedicht hat Stimmungen zu geben. Ein unausgesprochenes Nur klingt hörbar mit. Das Gedicht wird zur
Bagatelle neben den ausführlichen Formen, neben Epos und Drama. [...] Das höchste Gelingen vorausgesetzt, ist
in unserer Kunst der Gedanke ganz Gefühl, das Gefühl ganz Gedanke, beides ganz Anschauung.10
Ist die achte Elegie etwa eines der janusköpfigen, zwitterhaften Gebilde, über die sich Hegel
und Loerke so abfällig äußern? Folgende Wertung Katharina Kippenbergs deutet an, dass
Rilkes Elegien (also auch die achte Elegie, wie schon die Bemerkung Szondis angedeutet hat)
das erreichen, was Loerke als das „höchste Gelingen“ bezeichnet, somit echte Dichtung und
nichts Zwitterhaftes sind:
Es gibt keine noch so einfachen Sachverhalte in den Elegien, die nicht vom Strahl des Transzendenten berührt
würden, nicht vor einer letzten Grenzwacht des Geistes gestanden hätten; und wenn das nun bei so verwickelten
gedanklichen Gebilden der Fall ist, wie sie uns in den Elegien vielfach begegnen, so wird die besondere Schwierigkeit dieses Werkes verständlich. Dennoch zerbricht es nicht unter der starken denkerischen Belastung, sondern es behält immer die religiösen Eigenschaften echter Dichtung, die unauflöslich ist und voller Geheimnisse
und in ihrem Kern jeder begrifflichen Deutung zu ihrem Ruhm und Glücke spottet.11
Für Guardini ist der Autor der Elegien „kein Philosoph [...], sondern Dichter, dessen Gedanken polyphon sind, Ober- und Unter- und Nebentöne haben.“12 Und wenn Perlwitz über
7
Katharina Kippenberg: Erläuterungen. In: Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Sonette an Orpheus. Mit Erläuterungen von Katharina Kippenberg. Zürich: Manesse 1951. S. 118. (Im Folgenden abgekürzt als „Kippenberg“.)
8
Szondi, S. 436.
9
G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. S. 64.
10
Oskar Loerke: Das alte Wagnis des Gedichts. In: Ders.: Gedichte und Prosa I. Hrsg. v. Peter Suhrkamp. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958. S. 697-699.
11
Kippenberg, S. 63f.
12
Guardini, S. 333.
6
Rilkes Verhältnis zur Philosophie berichtet, unterstreicht er „R.s intuitive Gewißheit, daß er
[...] immer als Dichter und nicht als Denker agierte, auch dort, wo es ihm um abstrakte weltanschauliche und ethische Grundpositionen ging.“13
Diese Überlegungen haben den Unterschied zwischen Dichten und Denken deutlicher gemacht: Das Medium der Philosophie ist das Begrifflich-Abstrakte, das der Dichtung das Bildhaft-Konkrete. Daher sind die Figuren der Dichtung vieldeutig („polyphon“) und können
letztlich nicht begrifflich gedeutet werden. Man könnte die gewonnenen Erkenntnisse kaum
treffender formulieren als Martin Heidegger: „Das dichtend Gesagte und das denkend Gesagte
sind niemals das gleiche.“14
Aber Heidegger deutet auch eine Möglichkeit der Vermittlung von Dichten und Denken an,
denn „das eine und das andere kann in verschiedenen Weisen dasselbe sagen. Dies glückt
allerdings nur dann, wenn die Kluft zwischen Dichten und Denken rein und entschieden
klafft.“15 Diese Kluft deutlich zu machen, aber auch die Möglichkeit einer Vermittlung in den
Raum zu stellen, war Aufgabe dieses Kapitels. Das Folgende muss erweisen, ob die Vermittlung gelingt.
2. Das Bild der Tiere in den vorangehenden Elegien
Bevor ich mit der Interpretation der achten Elegie beginne, möchte ich kurz das Bild der Tiere
skizzieren, wie es in den vorangehenden Elegien entworfen wird.
Schon am Anfang der ersten Elegie sind es die „findigen Tiere“, die der „gedeuteten Welt“
des Menschen entgegengesetzt werden und es merken, daß wir darin „nicht sehr verläßlich zu
Haus sind“.16 Auch in der vierten Elegie bilden Tiere (die Zugvögel und die Löwen) ein positives Gegenbild bei der Kritik des menschlichen Bewusstseins: „Wir sind nicht einig. Sind
nicht wie die Zug- / vögel verständigt.“ „Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewußt. / Und
irgendwo gehn Löwen noch und wissen, / solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht.“17
In der ersten und vierten Elegie werden also bereits einige wichtige Motive angedeutet: Die
Tiere leben nicht in der „gedeuteten Welt“. Sie sind einig mit sich selbst und haben kein Bewusstsein von Vergänglichkeit und Sterblichkeit. Diese Motive werden jedoch erst in der achten Elegie richtig ausgesponnen. Sie gibt ein detailliertes Bild des tierischen Daseinsraums,
13
Ronald Perlwitz: Philosophie. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel unter
Mitarbeit von Dorothea Lauterbach. Stuttgart: Metzler 2004. S. 155. Rilke ist nach Heidegger aber trotzdem
„derjenige Dichter, der heute oft und eilig in die Nähe des Denkens gezerrt wird und mit viel halbgedachter Philosophie zugedeckt wird“ (Heidegger 1963, S. 252).
14
Martin Heidegger: Was heißt Denken? In: Philosophisches Lesebuch. Hrsg. v. Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a. M.: Fischer 2004. Band 3. S. 344.
15
Ebd.
16
WA 2, S. 685.
17
Ebd., S. 697.
7
den Rilke „das Offene“ nennt, kontrastiert die Welt der Tiere mit der Welt der Menschen und
beschreibt sogar feine Unterschiede im Bewusstsein verschiedener Tierarten.
3. Die Rangordnung der Bewusstheit im Tierreich
3.1. Drei Texte Rilkes
Der Keim für die achte Elegie geht auf das Jahr 1914 zurück.18 In diesem Jahr las Rilke das
Manuskript von Lou Andreas-Salomés Buch „Drei Briefe an einen Knaben“. Darin scheint
ihn eine Stelle über die Geburt von Tieren sehr beeindruckt zu haben, denn er schrieb dazu
zwei Texte, die für die Interpretation der achten Elegie so wichtig sind, dass sie hier zitiert
werden sollen. Den ersten Text trug Rilke in sein Taschenbuch ein:
. . . Daß eine Menge Wesen, die aus draußen ausgesetztem Samen hervorgehen, das zum Mutterleib haben, dieses weite erregbare Freie, – wie müssen sie ihr ganzes Leben lang sich drin heimisch fühlen, sie thun ja nichts als
vor Freude hüpfen im Schooß ihrer Mutter wie der kleine Johannes; denn dieser selbe Raum hat sie ja empfangen und ausgetragen, sie kommen gar nie aus seiner Sicherheit hinaus.
Bis beim Vogel alles ein wenig ängstlicher wird und vorsichtiger. Sein Nest ist schon ein kleiner, ihm von der
Natur geborgter Mutterschooß, den er nur zudeckt, statt ihn ganz zu enthalten. Und auf einmal, als wär es draußen nicht mehr sicher genug, flüchtet sich die wunderbare Reifung ganz hinein ins Dunkel des Geschöpfs, und
tritt erst an einer späteren Wendung zur Welt hervor, sie als eine zweite nehmend und den Begebenheiten der
früheren, innigeren, nie mehr ganz zu entwöhnen.19
Der zweite Text stammt aus einem Brief an Lou Andreas-Salomé, in dem er die Formulierungen aus dem Taschenbuch aufgreift und variiert:
Schön hab ichs aufgefaßt, wie mirs noch nie sich darstellte: dieses immer weiter Hineinverlegtsein des entstehenden Geschöpfs aus der Welt in die Innen-Welt. Daher die reizende Lage des Vogels auf diesem Wege
nach Innen; sein Nest ist ja fast ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutterleib, den er nur ausstattet und
zudeckt, statt ihn ganz zu enthalten. So ist er dasjenige von den Thieren, das zur Außenwelt eine ganz besondere
Gefühlsvertraulichkeit hat, als wüßte er sich mit ihr im innigsten Geheimnis. Darum singt er in ihr, als sänge er
in seinem Innern, darum fassen wir einen Vogellaut so leicht ins Innere auf, es scheint uns, als übersetzten wir
ihn, ohne Rest, in unser Gefühl, ja er kann uns, für einen Augenblick, die ganze Welt zum Innenraum machen,
weil wir fühlen, daß der Vogel nicht unterscheidet zwischen seinem Herzen und dem ihren. – Einerseits wird nun
dem Thierischen und Menschlichen viel zugewonnen durch die Hineinverlegung des ausreifenden Lebens in
einen Mutterleib: denn er wird um soviel mehr Welt, als draußen die Welt Betheiligung an diesen Vorgängen
einbüßt (als wäre sie unsicherer geworden, hat man’s ihr fortgenommen –), andererseits: (aus meinem Taschenbuche, voriges Jahr eingeschrieben, in Spanien, – Du wirst es erinnern, die Frage:) „Woher stammt die Innigkeit
der Kreatur“ (der übrigen): aus diesem Nicht-im-Leibe-Herangereiftsein, das es mit sich bringt, daß sie eigentlich den schützenden Leib nie verläßt. (Lebenslang ein Schooßverhältnis hat).20
Im Frühsommer 1914 griff Rilke das Thema erneut auf und schrieb einen Gedichtentwurf mit
den Anfangsworten „Siehe das leichte Insekt“.21 Aber erst 1922 fanden diese Gedanken in der
achten Elegie ihre endgültige Gestalt. Sie bilden den Keim der gesamten Elegie. Daher begin18
Mit diesem Datum und der Datierung der unten zitierten Texte halte ich mich an KA 2, S. 676.
KA 4, S. 693.
20
Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hrsg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt a. M.: Insel 1975.
S. 315f. (Im Folgenden abgekürzt als „Briefwechsel“.)
21
Vgl. WA 3, S. 416f.
19
8
ne ich mit der Interpretation ihrer dritten Strophe, in der sich die Gedanken aus Taschenbuch,
Brief und Gedichtentwurf wiederfinden.
3.2. Mücke und Vogel
Die dritte Strophe stellt eine „Hierarchie“ der Tierarten22 auf, in der das Tier umso höher
steht, je inniger sein „Schoßverhältnis“ ist. Ganz oben in dieser „Rangordnung“ steht die
Mücke. Weil sie nicht aus einem Mutterleib geboren wird, ist die ganze Welt für sie ein Mutterleib: „Schooß ist alles“ (V. 55). Daher kommt es, dass sie, wie Rilke in dem Brief formuliert, „[l]ebenslang ein Schooßverhältnis hat“.23 Die Elegie drückt dies so aus: „o Glück der
Mücke, die noch innen [also im Schoß] hüpft, / selbst wenn sie Hochzeit hat“ (V. 54f.).
Der Ursprung des Vogels ist etwas weiter „aus der Welt in die Innen-Welt“24 hineinverlegt.
Bei ihm wird „alles ein wenig ängstlicher [...] und vorsichtiger“.25 Er wird zwar, wie die Mücke, nicht aus einem Mutterleib geboren, reift jedoch in einem Nest heran. Das Nest ist, wie
der Brief sagt, „ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutterleib“.26 Dank seines Ursprungs aus dem „äußeren Mutterleib“ des Nests kennt der Vogel sowohl „das Drinnensein im
Mutterschoß“ als auch das „Draußensein, das Ausgesetztsein“.27 Daher wird für ihn die Aussage vom „sicheren Tier“ (V. 36) eingeschränkt: Der Vogel besitzt nur eine „halbe Sicherheit“ (V. 56).
3.3. Fledermaus und „warmes Tier“
Die Fledermaus „stammt aus einem Schooß“ (V. 62). Daher ist ihr der Raum, den sie durchfliegen muss, noch unvertrauter als dem Vogel. Der Vogel besaß immerhin noch eine „halbe
Sicherheit“, die Fledermaus aber ist „[w]ie vor sich selbst / erschreckt“ (V. 62f.).
Das „wachsam warme[] Tier“ (V. 43) ist schließlich die Kreatur, die nach der Geburt dem
Schoß am weitesten entfremdet ist. Sicher nicht zufällig ist seine Beschreibung gerade an den
Beginn der dritten Strophe gesetzt, als wolle das lyrische Ich seine Preisung des Tieres aus der
ersten und zweiten Strophe durch ein starkes Gegengewicht relativieren.
Und doch ist in dem wachsam warmen Tier
Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.
Denn ihm auch haftet immer an, was uns
22
Vgl. Kih-Seong Kuh: Die Tiersymbolik bei Rainer Maria Rilke – mit besonderer Berücksichtigung seiner
Vorstellung des „Offenen“. Berlin 1967. S. 129. (Im Folgenden abgekürzt als „Kuh“.)
23
Briefwechsel, S. 316.
24
Ebd., S. 315.
25
KA 4, S. 693.
26
Briefwechsel, S. 315.
27
Vgl. Jacob Steiner: Rilkes Duineser Elegien. Bern: Francke 1962. S. 203. (Im Folgenden abgekürzt als „Steiner“.)
9
oft überwältigt, – die Erinnerung,
als sei schon einmal das, wonach man drängt,
näher gewesen, treuer und sein Anschluß
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat
ist ihm die zweite zwitterig und windig. (V. 43-51)
Mit dem „warmen Tier“ ist nach übereinstimmender Meinung vieler Interpreten das Säugetier
gemeint, weil es seine eigene Körperwärme produziert.28 „Gewicht und Sorge einer großen
Schwermut“ (V. 44) sind in ihm, weil ihm „die Erinnerung“ (V. 46) anhaftet. Die „Erinnerung“ ist die Erfahrung einer schmerzlichen Sogwirkung des Schoßes, die Sehnsucht nach
der „ersten Heimat“ (V. 50), nach der sich alle Tiere zurücksehnen, die aus einem Schoß
stammen.29 Die Erinnerung ist ein Zeichen der erhöhten Bewusstheit des warmen Tiers. Weitere Zeichen dafür werden genannt: Die zweite Heimat ist „zwitterig“ (V. 51), also entzwei
gespalten und in ihr ist „alles Abstand“ (V. 49). Überdies ist das warme Tier „wachsam“ (V.
43), während im Widerspruch dazu „das Offene“ in V. 18 den Namen „das Unüberwachte“
erhalten hatte.30
3.4. Die Rangordnung
Der Weg von der Mücke über Vogel und Fledermaus zum „warmen Tier“ war ein Weg zunehmender Bewusstheit. Ich meine hier mit „zunehmender Bewusstheit“31 eine zunehmende
Entfremdung vom „Schooß“, der nach V. 55 für die Mücke „alles“ ist – eine zunehmende
Herauslösung aus dem Ganzen.32 Diese Herauslösung bedeutet auch ein zunehmendes Gegenüber-sein, wie Szondi feststellt: „[...] der Begriff des Gegenüber [erweist sich] als fähig,
innerhalb der Welt der Kreatur eine Stufenfolge aufzustellen, die aus dem Bereich des Tieres
zum Menschen hinüberleitet.“33
Die Mücke ist noch völlig in das Ganze eingelassen, sie kennt kein Innen, kein Außen, keine
Zeit. Das „warme Tier“ kennt bereits den schmerzvollen Sog der „Erinnerung“, es ist sogar
„wachsam“. Sein Bewusstseinsgrad ist demnach deutlich höher als der der Mücke, wenn auch
immer noch niedriger als der des Menschen. Es ergibt sich folgende „Rangordnung“:
28
Vgl. KA 2, S. 679; Steiner, S. 200; Kuh, S. 123.
Vgl. Szondi, S. 453f. u. S. 457.
30
Vgl. ebd., S. 452.
31
Ich vermeide den Dualismus „bewusst : unbewusst“, da man der Elegie besser gerecht wird, indem man von
gestuften „Graden der Bewusstheit“ oder „Bewusstseinsgraden“ spricht, statt schematisch „bewusst“ gegen „unbewusst“ zu setzen. So tut es z. B. Szondi, wenn er behauptet, dem Tier fehle völlig das Bewusstsein, „nur dem
Menschen“ eigne es (vgl. Szondi, S. 447 u. S. 437.). Dass ihr das Bewusstsein völlig fehle, kann man höchstens
von der „kleinen Kreatur“ (V. 52), von der Mücke sagen; schon auf den Vogel trifft es nicht mehr ganz zu.
32
Vgl. Heidegger 1963, S. 264: „Je höher das Bewußtsein, umso ausgeschlossener von der Welt ist das bewußte
Wesen.“
33
Szondi, S. 447.
29
10
– Mücke
– Vogel
– Fledermaus
↓
zunehmende
Bewusstheit
↓
– „warmes Tier“
4. „Das Offene“ als der Schoß
Wenn man sich nun mit diesen Ergebnissen den ersten beiden Versen der Elegie zuwendet, so
wird deutlich, dass ihre Aussage uneingeschränkt nur auf die kleine Kreatur, auf die Mücke
zutrifft. Nur sie ist völlig „innen“; nur sie ist ganz und gar in „das Offene“ eingelassen. Dass
man berechtigt ist, das „Innensein“ als das Sein im „Offenen“ zu betrachten, beweist eine
Stelle aus einem Brief Rilkes:
Sie müssen den Begriff des „Offenen“, den ich in dieser Elegie vorzuschlagen versucht habe, so auffassen, daß
der Bewußtseinsgrad34 des Tieres es in die Welt einsetzt, ohne daß es sie sich (wie wir es tun) jeden Moment
gegenüber stellt; das Tier ist in der Welt; wir stehen vor ihr durch die eigentümliche Wendung und Steigerung,
die unser Bewußtsein genommen hat... Mit dem „Offenen“ ist also nicht Himmel, Luft und Raum gemeint, auch
die sind, für den Betrachter und Beurteiler, „Gegenstand“ und somit „opaque“ und zu. Das Tier, die Blume,
vermutlich, ist alles das, ohne sich Rechenschaft zu geben [...].35
Mit vollem Recht lässt sich also folgende These formulieren: „Das Offene“ ist nichts anderes
als der alles umfassende Schoß.36 Sowohl „das Offene“ als auch „der Schoß“ sind Synonyme
für Rilkes berühmten Ausdruck „Weltinnenraum“.37
Hier springt erstmals der Widerspruch ins Auge, der Gegenstand meiner Kritik werden soll.
Wie kann ein „Innenraum“, der ja zwangsläufig gegen ein Außen abgeschlossen sein muss,
wie kann ein alles umhüllender Schoß als „das Offene“ bezeichnet werden?
Kaum glaubwürdig scheint mir die Option, Rilke sei sich dieses Widerspruchs nicht bewusst
gewesen. So heißt es in der sechsten Elegie: „Und wenn er [der Held] Säulen zerstieß, so
wars, da er ausbrach / aus der Welt deines Leibs in die engere Welt [...]“ (S. 651) Ganz bewusst spielt Rilke hier mit dem Paradoxon, dass der Leib der Mutter, ihr Schoß, als die weite,
offene Welt gedacht wird, im Gegensatz zu der „engere[n] Welt“ außerhalb des Schoßes. Der
Schoß kann natürlich nicht in einem räumlichen Sinn offen und weit sein. Steiner versucht
folgende Erklärung:
34
Dass auch Rilke diesen Begriff verwendet, bestätigt die Überlegungen zum Dualismus „bewusst : unbewusst“
(s. oben Fußnote 31).
35
KA 2, S. 673f.
36
Vgl. auch Steiner, S. 203, wo „das Offene“ als Synonym für den „Mutterschoß“ verwendet wird.
37
Zur Berechtigung, „das Offene“ als Synonym für „Weltinnenraum“ zu betrachten vgl. Kuh, S. 148.
11
Die Welt des mütterlichen Leibes ist darum weiter, weil der Schoß noch das Brauen der Tausenden umfaßt; die
Welt nach der Geburt aber enger, weil im Geschichtlichen die Individualität endgültig bestimmt ist und die Vielfalt der Möglichkeiten, die im Mutterschoß noch waltet, ausschließt.38
Aus dieser Deutung kann man die Folgerung ziehen, dass es in der „offenen Welt“ des Schoßes keine abgegrenzte Gestalt, keine Individualität gibt. Ein frühes Gedicht Rilkes beschreibt
diese „Ichlosigkeit“ – wenn auch vorsichtig, in Frageform. In dem Gedicht ist das Ich gleichsam über die Welt ausgestreut:
Kann mir einer sagen, wohin
ich mit meinem Leben reiche?
Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche
und als Welle wohne im Teiche,
und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche
frühlingfrierende Birke bin?39
Die Bildung eines Ich löst die Kreatur aus den unbegrenzten Möglichkeiten des „Offenen“
und engt sie ein in eine bestimmte Gestalt. Sie löst sie aus dem Schoß und stellt sie zunehmend der Welt gegenüber: Dies ist der Vorgang der Bewusstwerdung, dessen Stufen oben
an den verschiedenen Tierarten dargestellt wurden.40 Den höchsten Grad der Bewusstheit
trifft man jedoch erst beim Menschen an.
5. Das menschliche Bewusstsein
Was „das Offene“ für Rilke ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund seiner Klage über die
„Bewußtheit unserer Art“ (V. 35) verstehen. Beim Menschen haben jene Merkmale der Bewusstheit, die nach der dritten Strophe der achten Elegie bereits beim warmen Tier andeutungsweise vorhanden sind, ihren höchsten Grad erreicht. Wie Rilke in dem oben zitierten
Brief schreibt: „[...] das Tier ist in der Welt; wir stehen vor ihr durch die eigentümliche Wendung und Steigerung, die unser Bewußtsein genommen hat“.41 Entsprechend heißt es in der
achten Elegie:
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber. (V. 33f.)
Weiter unten wird diese Situation nochmals beklagt:
38
Steiner, S. 141. Damit übereinstimmend: Guardini, S. 243.
WA 1, S. 196.
40
Ich weiß nicht, ob diesem Vorgang ein evolutionäres (von Darwin beeinflusstes) Weltbild zugrunde liegt. Das
Gedicht „Weiß die Natur noch den Ruck“ (WA 3, S. 257f.) spricht jedenfalls von einem „Ruck“ in der Naturgeschichte, der von den reglosen Pflanzen zu den beweglichen Tieren führte.
41
KA 2, S. 673.
39
12
Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus! (V. 66f.)
Der klagende Ton erklärt sich daraus, dass Rilke das Gegenübersein als Gefangensein empfand, wie folgende Verse aus einem Gedicht vom November 1913 zeigen:
Ich wurde manchmal im Vorübergehn
die Wände inne, die uns stumm begleiten,
und sah erstarrt, wie auf den beiden Seiten
von Gittern die Gefangenen entstehn.42
5.1. Gegenüber I: Zukunft und Tod
„[G]egenüber sein“ (V. 34) ist keineswegs nur räumlich zu verstehen. Man sollte sich durch
die „konkrete, das Metaphysische räumlich denkende Sprache der Elegie“43 nicht irreführen
lassen. Vor allem ist es die Zukunft und der die Zukunft ab-schließende Tod, der dem Menschen gegenübersteht und ihn zum Gefangenen macht. Über den Tod heißt es in V. 10: „Ihn
sehen wir allein [...]“
Die Elegien sind voller Klagen über die Vergänglichkeit, über die unerbittlich ablaufende
Zeit. Holthusen spricht sogar von einer „Zeitfeindlichkeit“ Rilkes.44 Die Menschen sind, nach
den Worten der neunten Elegie, „die Schwindendsten“.45 Wir „nehmen immer Abschied“ (V.
75), sind also vollkommen vom Vergehen der Zeit befangen.
Als Gegenbild dient in der vierten Elegie das Bewusstsein des Kindes, das noch keine Zeit
kennt:
O Stunden der Kindheit,
da hinter den Figuren mehr als nur
Vergangnes war und vor uns nicht die Zukunft.46
Das „Offene“, als Daseinsraum sowohl des Kindes als auch des Tiers, ist zeitlos. Deshalb hat
das Tier kein Bewusstsein von der Zeit und vom bevorstehenden Tod, es ist in diesem Sinn
„[f]rei von Tod“ (V. 9) und „hat seinen Untergang stets hinter sich“ (V. 10). „[S]ein Sein ist
42
WA 3, S. 404.
Szondi, S. 433.
44
Vgl. Hans Egon Holthusen: Die Situation des Menschen in der modernen Literatur. In: Die neue Weltschau.
Zweite internationale Aussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters veranstaltet von
der Handels-Hochschule St. Gallen. Stuttgart: DVA 1953. S. 22.
45
WA 2, S. 717.
46
Ebd., S. 699. Weil es noch keine Zeit kennt, entsteht die Haltung des Kindes zum Tod, die am Ende der vierten Elegie beschrieben wird. Vgl. auch im Gedicht „Laß dir, daß Kindheit war“: „Denn zeitlos / hält sie [die
Kindheit] das Herz.“ (WA 3, S. 130. Hervorhebung von mir, D. Z.)
43
13
ihm / unendlich“ (V. 38f.), d. h. ohne Bewusstsein vom Ende.47 „Und wo wir Zukunft sehn,
dort sieht es Alles“ (V. 41).
5.2. Gegenüber II: Die gedeutete Welt
Gegenüber steht dem Menschen – neben Zukunft und Tod – „Gestaltung“ (V. 8) und „Welt“
(V. 16 und 29). Mit diesen Ausdrücken ist gemeint, was die erste Elegie als „gedeutete[]
Welt“48 bezeichnet.
Welt ist [in der achten Elegie] gleichsam der „Raum“, den der Mensch mit dem Koordinatensystem des Geistes
überzogen hat. In ihr hat fortan alles seine eigene Stelle, an die es gehört, die es festlegt und von dem übrigen,
das anderswo seinen Ort hat, unterscheidet.49
Es ist eine Welt, die der Mensch sich „zu eigen gemacht“ hat, wie es in einem der „Sonette an
Orpheus“ heißt:
Wir machen mit Worten und Fingerzeigen
uns allmählich die Welt zu eigen,
vielleicht ihren schwächsten, gefährlichsten Teil.50
Doch nicht nur durch die Sprache macht sich der Mensch die Welt zu eigen. Besonders eindringlich beschreibt Heidegger diesen vielgestaltigen Vorgang:
Der Mensch stellt die Welt auf sich zu und die Natur zu sich her. Dieses Her-stellen müssen wir in seinem weiten und mannigfaltigen Wesen denken. Der Mensch bestellt die Natur, wo sie seinem Vorstellen nicht genügt.
Der Mensch stellt neue Dinge her, wo sie ihm fehlen. Der Mensch stellt die Dinge um, wo sie ihn stören. Der
Mensch verstellt sich die Dinge, wo sie ihn von seinem Vorhaben ablenken. Der Mensch stellt die Dinge aus, wo
er sie zu Kauf und Nutzen anpreist. Der Mensch stellt aus, wo er sein eigenes Leisten herausstellt und für seine
Gewerbe wirbt. Im vielfältigen Herstellen wird die Welt zum Stehen und in den Stand gebracht. Das Offene wird
zum Gegenstand und so auf das Menschenwesen zu-gedreht.51
Weil er der „vor-gestellten“ Welt gegenübersteht, sieht der Mensch nur Sektoren seines „Koordinatensystems“. „Das Offene“ dagegen ist ein „Nirgends ohne Nicht“ (V. 17).52 Es ist ein
Nirgends „im Unterschied zu jedem ‚Hier, Da, Dort’ [...]. [Dieses Nirgends] entsteht aber
nicht durch Negation, durch ein ‚Nicht’ im Sinne der Aussage ‚nicht hier, sondern dort’, son-
47
Vgl. Szondi, S. 437. Dieser Gedanke findet sich bereits in einem Gedicht aus dem Stundenbuch: „Herr: Wir
sind ärmer denn die armen Tiere“ (WA 1, S. 348f.).
48
WA 2, S. 685.
49
Szondi, S. 438.
50
Aus dem XVI. Sonett des ersten Teils. (WA 2, S. 741.)
51
Heidegger 1963, S. 265f.
52
Das „Nirgends ohne Nicht“ (V. 17) und der „reine[] Raum“ (V. 15) sind nur andere Namen für „das Offene“:
„[...] durch jede Bestimmung erwächst dem Offenen ein weiterer Name.“ (Guardini, S. 306f.)
14
dern ist reine Fülle, Überwindung jedes ‚Hier’ im einfachen Sein.“53 Ihm eignet also nicht die
Sektorierung der gedeuteten Welt, in deren Koordinatensystem alles einen Platz hat.
Zu der Zeitlosigkeit des „Offenen“ gesellt sich somit seine Raumlosigkeit. Wenn das Offene
den Namen „reine[r] Raum“ (V. 15) erhält, darf man sich davon nicht irreführen lassen: Damit ist, wie das Adjektiv „rein“ zeigt, nicht der vom Koordinatensystem sektorierte Raum der
gedeuteten Welt gemeint, sondern der Ort, „in dem alles Eines ist“, „die Freiheit von Hier
oder Da“.54
5.3. Das perspektivische Bewusstsein
Eine einleuchtende Bezeichnung für die Art des Bewusstseins, die die achte Elegie beklagt,
hat Jean Gebser mit dem Begriff des „perspektivischen Bewusstseins“ gefunden.55 Auch Steiner greift diesen Begriff bei seiner Interpretation der achten Elegie auf:
Seit der Renaissance hat der abendländische Mensch sein Bild von der Außenwelt auf einen bestimmten Punkt
hin ausgerichtet und alles, was im Raum ist, nur als Funktion dieser zentral-perspektivischen Ordnung des
Raums aufgefaßt. Diese Ordnung stellte das Ich des Menschen in die Mitte der Welt und stufte das Umgebende
in bezug auf die Nähe zu diesem Ich nach Größe und Wichtigkeit ein. Die optische Zentralperspektive aber ist
nur eine Metapher für das ganze In-der-Welt-Sein des Menschen, eine sehr taugliche Metapher jedoch. Der zentrale Fluchtpunkt unseres Daseins und Tuns ist der in der Zukunft liegende Tod. Unser schauendes Ich, das die
perspektivische Welt entwirft, ist das Nächste und Größte. Aber unausweichlich läuft diese Welt, in der es sich
befindet, auf den Tod zu. Auf ihn zu verengt sie sich, und schließlich wird alles in ihm, dem einzigen Fluchtpunkt, zusammenfallen. Ihn müssen wir demnach als das Ende unseres Daseins konzipieren, und deshalb versuchen wir im Leben Verhafteten diesen Fluchtpunkt ängstlich hinauszuschieben. Aber unsere Welt ist und
bleibt durch die Fluchtlinien auf ihn zu abgeschlossen.56
Auch die übrigen Kennzeichen, die für Rilkes Beschreibung des menschlichen Bewusstseins
namhaft gemacht wurden, finden sich in Gebsers Charakterisierung des perspektivischen Bewusstseins wieder:
Denn perspektivisch sehen oder denken heißt: räumlich fixiert sehen und denken. Wir wiesen schon verschiedentlich auf die jeder Perspektivierung innewohnende Gegensätzlichung hin; sie fixiert sowohl den Betrachter als auch das Betrachtete; ihre positive Folge ist: sie konkretisiert sowohl den Menschen als den Raum;
die negative Folge ist: sie stellt den Menschen in einen Teilsektor, so daß er nur dieses Teilsektors ansichtig
wird: er löst aus dem Ganzen nur jenes Stück heraus [...], das sein Blick oder sein Denken umfassen kann, und
vergißt der daneben, darüber oder der möglicherweise auch hinter ihm liegenden „Sektoren“ [...]. Der Mensch, er
selbst nur ein Teil der Welt, räumt diesem Teil und damit der ihm selber nur möglichen Teilansicht die beherrschende Stellung ein: damit erhält der Sektor das Übergewicht über den ganzen einschließenden Kreis; es
erhält der Teil das Übergewicht über das Ganze.57
53
Guardini, S. 306.
Ebd., S. 305.
55
Die Charakteristika dieser Bewusstseinsart sind ausführlich dargestellt in: Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. 3. Aufl. München: DTV 1988. S. 38-60. (Im Folgenden abgekürzt als „Gebser“.)
56
Steiner, S. 186f.
57
Gebser, S. 51.
54
15
Nach Gebsers „Geschichte der Bewusstwerdung“ gelangte das perspektivische Bewusstsein
erst in der Renaissance zum Durchbruch.58 Zuvor war das Bewusstsein des europäischen
Menschen – laut Gebser – „unperspektivisch“.59 Die historische Gebundenheit des perspektivischen Bewusstseins ist also offensichtlich, wenn man die Erkenntnisse Gebsers berücksichtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob Rilke sich der Zeitgebundenheit seiner Beschreibung
des menschlichen In-der-Welt-Seins auch bewusst war.
6. Vorläufige Zusammenfassung
Nun können die bisher gewonnen Erkenntnisse über „das Offene“ einerseits und das „perspektivische Bewusstsein“ andererseits zusammengefasst werden. Dies geschieht in Form
einer Tabelle.
„Das Offene“
Das perspektivische Bewusstsein
„Erste Heimat“: Schoß
„Zweite Heimat“: nach der Geburt, draußen,
vom Schoß entfremdet
Ichlosigkeit
Ichhaftigkeit (Individualität)
Zeitlosigkeit
Zeitlichkeit („ablaufende Zeit“)
Raumlosigkeit, „Nirgends ohne Nicht“
Raumbetontheit, Sektorierung („gedeutete
Welt“)
Einheit
Spaltung (Innen – Außen, Subjekt – Objekt)
ins Ganze eingelassen, eingeflochten
aus dem Ganzen gelöst, „gegenüber“
60
Jetzt ist klarer, warum Rilke den „Schoß“ als „das Offene“ bezeichnet. „Das Offene“ steht für
einen Daseinsraum, der einem sehr niedrigen Bewusstseinsgrad entspricht. Der niedrige Bewusstseinsgrad löscht das Bewusstsein von Zeit und (physikalischem) Raum, löst das Ich
weitgehend auf (wie das Wasser die Tablette) und lässt sie in Bezüge und Verflechtungen ein,
58
Vgl. ebd., S. 38.
Die Charakteristika des unperspektivischen Bewusstseins sind dargestellt bei Gebser, S. 35-38.
60
Bildquelle: Georges Pfeiffenschneider: Unterwegs nach Gebserville. In:
http://www.integraleweltsicht.de/Transparente-Welt/unterwegs_nach_gebserville1.htm (17. 3. 07).
59
16
von denen das perspektivische Bewusstsein sie ausschloss. Besonders klar wird dies bei Heideggers Nach-Denken von Rilkes Begriff des „Offenen“:
Das Offene läßt ein. Das Einlassen bedeutet jedoch nicht: Eingang und Zugang gewähren zum Verschlossenen,
als sollte Verborgenes sich entbergen, damit es als Unverborgenes erscheine. Einlassen bedeutet: einziehen und
einfügen in das ungelichtete Ganze der Züge des reinen Bezugs. Das Einlassen hat als die Weise, wie das Offene
ist, den Charakter des Einbeziehens nach der Art der Schwerkraft der reinen Kräfte. Je weniger dem Gewagten
der Einlaß in den reinen Bezug verwehrt ist, um so mehr gehört es in das große Ganze des Offenen.61
7. Fluchtbewegungen ins „Offene“
Es gibt auch für den Menschen Möglichkeiten, „das Offene“ zu sehen. Es sind dies Situationen, in denen das Ich entweder noch nicht gefestigt ist oder sich wieder aufzulösen beginnt.
Das „frühe Kind“ (V. 6) sieht es noch, wird dann aber durch die Erziehung in die gedeutete
Welt eingeordnet (vgl. V. 6-8). Der Sterbende kann es wieder sehen (vgl. V. 21-23).
Die Liebenden können es anfangs sehen – „in den ersten Liebesaugenblicken, wo ein Mensch
im anderen, im Geliebten, seine eigene Weite sieht“,62 wie Rilke in dem die achte Elegie
kommentierenden Brief schreibt –, stoßen jedoch dann im Anderen erneut auf eine Wand. In
der Elegie stehen folgende Verse:
Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern... Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt. (V. 24-28)
Das Sein im „Offenen“ schließt Individualität und eine Beziehung zwischen zwei Individuen
aus, da eine solche Beziehung schon eine Spaltung der Einheit bedeuten würde.63 Dieser Gedanke ist nur konsequent, wenn man „das Offene“ so denkt wie Rilke in der achten Elegie.
Aber meiner Ansicht nach verkennt er auf diese Weise das Wesen der Liebe, die eine
Schwingung zwischen zwei Polen ist, aus deren Ineinanderspiel eine Ganzheit entstehen kann,
ohne dass dabei die Individualität verloren ginge.
Bedenklich wird die Sehnsucht nach einem Ausweg aus der verschlossenen Welt vor allem
dann, wenn sie zur Sehnsucht nach Rückverwandlung wird: zurück ins Tiersein, ins Pflanzesein – oder gar ins vollkommen bewusstlose Dingsein. Und all diese Ausflüchte findet man
61
Heidegger 1963, S. 262f.
KA 2, S. 674.
63
Zu Rilkes „Liebeslehre“ vgl. Guardini, S. 326-328.
62
17
bei Rilke.64 Besonders aussagekräftig ist ein Gedicht, das Ende Januar 1922, also kurz vor der
achten Elegie entstand.
O Sorge oft um euch, die ihr nicht lest...
oh Wesende, im Grund der langen Tage, –
womit vergeht die Zeit, dieweil ihr west?
Ihr kennt sie nicht, zwar krankt ihr und genest,
fliegt auf in Lust und schleppt euch hin in Plage –,
doch euch geschiehts in seltsamem Zugleich.
Das arm und reich, das Klare und das Trübe
ist nur am Rand, an den uns unser Streben
hinausgedrängt hat aus der Mitte Leben;
nun warten wir, daß einer niedergrübe
zurück zu euch, damit wir beides wären,
zertrennt und einig. Könnten wir als Schläfer
wenigstens weilen in den innern Sphären
und wachend wissen, daß wir unten Käfer,
Wurm, Larve waren, vor uns selbst versteckt;
kein selig sich vermählendes Insekt,
nein, meinetwegen eins mit halbzerstörten
Florflügeln, welches schon Verzicht getan
auf einen Teil der in den Lebensplan
der dumpfen Einfalt eingeweihten Beine...
Nur daß wir einmal in das Eine
hineingehörten!65
„[D]ie ihr nicht lest“ – hier sind die Tiere gemeint, die sich der Zeit nicht bewusst sind und
denen daher, wie es weiter unten heißt, alles „in seltsamem Zugleich“ geschieht und deren
Welt nicht in Gegensätze (wie „arm und reich“ oder „klar und trüb“) gespalten ist.66 Nach
diesem Sein sehnt sich nun der Mensch zurück. Mit dem „selig sich vermählende[n] Insekt“
wird eindeutig ein Bezug zur Preisung der Mücke in der achten Elegie hergestellt. Diese Preisung muss man als Hintergrund sehen, will man die Sehnsucht des lyrischen Ich nach einer
Verwandlung in das Sein des Insekts verstehen – eine Sehnsucht, die sogar einen zerstörten
Körper als Hülle akzeptieren würde. Das Gedicht schließt mit dem Ausruf, der besonders
deutlich den Drang nach der Aufhebung der Individualität zum Ausdruck bringt: „Nur daß wir
einmal in das Eine / hineingehörten!“
In einem mehr metaphorischen Sinn heißt es in einem anderen Gedicht: „uns sei Blume-sein
groß.“67 Aber die vorangehende Preisung der Blumen, die auf „Gang und gewillte Be-
64
Vgl. die Zusammenstellung bei Fingerhut. (Karl-Heinz Fingerhut: Das Kreatürliche im Werke Rainer Maria
Rilkes. Untersuchungen zur Figur des Tieres. Bonn: Bouvier 1970. S. 125-132. Im Folgenden abgekürzt als
„Fingerhut“.)
65
WA 3, S. 464f.
66
Vgl. Fingerhut, S. 125f.
67
WA 3, S. 258.
18
wegung“68 verzichten, lässt vermuten, dass auch hier die Sehnsucht nach einer tatsächlichen
Verwandlung ins unbewusste Pflanzendasein zumindest im Hintergrund steht.69
Nach den Worten des Gedichts „Der Schauende“ aus dem „Buch der Bilder“ sollten wir „ähnlicher den Dingen“ werden, denn dann würden wir „weit und namenlos“70 – d. h., wir büßten
unser Ich ein und lösten uns in die Weite auf.
8. Ein Einwand
Die Fluchtbewegungen ins „Offene“ wurden vor allem deshalb thematisiert, weil sie deutlich
machen, dass es Rilke bei einer Preisung des Tiers und des sogenannten „Offenen“ nicht belässt, sondern auch einen starken Drang dorthin entwickelt.
Erst jetzt kann ich zu einem Einwand Stellung nehmen, der sich gegen das bisher Gesagte
erhebt. Er findet sich bei Fingerhut: Rilke mache durchaus „einen Unterschied zwischen dem
Offenen, in dem die Kreatur schon immer ‚west’ und dem Offenen, das als eigentliches Ziel
der menschlichen Bemühungen um eine wahre Beziehung zum Sein vorgestellt wird [...]“71
Die „Kosmogonie“ Rilkes paraphrasiert Fingerhut nun wie folgt: „Das Offene“, in dem die
Kreatur lebt ist nur die erste Stufe eines Dreischritts. Der Mensch hat diese Stufe verlassen
und befindet sich nun auf einer zweiten Stufe, in der gedeuteten Welt. Seine Chance besteht
jedoch darin, das verlorene „Offene“ der ersten Stufe nach dem Durchgang durch die gedeutete Welt auf einer höheren Ebene wiederzugewinnen.72 Dieser Chance könne die
Erinnerung an „das Offene“ dienen, in dem die Kreatur lebt.
Doch die angeführten Beispiele haben gezeigt: Selbst wenn Rilke den Sprung auf eine „dritte
Stufe“ mancherorts bejaht,73 selbst wenn sich bei ihm Ansätze zur Bewältigung dieses Sprunges finden – mindestens ebenso stark ist sein Drang nach rückwärts, seine Sehnsucht nach
dem Zurücktauchen ins „Offene“, in dem die Kreatur lebt. Gerade dieser Drang ist es aber,
den ich kritisieren möchte und daher besonders herausstellen musste. Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass Rilke ein Dichter und kein Philosoph ist. Sein Begriff des „Offenen“ ist
(wenn man sein Gesamtwerk berücksichtigt) nicht eindeutig festzulegen und enthält Widersprüche.
68
WA 3, S. 257.
Das gleiche Motiv in einem der „Sonette an Orpheus“: Nr. XIV des zweiten Teils (WA 2, S. 760).
70
WA 1, S. 459.
71
Fingerhut, S. 102.
72
Vgl. ebd., S. 105.
73
Fingerhut bezieht sich vor allem auf eine Stelle des Gedichts „Wie die Natur die Wesen überläßt“ (WA 3, S.
261). Wenn dort die Rede ist vom „Sichersein“ „außerhalb von Schutz“, das der Mensch durch die Wendung
seines Schutzlosseins ins Offene erwerben kann (also gerade nicht durch die Rückkehr in den schützenden
Schoß!), so ist dies zweifellos eine der zukunftsträchtigen Stellen im Werk Rilkes.
69
19
Wenn im Folgenden vom „Offenen“ die Rede ist, so ist damit jedenfalls stets das Offene gemeint, in dem das Tier lebt. Der zukunftsweisende Begriff des „Offenen“, der sich ebenfalls
im Werk Rilkes finden lässt, ist nicht Thema dieser Arbeit.
9. Kritik von Rilkes Begriff des „Offenen“
9.1. Die Begrenztheit des „Offenen“
Rilke ist sich in einigen Gedichten durchaus bewusst, dass das Sein im „Offenen“ auch eine
(aus menschlicher Sicht könnte man fast sagen: tragische) Begrenztheit für die Kreatur mit
sich bringt. Die achte Elegie spricht zwar vom „freie[n] Tier“ (V. 10), der Brief über diese
Elegie sogar von einer „unbeschreibliche[n] Freiheit“, die Tier und Blume „vor sich und über
sich“ hätten.74 Im Widerspruch dazu steht die Charakterisierung der Tiere in einem anderen
Gedicht:
[...] voll
in sich gewohnte Tiere, deren Aug
aus ihres Lebens Rundung anders nicht
hinausreicht als ein eingerahmtes Bild [...]75
Betrachtet man diese Verse tatsächlich als Vorstufe zu V. 38-40 der achten Elegie,76 so fallen
die Widersprüche auf: Nach den Worten der Vorstufe reicht das Auge des Tieres als „eingerahmtes Bild“ aus seinem Leben. Nach der Elegie dagegen ist das Sein des Tieres
„ungefaßt“, also gerade nicht „eingefasst“ (wie z. B. ein Edelstein in einer Fassung77) oder
eingerahmt. Überdies werden die Tiere in den zitierten Versen als „voll / in sich gewohnt“
bezeichnet. Das heißt, dass die Tiere eingerahmt, eingegrenzt sind von ihren Gewohnheiten
(Trieben und Instinkten). Ihnen kann nichts Ungewohntes begegnen – genau genommen kann
ihnen überhaupt nichts begegnen, denn sie sind („narzisstisch“) völlig in sich selbst befangen.78 Diese Eigenschaften des Tiers kommen schon in einem frühen Gedicht aus dem
„Buch der Bilder“ zum Ausdruck:
O wie sind die Tiere so viel treuer,
die in Gittern auf und niedergehn,
ohne Eintracht mit dem Treiben neuer
fremder Dinge, die sie nicht verstehn;
74
KA 2, S. 674.
WA 3, S. 39.
76
So Fingerhut: Anm. 153 auf S. 107.
77
Vgl. KA 2, S. 679.
78
Vgl. Heidegger 1963, S. 261: „[...] was Rilke als das Offene erfährt, ist gerade das Geschlossene, Ungelichtete,
das im Schrankenlosen weiterzieht, so daß ihm weder etwas Ungewohntes, noch überhaupt etwas begegnen
kann.“
75
20
und sie brennen wie ein stilles Feuer
leise aus und sinken in sich ein,
teilnahmslos dem neuen Abenteuer
und mit ihrem großen Blut allein.79
In dem Gedicht „Der Hund“80 beschreibt Rilke ein Tier, das den Drang verspürt, seine eng
begrenzte Welt zu transzendieren, weil es stets in Kontakt mit einer anderen Welt – der Welt
der Menschen – steht. Der letzte Vers macht jedoch deutlich, dass dies für den Hund unmöglich ist: Würde er Einlass in die Welt der Menschen finden, so „wäre [er] nicht“. Eine
Transzendierung seines beschränkten Seins ist ihm unmöglich.
Es hat sich gezeigt, dass Rilke selbst die Begrenztheit des „Offenen“, in dem die Tiere leben,
erkannt hat. Dennoch verherrlicht er es in der achten Elegie und bringt in einigen Gedichten
sogar die Sehnsucht nach einer Metamorphose, die den Menschen in dieses „Offene“ einlässt,
zum Ausdruck. Der Grund dafür ist in Rilkes Drang nach der Auflösung des Ich zu suchen.
Und genau davor ist nun eine Warnung angebracht.
9.2. Eine Warnung
Guardini hebt im Nachwort zu seiner Interpretation der Duineser Elegien besonders diesen
Drang nach der Auflösung des Ich hervor. Rilke sei zwar „einer der konsequentesten Individualisten der ausgehenden Neuzeit“81 gewesen.
Dieser konsequenteste aller Individualisten aber – und damit berühren wir das innerste Problem seiner an Problemen so reichen Gestalt – löst die Personalität auf. Dadurch stellt er den Kern in Frage, der das Dasein zusammenhält; den Ursprung, aus welchem die Akte des Urteils, der Wertung und Entscheidung hervorgehen; die
Voraussetzung, auf der alles ruht, was Eindeutigkeit, Existenzfestigkeit und Charakter heißt.82
Wenn dieser Kern sich auflöst, verliert der Einzelne den Boden unter den Füßen.
Die Freiheit des Individuums ist anderer Art als die der Pflanze oder des Tiers: Sie beruht auf
Ich-Bewusstsein, Verantwortlichkeit, auf Richtung (in allen Bedeutungen des Wortes) und
Entgegensetzung. Es war diese Freiheit, vor der Rilke ins „Offene“ fliehen wollte83 – in dieses
„Offene“, das ihn durch sein Schillern zwischen Allverbundenheit und narzisstischer Begrenztheit so betörte und anzog. Aber was er „das Offene“ nannte, ist aus Sicht des Individuums nichts als eine andere Art des Gefangenseins: das Gefangensein im Schoß.
79
Aus: „Die Aschanti“ (WA 1, S. 395).
Vgl. WA 2, S. 641.
81
Guardini, S. 422.
82
Ebd., S. 423.
83
Erinnert sei hier an den Titel eines Buches von Erich Fromm: „Escape from Freedom“.
80
21
Abschließende Bemerkungen
„Ort für Ort / Sind wir im Innern“,84 schrieb noch Goethe, allerdings schon polemisch gegen
diejenigen gerichtet, die überzeugt waren, dass wir ganz und gar „außen“ und der Natur „gegenüber“ seien. Ich weiß nicht, ob der Satz Goethes wirkliches Empfinden wiedergab oder
bloßes Wunschdenken war.85 Gut hundert Jahre später schrieb jedenfalls Rilke in seiner achten Elegie das Gegenübersein des Menschen fest. Viele empfanden damals wie er, und viele
suchten ähnliche Fluchtwege wie er. Hofmannsthal, ein Zeitgenosse Rilkes, sah das besonders
deutlich:
Nach rückwärts zieht die Verführung, die nervenbezwingende Nostalgie, die Sehnsucht nach der Heimat: sie ist
das Nationalitätenfieber, sie Heilsarmee und neues Christentum, sie ringt in Tönen nach dem Gral, zu dem keiner
zurückfindet, sie ist das Letzte aller Ermatteten [...]. Zurück zur Kindheit, zum Vaterland, zum Glaubenkönnen,
zum Liebenkönnen, zur verlorenen Naivetät: Rückkehr zum Unwiederbringlichen.86
Es würde zu weit führen, wollte ich hier alle bedeutenden Künstler und Denker aufzählen, die
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Rilke am perspektivischen Bewusstsein litten,
die es wie ihn ins Offene drängte, und die wie er nur im Rückweg in den Schoß einen Ausweg
sahen. Als programmatisch für diese Tendenz kann der Titel von Alfred Seidels Buch „Bewußtsein als Verhängis“87 gelten. Außerdem wären noch die Werke E. M. Ciorans zu nennen,
der geradezu eine Sucht nach dem pränatalen Zustand zum Ausdruck bringt.88
Ein anderer Zeitgenosse Rilkes kannte diese Sucht ebenso gut: Gottfried Benn. Unter den
vielen seiner Gedichte, die irgendeine Form der Rückverwandlung beschwören, zitiere ich
hier nur das deutlichste:
O daß wir unsere Ururahnen wären,
ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
84
In dem Gedicht „Allerdings. Dem Physiker“. (Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte. München: Beck 2007.
S. 359.)
85
Über den Unterschied zwischen Goethes und Rilkes Naturbegriff vgl. die interessante Bemerkung bei Guardini, S. 324.
86
Hugo von Hofmannsthal: Das Tagebuch eines Willenskranken. In: Ders.: Reden und Aufsätze I. 1891-1913.
Frankfurt a. M.: Fischer 1979. S. 106.
87
Alfred Seidel: Bewußtsein als Verhängnis. Aus dem Nachlasse hrsg. v. Hans Prinzhorn. Bonn: Cohen 1927.
Nicht nur wegen seines programmatischen Charakters habe ich den Titel dieses Buchs – mit einem skeptischen
Fragezeichen versehen – als Titel meiner Hausarbeit zitiert, sondern auch, weil das Wort „Verhängnis“ einen
Doppelsinn hat: Es heißt sowohl „schicksalhaftes Unglück“ als auch „etwas, das das Offene verhängt (verschließt, verstellt)“ und ist daher ein ungemein treffender Ausdruck für Rilkes Begriff des Bewusstseins.
88
Eines seiner Bücher trägt den Titel „De l’inconvénient d’être né“ („Vom Nachteil geboren zu sein“). Er überrascht nach dem, was über Rilkes Preisung des Mutterschoßes gesagt wurde, nicht mehr.
22
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.89
Deutlicher kann man die Sehnsucht nach der Metamorphose nicht beschreiben. Diese Sehnsucht ist zumindest fragwürdig: Wer ihr wirklich nachgeht, flüchtet aus dem wachen Bewusstsein in Exzesse der Berauschung, oder er gibt sein Ich im „Wir“ der Masse auf. Sicher,
der Dichter darf auch Ketzerisches sagen und beunruhigen, er ist alles andere als ein Moralapostel – gerade deswegen sollte man eine kritische Distanz zu ihm wahren. Ich schlage vor,
Guardinis Warnung, die oben zitiert wurde, sehr ernst zu nehmen. Dies umso mehr, als die
von Benn so deutlich ausgesprochene Sehnsucht auch heute noch im Bewusstsein vieler
Menschen virulent ist.
Über all dem Fragwürdigen, in dessen Nähe Rilke durch die Kritik seines Begriffs des „Offenen“ nun gerückt wurde, sollte aber das Übrige nicht vergessen werden: Die Aufrichtigkeit
und Kraft, mit der Rilke dem Leiden am perspektivischen Bewusstsein allgemeingültigen
Ausdruck verlieh.90 Außerdem die Tatsache, dass auch zahlreiche Ansätze zu einer wirklich
erneuerten und intensivierten Bewusstheit bei Rilke zu finden sind – Ansätze, die vielleicht
dem nahekommen, was Jean Gebser als das aperspektivische Bewusstsein bezeichnet. Bei
diesem Terminus soll das alpha privativum eine Überwindung des perspektivischen Bewusstseins zum Ausdruck bringen, eine Befreiung von der Perspektive, bei der dennoch keine Auflösung im Un-perspektivischen erfolgt.91
89
Aus: „Gesänge“ (Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. S. 23.)
Für Szondi ist die achte Elegie „eines der vollkommensten Gedichte deutscher Sprache“ (Szondi, S. 429).
91
Zu einer Charakterisierung dieser intensivierten Bewusstheit s. Gebser, S. 60-69.
90
23
Literaturverzeichnis
Primärtexte
Benn, Gottfried: Sämtliche Gedichte. 5. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.
Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. München: Beck 2007.
Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986.
Hofmannsthal, Hugo von: Das Tagebuch eines Willenskranken. In: Ders.: Reden und Aufsätze I. 1891-1913. Frankfurt a. M.: Fischer 1979. S. 106-117.
Loerke, Oskar: Das alte Wagnis des Gedichts. In: Ders.: Gedichte und Prosa I. Hrsg. v. Peter
Suhrkamp. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958. S. 692-712.
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