Essay - CEJSH

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Essay - CEJSH
ACTA
UNIVERSITATIS
LODZIENSIS
F O L IA G E R M A N IC A 1, 1997
Bernhard Gajek
W IE FREI IST DIE KUNST?
Ü BERLEG UNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON LITERATUR
U N D M ORAL
Essay*
MORAL-ÖFFENTLICH UND PRIVAT
In L udw ig T h o m a s k lassisch er K o m ö d ie M o ra l tr itt ein G y m n a sia l-professor auf, der seit einigen Jah ren die „obszöne P ro d u k tio n [...]
au fm erk sam v erfo lg t“ ; er rü h m t seine S am m lung als die „h eu te wohl
vollständigste“ und b etont, er rede von einer Sache, üb er die er „genau
in fo rm iert“ sei. Seine E n trü stu n g beeindruckt: „Es ist unglaublich, bis zu
welchem G ipfel der G em einheit m an heute gelangt ist!“ „ M it A b scheu“
habe er „sich dieser A ufgabe unterzogen“ . Die einzige Befriedigung, die er
dabei em pfinde, sei „d ie R ettu n g unseres V olkes“ . D er Z u sch a u er ist
geneigt, ihn als K äm pfer für M oral anzusehen.
Allein: M o ral ist n u r d an n ein K om ö dienth em a, w enn sie ins W anken
kom m t. D er Professor - m it dem T h o m a einen L ehrer des Theresiengym nasium s in M ünchen m einte - ist den V erlockungen seines Sam m elgegenstandes bereits erlegen. E r und die anderen M itglieder des örtlichen S ittlichkeitsvereins pflegen heim lich eine D am e zu besuchen, die „in K o n flik t m it
der M o ra l“ steht und soeben von der Polizei verhaftet w orden ist. Ih r
T agebuch landet a u f dem Schreibtisch des untersuchenden Assessors; es
verzeichnet die Besucher, d aru n te r die Vereinsm itglieder. Ihnen gelingt es,
*
E rstverö ffen tlich un g in: „B lick in die W issenschaft. F o rschu ng sm agazin d e r U niv ersität
R eg en sb urg “ 1993, Jg. 2, H . 2, S. 4 -1 3 . F ü r die bereitw illig erteilte E rla u b n is zum A b druck
sei dem U niversitätsverlag R egensburg au frich tig ged ank t.
die B loßstellung m it List und G eld zu verhindern, und die öffentliche M oral
bleibt gew ahrt.
Die Z uschauer applaudierten der genießerisch vorgeführten N iederlage
von W ahrheit und guter Sitte - 1908 bei der Prem iere in Berlin wie bei
den A ufführungen in M ünchen und andersw o. D er A u to r profitierte davon.
Sein großzügiges Ila u s am Tegernsee w ar rasch bezahlt.
W enige Jah re zuvor sollte in M ax R ein hardts Berliner K a b a re tt „Schall
und R au ch “ das W ort „ P o p o “ ausgesprochen werden. In dem T extbuch,
d as der Z ensur vorgelegt w erden m ußte, schrieb m an „ P a p a “ , aber der
Z ensor vergewisserte sich: „Soll nach A ngabe der D irek tio n ,P o p o ‘ heiß en “ ;
und er strich das W ort. D er D arsteller jed och brachte den originalen
W o rtlau t a u f die Bühne, weil er von der Streichung nichts gew ußt haben
wollte. E r kon nte dan n wählen: eine G eldstrafe von 15 M ark oder I la f t
von zwei Tagen. A uch er hatte das Publikum a u f seiner Seite, und für die
nächsten V orstellungen brauchte nicht m ehr gew orben zu werden.
D ie großen wie die kleinen V erletzungen der öffentlichen M o ral zahlten
sich nicht im m er so aus. A ber im m er hatten sie zur Folge, d a ß die G erichte
sich ihrer annahm en und sie aktenkundig m achten. A uch jeder routinem äßige
Z en su rv o rg an g p rod uzierte A kten. M it ihnen w an d erten die zensierten
Stücke in die Archive; sie sind eine literarhistorische F u n d g ru b e und ein
B arom eter für die staatlich geduldete und rechtlich h an d b arc öffentliche
S exualm oral des K aiserreichs. Sie w urde auch a u ß e rh alb des T h ea ters
attack iert - vom „Sim plicissim us“ etw a, der in einer frühen, noch vor
Ludw ig T h o m as R edaktion stätigk eit erschienenen N um m er „zwei m assive
G ru n d p feiler“ des „sittlichen K u ltu rstaate s“ verhöhnte: „Polizei und P ro stitu tio n “ . D aß m anche „S im pl-R edakteure sich nicht selten an den einen
Pfeiler anlehnten und sich, m ännlich-allzum ännlich, dessen rü h m ten, stand
nicht in jenem Blatt; es gehörte zur privaten M oral und unterlag nicht der
Z ensur.
RECHTSGESCHICHTE
B ekanntlich schaffte die V erfassung des D eutschen Reiches von 1919 die
Z en su r ab und verkündete in A rtik el 118 d as R echt, „ in n e rh a lb der
S chranken der allgem einen G esetze seine M einung du rch W ort, Schrift,
D ruck, Bild oder in sontiger Weise frei zu ä u ß e rn “ . Im Prinzip entsprach
dies den §§ 1 und 2 des Reichsgesetzes über die Presse von 1874, das
allerdings die T h eaterzensu r nicht beseitigt hatte; sie w urde nach wie vor
von der Polizeibehörde ausgeübt - a u f G ru n d der V erordnung des Berliner
P olizeip räsid enten von 1851, die von den an d eren deutsch en L än d ern
übernom m en worden war. Sie sah - in Ü bereinstim m ung m it dem Allgemeinen
Landrecht fü r die Preußischen Staaten von 1794 - TheateraufT ührungen als
F rag e der öffentlichen R uhe, O rd nun g und Sicherheit an, und die un terstand
d er Polizei.
Von 1848 bis 1851 w ar die T heaterzensu r d an k dem B undesbeschluß
vom 3. M ärz 1848 und d a n k den G ru n d rech te n , w elche die deu tsche
N ationalversam m lung in der P aulskirchc beschlossen h atte, fü r kurze Zeit
stillschweigend außer K ra ft gewesen. Die Pressefreiheit jed o ch w ar geblieben
und w urde durch das erw ähnte R cichspreßgesetz von 1874 neu gefaßt. N u r
die V orzensur für öffentliche T heateraufführungen bestand weiter, und die
Polizei nahm sie weiter w ahr. D ah er m uß te Ludw ig T h o m a seine K om ödie
so abfassen, d aß die B ehörden nichts b eanstanden k o n n ten , und M ax
R ein h ard t vermied d as anstößige W ort wenigstens a u f dem P apier. E rst die
W eim arer R eichsverfassung bestim m te: „E ine Z ensur findet nicht s ta tt“
(A rtikel 118).
F o rta n stand es aber auch jedem S taatsbürger frei, gegen verm eintliche
o d er wirkliche V erletzungen der neuen G esetze vorzugehen. D a n n m ußte
ein G ericht die Gesetzm äßigkeit von K unstw erken überprüfen. D ie G egenstän d e und V orschriften des alten S trafgesetzbuches w aren w eigehend
geblieben, und so w urden Bücher od er T h eaterstücke wegen „U n sittlic h k eit“
oder „ U n z u c h t“ verklagt. D er berühm teste F all w ar A rth u r Schnitzlers
K o m ö d ie Reigen. Sie w urde 1896/1897 geschrieben, 1900 von Sam uel
F ischer in Berlin m it 200 Exem plaren „als unverkäufliches M an u sk rip t“
gedruckt, in W ien jedoch von Benjam in H arz frei vertrieben. T ro tz der
beto n t dezenten Berliner und M ü nchner A ufführungen von 1921 kam es
zu Skandal und V erbot. F ü r G ericht und G u tac h te r w urde das Stück
„geschlossen“ aufgeführt, und Alfred K err, der dam als bekannteste Berliner
T heaterkritiker, verhalf den Angeklagten zum Freispruch. „D er Reigen-Prozeß
w urde“ , wie D ieter Breuer zeigte, „zum P aradigm a eines L iteraturprozesses
gegen eine angeblich ,obszöne* L iteratu r, für die U nterlegenen aber zum
P arad ig m a für U n m o ral und V erderbtheit der R ep u b lik “ .
U m auch in heiklen F rag en der Ju gendpädagogik R echt sprechen zu
k ö n nen, w urde im D ezem ber 1926 ein Gesetz zur Bewahrung der Jugend
vor Schund- und Schm utzschriften erlassen. Es verw irklichte B estrebungen,
die H einrich W olgasts Buch Das Elend unserer Jugendliteratur (1896) m it
ausgelöst hatte; auch im A usland h atte m an d as P roblem erk an n t. In
D eutschland w ar 1914 ein G esetz entw orfen, aber wegen des K rieges nicht
m eh r verabschiedet w orden. D as G esetz von 1926 schuf regionale Prüfstellen
und eine zentrale In stitu tio n zur N achprüfung; sie k o n n ten a u f A n tra g von
Jug en db eh ö rd en U nsittlichkeit oder U nzüchtigkeit in D ruckerzeugnissen
feststellen, die V erb reitu n g u n terb in d en und Jug endlichen die L ek tü re
verw ehren. So w ohlgem eint das G esetz w ar, es k o n n te - zusam m en m it
dem 1922 nach d er E rm o rdu n g W alter R ath en au s gegen die N a tio n a lsozialisten erlassenen Gesetz zum Schutz der Republik - gegen kritische,
unliebsam e Schriftsteller angew andt werden; die R ichter w aren großenteils
dieselben wie vor 1919. D a h er fo rd erte K u rt T u cho lsky 1929 in der
„W eltb ü h n e“ : das Schund- und Schm utzgesetz m üsse fort. W ilhelm F rick,
d er im selben J a h r erster N ationalsozialist thüringischer Innen- und Volksbildungsm inistcr w urde, benutzte beide Gesetze, um K ultu rein richtu ngen
und Schulen von „u n deutschem “ Einfluß zu befreien. D as 1930 erneuerte
G esetz zum S ch u tz der R epublik und die N o tv ero rd n u n g en von 1931
sch rän kten die K unst auch politisch ein; C arl von Ossietzky bekam d as zu
spüren. 1934 gliederte Joseph Goebbels als Reichsminister für V olksaufklärung
und P ro p ag an d a die Prüfstelle für Schund- und Schm utzschriften seinem
M inisterium ein, um sie überw achen zu können. Ein Ja h r sp äter sorgte er
d afü r, d aß d as G esetz von 1926 aufgehoben wurde. W as T ucholsky verlangt
h atte, w ar nun erfüllt - freilich and ers als er gew ollt h atte. W er in
G o e b b els’ Sinne „ju g en d g efäh rd en d e“ Schriften v erfaß te o der vertrieb,
w urde m it A usschluß aus der R cichsschrifttum skam m er, d.h. B erufsverbot,
b estraft.
DAS RECHT DER GEGENWART
G egen diese Vergewaltigung von K u n st und K u ltu r sind die einschlägigen
Sätze unseres G rundgesetzes von 1949 form uliert; sie nehm en den G eist
und die F orm ulierungen der W eim arer V erfassung auf. A rtikel 5 A bsatz
1 des G rundgesetzes bestim m t: „Jeder hat das R echt, seine M einung in
W ort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten [...]. D ie Pressefreiheit
und die F reiheit der B erichterstattung durch R u n d fu n k und Film werden
gew ährleistet. Eine Z ensur findet nicht s ta tt“ . D och schon der nächste
A bsatz räu m t einen K o nflikt m it anderen G rundw erten ein: „D iese R echte
finden ihre Schranken in den V orschriften der allgem einen G esetze, den
gesetzlichen Bestim m ungen zum Schutze der Jugend und in dem R echt der
persönliche E h re“ . D as G rundgesetz nennt auch N orm en, die ihm zugrunde
liegen: „V eran tw o rtu n g vor G o tt und den M enschen“ , die „W ürde des
M enschen“ und die „M enschenrechte“ .
D ie in A rtikel 5 aufgeführten G run drech te können sich also gegenseitig
besch rän k en o d er m itein an d er kollidieren. D enn o ch w ird - in A b satz
3 - die F reiheit von „K u n st und W issenschaft, F o rsch u n g und L ehre“
hervorgehoben. W er die „F reiheit der M einungsäußerung [...] zum K am pfe
gegen die freiheitliche dem okratische G ru n d o rd n u n g m iß b rau ch t, verw irk t“
sie, - so A rtikel 18 des G rundgesetzes.
JU G E N D S C H U T Z H E U T E
A rtikel 2 A bsatz 1 des G rundgesetzes g aran tiert „d as Recht a u f die freie
E ntfaltung d er Persönlichkeit“ . U m K indern und Jugendlichen eine solche
E n tfaltu n g zu erm öglichen, erließ der B undestag „gesetzliche B estim m ungen
zum Schutze d er Ju g en d “ , die vor M edien, welche die sozialethische
R eifung Jugendlicher beeinträchtigen können, schützen sollen. D as Gesetz
über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften von 1953 w urde m ehrfach,
zuletzt 1985 neu gefaßt; cs schließt an das Gesetz zur Bewahrung der Jugend
vor Schund- und Schm utzschriften vom D ezem ber 1926 an. Es betrifft den
V ertrieb und das D arbieten von D ruckerzeugnissen und M edien - au ß er
K inofilm en, für die die Freiwillige Selbstkontrolle zuständig ist - „die
geeignet sind, K inder od er Jugendliche sittlich zu gefäh rd en “ , und zielt vor
allem a u f „unsittliche, verrohend w irkende, zu G ew alttätigkeit, V erbrechen
oder R assenhaß anreizende sowie den K rieg verherrlichende S chriften“ .
H inzukom m en V orschriften des Strafgesetzbuches. In § 131 w erden „V erherrlichung von G ew alt“ und „A ufstachelung zum R assen h aß “ generell m it
Strafe bedroht. § 184 verbietet die „V erbreitung pornograp h isch er S chriften“
an Personen unter achtzehn Jah ren und bedroh t allgem ein P o rnograp hie,
„die G ew alttätigkeiten, den sexuellen M ißb rau ch von K ind ern oder sexuelle
H andlungen von M enschen m it Tieren zum G egenstand h ab en “ , m it Strafe.
W as „der K u n st oder der W issenschaft, der F o rsch u n g od er der Lehre
d ien t“ , ist nach § 1 des Jugendschutzgesetzes von d er Indizierung ausgen om men. A ber auch die allgemeine Strafverfolgung m uß um dieser im G rundgesetz
(A rtikel 5 A bsatz 3) genannten G run dw erte willen eine A usnahm e m achen.
Die F rage ist, w ann diese A usnahm e gilt. F ü r eine erste F eststellung
innerhalb des Jugendschutzes w urde - a u f G run d des G esetzes von 1953
- die „B undesprüfstelle für jugendgefährdende S chriften“ gegründet; sie
kann „indizieren“ , d.h. die A bgabe einer Schrift o d er eines M edium s an
Jugendliche - nicht aber an Erw achsene - sowie die offene D a rb ietu n g und
W erbung verbieten. Die in A rtikel 5 A bsatz 1 des G rundgesetzes genannten
G rundrechte werden also zum Schutz der heranwachsenden Jugend beschränkt.
D am it ist eine N achzensur erlaubt, gegen die E insprüche bis zum B undesgerichtshof und B undesverw altungsgericht sowie die V erfassungsbeschw erde
m öglich sind. So ist die R echtsstaatlichkeit gesichert.
D IE K R IT E R IE N W A N D E L N S IC H
A b er ein anderes, ebenfalls schon im K aiserreich u n d in d er W eim arer
R epublik diskutiertes Problem besteht noch. K a n n eine B ehörde (wie die
B undesprüfstelle) oder ein G ericht bestim m en, ob ein R o m an od er ein
anderes W erk K unst darstcllt oder nicht? Eine E ntscheidung ist in jedem
Falle nötig, und sie ist zeitbedingt. D enn die K riterien fü r K u nst und
P o rn o g rap h ie haben sich seit 1949 erheblich gew andelt. 1950 w urde der
Film Die Sünderin als unsittlich bekäm pft, weil die Ilau p td a rstelle rin für
einige Sekunden nackt zu sehen war. 1959 w urde G ü n ter G rass von der
zuständigen Jury der Brem er L itcraturpreis für die Blechtrom m el zuerk annt.
D och der Senat der H an sestad t verweigerte die Zustim m ung: der R om an
en th alte pornographische Stellen. M ancher, der dam als gegen das V erbot
oder die B ehinderung a u ftrat, h ätte sich wohl für einen E ingriff d er Justiz
ausgesprochen, wenn ihm - 1950 bis 1959 - zugem utet w orden wäre, was
heutzutage über das Fernsehen ins H aus kom m t oder am K iosk angeboten
wird. Die M aß stäb c für Sittlichkeit und deren G efährd un g haben sich
erstaunlich verändert.
Drei ausführlichere Beispiele aus Rcchtsgcschichte m ögen das näher
erläu tern . Sic bilden S tationen a u f dem W eg zu der Einsicht, d aß G erichte
üb erfo rdert sind, wenn sie d arü b er urteilen sollen, was K u n st sei.
D as erste sei der 1962 geführte Prozeß um den R om an N otre-D ame-des-Fleurs, den Jean G enet 1942 im G efängnis geschrieben h atte. T hem a,
M otive und Sprache sind schockicrend. D er E rzähler schildert detailliert
und roh den Aufstieg und Fall eines Pariser Strichjungen, den er „D ivine“
n en n t, und feiert ihn, den R au b m ö rd er und D rogenhändler, als M ärtyrer,
ja „A uscrw ählten G o ttes“ . Divine wird vor G ericht gestellt; der A u to r
m ach t aus dem V erfahren eine A potheose. Die D ignität des V erbrechers
und Sünders steigert sich m it seinem Verfall. Hier ist die U nterscheidungsgabe
des Lesers aufs äußerte gefordert. K n u t Sievcrs h at nachgewiesen: Sakrales
soll sich im Sakrileg, Religiöses in seiner T ravestie und Eigentliches in
seiner V erkleidung zeigen. G enet, der im m er am R ande d er G esellschaft
lebte und stän d ig m it ihren N o rm en zusam m enstieß, erlebte diese als
däm onische B edrohung und bekäm pfte sie, ohne ihre G eltung zu bestreiten.
D as zweite Beispiel: ln Jo h n C lelands 1749 zum ersten M al erschienener
G eschichte der F an n y Hill erregte der laszive In h alt A nstoß. D er Verfasser,
ein D ip lo m at und Lebem ann, nahm es sich heraus, die Sittcnlosigkeit im
E ngland des 18. Jah rh u n d erts genüßlich, einfallsreich, ja elegant zu schildern
und die G leichsetzung von w ahlloser physischer m it psychischer Liebe als
neues G lück anzupreisen. A ber hatte C lelands H eldin nicht einfach das in
Briefe gefaßt, was W illiam H o garth in seiner G em älde- und K upferstichfolge
The H arlot's Progress abgebildet hatte? U nd w ar die ganze G eschichte nicht
a u f d en frivol geführten N achw eis angelegt, d aß geistige F reuden h ö h er als
k ö rp erlich e einzustufen seien und die Liebe zu dem einen M an n die
K rö n u n g eines Frauenlebens sei? A uch hier w aren die R ichter a u f G u tachten
angewiesen, denen sie freilich nur zögernd folgten. W as den A ntragstellern
und S taatsanw älten 1964 bis 1969 als pornographisch galt, verteidigten die
Literaturw issenschaftler als Zeit- und M ilieuschilderung, als Experim ent und
K u n st.
D er Streit um G uillaum e A pollinaires Die elftausend R uten bilde das
d ritte Beispiel. D as A m tsgericht M ünchen erk lärte das Buch 1974 für
P o rn o g rap h ie und zog cs ein. D er eine G u tach ter h atte sich in diesem Sinne
ausgesprochen; der andere h atte gewisse künstlerische Q ualitäten geltend
gem acht. D as O riginal w ar 1907 erschienen und in F ran k reich bis 1977
sechzchnm al aufgelegt w orden. D ie deutschen A n k läg er sp rachen von
N ekrophilie, S katom anie und G ew altpornographie, d.h. von Versessenheit
a u f Leichen, k ra n k h after F reude am U m gang m it E xkrem enten und D a rstellung geschlechtlicher G rau sam k eit. F ranzösische und deutsche Experten
legten das Buch als N achfolge des M arquis de Sade sowie als V ordeutung
a u f die Explosion von G ew alt im Ersten W eltkrieg aus und verwiesen au f
den Z usam m enhang m it A pollinaires poetischem und theoretischem G esam tw erk, das den S urrealism us m it beg rü n d et h ab e und zu r K lassischen
M oderne gehöre. 1987 b rachte der Verlag eine du rch literaturhistorische
A b h andlungen u m rahm te neue Ü bersetzung heraus, die ebenfalls beschlagn ah m t werden sollte. F erner beantragte der S taatsanw alt, gegen den Verleger
wegen V erbreitung von P ornographie zu erm itteln. A u f die beiden G utach ten
hin, die W olfgang F rühw ald und ich zugunsten des Buchs erstellten, w urde
1988 die Beschlagnahm e abgelehnt und die E rm ittlu n g eingestellt.
D er K u n stb eg riff von 1949 und das V erständnis von „ U n z u c h t“ , „ P o rn o g rap h ie“ und „G ew altverherrlichung“ entsprachen E nde der achtziger
Jah re offensichtlich weder der wirklich geübten noch der weithin anerkannten
K unstpraxis. D aß in der Bildenden K unst die A nschauungen noch gründlicher
sich v erändert hatten , fiel weniger ins Gew icht; denn Bilder w urden kaum
wegen einer A bw eichung von M oral oder A nstand vor G erich t gebracht.
T atsächlich wichen M alerei und B ildhauerkunst ungleich m eh r von den
geschm acklichen K onv en tio n en der Schicht ab, die an d er R echtsprechung
beteiligt oder interessiert war. D er K un sth and el ta t d as Seine dazu, soviel
wie m öglich als K u n st zu bezeichnen. K ritiker, K ä u fer und R ezipienten
reagierten entsprechend.
G E S C H IC H T E U N D IN H A L T D E R B E G R IF F E
Die G erichte trugen dem R echnung; sie sprachen von einem erw eiterten
K u n stb eg riff und einer größeren A kzeptanz bei erotischen D arstellungen.
D ie S trafrechtsreform von 1973 ersetzte die u n sch arf gew ordenen Begriffe
„ U n z u c h t“ oder „u n zü ch tig “ , „um den dam it verbundenen W ertgehalt zu
verm eiden“ , durch F rem dw örter: „D ie ,unzüchtige* H a n d lu n g “ w urde zur
.sexuellen“, die .unzüchtigen S chriften4 zu ,p o rn o g rap h ish en “ ‘ (F riedrich-C hristian Schroeder). W as aber w ar „P o rn o g rap h ie“ ?
D aß das S trafrccht vor und nach der Jah rh u n d ertw en d e „u n zü ch tig “
sta tt „p o rn o g rap h isch “ gebrauchte, hatte einen sprachgeschichtlichcn G ru n d .
„ P o rn o g rap h ie“ für „aufreizende, scham lose D arstellung sexueller V orgänge
in W ort und Bild“ wurde erst um 1900 dem gleichbedeutenden französischen
„ p o rn o g ra p h ic “ entlehnt. D ieses w iederum w urde von „ p o rn o g ra p h ic “
abgeleitet, das R éstif de la B retonne 1769 im Sinne von „einer, der über
H u ren schreibt“ als Buchtitel verwendete; das G ru n d w o rt ist d as gleichbedeutende griechische pornogräphos, „einer, der über H u ren schreibt“ .
E benfalls aus dem Französischen w urde „sexuell“ für „geschlcchtsbezogen“
übernom m en - allerdings schon im 18. Jah rh u n d ert. D er V ollständigkeit
halber sei ein W ort erklärt, d as nicht im Gesetz, wohl aber in der Diskussion
häufig gebraucht wird, näm lich „o b szö n “ , „das Scham gefühl verletzend,
schlüpfrig, zotig“ . Es wurde Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem Lateinischen
übernom m en; d o rt steht obscenus für „anstößig, un anständig, abscheulich,
unsittlich“ .
Sich dieser Begriffe zu vergewissern, ist deshalb nötig, weil es eine
gesetzliche B estim m ung von „P o rn o g rap h ie“ nicht gibt. Jene Begriffe liegen
der R echtsprechung zugrunde, und sie m uß sie jedesm al bestim m en.
N ach dem V orschlag des S trafrecht-Sondcrausschusses des D eutschen
B undestages sind D arstellungen pornographisch, die „1. zum A usdruck
bringen, daß sie ausschließlich o d er überwiegend a u f die E rregung eines
sexuellen Reizes beim B etrachter abzielen und dabei 2. die im E inklang m it
allgem einen gesellschaftlichen W ertvorstellungen gezogenen G renzen des
sexuellen A nstandes eindeutig überschreiten“ . Die R echtsprechung schloß
sich dem an: P ornographisch ist eine D arstellung,
w enn sie u n ter H in tan selze n son stig er m enschlicher Bezüge sexuelle V o rg än g e in g ro b
au fd rin g lich e r, an reiß erisc h e r W eise in d en V o rd e rg ru n d rü c k t u n d w enn ih re ob jek tiv e
G e sam tten d en z ausschließlich oder überw iegend a u f A ufreizung des S exualtriebes abzielt und
w enn dab ei die im E in klan g m it allgem einen gesellschaftlichen W ertvorstellungen gezogenen
G ren zen des sexuellen A n stan des eindeutig überschritten werden.
W A S IS T U N D W AS DA RF D IE K U N ST?
E rfüllt ein literarisches W erk die oben genannten K riterien, so handelt
es sich im juristischen Sinn um P ornographie. Sie w ird, wie gesagt, im
G esetz nicht definiert - ebensow enig wie der Begriff K u n st. D as ist deshalb
sinnvoll, weil der Inhalt, die F u n k tio n und die V erw irklichung beider
Begriffe sich ändern.
D as B undesverfassungsgericht h at allerdings seit 1971 einen R ahm en
gezogen, der beachtet w erden m uß, wenn über „P o rn o g rap h ie o d er K u n s t“
zu urteilen ist. „D as W esentliche der künstlerischen B etätigung (ist) die freie
schöpferische G estaltung, in der E indrücke, E rfahrungen, Erlebnisse des
K ünstlers du rch d as M edium einer bestim m ten F o rm ensp rache zur u n m ittelbaren A nschauung gebracht w erden“ . In der Folge w urde dieser „o ffen e“
K u n stb eg riff erw eitert: Es genüge, wenn „die G attu n g san fo rd eru n g en eines
bcsim m ten W erktyps erfü llt“ seien. E ntscheidend sei die form geb ende
Ä ußerung, nicht die Ü b erm ittlung von Inhalten. W er K u n st fü r etw as so
Abgeschlossenes ansehe, d aß sie und P ornographie z.B. sich ausschlössen,
entziehe der Ü berschneidung und A bw ägung m it an deren G ru n d w erten die
theoretische G rundlage. D as so gefaßte weite K u n stv erstän dn is erfordere
eine weite F assung d er G rundrechte.
D as sind keine D efinitionen, sondern form ale U m schreibungen. Sie
treffen a u f nahezu alle W erke der Belletristik zu und schreiben keine
expliziten M aß stäb c für eine W ertung vor. D ie U m schreibungen von K u n st
berücksichtigen die Entw icklung der R echtsprechung ebenso wie bei der
P o rnographie. Seither m u ß der K unstw ert in jedem F alle bestim m t w erden,
und dies läuft in der Regel a u f die A nforderung von G u tach ten hinaus.
„ E IN P O R N O G R A P H IS C H E R R O M A N KANN K U N ST S E IN “
Im H inblick a u f die rechtliche B eurteilung von P orn og rap hie brachten
höchstrichterliche Entscheidungen eine Wende. D er Bundesgerichtshof enschied
am 21. Juni 1990 anläßlich von H enry M illers Opus Pistorum: „K u n st und
P o rn o g rap h ie schließen ein an d er begrifflich nicht au s“ , obw ohl „nach F orm
und In h alt des Buches vieles“ d afü r spreche, d aß es als „p o rn o g rap h ische
S chrift“ zu bew erten sei. D a m it/o lg te der B undesgerichtshof P eter G orsens
und m einer Stellungnahm e vor dem Landgericht S tu ttg art und b etonte, „in
G renzbereichen“ könne es „zu Ü berschneidungen kom m en, denen eine
starre begriffliche Scheidung nicht gerecht wird. Ü berdies versperrt m an sich
im Falle eines Konfliktes zwischen Kunstfreiheit und anderen verfassungsmäßig
anerkannten W erten eine Abwägung, die [...] notw endig und auch sachgerecht
ist, weil n u r sie differenzierende Lösungen erm öglicht“ . Bei d er Entscheidung,
ob die K unstfreiheit oder der Jugendschutz V orrang habe, gehe es „um
eine K ollision gleichrangiger Verfassungswerte, die n u r m it H ilfe einer
A bw ägung aufgelöst w erden k a n n “ .
U nd das Bundesverfassungsgericht stellte seiner E ntscheidung vom 27.
N ovem ber 1990 als 1. L eitsatz voraus: „E in p orn o g rap h isch er R o m an kann
K u n st im Sinne von A rt. 5 Abs. 3 Satz 1 G G sein“ . D er A nlaß w ar die
V erfassungsbeschw erde eines Verlages, der das Buch Jose/ine M utzenbacher,
Geschichte einer wienerischen Dirne von der Indizierung du rch die B undesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften befreien wollte. Beide G erichte
beto n ten , d aß dem Jugendschutz V erfassungsrang zukom m e.
Seit diesen Entscheidungen gilt: W enn einem als pornographisch angesehenen W erk ein ho h er K un stw ert zuzuschrciben ist, kan n es nicht m eh r ohne
weiteres eingezogen und dam it Erw achsenen vorcnthalten werden. Dies kam
der M utzenbacher zugute. Sie w ar 1982 als schwer ju g endefährdend indiziert
worden, und das Bundesverwaltungsgericht hatte die Indizierung bestätigt. A uf
G ru n d der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts m ußte die Indizierung
aufgehoben werden, weil die Bundesprüfstelle den K unstvorbehalt nicht ausführlich mit dem Jugendschutz abgewogen hatte. Die Bundesprüfstelle ist nach wie
vor der M einung, sie könne selbst dan n , wenn diese A bw ägung sachgerecht
vorgenom m en w orden ist, ein pornographisches K unstw erk indizieren, falls sie
den Jugendschutz für geboten hält. D ah er setzte sic die M utzenbacher 1992
erneut au f den Index. Ob sich ihre Auffassung durchsetzt, ist offen. D er Verlag
wird alle Rechtsm ittel dagegen einsetzen. So ist erneut m it höchstrichterlichen
E ntscheidungen zu rechnen.
EINE DIRNEN-GESCHICHTE ALS KUNST
Bei den zu erw artenden G ru ndsatzurteilen dü rfte das G u tach ten eine
R olle spielen, um das die B undesprüfstelle m ich 1991 bat - entsprechend
der A uflage des B undesverassungsgerichts.
D as G u tach ten fü hrt aus, d aß die „Lebensgeschichte“ der M u tzenbacher
schlechtweg scham los ist und nichts ausläßt, was den bürgerlichen und
religiösen M oralgesetzen w iderspricht. A ber deren V erletzung wird in einer
W elt geschildert, die historisch, sozial und psychologisch so gewesen ist.
Dies ging aus dem Vergleich des R om anm ilieus m it den soziologischen
T atsach en hervor. D ie in diesem M ilieu angesiedelte A u to b io g rap h ie ist ein
Beispiel d afü r, daß unter jenen Bedingungen eine negative L ebenskarriere
zw angsläufig wird. Insofern weist das Buch M erkm ale des literarischen
N aturalism us auf; es unterstellt die Determ iniertheit menschlicher Entwicklung.
D aher können die grob anstößigen Aspekte auch als K ritik an der Gesellschaft
in W ien von 1857 bis 1867 gelesen werden. D arüb erh in au s veranschaulicht
d er R o m an die erst durch die Psychoanalyse erforschten W echselw irkungen
zwischen w irtschaftlichen und sozialen V erhältnissen und Sexualverhalten.
E r belegt ferner, daß Sigm und F reu d s Lehre von der p o lym orph perversen
V eranlagung des K indes, d.h. dem richtungslosen, vielgestaltigen sowie
norm en- und wertfreien kindlichen Sexualtrieb, G rundlage einer R o m an h an d -
lung sein kann. A uch kan n das Buch - wieder im Sinne F reu d s - als
A uflösung einer infantilen Amnesie gelesen werden, d.h. als das U nternehm en,
die V erdrängung aufzuheben, durch die die friihkindlichc Sexualität üblicherweise verhüllt wird. V erm utlich ist das Buch im weiteren K reis um F reud
enstanden.
D aß es diese Z usam m enhänge in einer Lebensgeschichte exem plifiziert,
aber die U rsachen und Einzelheiten lediglich bis zum prägenden ersten T ag
eines Dirnenlebcns vorführt, beweist die Fähigkeit des A utors zu kunstgem äßer
D arstellung. D ie H a n d lu n g ist folgerichtig au fg eb au t, und die Szenen
w erden m ilicugerccht entwickelt. D er V erfasser ist übrigens bis heute nicht
bestim m bar. Vielleicht w ar es der W iener L iterat Felix Salten, d er m it der
Tiergeschichte B am bi b erühm t w urde; dies ist hier unerheblich. A llerdings
fällt auf, d aß die D irnen- wie die Tiergeschichte den K a m p f um s D asein
und d as Ü berleben des Tauglichsten vor A ugen führt.
Zu den literarisch positiven M erkm alen gehören ferner das V or- und
N achw ort der Ich-E rzählerin, das die D arstellung üb erdenkt - ebenso wie
die R eflexionen in der E rzählung, die entscheidende Phasen des Berichts
von einer höheren Ebene her betrachten und in denen die E rzählerin sich
nicht schont. Sie schildert das heruntergekom m ene, am oralische M ilieu der
A rbeiter-V ororte W iens und die D oppelm oral der „feinen H e rren “ aus den
gehobenen W ohnvierteln und m ach t im m er wieder die m oralische F ra g w ü rdigkeit der S ituationen du rch W ortw ahl oder D iktion deutlich; auch dies
träg t zur R elativierung der D rastik bei.
D er E indruck des D rastischen wird weitgehend von der Sprache für
Geschlechtliches verursacht. Sie ist m itu n ter launig oder burlesk, m eist
jed o ch ab sto ß en d und o b szön und stellt die m enschliche In tim sp h äre
überwiegend schlüpfrig, zotig und unter ständiger V erletzung jedes S cham gefühls dar. Dies entspricht freilich dem Milieu und wird - nach H ochsprache,
S oziolekt, d.h. gruppenspezifischer Sprache, und D ialek t unterschieden
vom A u to r gek o n n t zu r indirekten C h ara k te risieru n g d er P ersonen
eingesetzt. Die Sprache der Erzählerin geht weit über das b eschränkte
A usdrucksverm ögen hinaus, das sonst die Sprache der U nterschicht k en n zeichnet. W enn m an sie du rch die A usdrucksw eise der O berschicht ersetzte,
w äre die Schilderung nicht n ur entschärft, sondern häufig kom isch. M an
w ürde erkennen, d aß der gesellschaftlich geduldete W ortschatz ungleich
weniger V arianten und Synonym e kennt und a u f T abus, aber auch Defizienz,
sogar Sprachlosigkeit verweist. N och heute ist ein schickliches Sprechen
ü b er Geschlechtliches dad urch behindert, d aß die konventionelle Sprache
überw iegend in U m schreibungen oder M etap hern besteht oder a u f fachliche
A usdrücke angewiesen ist; beides beeinträchtigt die K ultivierung dieses
Bereichs. D o ch kann m a n hier kaum R ezepte geben; S prache läßt sich nicht
verordnen. A llerdings w erden im m er m ehr W örter, die bis vor kurzem als
anstößig em pfunden w urden, m ündlich wie schriftlich verw endet, selbst in
U rteilsbegründungen. Auch dies gehört zu der gerichtlich fcstgcstcllten
zunehm enden A kzeptanz.
Die E rfin dungskraft der V ulgärsprachc ist gerade hier erstaunlich. D as
der indizierten M utzenbacher-A usgabe beigegebene, von Osw ald W iener
zusam m engestellte Verzeichnis von W ö rtern für G eschlechtliches bringt über
tausend Belege der G ossen- und V olkssprache - auch aus dem Deutschen
W örterbuch der B rüder G rim m . Selbst diese m ußten d aran erinnern, d aß
d as „W örterbuch kein sitten b u ch , son d ern ein w issenschaftliches, allen
zwecken gerechtes unternehm en“ sei. G eorg Q ueri, der 1912 das „ K ra ftbayrisch“ sam m elte, bedurfte sogar der juristischen Verteidiger.
GRUNDSÄTZE
D as G u tach ten analysierte die M utzenbacher wie irgendein literarisches
W erk - nach den Regeln des Faches. Es wies nach, d aß das Buch, tro tz
des eindeutig pornographischen C harakters, „der K unst oder der W issenschaft,
der F o rsch u n g oder der Lehre dien t“ ; dies ist die Bedingung, d aß das
Jugendschutzgesetz - in § 1 (2) 2. — eine A usnahm e m achen m uß. Die
B undesprüfstelle indizierte es, wie gesagt, dennoch zum zweiten M ale. D as
läß t sich rechtfertigen; es gehört nicht in die H än d e von K in d ern und
Jugendlichen. Erw achsenen ist es nach wie vor zugänglich. D ie F o rd eru n g
des B undesverfassungsgerichts, Jugendgefährdung und F reiheit der K u n st
m itein an d er abzuw ägen, ist jedenfalls erfüllbar. D aß beides den Schutz
unserer V erfassung genießt, m uß m an begrüßen und die N otw endigkeit,
jeden Fall zu prüfen, gutheißen.
Im rechtlichen oder m oralischen Sinne zu urteilen, ist nicht Sache des
K u n st-G u tach ters. E r hat n u r über K u n st oder N ich tku n st zu befinden und
dies so darzulegen, d aß die ästhetischen K riterien justiziabel w erden, d.h.
einer rechtlichen K lärung und gerichtlichen Entscheidung dienen. Ü b er den
K u n stw ert entscheidet nicht der In h alt, sondern die E rzähltechnik, die
stru k tu rierte Vielschichtigkeit, die Ergiebigkeit und die literarische Innovation.
G egebenenfalls wird m an den G ru n d satz in dubio pro reo anw enden, d.h.
im Zweifelsfall für die K u n st plädieren. D ie grundsätzliche Ü berlegung, was
schön und Schönheit sind und bedeuten, steht im m er im H in tergrund . Zu
ihr gehört freilich die Ä sthetik des H äßlichen, an der die M od ern e und wir
alle leiden un d die dennoch eine M öglichkeit d er Selbsterkenntnis ist.
D ie G ru n d sätze sind au f jedes W erk anzuw enden; das erfo rd ern die
Sache, die E h rfu rch t vor der wie im m er verkleideten K u n s t und die
A n erkennung, die dem hohen W ert K unstfreiheit gebührt. O hne ihn w ürde
ein S taat zur D ik tatu r. Zugegeben: W enn eine G ew altherrschaft fällt, breitet
sich auch die P orn og rap h ie aus. A ber F reiheit schließt im m er K o n flik te ein.
Im R echtsstaat können sie ausgetragen und fru ch tb ar gem acht w erden. Die
Entscheidungen, die die B undesprüfstelle und die G erichte im W iderstreit
von L itera tu r und R echt getroffen haben, zeigen S achverstand im einzelnen,
V erantw ortung für die G esellschaft und A chtung v or der K u n st.
D ie F rag e n ach d er W irku ng gehö rt nicht zu r K un stw issen sch aft,
so n dern zu r Psychologie. Sic h at es ungleich schw erer. D enn m it der
A lternative „K ath arsis o d er S tim ulation “ sind n ur die Extrem e genannt:
V crhilft m ir die L ek türe eines p o rn o g rap h isch en B uches d azu , m einen
nicht-sublim ierten Sexualtrieb abzuführen und unschädlich zu m achen, oder
stachelt das Gelesene m ich dazu auf, Ä hnliches zu tun? Die W irklichkeit
ist vielschichtiger. D as haben die U ntersuchungen des R egensburger P sychologen H elm u t L ukesch o d er seines B am berger K ollegen H e rb e rt Selg
gezeigt; m it ihren Ergebnissen können auch die N achb arfäch cr arbeiten.
Z u ihnen zählen nicht n u r die R echtsw issenschaft, sondern auch die
E thik und M oraltheologie. M oral ist gewiß nicht n u r ein K om ö dienthem a.
Wie zu Ludw ig T h o m as und M ax R ein hardts Zeit und im m er nennen und
begründen sie die N orm en unseres H andelns und unserer W erturteile. Ob
diese an ek an n t werden, ist für d as D enken zw eitrangig; entscheidend ist die
Schlüssigkeit. D ie Praxis wird dem K o nflikt m it anderen W ertsystem en
R echnung tragen. D eshalb m üssen wir uns als M enschen und Erzieher
unablässig entscheiden. D och wir können nicht d a ra u f bauen, d aß die
Entscheidung, die wir heute verantw orten, m orgen noch gilt. D enn w ir sind
geschichtliche W esen, die in einer bestim m ten Zeit leben und tätig sind und
im m er neu d anach zu fragen haben, welche N orm en und W erte die Id en tität
unserer G esellschaft stiften. D azu ist das G espräch auch m it Philosophen
und T heologen nötig, und diese C hance bietet die U niversität.
Literatur
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Vgl. auch die Aufsätze zu „L iteratur und Pornographie“ in: „W espennest“ 1992, N r. 88, S. 55-85.
G ajek B. (R ez.) in: „ G erm a n istik “ 1993, N r. 34, S. 31.
Scholz R ., Josep h P.: Gewalt- und Sexdarstellungen im Fernsehen. Bonn 1993.
Bernhard Gajek
N A IL E W O L N A JE ST S Z T U K A ?
P R Z E M Y Ś L E N IA NA T E M A T L IT E R A T U R Y I M O R A L N O Ś C I
N iniejszy a rty k u ł m iał n a celu u k azan ie zm ian zachodzących na p rzełom ie w ieków
w ocenie w artości u tw o ró w literackich. Punktem wyjścia stało się subiektyw ne odb ieranie
p ojęcia „m o raln o ść“ . A u to r przedstaw ia k ry teria kw alifikujące u tw ó r literacki ja k o sztukę lub
niesztukę, uw zględniając p rzy tym obow iązujące w danym okresie reguły p raw ne (sprzeczne
często z praw em w olności słowa), a także zw iązaną z nim i cenzurę.
O p ierając się n a przy kładach , ukazuje, że treść utw oru czasam i n iem o raln a czy wręcz
p o rn o g rafic zn a (co jest pojęciem względnym z p ow o du b rak u jednoznacznej definicji) nic m a
wpływu n a w artości literackie i m oże naw et przysłużyć się sztuce, nauce, celom badaw czym
czy też pedagogicznym .