Arthur Mercante: Mein Leben als Boxrichter

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Arthur Mercante: Mein Leben als Boxrichter
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Vitali K
Arthur Mercante:
Mein Leben
als Boxrichter
Prolog
Die ganze Welt schaute zu. Wohin man im Madison Square Garden am Abend des 8. März 1971 auch blickte, gab es Beweise dafür: das brummende Murmeln Tausender Fans in der brechend
vollen Arena; die Heerscharen von Reportern, die sich um den
Ring herum versammelt hatten; das unaufhörliche Blitzlichtgewitter unzähliger Kameras, die das Ereignis für die Nachwelt
doku­mentierten.
Während ich die Ringseile überprüfte, erblickte ich die kantige Gestalt von John Condon, dem Pressechef des Madison
Square Garden, der durch die Pressereihen wuselte, ungeduldig
Anweisungen brüllte und konzentriert nach ungebetenen Eindringlingen Ausschau hielt. Direkt unter mir befanden sich Don
Dunphy – »Die Stimme des Boxens« – und der Schauspieler Burt
Lancaster, die diesen bedeutenden Boxkampf moderieren würden. Und in der Menschenmenge erkannte ich eine ganze Reihe
von Hollywoodstars, Politikern und Sportgrößen.
In der Mitte der Arena stand der verwaiste 6 × 6 Meter große Ring, auf den sich alles zu fokussieren schien. Sogar Frank
Sinatra war von seiner Anziehungskraft gefesselt. Der berühmte Sänger und Schauspieler war vom »Life Magazine« beauftragt
worden, den Kampf zu fotografieren. Er lief ständig um den
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Hochring herum und schoss Fotos – ein menschlicher Satellit
auf Sondermission, der wie der Rest der Welt von dem enormen
Gravitationsfeld des bevorstehenden Kampfes gefangen war.
Das Ereignis besaß internationale Dimensionen, und es waren alle nötigen Vorbereitungen getroffen worden, um die brutalen Bilder in die ganze Welt zu übertragen. Die F
­ ernsehsignale
aus dem Madison Square Garden wurden in die ganze USA und
in 35 weitere Länder gesendet. Mindestens 300 Millionen Menschen sahen zu – so viele wie nie zuvor.
Inmitten des ohrenbetäubenden Lärms schritt ­Ringsprecher
Johnny Addie zum Mikrophon und verlas die Liste der Ehrengäste. All die Ringgrößen vergangener Tage waren anwesend:
Jack Dempsey , Gene Tunney , Joe Louis , Sugar Ray Robinson , Willie Pep , Archie Moore , Rocky Graziano und viele mehr. Während
die Parade der Weltmeister sich ihren Weg quer durch den Ring
bahnte, spürte ich, wie sich vor Nervosität warme Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. Meine Handflächen waren feucht
und mein Mund trocken wie Wüstenwind.
Dies sollte der bedeutendste Abend in meinem Leben als
Profikampfrichter werden. Und obwohl es für mich die natürlichste Sache der Welt war, einen Kampf zu leiten, stellte ich
fest, dass auch ich nur ein Mensch und nicht in der Lage war,
den bevorstehenden dramatischen Ereignissen völlig gelassen
entgegenzusehen.
Dabei hatte mein Tag ganz gewöhnlich angefangen. Ich erreichte um Punkt acht Uhr meinen Arbeitsplatz im Vertrieb der
Schaefer-Brauerei, schenkte mir eine Tasse dampfend heißen
Kaffee ein und gab ein wenig Sahne und braunen Zucker hinzu.
Dann schlug ich die »Daily News« auf, wandte mich den Sportseiten zu und entdeckte die Berichterstattung über die unumstrittene Weltmeisterschaft im Schwergewicht: Muhammad Ali gegen Joe Frazier . Es war das erste Mal, dass zwei ungeschlagene
Weltmeister um den wichtigsten Titel im Boxsport kämpften.
Unter all den Analysen und Prognosen befand sich ein Artikel darüber, wer wohl den Kampf leiten würde, sowie Fotos
der sieben wahrscheinlichsten Kandidaten. Ich erblickte sofort
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mein Bild und begann mit wachsender Erregung alles über die
Begegnung zu lesen, was ich finden konnte.
Natürlich brannte ich darauf, den Kampf zugesprochen zu
bekommen. Den wollte jeder leiten. Dennoch sah ich keinen
Sinn darin, mich von der Ungewissheit verrückt machen zu lassen. Ich tröstete mich damit, dass es schon eine große Ehre war,
überhaupt für etwas in dieser Größenordnung nominiert worden
zu sein. Und doch: Die nächsten Stunden waren die reinste Hölle.
Um 16 Uhr klingelte das Telefon und erlöste mich von der unerträglichen Spannung. Es war Edwin Dooley von der New York
State Athletic Commission (NYSAC). Der Vorsitzende des New Yorker Boxverbandes kam sofort zur Sache: »Mr Mercante, er gehört
Ihnen! Seien Sie um achtzehn Uhr im Madison Square Garden!«
»Jawohl, Sir!«, antwortete ich – bemerkenswert knapp angesichts der Umstände. »Er gehört Ihnen!« bedeutete, dass man
mich ausgewählt hatte. Ich war geradewegs inmitten dieses
Jahrhundertkampfs gelandet. Ich konnte es kaum glauben.
Am späten Nachmittag eilte ich zum New York Athletic Club.
Wie immer vor einem großen Kampf nahm ich ein heißes Dampfbad, um mich zu entspannen. Danach begab ich mich in den
Speisesaal, wo ich ein Steak hinunterschlang und mit einem Glas
Eiswasser nachspülte. Auf dem Weg zur U-Bahn betete ich, keinem meiner Bekannten in die Arme zu laufen, und brauste meinem schicksalhaften Rendezvous entgegen.
Am Madison Square Garden angekommen, wurde ich durch
ein dichtes Netzwerk an Sicherheitspersonal in eine Umkleidekabine geleitet, wo Frank Morris, der stellvertretende Vorsitzende der NYSAC, das Regelwerk erläuterte. Ich lauschte pflichtschuldig, obwohl ich es schon tausend Male gehört hatte und
jedes Wort hätte mitsprechen können.
Während der Vorkämpfe legte ich meine Kampfrichterkleidung an, knüpfte einen doppelten Knoten in meine Schnürsenkel und achtete sorgfältig darauf, dass meine Fliege korrekt saß.
Wie üblich machte ich ein paar Dehnübungen und Liegestützen,
um meine Muskeln aufzuwärmen. Alles, was mir jetzt noch zu
tun blieb, war, auf meinen Einsatz zu warten.
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Schließlich war es so weit. Als ich an jenem Abend durch die Seile stieg, um das höchstdotierte und lukrativste Sportereignis der
Geschichte zu leiten, erschien alles so surreal. Es war nicht nur
eine Nacht des großen Geldes, sondern auch der Haute Couture.
Wunderschöne Frauen trugen prunkvolle, enganliegende Designerkleider. Toots Shor, der legendäre Gastronom der Reichen
und Schönen, hatte drei Busladungen seiner Gäste herfahren
lassen, die alle schwarze Krawatten trugen. Die ganze Szenerie
erinnerte eher an eine Oscar-Verleihung als an einen Kampf­
abend.
Die Lichter wurden dunkler. Für ein paar Augenblicke stand
ich allein im Ring, als plötzlich das ohrenbetäubende Geschrei
der Menge ertönte. Muhammad Ali , umgeben von seiner Entourage, bahnte sich den Weg zum Ring. Er trug einen prächtigen roten Boxmantel und dazupassende rote Boxershorts aus
Samt. Kurz darauf folgte Joe Frazier , der in seinem knallgrünen
Boxmantel und seiner Boxerhose aus Goldbrokat nicht minder
prächtig aussah. Ali wirkte entspannt und zum Scherzen aufgelegt, Frazier grimmig und entschlossen. Beide schienen in einer
hervorragenden körperlichen Verfassung zu sein.
Als ich die Kämpfer in die Ringmitte rief, verfolgten mehr
als 20 000 Menschen im Madison Square Garden und aberhundert Millionen an den Fernsehbildschirmen gebannt das
Geschehen. In dem Moment, als ich zwischen den Kämpfern
stand, um ihnen die Regeln zu erklären, war meine Nervosität
einem Gefühl von Selbstsicherheit gewichen. Ich war bereit.
Hätte ich damals Zeit gehabt, mir über das Ganze Gedanken
zu machen, wäre mir zweifellos aufgefallen, wie lange der Weg
bis zu diesem unglaublichen Abend gewesen war. Es war eine
Reise, die vor einem halben Jahrhundert in Brockton, Massachusetts, begonnen hatte, einer sportverrückten Industriestadt,
in der ich durch mein Naturell und meine Erziehung mit dem
Virus des Boxens infiziert worden war – und in der ich inmitten
von Lärm und Schweiß dieses hartschuftenden Arbeitermilieus
meinen ersten Aufruf in den Ring vernahm …
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