Dossier Schweizer Monat: Abenteuer Georgien

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Dossier Schweizer Monat: Abenteuer Georgien
Abenteuer
Georgien
Georgien – Fakten und Zahlen:
Fläche: 69 700 qkm
(ohne Abchasien und Südossetien)
Einwohner: 4,5 Millionen
(ohne Abchasien und Südossetien)
Russische Föderation
Volksgruppen: 26
Nationalfeiertag:
26. Mai, Tag der Unabhängigkeit 1918
Kaspisches
Meer
Abchasien
Besetzung durch und Eingliederung
in Sowjetunion: 16. Februar 1921
Unabhängigkeit: 9. April 1991
Rosenrevolution: November 2003
Staatsschuldenquote 2013:
33,95 Prozent
Import 2013: 7 874 Millionen Dollar
Südossetien
Schwarzes
Meer
Georgien
Export 2013: 2 909 Millionen Dollar
Doing-Business-Rank 2014:
Rang 8 (CH: Rang 29)
Tbilisi
Anteil Gebirge und Vorgebirge
an Gesamtfläche in Prozent: 87
Anteil Wald an Gesamtfläche
in Prozent: 44
Höchster Berg:
Shkhara mit 5 193 Metern ü.M.
Berühmtester Dichter:
Shota Rustaveli
Armenien
Türkei
Aserbaidschan
Berühmteste lebende Georgierin:
Katie Melua
Berühmtester toter Georgier:
Ioseb Besarionis Dze Jugashvili
(Josef Stalin)
Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir der Gebert Rüf Stiftung.
49
Abenteuer Georgien
Inhalt Schweizer Monat 1021 November 2014 D
ieses Dossier ist die Dokumentation des bisher grössten Abenteuers der Redaktion. Serena Jung, Claudia
Mäder und ich sind eingetaucht in eine unerhörte,
alteuropäische, neuliberale und vielfältige Welt. Nach
zehn Tagen mit nachhallenden Erlebnissen sind wir
wieder aufgetaucht und haben das Gesehene,
Gehörte und Geschmeckte verdichtet. Folgen Sie uns auf unserem Abenteuer in die neue Welt von – Georgien!
Das junge Land, seit 1991 unabhängig, hat sich in den zehn Jahren seit der
friedlichen Rosenrevolution neu erfunden. Die Rede vom Neubeginn ist in
diesem Fall keine Floskel. Eine junge Truppe unerschrockener Unternehmer
und Intellektueller unter der Regie von Mikheil Saakashvili hatte den Ehrgeiz,
das Land radikal zu reformieren – und schritt zur Tat. Das Resultat ist erstaunlich. Georgien, noch vor 15 Jahren von Nepotismus dominiert, ist gemäss
Transparency International weniger korrupt als EU-Staaten wie Kroatien
Online
Offline
Inhalt
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oder Tschechien. Der georgische Staat ist seinen Bürgern zu absoluter
Transparenz verpflichtet. Im Doing-Business-Ranking der Weltbank rangiert
1«Wir mussten improvisieren»
René Scheu trifft
Giorgi Margvelashvili
2 Korruption kriegt die Quittung
Mathias Huter
3 Wühlen im Mülleimer
der Geschichte
Claudia Mäder
4 Georgisch, glücklich –
und (fast) gesetzlos
René Scheu trifft
Mikheil Svimonishvili
5 Jeder ein Kurator
Serena Jung
6 Das orthodoxe Paradox
Zaal Andronikashvili
und Giga Zedania
7 Anarcho-Winzer
René Scheu
8 Wo die Frau König ist…
Serena Jung und
Claudia Mäder treffen
Maia Panjikidze
9 Auf dem Vordach Europas
Claudia Mäder
Georgien mittlerweile auf dem achten Platz – weit vor der sich unterneh-
a Stimmung nach Zahlen
Tamuna Khoshtaria und
Natia Mestvirishvili
b Harmonie der Mehrstimmigkeit
Thomas Häusermann
c Aufstieg dank Austausch
Philippe Rudaz
d Tigersöhne und Glückskinder
Manana Tandashvili
e Georgien ist anders
Martin Janssen
Land bringt uns hier weiter.»
merfreundlich dünkenden Schweiz (Rang 29). Jeder kann in einer halben
Stunde ein Unternehmen gründen. Die demokratische Wachablösung
funktioniert, die Zivilgesellschaft erwacht. Was können wir, die reformresistenten Mitteleuropäer, von einem solch lernfähigen Land selbst lernen?
Bedanken möchte ich mich bei der Gebert Rüf Stiftung, die uns dieses
Abenteuer ermöglicht (und viele Kontakte vor Ort vermittelt) hat.
Der Schweizer Unternehmer, Finanzprofessor und «Monat»-Autor Martin
Janssen hat den Kontakt zu Miho Svimonishvili hergestellt, einem georgischen Unternehmer und ehemaligen Agrarminister – die beiden sind
Geschäftspartner eines helveto-georgischen Joint Venture. Miho hat uns in
Tbilisi und ausserhalb der Hauptstadt viele Türen geöffnet; dafür und für
seine intellektuelle Offenheit gilt ihm meine tief empfundene Dankbarkeit.
Der einzige Rat, den er mir mit auf den Weg gab: «Schreib, was du erlebst –
hör nicht auf mich, hör auf die Leute. Nur dein kritischer Blick auf mein
Wir haben ihn befolgt – und publizieren das bisher umfangreichste Dossier
in der Geschichte des «Monats». Einige Texte zu Georgien veröffentlichen
wir zudem online-exklusiv (auch einen Beitrag von Martin Janssen,
siehe Inhaltsverzeichnis links).
René Scheu, Herausgeber & Chefredaktor
Schweizer Monat 1021 november 2014 Vertiefen / Dossier
«Wir mussten improvisieren»
1
Er war einst Reiseführer und lehrte Philosophie. Im Gespräch führt der Präsident Georgiens durch
die Geschichte des Melting Pots zwischen West und Ost. Und erklärt das eigentlich einfache Prinzip der
guten Nachbarschaft – auch zum Problemnachbarn Russland.
René Scheu trifft Giorgi Margvelashvili
Herr Präsident, ich bin zum ersten Mal in Georgien. Wenn Sie mein
Reiseführer wären, welche Orte müsste ich aus Ihrer Sicht am ersten
Tag unbedingt besuchen, um das Land zu verstehen?
Ich denke, am besten würden Sie erst mal die Altstadt von Tbilisi
besuchen, die im 5. Jahrhundert nach Christus gegründet wurde.
Kommen Sie bitte! [Giorgi Margvelashvili steht auf und bittet uns,
ihm ans Fenster zu folgen, von wo aus wir das historische Zentrum der georgischen Hauptstadt überblicken.] Hier, im Herzen
der Stadt, sehen Sie eine Kirche, eine Moschee und eine Synagoge
auf engstem Raum; über allen drei Gebäuden erhebt sich die Festung der Stadt, die «Zitadelle», wo sich die Stadtbewohner früher
in Bedrohungssituationen zusammenfanden. Im historischen
Zentrum können Sie alle Spuren und Schichtungen finden, die
Georgien bis heute prägen, mitunter die Spuren der Invasoren:
Araber, Perser, Seldjuken. Die Geschichte unseres Landes ist blutig und dramatisch. Die ständigen Angriffe liessen die Bewohner
Georgiens zusammenrücken, sie suchten Zuflucht in der Festung
inmitten der Stadt. Sie verteidigten sich gemeinsam, die ethnischen und kulturellen Differenzen spielten dabei keine Rolle.
Diese Haltung ist Teil unserer Identität.
Juden, Christen und Moslems leben in Eintracht zusammen?
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.
Aber so ist es! Das Resultat ist erfreulich: Toleranz. Ungeachtet
allen Leids leben wir hier in Frieden zusammen, das ist in Georgien absolut normal. Tbilisi ist bewohnt von Armeniern, Kurden,
Juden, Russen, Griechen und natürlich Georgiern. Alle tun, was
sie können, um ihr Leben zu verbessern. Die Identität Georgiens
ist vielschichtig, sie kommt nicht im Museum, sondern nur auf der
Strasse zum Vorschein, in den Gesprächen mit den Menschen.
Die werden wir führen. Aber zurück zu Ihnen: Sie haben als Guide
durch die georgischen Berge geführt, später haben Sie Philosophie
unterrichtet, leiteten einen Think Tank, nun sind Sie 45 Jahre jung
und haben das wichtigste Amt in der Republik Georgien inne.
Das ist ein überraschendes Curriculum, das so in Mitteleuropa kaum
möglich wäre.
Georgien befindet sich in einer Transformationsphase, und in solchen Zeiten ist alles möglich. Die Biographien der Vertreter meiner Generation sehen sich ähnlich: Wir haben in einer starren
Giorgi Margvelashvili,
1969 geboren, wurde im Oktober 2013 mit 62 Prozent der Stimmen zum
Präsidenten Georgiens gewählt. Er wurde an der staatlichen Universität
Tbilisi in Philosophie promoviert, arbeitete als Bergführer und später
als Professor für Philosophie. Vor seiner Wahl zum Präsidenten war er
von 2012 bis 2013 Bildungsminister in der Regierung unter Bidzina
Ivanishvili. Er gehört keiner Partei an.
René Scheu
ist Herausgeber und Chefredaktor dieses Magazins.
Welt begonnen, nämlich in der Sowjetunion, in der Abweichungen nicht zugelassen waren. Alle mussten dem entsprechen, was
ich als sowjetische Mittelmässigkeit bezeichnen würde. Ein jeder
Lebenslauf war gleich durchschnittlich – jedenfalls offiziell. Gerade deshalb war wohl jeder von uns besonders darum bemüht, in
dieser Eintönigkeit die eigene Individualität zu entwickeln. Als
Anfang der 1990er Jahre die Fesseln gelöst wurden, hat das ungeheure Energien in uns freigesetzt. Es kam zu einer Explosion der
Individualität, wir mussten improvisieren. Kurzum, jeder von uns
erfand sich sein eigenes Leben und tut es noch immer.
Platon wünschte sich einen weisen Mann an der Spitze seiner idealen
Republik. Sehen Sie sich als Philosophenkönig, der Georgien
voranbringt und den Bürgern den Weg zum richtigen Leben weist?
Ich sehe mein Mandat darin, das Land in stabile Verhältnisse nach
europäischem Modell zu führen, in Verhältnisse, die die ökonomische Entwicklung begünstigen. Konkret heisst das: Stärkung
der Zivilgesellschaft und der politischen Akteure, mithin der Parteien. Am Anfang und Ende aller politischen und ökonomischen
Stabilität steht der Bürger, der aktive, selbstverantwortliche Bürger, der sich um sich, seine Familie und um das grosse Ganze kümmert. Denn selbst die besten Institutionen nützen nichts, wenn
der Bürger ihnen passiv gegenübersteht.
Georgien liegt zwischen West und Ost – man könnte auch sagen:
am östlichen Rand Europas…
…genau so ist es…
…Sie wollen Mitglied der Nato und der EU werden…
…absolut. Das ist unser strategisches Ziel – allerdings nicht nur
51
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 das Ziel dieser Regierung, sondern auch jenes früherer Regierungen. Hierfür gibt es geschichtliche Gründe: Georgien war immer
schon Teil der westlichen Kultur. Bereits die alten Griechen bezeichneten Georgien als «Europa». Nach der Annahme des Christentums fanden wir zu unserer Identität im Strudel der Geschichte
mit orientalischen Protagonisten. Unsere politischen und kulturellen Alliierten waren traditionellerweise christliche und westliche Mächte. Diesen Weg wollen wir weitergehen, hierüber besteht
ein breiter Konsens in der georgischen Bevölkerung.
Was Georgien nützt, ist auch gut für Russland – glauben Sie wirklich,
dass sich Russland an dieses Credo hält?
Verstehen sich die Georgier tatsächlich als Europäer?
Sie sagen es: Es ist objektiv die beste Lösung für die Bürger beider
Länder, aber nicht unbedingt für deren Politiker.
Unsere kulturelle Identität ist eindeutig europäisch. Darunter verstehe ich: Individualismus, Freiheit, Demokratie, christliche Werte.
Unsere geschichtliche Orientierung übersetzen wir nun in konkrete
politische Schritte. Wir haben ein Assoziierungsabkommen mit der
EU unterzeichnet; dies erleichtert den Handel mit den EU-Staaten
und bietet der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft neue Perspektiven. Wir exportieren mehr in den EU-Markt, unsere Studenten nehmen an europäischen Austauschprogrammen teil, die Kulturschaffenden tauschen sich untereinander aus. Die Zusammenarbeit mit
der Nato erfolgt im Rahmen der Nato-Georgien-Kommission und
des jährlichen nationalen Programms. Hinzu kam nach dem Gipfeltreffen in Wales ein umfassendes Paket zur Nato-Georgien-Zusammenarbeit. Das westliche Bündnis hilft uns dabei, unsere territoriale
Souveränität zu schützen. Beide Institutionen – EU und Nato – sind
für Georgien von fundamentaler Bedeutung.
Abchasien und Südossetien haben sich von Georgien abgespalten.
Setzen Sie auf die Unterstützung der Nato, um die Gebiete wieder in das
georgische Territorium einzugliedern?
Wir beabsichtigen den Beitritt zur Allianz, doch setzen wir nicht
auf die Nato, um unsere territorialen Konflikte zu lösen. Vielmehr
denken wir, dass sich die Probleme dank unseres Europäisierungsprozesses von selbst lösen. Wenn sich die wirtschaftliche
Lage in Georgien weiter verbessert, wenn der Wohlstand wächst,
wenn unsere politischen Institutionen funktionieren, dann werden auch alle Bürger Abchasiens und Südossetiens früher oder
später daran teilhaben wollen.
Klingt nachvollziehbar. Für Sie ist also alles eine Frage
von wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität?
Die Stabilität der wirtschaftlichen, sozialen, politischen Sicherheit Georgiens ist die beste Botschaft für alle unsere Nachbarn.
Das versteht Aserbaidschan, das versteht Armenien, das versteht
die Türkei, und wir versuchen, dasselbe auch Russland begreiflich
zu machen. Wenn sich Georgien zu einem Land der wirtschaftlichen Perspektiven, des Tourismus und der Stabilität entwickelt,
so wird sich das selbstverständlich auch auf das wirtschaftliche
Wachstum Russlands, auf die kulturellen Beziehungen und auf
die Stabilität der Region positiv auswirken. Leider ist dieser Weg
nicht so leicht, doch dürfte sich diese simple Wahrheit am Ende
durchsetzen. Wir haben damit begonnen, diese Position unseren
Partnern in der ganzen Welt mitzuteilen, und glauben daran, dass
sie schliesslich auch von russischen Politikern anerkannt wird.
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Es ist ein allgemeingültiges Prinzip, das auch für Russland gilt:
Nur ein stabiler Nachbar ist ein guter Nachbar. Ein destabilisierter Nachbar ist ein schlechter Nachbar. Auf einen guten Nachbar
ist Verlass, politisch und wirtschaftlich. Davon profitieren beide
Parteien. Diese simple Wahrheit geht oftmals unter in geopolitischen Verschwörungstheorien, die in den Köpfen von Berufspolitikern herumgeistern. Sie ist nichtsdestotrotz gültig.
Verschwörungstheorien haben eine kurze Halbwertszeit. Es liegt
im Interesse beider Länder – also im Interesse der Bürger und
Politiker beider Länder –, stabile Nachbarn zu haben. Denn nur so
haben sie auch stabile Grenzen, verlässliche Beziehungen, prosperierenden Handel.
Wir kennen diese Problematik in der Schweiz. Georgien ist der kleine
Akteur – stabile Verhältnisse liegen unter normalen Bedingungen
im Interesse aller Parteien, allerdings stets mehr noch im Interesse
des kleinen als des grossen Players.
Es wäre lächerlich, sich auch nur vorzustellen, dass Georgien mit
vier Millionen Einwohnern aggressive Intentionen gegen die
Atommacht Russland hegen könnte! Das tun wir nicht, absolut
nicht. Wir sind eine kleine, unabhängige und souveräne Nation,
und wir wollen bloss, dass dies alle, auch die Grossen, anerkennen.
Sie stimmen einen philosophisch-rationalen Diskurs an, von dem ich
mir wünschte, dass sich alle politischen Akteure daran hielten.
Aber leider ist die Politik nicht immer rational. Lassen Sie mich darum
anders fragen: Deutet das aktuelle Russland Georgiens Bestrebungen,
der EU und der Nato beizutreten, als Gefahr für das eigene Territorium?
Der Westen rückt immer näher an Russland heran, und auf Russland
könnte dies wie eine Bedrohung wirken.
Wer was wie interpretiert – das ist stets schwierig zu sagen und
bringt letztlich auch nichts. Darum wiederum: ein stabiles Georgien nützt Russland am meisten. Wir können die Situation auch
philosophisch angehen und vom Gegenteil her denken. Was gewinnt Russland, wenn es Georgien oder die Ukraine erobert? Was
gewinnt Russland, wenn es die Nachbarn gleichsam zerstückelt,
wie in Abchasien, auf der Krim, in Donezk, in Moldawien geschehen? Es bekommt eine unkontrollierbare Situation, es bekommt
Unrast, es bekommt eine totale Destabilisierung der eigenen
Grenzen. Das ist nicht im Interesse Russlands.
Aber sieht das Russland auch so? Zumindest aus der Ferne
wirkt es so, als würde Putin irrationale Ängste vor einem erstarkenden
Westen schüren.
Sie können sich vor allen möglichen Dingen fürchten, auch vor
Einhörnern! Aber diese Ängste sind keine Basis für politische Verhandlungen. Schauen Sie: hat die Nato seit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion ein einziges Problem für Russland geschaffen?
Nein. Alle wissen das, auch Putin. Kann Russland durch die Okkupation anderer Regionen ein einziges internes Problem lösen?
Giorgi Margvelashvili, photographiert von Leila Blagonravova.
Das Gespräch, photographiert von Buba Svimonishvili.
53
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Gutes tun.
Für sich und für andere.
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Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
Nein. Das geht nur durch ökonomische Reformen. Hat Russland
Expansionsträume? Nein, es ist bereits das grösste Land der Welt.
Wenn es etwas gibt, das Russland nicht braucht, ist es ein grösseres Territorium. Ist Europa ein Feind Russlands? Nein, russische
Politiker pflegen gute Verhältnisse zu europäischen Politikern,
beispielsweise im Rahmen internationaler Gipfel von G-8 und
G-20. Darum nochmals: besinnen wir uns auf die nüchterne effiziente Interessenpolitik, sie wird sich am Ende durchsetzen.
Sie sprechen so, als wäre Ihr Verhältnis zu Russland nicht getrübt.
Seit dem Georgienkrieg 2008 sind die offiziellen diplomatischen
Beziehungen zum grossen Nachbarn auf Eis gelegt.
Wir halten an der geschilderten Strategie fest. Wir werden daran
arbeiten, noch mehr russische Touristen nach Georgien zu holen,
wie zu Zeiten, als die Russen ihre Ferien am liebsten in Georgien
verbrachten. Pushkin, Lermontov, Mandelstam, Akhmadulina,
Yevtushenko, Vysotsky, sie alle waren Russen, und sie alle haben
hier gelebt. Wir werden den Handel mit Russland weiter intensivieren. Und ich werde es immer wieder sagen: Wir sind keine
Feinde, sondern gute Nachbarn. Wer das nicht einsieht, ist sich
selbst der grösste Feind.
Georgien hat sich nach der Rosenrevolution 2003 innerhalb weniger
Jahre radikal reformiert: ein neues Präsidialsystem wurde geschaffen,
die Zahl der Staatsangestellten drastisch reduziert, die unternehmerische Freiheit gestärkt, eine Flat Tax eingeführt, der Korruptionssumpf
ausgetrocknet. Ist Georgien heute eine Bastion des Liberalismus?
Zahlreiche Reformen wurden durchgeführt, die die Handelsliberalisierung gefördert haben. Es lässt sich im grossen und ganzen
behaupten, dass Georgien heute im Bereich des Handels weltweit
eines der liberalsten Länder ist – denken Sie nur an unsere Zollregelungen. Georgien steht zu den Prinzipien der Welthandelsorganisation, und wir hoffen, dass die Handelsbeziehungen mit
einem beliebigen Partnerland generell auf den Regeln der Wto
gründen – ohne weitere Einschränkungen. Georgien hat tarifäre
und nichttarifäre Handelshemmnisse maximal beseitigt. Zudem
haben wir Freihandelsabkommen mit folgenden Ländern: mit
den GUS-Staaten, mit Russland, mit der Türkei und mit der EU
(DCFTA). Das macht uns attraktiv für ausländische Investoren.
Georgien setzt auf die Stärkung der Wirtschaftsfreiheit und der
Wettbewerbspolitik, fern liegt uns die Einführung irgendwelcher
Schranken oder die Stärkung einer dominanten Rolle des Staates.
Hier gilt: möglichst viel Freiheit für jeden einzelnen. In dieser
Hinsicht gedeiht der wirtschaftliche Liberalismus weiterhin
prächtig, während der politische Liberalismus noch Entwicklungspotential besitzt.
In der Schweiz sind die Bürger aber engagiert, oder? Das ist jedenfalls, was man hier hört.
Die Verhältnisse sind dank direkter Demokratie etwas besser als
in unseren Nachbarstaaten. Aber auch in der Schweiz werden die
individuellen Freiräume zunehmend eingeengt. Konkretes Beispiel:
Sie brauchen in der Schweiz mittlerweile mehrere Wochen, um eine
Firma zu gründen. In Georgien reichen hierzu ein paar Stunden.
Das stimmt. Und darauf sind wir auch stolz, ebenso wie auf die
tiefen Steuern, 20 Prozent auf Einkommen und 15 Prozent auf den
Unternehmensgewinn. Georgien hat in internationalen Bewertungen eine führende Position inne. Im Doing-Business-Ranking
der Weltbank rangiert das Land auf dem achten Platz. Laut dem
Heritage-Foundation-Economic-Freedom-Index steht Georgien
weltweit an der 22. Stelle im Bereich der wirtschaftlichen Freiheit.
Die Georgier nutzen die neuen Opportunitäten, doch geht dies
nicht sogleich mit grossem ökonomischem Wachstum einher.
Hierzu braucht es eben beides: fleissige Leute und gute Institutionen, engagierte Bürger und zuverlässige Parteien, gute Steuerzahler und einen effizienten Staat. Und Zeit.
Sie sind Philosoph, darum die abschliessende Frage:
An welchen liberalen Helden orientieren Sie sich? Sie zitieren
gerne Immanuel Kant. Oder ist es doch John Locke?
Ich schätze beide, aber wenn es um Helden geht, spielt das emotionale Moment eine wichtige Rolle. Und hier ist es der Individualismus John Stuart Mills, der mich stark geprägt hat. Mill hat viel
darüber nachgedacht, wie sich politische und individuelle Freiheit wechselseitig bedingen. Seine Konklusion: gesellschaftliche
Stabilität stellt sich fast wie ein Wunder nur durch das freie Zusammenwirken individueller Kräfte ein. Stabilität und Dynamik,
funktionierende Institutionen und freie Wahl sind in gesellschaftlicher Hinsicht keine Gegensätze, sondern gehen Hand in Hand.
Das wissen wir in Georgien auch von unseren Schriftstellern.
Vazha-Pshavela hat dies in seinen Gedichten aus dem späten
19. Jahrhundert in schönen Allegorien gezeigt: Nur wer seinen
eigenen Weg geht, bringt auch die Gemeinschaft voran. �
Mitarbeit: Serena Jung
Und in allem orientieren Sie sich an Zentraleuropa?
Die EU-Staaten sind stabil, das System von Checks und Balances
funktioniert gut.
Mein Eindruck ist, dass die wichtigen EU-Staaten an einem Problem
leiden, das jenem Georgiens diametral entgegengesetzt ist:
zu viel Staat und zu viel Harmonie unter den Parteien. Auch dies
führt zu Passivität und Politabstinenz.
55
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Korruption kriegt die Quittung
2
23 Hühner für ein Staatsbankett? In Georgien können die Bürger kritisch prüfen, was sich ihre Politiker
genehmigen. Kein anderes Land hat im letzten Jahrzehnt effektiver gegen Korruption und Misswirtschaft
gekämpft – mit politischem Willen, neuen Technologien und den richtigen Anreizen.
von Mathias Huter
W
asser und Strom gibt es nur einige Stunden am Tag. Ob man
auf eine gute Universität kommt und Prüfungen besteht,
hängt von den finanziellen Verhandlungen mit dem Professor ab.
Auf einer längeren Autofahrt wird man zweimal grundlos von
der Polizei aufgehalten, mit ein wenig Trinkgeld ist das Problem
gelöst. Ein beliebtes Geschenk zum 18. Geburtstag: ein offizieller
Führerschein, gekauft für 100 Dollar. Gerüchteweise bekommt
man ihn billiger, wenn der Empfänger Auto fahren kann.
Im Jahr 2003 gilt Georgien als eines der korruptesten Länder
der Welt. Der Staat, jahrelang geführt vom letzten sowjetischen
Aussenminister Eduard Shevardnadze, hat abgewirtschaftet, existiert kaum noch. In der friedlichen Rosenrevolution kommen
Reformer rund um Mikheil Saakashvili, damals 36 Jahre, an die
Macht. «Georgien ohne Korruption» war der Wahlkampfslogan der
Opposition. Kaum an der Macht, beginnt sie mit der Umsetzung.
Elf Jahre später ist Korruption aus dem Alltag der Leute verschwunden. Saakashvili und sein Team haben den Staat wieder
aufgebaut, auch wenn sie oft – zu oft – unlautere Abkürzungen
genommen haben. 2012 wird seine Partei im ersten demokratischen Machtwechsel aus dem Amt gewählt – auch aufgrund von
systematischer Folter in den Gefängnissen.
Doch die Reformen wirken weiter: heute gibt nur ein Prozent
der Befragten in Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes
Caucasus Research Resource Center (CRRC) an, in den vorangegangenen 12 Monaten Schmiergeld bezahlt zu haben – ein Wert,
den nur wenige westliche Länder erreichen. Die Südkaukasusrepublik liegt im jährlichen Korruptionswahrnehmungsindex von
Transparency International derzeit auf Rang 55 von 178 – und
damit besser als sieben EU-Mitgliedsstaaten.
Saakashvili und seine Mitstreiter erkannten, dass sie nur ein
kurzes Zeitfenster hatten, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es ihnen mit ihren Reformversprechen ernst war. Eines
der grössten Probleme war die Polizei – wo die Regierung rigoros
durchgriff und innert kürzester Zeit alle 16 000 Gendarmen feuerte (vgl. dazu S. 62). Ausgemistet wurde aber auch bei den Regulierungen: 2003 gab es in Georgien noch 909 verschiedene Genehmigungen und Lizenzen, viele aus Sowjetzeiten. 2011 waren davon nur noch 137 übrig. Ganze Behörden wurden zugesperrt. Die
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Mathias Huter
arbeitet als freier Consultant zum Thema «Good Governance» in Wien.
Bis April 2014 war er fünf Jahre lang in führenden Positionen für die
Antikorruptionsorganisation Transparency International Georgia
in Tbilisi tätig.
meisten Amtswege können heute online oder in futuristisch designten Verwaltungsgebäuden erledigt werden.
Seit 2003 hat sich der georgische Staatshaushalt mehr als
vervierfacht. Möglich war dies nur, weil es der Regierung gelang,
Steuern einzutreiben. Aus 21 komplexen Steuern wurden 7 Flat
Taxes, die leichter einzuziehen sind. Ende 2010 übermittelten
bereits knapp drei Viertel aller Steuerzahler ihre Erklärungen in
elektronischer Form.
Um Betrug bei der Mehrwertsteuer zu bekämpfen, zwang
Georgien 2012 alle Geschäfte des Landes, vom Elektronikhändler
bis zur Gemüsefrau im Dorf, eine elektronische Registrierkasse
mit eingebautem Mobilfunk-Chip einzusetzen. Darin musste der
Wert einer Transaktion eingegeben werden, der in Echtzeit via
Handynetz an das Finanzministerium weitergeleitet wurde. Von
dort kam ein Code zurück, der dann auf die Rechnung gedruckt
wurde. Die wurde so zum Lotterieschein, mit dem der Einkäufer
Geld gewinnen konnte. Je mehr Käufer einen Beleg verlangten,
desto mehr Händler zahlten Steuern. Eine derartige Kombination
von wirtschaftlichen Anreizen und Technologie könnte vielleicht
auch Italien, Griechenland und anderen Ländern mit grosser
Schattenwirtschaft zu mehr Einnahmen verhelfen.
Auch was die Ausgaben angeht, setzt man in Georgien auf
Innovation: Seit 2011 werden alle Beschaffungen öffentlicher Stellen über eine zentrale Webseite durchgeführt. Ähnlich wie bei Ebay
können Unternehmen Gebote abgeben – nur dass diese niedriger
sein müssen als die der Vorbieter. Das System setzt auf radikale
Transparenz: alles ist für den Bürger einsehbar. Welche Firmen wie
viel für welche Projekte bieten, wer disqualifiziert wurde und wer
schliesslich den Zuschlag erhalten hat, dazu alle Dokumente und
Verträge. Somit wird auch für Firmen nachvollziehbar, warum die
Konkurrenz gewonnen hat. Auch die Konten der Verwaltung sind
mit der Plattform verknüpft: jede Zahlung an eine Firma für einen
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
Auftrag wird öffentlich gemacht. Wer bei einem Vergabeprozess
ein Problem sieht, kann formlos online Einspruch erheben, alle
Beschwerden und Entscheidungen dazu sind einsehbar. Ebenso
alle Budgets. So können Eltern sehen, wie viel Geld die Schule ihrer
Kinder im aktuellen Jahr für neue Tische und Computer ausgeben
kann. Seit 2012 geht man noch einen Schritt weiter: nun sind auch
alle Rechnungen online, bis zum letzten Toilettenreiniger.
Die Öffentlichkeit kann so die Ausgaben des Staates kontrollieren. Und tut es. Vor kurzem sorgte eine Restaurantrechnung des
Finanzministeriums für Aufregung: Mehr als 3500 Franken wurden
für ein Abendessen mit einer Delegation von Weltbank und IWF
ausgegeben. Hat man wirklich 23 ganze Hühner bestellen müssen?
Als Reaktion auf die Medienkritik veröffentlichte das Ministerium
den Menüplan für das nächste Festmahl (Supra) mit Diplomaten auf
Facebook: wieder 25 Speisen für jeden Gast. «Bestellt den Hühnerlebersalat ab! So etwas isst doch niemand», lautete ein Kommentar.
Auch von den Lenkern des Staates wird Offenheit verlangt:
Regierungsmitglieder, Abgeordnete und leitende Beamte – insgesamt mehr als 3000 Personen – müssen einmal im Jahr den Besitz
und alle Verdienste ihres Haushaltes online offenlegen. In der Erklärung müssen etwa Boote, Kunstwerke, Motorräder und Autos
mit einem Wert von mehr als 5000 Franken angegeben werden –
samt Modell, Baujahr und Nummerntafel. Deklariert werden müssen auch sämtliche Grundstücke und Immobilien, Bankkonten,
Firmenbeteiligungen, Aktien, Einkommen, Bargeld, Kredite sowie
Verträge mit einem Wert von mehr als 1500 Franken. Auch erhaltene Geschenke mit einem Wert von mehr als 250 Franken und
Ausgaben von mehr als 750 Franken müssen deklariert werden.
Die Vollständigkeit der Angaben in den Offenlegungen wird
zwar nicht von staatlicher Seite kontrolliert, jedoch müssen sich
etwa Parlamentarier von Medien unangenehme Fragen stellen
lassen, wenn herauskommt, dass sie eine Firmenbeteiligung ihres
Ehepartners oder ein Grundstück nicht korrekt gemeldet haben.
Medien und Nichtregierungsorganisationen können zumindest
einen Teil der Angaben auf ihre Richtigkeit überprüfen – sowohl
das Firmenverzeichnis samt Unternehmenseigentümer als auch
das Grundbuch sind kostenlos online zugänglich.
Auch Parteispenden müssen in Georgien – anders als in der
Schweiz – regelmässig bis auf den letzten Franken offengelegt werden, vor Wahlen im 3-Wochen-Rhythmus. Diese Daten erlauben
neuartige Analysen: So zeigte sich, dass über drei Jahre staatliche
Aufträge im Wert von mehr als 100 Millionen Franken ohne Ausschreibung an Firmen im Besitz von hohen Beamten und Parlamentariern oder deren Ehepartnern gegangen waren. 60 Prozent aller
Spenden erhielt die damalige Regierungspartei 2012 von Unternehmern, die ebenso Verträge ohne Ausschreibung erhalten hatten –
der Wert der Spenden lag durchschnittlich bei 4 Prozent des Auftragswertes. Transparenz kann Korruption nicht völlig verhindern.
Aber sie kann sie zurückdrängen, weil sie schwerer zu verschleiern
ist. Vom Beispiel Georgien könnte auch so manches Land in Westeuropa noch etwas lernen. �
Nicolas Hayoz
Software statt Hardware
W
as hat die Untersuchung von
häuslicher Gewalt mit Studien
zum kulturellen Umfeld von
Unternehmen oder zum
Aufbau einer meritokratisch
orientierten öffentlichen
Verwaltung zu tun? Der gemeinsame Nenner ist die
sozialwissenschaftliche Thematik. Das ASCN (Academic Swiss Caucasus Net, siehe www.ascn.ch ), ein von
der Gebert-Rüf Stiftung unterstütztes Forschungsförderungsprogramm für Armenien und Georgien, beschäftigt sich genau mit solchen Fragestellungen.
Durch «Capacity Building» wird angehenden
Forschern die Möglichkeit geboten, sich in ihrer Disziplin
weiterzubilden und Anschluss zu finden an europäische
Forschungsstandards. Darin liegt die Originalität des
ASCN: in der Verknüpfung der Forschungsförderung und
der Unterstützung der Ausbildung junger Forscher. Das
ASCN gehört zu den wenigen Förderprogrammen in
Transformationsländern, die nicht auf «Hardware»,
auf technischer Unterstützung oder auf «Top down»Ansätzen beruhen. Es geht im Gegenteil um Investition in
«Software», in die Ausbildung von Sozialwissenschaftern.
Das tun die meisten Förderprogramme schon deswegen
nicht, weil sie die Rolle der Sozialwissenschaften in
schwierigen Ländern entweder unterschätzen oder weil
ihnen die Geduld fehlt, ein entsprechendes Netzwerk und
Vertrauen vor Ort aufzubauen. In der Schweiz tut dies nur
die Deza mit einem Forschungsförderungsprogramm im
Westlichen Balkan, das ebenfalls von der Universität Fribourg gemanagt wird (http://www.rrpp-westernbalkans.
net). In Deutschland baut nun auch die Volkswagenstiftung ein ähnliches Förderprogramm auf – für den Südkaukasus und die zentralasiatischen Länder.
Bezeichnenderweise handelt es sich hier um
Programme, die auf Zeithorizonte von mindestens acht
Jahren angelegt sind. Gerade im Bereich der Sozialwissenschaften, die in den postsowjetischen Ländern lange
vernachlässigt worden sind, braucht es sehr lange, um
ein entsprechendes Forschungspotential aufzubauen.
Das ASCN zeigt seit 2009 erfolgreich, dass auch mit
bescheidenen Mitteln Grosses erreicht werden kann:
Für Dutzende von jungen Forschern stellte und stellt das
ASCN die Möglichkeit dar, ihre Forscherkarriere voranzutreiben, sich zu vernetzen und ihre Kapazitäten zu
verstärken. In diesem Sinne nimmt das Forschungsnetzwerk ASCN auch Anteil am Wandel in jenen Ländern.
Nicolas Hayoz ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor
des Osteuropa-Instituts an der Universität Freiburg i.Üe.
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Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Wühlen im Mülleimer der Geschichte
3
In Georgien steht Stalin nicht als Schlächter auf dem historischen Schrottplatz, sondern als Rebell auf
dem nationalen Podest. Bevor er entsorgt wird, wo er hingehört, tut aber Aufklärung not. Denn auch aus
Mentalität und Gesellschaft sind nicht alle sowjetischen Relikte verschwunden.
von Claudia Mäder
D
ie Betreiber des Stalinmuseums sind beinharte Kapitalisten.
15 Lari – rund 8 Franken oder das Tagesgehalt einer Supermarktkassiererin – verlangen sie in ihrem improvisierten Giftshop für eine Schneekugel mit dem Kopf des berühmtesten Georgiers. 15 Lari – rund 20 pilzgefüllte Teigtaschen mitsamt zwei
Gläsern guten Weins –, um ein paar Schneeflocken auf einen
Massenmörder rieseln zu lassen? Reinste Abzockerei! Viel rentabler ist es, eine Museumsführung zu buchen und sich für
10 Lari gleich die gesamte Weltgeschichte als Märchen vortragen
zu lassen.
Im Kirchenschulchor sei Josef Stalin – damals noch Ioseb
Jugashvili – als guter Sänger aufgefallen, rapportiert die junge
Frau, die in dem pompösen Bau resolut durch Massen von Reliquien steuert, uns auf besondere Preziosen – etwa das Porzellanset von Mama Stalin – aufmerksam macht, die Leistungen des
Hitlerbesiegers als Weltbefrieder hervorkehrt, mit Vitrinen voll
Präsenten die Bewunderung belegt, die der Generalissimus weltweit genoss, und bei ihrer Hatz durch die Jahrzehnte nie länger
innehält als vor dem Dokument, das Stalin als Georgier ausweist.
«They are very proud of this», muss unser Übersetzer, ein junger
Student, immer wieder betreten sagen; vor einer der wenigen
erhaltenen Stalin-Totenmasken ebenso wie im verplombten grünen Eisenbahnwaggon, des Flugangstgeplagten legendären Fortbewegungsmittel, das lange als verschollen galt, endlich aber
seinen Weg in Stalins Geburtsstadt Gori und hier seinen Platz im
Museum gefunden hat. Mit der Begehung dieses Relikts endet
unsere Reise durch das 20. Jahrhundert. «Et la terreur?», fragen
wir bedrückt. «La quoi?», fragt die perfekt Französisch sprechende Führerin zurück und entschwindet ums Eck.
Weiblich, zwischen 31 und 45, Städterin, gut gebildet – die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Georgierin mit diesem Profil ein
positives Bild des Gewaltherrschers hat, liegt bei 40 Prozent.
Das zeigt eine Umfrage der Carnegie Stiftung, die 2012 einen gesellschaftsweiten Stalin-Zustimmungswert von 45 Prozent erhoben hat. Diese Zahl ist nicht nur «alarmierend hoch», sondern sie
liegt auch über den Werten aller anderen befragten Staaten inklusive Russlands, das bei 40 Prozent pendelt. Von diesem Befund sei
selbst er überrascht gewesen, sagt Lasha Bakradze, den ich an-
58
Claudia Mäder
ist Redaktorin dieser Zeitschrift.
derntags in Tbilisi besuche, um die Eindrücke aus Gori in einen
grösseren Kontext einzuordnen. Der Historiker und Mitautor der
Carnegie-Studie beschäftigt sich seit langem mit der Sowjetzeit
und ihrer Bewältigung – und mithin also auch ihrer musealen
Inszenierung. Ein «sehr peinlicher Ort» sei das Stalinmuseum,
sagt er sogleich. Aber auch wenn seine muffige Kultkultivierung
georgienweit ein Extrem darstelle und ans Beschämende rühre,
müsse es doch unbedingt erhalten bleiben: als plastische Quelle
dafür, wie hierzulande die Geschichte verfälscht und ein verqueres Stalinverständnis geschaffen worden sei.
Patriotenmythos und Opferthese
Anders als in Russland werde Stalin in Georgien als dezidiert
nationales Symbol gelesen. Nicht als heldenhaften Sieger über den
Faschismus oder als Garanten für rigide staatliche Ordnung ehren
die Georgier laut Bakradze ihren Landsmann, sondern als Rebellen,
der aus dem kolonisierten Georgien auszog, um das gesamte russische System zu unterwerfen. «‹Unser Junge hat es denen gezeigt› –
das ist die Formel, auf die man den sehr primitiv verstandenen Patriotismus bringen kann, der in der georgischen Stalinsympathie eine
grosse Rolle spielt.» Diese nationale Komponente und die tendenzielle Abkoppelung des Symbols von der (in Russland stark mythisierten) Sowjetzeit erklärt zwar ansatzweise, weshalb sich der Diktator
in Georgien früh schon über rein kommunistische Kreise hinaus
beachtlicher Beliebtheit erfreute. Allem voran, gibt Bakradze zu
bedenken, seien die erschreckenden Umfragewerte aber Ausdruck
mangelnder Auseinandersetzung mit eigener Geschichte: Lustrationen habe es in Georgien nie gegeben, die Schulen vermittelten oberflächliches Wissen, seine Studenten an der Uni hätten kaum Kenntnisse von der Sowjetzeit, und in der Öffentlichkeit sei Vergangenheitsbewältigung kein Thema.
Zumindest wird die Vergangenheit dort nicht auf weiterführende Weise thematisiert. Im unweit von Bakradzes Büro gelegenen
«Okkupationsmuseum», das die Regierung 2006 eröffnete, finden
Im Uhrzeigersinn:
Stalins kugelsicherer Bahnwagen,
photographiert von Martina Jung;
Traktor im Bergdorf Omalo,
photographiert von Claudia Mäder;
Auslage im Stalin-Museumsshop,
photographiert von Serena Jung.
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Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 Geschichtsinteressierte eine düstere Gegenwelt zu Gori. Auch hier
steht ein Eisenbahnwaggon am Eingang – allerdings nicht als Reliquie, sondern als Mahnmal: In dem Museumsexponat sind 1924
zahlreiche georgische Antibolschewisten von der Tscheka erschossen worden. Geschätzte 80 000 Georgier folgten ihnen nach und
wurden während der 70jährigen Sowjetära zu Opfern des russischen Besatzers, hunderttausende mehr wurden deportiert oder
fielen im Krieg. Der ganze, kaum beleuchtete Ausstellungssaal belegt die Zahlen mit Listen voller aufständischer, dissidenter und
unbescholtener Bürger. Grauenvoll. Dennoch absolviere ich eine
zweite Runde – im Glauben, die Ausführungen zum georgischen
Mastermind des Terrors, seinem Landsmann und Geheimdienstchef Lavrenti Beria oder dem berüchtigten Politbüromitglied Sergo
Orjonikidze, in der Dunkelheit übersehen zu haben. Vergebens:
Erhellendes zu den heimischen Schergen bietet das staatliche
Museum wenig; es kennt die Georgier vorab als Opfer.
Oberflächenkosmetik
Dabei waren auch jenseits der grossen Namen viele hiesige
Kommunisten zumindest Kollaborateure der Täter. Wenn sich
das Land in der Post-Stalin-Ära ähnlich wie Ungarn ab 1956 tendenziell vom Kommunismus abwandte und analog zum dort
gelebten «Gulasch-Kommunismus» eine Art «Schaschlik-Kommunismus» (Bakradze) praktizierte, der die Ideologie nur noch als
Saucengarnitur mitführte, so hat es in der Frühphase der Sowjetunion tatkräftig am System mitgewirkt: Überdurchschnittlich
viele Georgier bevölkerten in den 1920er und ’30er Jahren die unionsweite Nomenklatura und besetzten einflussreiche Posten.
Zwar ist dieser Umstand kein Geheimnis. Nur, sagt Bakradze,
hätten solch differenzierte Sichtweisen keinen Platz in dem
schwarz-weissen Geschichtsbild, das hierzulande gemeinhin gezeichnet werde. Im Zuge der entschiedenen Westausrichtung
habe man in den vergangenen Jahren eher versucht, die Spuren
der «bösen Sowjets» auszumerzen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. 2011 etwa ordnete die Regierung Saakashvili die
Entfernung aller sowjetischen Symbole aus dem öffentlichen
Raum an. Für den Historiker ist das reine Oberflächenkosmetik,
denn «was nicht aufgearbeitet ist, kommt wieder hoch». Und
siehe da: Sterne, Sicheln und Hämmer mochten abgekratzt gewesen sein, Stalin-Statuen aber tauchten – nicht nur in Gori – schon
kurz nach Saakashvilis Abwahl wieder auf.
Ohne Aufklärung über das, was hinter diesen Dingen steht,
wird sich nichts ändern. Deshalb hat Lasha Bakradze zusammen
mit anderen Historikern das «Soviet Past Research Laboratory»
gegründet, eine Institution, die nicht nur forscht und publiziert,
sondern auch alternative Stadtrundgänge anbietet und interessierten Leuten die Geschichten der Menschen erzählt, die in Tbilisis
Gebäuden lebten, litten und kollaborierten. Das Angebot ist primär für Georgier konzipiert worden, wird aber grösstenteils von
Ausländern genutzt. – Natürlich, kann man einräumen, hatte das
Land, zumal in den krisenhaften Jahren nach seiner Unabhängig-
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keit, Dringenderes zu tun, als sich mit seiner Geschichte zu befassen; natürlich ist in Zeiten, da Strom und Perspektiven fehlen,
Vergangenheitsbewältigung kein primäres Bedürfnis. Dennoch ist
gerade für Gesellschaften im Übergang das Bewusstsein für historische Prägungen von essentieller Bedeutung – denn Mentalitäten
lassen sich nicht wie Monumente demontieren, und wo Neues
entstehen soll, müssen die Fundamente stimmen.
Tiefenwirkungen der Sowjetära
«Das grundlegendste Problem, das die kommunistische Ära
der georgischen Gesellschaft hinterlassen hat, ist der kaum ausgebildete Sinn für Zivilgesellschaft und Freiheit.» Andro Barnovi,
früherer Regierungsstabschef und Vorsteher der 2013 eröffneten
«Saakashvili Presidential Library», ortet dieses Defizit nicht nur,
sondern sucht es auch auszuräumen. Bücherspeicher, Seminarveranstalterin und Think Tank in einem, will die Bibliothek die
georgische Debatten- und Denkkultur fördern. Viel habe sich
schon gewandelt seit der Rosenrevolution, sagt der studierte Philologe, aber viel mehr müsse noch geschehen, denn noch immer
sei in der georgischen Mentalität die Annahme verankert, dass der
Staat sowohl für einen entscheide als auch sorge.
Im Sowjetstaat hätten die Menschen den Status von – mal bestraften und mal gelobten – «Kindern» gehabt, schreibt der
Psychologe Rezo Korinteli, der die psychosoziale Verfassung im
postsowjetischen Georgien untersucht hat. Dieses Abhängigkeitsverhältnis habe das Versprechen geborgen, dass die staatlichen
«Eltern» die Grundbedürfnisse der Unmündigen deckten, und der
Verlust dieser «Sicherheit» habe dann in den ökonomisch schwierigen Zeiten nach der Wende zuweilen zu Sowjetnostalgie geführt
– vor allem in ländlichen Gegenden, die den Anschluss an neue
Entwicklungen und Märkte verpassten. Gerade an diesen Orten
kommt man laut Barnovi heute nur mit Wissen weiter. «Wenn die
Regierung auftritt und die Rente um 20 Lari erhöht, bringt das gar
nichts, das sind ein paar Zigaretten, mehr nicht.» Während viele
noch immer das Gefühl hätten, der Staat meine es gut mit ihnen,
wenn er ihnen etwas Geld gebe, sei effektiv nur Bildung in der
Lage, den Leuten zu helfen: indem sie ihnen die Mittel an die Hand
gebe, auf eigenen Beinen zu stehen.
Resignierte Staatsgläubigkeit ist freilich nicht die einzige
Bürde, die das Land aus der Sowjetzeit mitträgt. Schwer ist zu
übersehen, dass die Vergangenheit nicht nur in vielen Köpfen,
sondern auch in gewissen Strukturen weiterwirkt – und die Georgier etwa in der schwach profilierten Parteienlandschaft vorab
auf starke Figuren setzen. Nach dem Abtritt der Sowjetherrscher
und der Absetzung respektive der Abwahl von Shevardnadze
und Saakashvili führt heute zwar erstmals ein weitgehend uncharismatischer Präsident das Land. Dass hinter ihm ein milliardenschwerer Mann steht, der im Volk den Ruf eines messianischen «Retters» geniesst, ist aber hinlänglich bekannt. – Man
muss die Schneekugel kräftig schütteln, um hier die Geschichte
vergessen zu können. �
Schweizer Monat 1021 november 2014 Vertiefen / Dossier
Georgisch, glücklich –
und (fast) gesetzlos
4
Der Unternehmer und ehemalige georgische Landwirtschaftsminister Mikheil Svimonishvili
weiss, was sein Land vorangebracht hat: Flat Tax, Rechtsstaat, Rückbau der Verwaltung –
und fehlende Hygienevorschriften.
René Scheu trifft Mikheil Svimonishvili
«The Economist» hat vor einiger Zeit geschrieben, dass sich Georgien
«als Star des Kaukasus» neu erfunden habe. «Die Polizei lässt sich nicht
schmieren, und Elektrizität ist kein Luxus mehr. Aber am wichtigsten
ist, dass die Leute selbst über solchen Erfolg nicht länger erstaunt sind.
Die grösste Veränderung spielte sich in den Köpfen ab.» Stimmen Sie
mit der Einschätzung überein oder zeichnet das britische Magazin ein
zu schönes Bild Ihres Landes?
Die georgischen Bauern waren schon zu Sowjetzeiten ausgeprägte kleine Kapitalisten, die im Stillen und Privaten geschäfteten. Dieser Wille der Leute, etwas aus sich und aus ihrem Land
zu machen, den gab es. Und den gibt es. Dabei lag es nahe, auf
unternehmerfreundliche Bedingungen zu setzen. Damit werden
neue Opportunitäten für die Georgier geschaffen, aber zugleich
auch für alle anderen im Kaukasus, die ein Business aufziehen
wollen. Unsere Situation ist mit jener der Schweiz vergleichbar:
In Georgien haben wir ausser Mangan kaum Rohstoffe, aber wir
haben fleissige Leute, und das Land liegt geostrategisch goldrichtig. Wer die Geschichte kennt, weiss: Die Seidenstrasse von
China nach Europa führte direkt durch Georgien. Wir wollen
wieder zu jenem blühenden Handelsplatz werden, den wir einst
waren.
Das klingt nach politischem Programm. Zwei Jahre waren Sie selbst
Agrarminister, sonst kennt man Sie aber vor allem als Unternehmer
und CEO des grössten georgischen Mineralwasserunternehmens.
Der unbedarfte ausländische Beobachter würde sagen: Unternehmertum und Regierungsverantwortung liegen in Georgien gefährlich
nahe beieinander.
Mikheil («Miho») Svimonishvili,
1976 geboren, ist Mitgründer, Miteigentümer und CEO der
Margebeli Group, die Trinkwasser und Lebensmittel in Georgien
herstellt, distribuiert und exportiert. Der Umsatz der Gruppe
beträgt rund 25 Millionen Dollar. Von 2005 bis 2006 war er unter
Mikheil Saakashvili Landwirtschaftsminister.
René Scheu
ist Herausgeber & Chefredaktor dieser Zeitschrift.
Fast alle georgischen Bürger stehen dahinter. Nach Jahren der
Misswirtschaft wollen sie endlich die Chance nutzen, um ihr
Leben in Georgien zu verbessern.
Wenn Sie unternehmerische Zwischenbilanz ziehen:
Wo steht das Land heute, zehn Jahre nach dem Neubeginn?
Wir haben unsere Institutionen in Rekordzeit radikal reformiert,
die Bürokratie ist minimal, der Staat selbst für mitteleuropäische
Verhältnisse sehr transparent, die Eigentumsrechte wurden gestärkt. Aber all das reicht nicht. Wenn man uns in Europa und dem
Rest der Welt kaum kennt, so ist dies unser Versäumnis. Wir sind
erst daran zu lernen, unsere Errungenschaften auch überzeugend
zu vermarkten. Aber ich denke, wir sind bereit, die Prüfungen zu
bestehen, die westliche Kapitalgeber und Regierungen von uns
verlangen.
Georgien als unternehmerischer Hub im Kaukasus?
Ich weiss. Europäische Ohren sind sehr sensibel. Aber ich kann
Sie beruhigen: Der Staat hat die Wirtschaft in die Privatheit entlassen, und die wirtschaftlichen Akteure wissen die neue Freiheit
zu schätzen. Das neue Georgien ist ein extrem junges Land – es
wurde nicht 1848 gegründet wie die Eidgenossenschaft, sondern
2004, nach der Rosenrevolution. Zuvor galt trotz frisch gewonnener Unabhängigkeit im Jahre 1991 in der Tat das pseudobiblische
Motto: Die neue Situation ist bloss alter sowjetischer Wein in
neuen postsowjetischen Schläuchen.
Auch – aber nicht nur! Natürlich wollen wir die Verwaltungszentralen und Firmensitze internationaler Konzerne anziehen. Wir
wollen aber auch neue Produktionsstätten ansiedeln. Es ist eine
Herkulesaufgabe und braucht viel Zeit, neues Kapital aufzubauen.
Unsere Leute sind gut qualifiziert, sie werden an Business Schools
auf Managementaufgaben vorbereitet, die Anstrengungen im
Bildungsbereich sind enorm. Georgien hat in den letzten Jahren
viel in die Infrastruktur investiert, Strom, Wasser, Gas, Strassen.
Dank dem Anschluss ans Schwarze Meer und guter Verkehrswege
über Land können wir einerseits in die boomenden benachbarten
Länder exportieren, aber auch darüber hinaus – in die ganze Welt.
Ist das neue Georgien bloss die Idee einer politischen Elite? Oder findet
es auch Rückhalt in der breiten Bevölkerung?
Das klingt ambitioniert, aber Hand aufs Herz:
Wie steht’s um die Korruption?
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Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 Serena Jung
Migroshvili
A
uf der Fahrt zur Fabrik zeigt Mikheil
Svimonishvili auf die Geräteparks,
die die Regierung in verschiedenen
Regionen aufgestellt hat, damit sich die
Bauern Traktoren und anderes Gerät
für die Feldarbeit ausleihen können.
Für eigene Ausrüstung fehlt ihnen das Geld, mehr produzieren aber können sie nur mit Maschinenkraft, und
mehr produzieren heisst für Svimonishvili: mehr
Gemüse und Früchte zum Einmachen. Die Marneuli
Food Factory ist eines der vier Standbeine der georgischschweizerischen Margebeli Holding, die sich neben
Mineralwasser, Agrarbau und Distribution eben auch auf
das Verarbeiten von Lebensmitteln versteht.
Geschäftsführerin der Marneuli Food Factory ist Irina
Gaprindashvili, 26, seit drei Jahren in der Holding tätig,
und seit zwei Jahren leitet sie die Haltbarmachungsfabrik.
Die Saison neige sich langsam dem Ende zu, 7000 Tonnen
allein an Tomaten hätten sie dieses Jahr verarbeitet. 2007
gegründet, verzeichnet die junge Firma stetes Wachstum.
Die Ausgangslage sei gut, da die Georgier begännen,
lokale Produkte zu schätzen und im Moment noch 80 Prozent der Lebensmittel importiert würden. Export sei aber
ein Thema: sie besuchen Messen in Lettland, Dubai und
China. Mit den meisten postsowjetischen Staaten bestehe
schon länger ein Freihandelsabkommen, seit Juni dieses
Jahres auch mit der EU. Gaprindashvili spricht neben
Englisch, Russisch und Deutsch auch Spanisch. Und ja,
damit sei es leicht gewesen, nach dem Studium eine
Anstellung zu finden.
Kurz bevor wir auf das Gelände der Fabrik einfahren,
rückt Svimonishvili auf dem Autositz nach vorn und
erklärt, sein absolutes Vorbild sei «Dutti». Wir lachen,
freuen uns wohl, dass er den Migros-Gründer kennt.
Svimonishvili aber bekräftigt: «Nein, nein! Wirklich,
schaut!», und zeigt auf die Produktionshalle, auf der der
orange Buchstabe «M» prangt. «M, das steht für Mikheil,
für Migros und für Marneuli!» Er wolle alles ganz genau
so machen wie Gottlieb Duttweiler. Letzte Woche habe
er die Bischofszell-Fabrik besucht, vor längerer Zeit eine
Migros-Budget-Linie lanciert. «Velo» heisst seine Günstigversion und steht für die Endung von «Sakartvelo», für
das landessprachliche Georgien wie für das Fahrrad, mit
dem man oft auf die japanische Wirtschaft verweise –
immer strampeln, sonst liegt das ganze Konstrukt
darnieder. Ob auch das Kulturprozent in seinem Plan
enthalten sei, wollen wir wissen. Eine Privatschule habe
er mitgegründet – die Sechste Autorisierte Schule in
Tbilisi. Denn Bildung, das sei das Wichtigste überhaupt.
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Seit zehn Jahren habe ich keinen einzigen Dollar verwenden müssen, um jemanden zu schmieren – weder einen Polizisten noch
einen Finanzbeamten. Das war in den 1990er Jahren unter Shevardnadze noch ganz anders. «The Economist» hat recht, wenn
die Zeitschrift von Luxus spricht: Wer damals zuverlässig Strom
wollte, musste dafür extra bezahlen. Wer mit dem Staat in
Kontakt kam, musste die Beamten gnädig stimmen. Jobs, die mit
öffentlicher Macht verbunden waren, waren sehr begehrt; sie
versprachen eine Extrarente.
In Europa verläuft das politische Leben in etablierten Bahnen, selbst
Minireformen brauchen Jahre, zuweilen Jahrzehnte. Ein radikales
Reformprogramm, wie es sich die Georgier verpassten, ist vor diesem
Hintergrund nicht einmal vorstellbar. Wie haben die Bürger reagiert?
Im Grunde gab es einen impliziten Konsens: entweder wir
packen's jetzt oder wir packen's nimmermehr. Das Tempo war
kein Problem, sondern eine Chance, viele Reformen wurden über
Nacht durchgezogen.
Über Nacht – wie meinen Sie das?
Ich meine das ganz buchstäblich. Zum Beispiel wurden von einem
Moment auf den anderen alle Polizisten entlassen, alle! Denn wir
haben schnell gemerkt, dass wir nur so der tief verwurzelten Korruption Herr werden konnten. Es dauerte einige Zeit, bis wieder
neue Polizeikräfte im Einsatz waren. Georgien musste also drei
Monate ohne die Gesetzeshüter auskommen. Und Sie werden es
nicht glauben: Das Land funktionierte reibungslos, die Delikte
nahmen nicht zu, sondern ab. Uns allen in der Regierung war
bewusst: Wir haben ein Zeitfenster von ein paar Jahren, in denen
alles möglich ist. Danach beginnen die strukturkonservativen
Kräfte wieder überhandzunehmen.
Ziemlich mutig. Oder verrückt. Die Leute begehrten nicht auf?
Im Gegenteil. Sie standen voll dahinter, denn sie waren es ja, die am
meisten unter der Korruption litten. Ein anderes Beispiel, das Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat und in mein Ressort als
Landwirtschaftsminister fiel: Wir haben auf einen Schlag sämtliche
Lebensmittel- und Hygienevorschriften abgeschafft. Denn unter
Shevardnadze spazierten die Lebensmittelkontrolleure von Restaurant zu Restaurant und kassierten von deren Besitzern jeweils ein
schönes Sümmchen, wobei sie ihnen im Gegenzug grosszügigerweise die Betriebslizenz weiterhin gewährten. Wer diese Form des
Amtsmissbrauchs bekämpfen wollte, musste erst mal die Gesetze
beseitigen, die den Beamten so viel Macht gaben.
Es herrschte für kurze Zeit also der reine Markt.
Wie entwickelte sich das Experiment?
Zu unserer Zufriedenheit. Der Restaurantbesitzer will seine Kunden ja nicht vergiften, sondern sie durch ein besonders gutes und
schönes Ambiente in sein Lokal locken, damit sie ihm freiwillig
sein Geld überlassen. Ich vertraue jederzeit lieber dem Eigeninteresse des Restaurantbesitzers als der angeblichen Gemeinwohlorientierung eines Beamten. Unsere Massnahmen haben jedenfalls
gewirkt. Die Restaurants waren erstmals wirklich sauber und die
Beamten kassierten kein Schmiergeld mehr.
Im Uhrzeigersinn:
Mikheil Svimonishvili, Irina Gaprindashvili,
Fabrikeingang, Gurken auf Band
und im Glas mit orangem «M»,
photographiert von Martina Jung.
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Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 Warum hat Georgien später die Vorschriften wieder eingeführt,
wenn alles wunderbar lief?
Es reicht leider nicht, wenn die Georgier wissen, dass die Hygiene
in Georgien auch ohne Hygienevorschriften bestens funktioniert.
Wir wollen ja mit anderen Wirtschaftsräumen kooperieren, und
darum haben wir neue Standards etabliert. Sie waren maximal
simpel und nachvollziehbar und erst noch mit EU-Richtlinien
kompatibel.
Die EU soll auch Absatzmarkt für die Produkte Ihrer Unternehmer
werden, seit Juli stehen erste Freihandelsabkommen. Das Unternehmen
selbst ist eine georgisch-schweizerische Kooperation. Wie kam es dazu?
Mein Vater führte in den 1990ern immer mal wieder westliche
Touristen, die Georgien näher kennenlernen wollten, durch das
Land. 1997 war Thomas Diem unter ihnen, ein Schweizer Arzt und
Psychiater, den die georgische Musik faszinierte. Sie fuhren in das
Gubazouly-Tal, um einen alten Mann aufzusuchen, der noch sehr
traditionelle georgische Lieder kannte. In dem kleinen Dorf
Nabeghlavi gab es eine Mineralquelle, seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Sie sicherte den Bewohnern einst das Auskommen, lag jedoch seit Jahren brach. Thomas Diem wollte helfen,
und er erkannte unsere Bereitschaft, etwas zu bewegen. So erwarben wir die Quelle gemeinsam für 40 000 Dollar vom Staat. Wir
begannen mit fünf Leuten im Dorf. Heute hat die gesamte Unternehmensgruppe 1000 Mitarbeiter.
Das klingt nach der Karriere eines Selfmademan.
Lief sie tatsächlich so ab?
Ich hatte den nötigen Ehrgeiz, das stimmt. Der erste Businessplan
bestand aus drei hingekritzelten Seiten von Gia Gogoladze, meinem
Geschäftspartner. In den folgenden Jahren investierten wir viel in
offensives Marketing. Ohne die Unterstützung durch Schweizer
Freunde hätten wir jedoch nicht expandieren können; ich verfügte
damals über kein Kapital. Sie haben es mir auch ermöglicht, 1998
und 1999 an der Universität Zürich zu studieren. Ich habe damals
viele schweizerische Mineralwasserproduzenten besucht, von
Migros bis Rivella, und stets standen mir die Türen offen. Ich habe
helvetische Standards in der Organisation, Führung und Rechnungslegung meiner eigenen Firmen übernommen. Ich lernte
Zuverlässigkeit, Transparenz und Kompetenz zu schätzen.
Sind Sie mit dem Geleisteten zufrieden?
Ich schlafe bis heute nicht besonders viel, aber die Aufgabe, die
ich mir selbst gegeben habe, erfüllt mich. Ich habe eine tolle
Familie, ich arbeite mit guten Leuten zusammen. Insofern – ja, ich
bin zufrieden. Aber ich will natürlich mit meinen Firmen weiterwachsen.
Wie kam es, dass Sie als ambitionierter Mineralwasserfabrikant
mit 26 Jahren zum Landwirtschaftsminister berufen wurden?
Ganz einfach: Mikheil Saakashvili hat mich am Telephon um ein
Treffen gebeten und mich direkt gefragt. Wir waren eine Generation junger Wilder, Tbilisi ist überschaubar, und alle sind zumeist
über ein paar Ecken miteinander bekannt. Saakashvili hielt Ausschau nach neuen Leuten, die frei von sowjetischen Seilschaften
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waren, über einen Leistungsausweis und westliche Erfahrung verfügten. Aus geschäftlicher Sicht war es kein kluger Entscheid, das
Ministerium zu übernehmen – die Firma stagnierte in den beiden
Jahren, ich hatte meine Aktien vor dem Amtsantritt meinem Vater
überschrieben und die Leitung abgegeben. Allerdings hat sich der
Ausflug in die Politik dennoch gelohnt; ich wollte meinem Land
dienen, es voranbringen, und ich denke, das ist mir und meinen
Mitstreitern gelungen.
Sie haben nie einen Anflug von Zweifel verspürt,
der Aufgabe als Agrarminister nicht gewachsen zu sein?
Ich habe mir gesagt: Wer den Ehrgeiz hat, ein Unternehmen aufzubauen, kann auch ein Ministerium führen. Und so leitete ich
von einem Tag auf den anderen ein Amt mit 6000 Mitarbeitern.
Wobei allen klar war, auch den Angestellten selbst: sie hatten eigentlich nichts zu tun. Ich habe viele schlaflose Nächte verbracht,
als ich mir Gedanken über Liberalisierungs- und Privatisierungsschritte machte.
Mit welchen Konsequenzen?
Ich habe 5000 Leute nach Hause geschickt und wurde selbstredend auch stark angefeindet. Traktorfahrer und Ärzte waren
fortan keine Beamten mehr, sondern ganz normale Bürger, die auf
eigene Rechnung zu wirtschaften hatten. Aber ich wusste, dass
ich das Richtige tat.
Warum haben Sie später Ihre politischen Ambitionen begraben?
Ich bin kein Verwalter. Mich interessieren Fabriken, Ideen, Maschinen. In den wilden Jahren konnte ich in der Politik viel bewegen. Heute wäre das schon schwieriger, mir fehlt für die Taktiererei die Geduld.
Sind Sie 2006 freiwillig aus dem Amt geschieden?
Saakashvili hat die Regierung umgebaut – der Grund war ein persönlicher Konflikt des Präsidenten mit dem Verteidigungsminister. Ich war unter den dreien, die gehen mussten. Alles verlief korrekt, Saakashvili bat mich um ein Gespräch, ich willigte ein. Es
war mir gerade recht. Ich hatte meine Pflicht getan und konnte
mich wieder um mein Unternehmen kümmern.
Keine Enttäuschung?
Absolut nicht. Das ist eben der Unterschied. In Europa ist ein Minister, der entlassen wird, plötzlich arbeitslos. In Georgien sind die
Minister froh, dass sie wieder ihren Geschäften nachgehen können.
Sowohl Saakashvili als auch Ivanishvili, sein politischer Widersacher,
ehemaliger Premierminister und Initiant des herrschenden Regierungsbündnisses, sind pro Marktwirtschaft und Unternehmertum. Gibt es
in Georgien überhaupt Sozialdemokraten nach europäischem Vorbild?
Klar, die gibt es, auch in der aktuellen Regierungskoalition, allerdings sind sie nicht besonders stark. Zu ihnen zählen viele Künstler
und Filmemacher. Sie waren in der Sowjetunion privilegiert, hatten
Datschas und Autos, und sie hätten ihre Privilegien gerne zurück.
Bekommen Sie als Ex-Minister eine Pension vom Staat?
Nein, keinen Rappen. Das gehört sich auch nicht. Es gibt keinen
Grund, Politiker zu privilegieren.
Wie lange braucht man in Georgien, um ein Unternehmen zu gründen?
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
Ein paar Stunden.
Wie lange braucht man, um eine Steuererklärung auszufüllen?
Das läuft alles elektronisch. Man braucht keinen Treuhänder.
Dank Flat Tax ist die ganze Prozedur maximal einfach.
Eine Flat Tax ist im alten Europa nicht mehrheitsfähig.
Wer mehr verdient, soll nicht nur absolut, sondern auch relativ mehr
in den gemeinsamen Topf einzahlen – die sozialistische Idee der
Steuerprogression wird auch von nominell bürgerlichen Politikern
nicht in Frage gestellt.
Das ist mir ein Rätsel. Ich kann mir das Regime der Steuerprogression nur so erklären, dass sich Zentraleuropa in einer anhaltenden Wohlstandsblase befindet. Gerade als Unternehmer muss ich
sagen: Ich trage zusammen mit den anderen Eigentümern das
Risiko des Verlusts; ich schaffe Arbeitsplätze, was ja die sozialste
Politik ist, die man sich vorstellen kann, und ich bezahle viele
Steuern. Damit bringe ich das Land voran, und das Land hat das
grösste Interesse, mich in meinem Tun nicht zu behindern. Heute
haben wir diesen Konsens in Georgien. Aber mir ist auch klar:
Sollte es Georgien einst wirtschaftlich so gut gehen wie Deutschland oder der Schweiz, dürften die Leute ebenfalls auf die Idee
kommen, die Steuerprogression einzuführen. Das ist ein Denken,
das man sich leisten können muss.
Welches waren die Vorbilder für die Reformagenda in
der Regierung Saakashvili?
Wir gingen sehr eklektisch vor. Wir nahmen das Beste aus den
USA, aus der Schweiz, aus Israel, aus Singapur. Je nach Fall, je
nach Gesetz.
Wie zuverlässig sind heute Rechtsstaat und Demokratie in Georgien?
Es kommt auf den Massstab an. Vergleichen wir unsere Demokratie mit Russland, Aserbaidschan oder Kasachstan, sind wir schon
sehr weit gekommen – die letzten Wahlen brachten neue Leute an
die Macht, der Regierungswechsel verlief friedlich und reibungslos. Wir haben keine Familienclans, die die Politik beherrschen, es
finden keine Rachefeldzüge statt. Blicken wir hingegen in die
Schweiz, so bleibt noch viel zu tun; das Niveau der politischen
Debatte, zuverlässige Parteien, aktive Bürger, daran müssen wir
noch arbeiten. Was den Rechtsstaat angeht, so funktioniert er
tadellos, die Richter sind nicht bestechlich. Und die Juristen, die
für den Staat arbeiten, sind gut ausgebildet, viele im Westen.
Stellen Sie Verwandte in Ihrer Firma an, die auf Jobsuche sind?
Nur wenn sie gut sind.
Keine Gefälligkeiten innerhalb der grossen georgischen Familie?
Nein. Die Zeiten sind vorbei. Ich habe stets ein offenes Ohr für
Leute, die etwas leisten wollen. Aber ich verteile keine Familienrenten. �
Allan Guggenbühl
Auf Georgien!
«I
n Gedanken an die Menschen, die wir
lieb­gewonnen und die uns geholfen haben!»
«Auf eine gute Zusammenarbeit und das
Gelingen unseres gemeinsamen Projektes!»
Ich sitze mit meinen georgischen Kolleginnen und Kollegen an einem länglichen
Holztisch in einem Gartenrestaurant oberhalb Tbilisis.
Unter uns glitzern die Lichter des Altstadtquartiers, wir
sehen einen Teil des überdimensionierten, futuristischen
Justizgebäudes und im Hintergrund die riesige TsimindaSameba-Kathe-drale. Am Nebentisch sitzt eine Gruppe
angetrunkener Männer; sie scheinen sich anzuschreien,
einander übertönen zu wollen. Zwischendurch stimmen
sie jedoch in einen vierstimmigen Gesang ein und heben
ihre Gläser. Wir selber haben Gozinaqi (Nüsse) genossen,
Khinkali (Teigtaschen) verschlungen und natürlich
georgischen Rotwein aus Kachetien, dem Südosten Georgiens, kredenzt! Zwar haben wir ihn nicht aus einem Trinkhorn getrunken, wie es ursprünglich Sitte war, sondern aus
Gläsern. Reichlich floss er trotzdem, und wir sind alle ein
bisschen angesäuselt. Was jedoch vor allem zu lebhaften
Diskussionen führt, sind die Trinksprüche! Der älteste
Kollege der Runde hebt immer wieder das Glas und stösst
auf das Heimatland, die Partner, Freundschaften, die
Verstorbenen und die Musik an. Oft löst sein Trinkspruch
eine kürzere oder längere Diskussion aus. Wie hat man den
Krieg erlebt? Gibt es die wahre Liebe? Wer gewinnt im
Europacup? Wie steuert man ein Auto über löchrige
Strassen? In Georgien sitzt man bei geselligen Anlässen
nicht nur zusammen und wartet darauf, dass etwas
geschieht, sondern das gemeinsame Trinken folgt einem
Ritual. Als erstes wird ein Zeremonienmeister bestimmt,
der Tamada. Dies geschieht ohne Diskussion oder formelles Prozedere, denn meistens ist allen klar, wem diese
Rolle zufällt: dem Gastgeber, der ältesten oder wichtigsten
Person der Tafelrunde. Der Tamada hat die Aufgabe, kluge,
originelle oder zotige Trinksprüche auszusprechen.
Er bringt Themen in die Runde, damit es zu Gesprächen
kommt. An den Supras, den formellen Banketts, wird der
Tamada im voraus bestimmt und hat 16 Trinksprüche
vorzubringen. Mit Vorteil werden trinkfeste und sprachgewandte Personen gewählt, denn der Tamada sollte auch
nach mehreren Spruchrunden noch witzig und geistreich
sein. Die Tradition des Tamadas erlebte ich als Gewinn.
Soziale Anlässe sind in Georgien, nicht zuletzt dank dieser
Trinksitte, ein Erlebnis. Uns in der Schweiz würde eine
solche Sitte auch helfen, damit Tischgespräche vielfältiger
werden und nicht nur über Ferien, die Kinder oder
Probleme mit dem Garten geredet wird.
Allan Guggenbühl ist Psychotherapeut und Professor
an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
65
Foto: © Anandi Chowriapa
Foto: Klaus Einwanger / © Diogenes Verlag
Foto: Gaby Gerster / ©Diogenes Verlag
Bernhard
Schlink
Die Frau
auf der Treppe
Lavanya
Sankaran
Die Farben
der Hoffnung
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Endlich: Essen wie
Bruno im Périgord!
Für Kopf und Bauch, fürs Herz
und alle Sinne.
Das berühmte Bild einer Frau, lange
verschollen, taucht plötzlich wieder auf.
Überraschend für die Kunstwelt, aber
auch für die drei Männer, die diese Frau
einst liebten – und sich von ihr betrogen
fühlen. In einer Bucht an der australischen Küste kommt es zu einem Wiedersehen: Die Männer wollen wiederhaben,
was ihnen vermeintlich zusteht. Nur einer ergreift die Chance, der Frau neu zu
begegnen, auch wenn ihnen nicht mehr
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Liebeserklärung an das Périgord!
Anand ist Unternehmer in Bangalore,
Kamala seine Hausangestellte. Arm
und Reich, Tradition und Moderne,
Aufstieg und bodenloser Fall – in der
boomenden Metropole im Süden Indiens ist all dies nie mehr als einen
Schritt voneinander entfernt. Lavanya
Sankaran erzählt von zwei Familien,
die in ein und derselben Stadt in zwei
verschiedenen Welten leben. Und von
dem, was sie verbindet: glühende Hoffnung.
Schweizer Monat 1021 november 2014 Vertiefen / Dossier
René Scheu
Die Frauen und das Schach
A
ls ich mitten in Tbilisi das Gebäude
der Georgischen Schachföderation
betrete, fühle ich mich, als wäre ich in
sowjetischen Zeiten gelandet: dunkle
Räume, tonnenschwere Möbel, Stühle aus
einer anderen Zeit. Natürlich kenne ich
die Sowjetunion nur aus amerikanischen Filmen, aber
wie ein Protagonist in einem Film komme ich mir auch
vor. In einem Vorzimmer warte ich auf Giorgi Giorgadze,
Präsident der Georgischen Schachföderation. Überall
hängen Photographien von Garri Kasparov.
Georgien ist ein kleines Land mit grosser Schachtradi­
tion, Veranstalter der Schacholympiade 2018. Es verfügt
heute über mehr als zwei Dutzend Schachgrossmeister –
die Schweiz hat in den letzten 20 Jahren gerade mal deren
vier hervorgebracht. In der Welt des georgischen Schachs
geben jedoch klar die Frauen den Ton an. Giorgi Giorgadze,
ansonsten die Gravität in Person, setzt zu einem diskreten
Lächeln an: «Die georgischen Frauen sind sehr schön und
sehr klug.» Das Lächeln scheint ewig anzuhalten. Zweifellos, entgegne ich – aber warum Schach? Es sei bewährte
Tradition in den guten Familien, dass die Frau als Mitgift
ein schönes Schachspiel in die Ehe bringe, um ihre Klugheit
zu beweisen. Und in Georgien hätten sie die besten
Trainer: georgische Männer, die ihre Frauen verstehen.
Die Vorbilder für die vielen jungen Spitzenschachspielerinnen im heutigen Georgien sind deren zwei: Nona Gaprindashvili, Weltmeisterin von 1962 bis 1978, und Maia
Tschiburdanidze, die ihre Landsfrau mit erst 17 Jahren vom
Schachthron stiess und ihn von 1978 bis 1988 hartnäckig
besetzt hielt. Sie zählt bis heute zu den besten Spielerinnen
Georgiens.
Ich spiele in Tbilisi fast jeden Abend Blitzschach,
mit Gia Gogoladze, Geschäftspartner von Miho Svimonishvili und in jungen Jahren Schachmeister. Gia überspielt
mich regelmässig. Und er ist dabei ein echter Sportler:
Er lässt mich nicht gewinnen und crasht mein Ego, sooft er
nur kann. Nur manchmal, da denke ich ein paar Züge
weiter als Gia – und schlage ihn. Aber eben nur manchmal.
Dennoch fühle ich mich fit und bitte den Schachpräsidenten nach dem Interview um eine Partie. Eigentlich
ziemlich vermessen – in den besten Zeiten war Giorgadze
Profi, Sekundant von Kasparov (daher die Photographien!),
mit einem Ranking von mehr als 2600 ELO. Er kramt ein
Spiel hervor, stellt es auf den Tisch und sagt: «Kasparov hat
es mir geschenkt.» Wir spielen Nimzowitzsch, Sämisch-­
Variante. Ich wittere nach zähem Mittelspiel meine Chance,
opfere einen Bauern und greife an. Giorgadze kommt ins
Grübeln, gibt sich aber keine Blösse. Der Angriff verpufft,
und der Präsident schenkt mir sein zweites Lächeln an
diesem Vormittag.
René Scheu
Der Reformer und die Bildung
V
ato Lejava, CEO der Free University of Tbilisi,
wartet am Eingang und führt mich durch
die Räumlichkeiten seiner Hochschule
am äusseren Rand der georgischen Hauptstadt. Wo einst eine staatliche Lehranstalt
untergebracht war, residiert seit 2007
eine private Universität, die bereits sämtliche nationalen
Rankings anführt, von Recht über Computerwissenschaften
bis zur Business School. Was dem mitteleuropäischen
Beobachter sogleich auffällt: Die Klassen sind klein, 10
bis 20 Studenten treffen auf einen Professor, der zudem nur
unwesentlich älter wirkt als seine Alumni.
Ich notiere: Moderne Businesskultur trifft auf das
Humboldt’sche Bildungsideal.
Lejava hat allen Grund der Welt, die guten Resultate
der Free University zu loben. Denn was Qualität ist,
entscheiden in Georgien nicht Bildungspolitiker, sondern
die Studenten höchstselbst. Alle Kandidaten eines Jahrgangs legen dieselbe nationale Prüfung ab, die sie erst
für den Besuch einer Hochschule qualifiziert, und teilen
ihre Präferenzen mit. Ob sie tatsächlich in ihrer Lieblingsfakultät studieren können, hängt vom Prüfungsresultat
ab – the best comes first. Jeder Student erhält vom Staat
ein Pro-Kopf-Studiengeld (je nach Leistung 3000 Lari,
2100 Lari oder 1500 Lari), alle Universitäten, ob staatlich
oder privat, konkurrieren um die besten Studenten.
Die privaten Institute sind im Gegensatz zur öffentlichen
Hochschule frei, das Studiengeld nach eigenem Belieben
festzusetzen. Die Jahresgebühr der Free University
beträgt beispielsweise 7000 Lari – was also, wenn der
Student die Gebühren nicht selbst berappen kann?
Dann springt die ebenfalls private Knowledge Foundation
ein und übernimmt die Differenz.
Georgien hat also kurzerhand die Idee der Bildungsgutscheine («Voucher») umgesetzt, die der amerikanische
Nobelpreisträger Milton Friedman bereits in den
1950er Jahren verfocht und europäische Bildungspolitiker
bis heute für Teufelszeug halten. Einer der Väter der
Bildungsreform war Kakha Bendukidze, Unternehmer
und von 2004 bis 2007 Reformminister unter Mikheil
Saakashvili. Bendukidze hat 2007 die staatliche Universität
gekauft, privatisiert und als Free University neu lanciert.
Das erklärte Ziel des bekennenden Libertären: den Beweis
erbringen, dass Privatisierung, Bildungsqualität und
Solidarität einen schönen Dreiklang bilden – es scheint,
als sei ihm dies gelungen.
Vato führt mich durch die gutdotierte Bibliothek und
deutet voller Stolz auf eine kleine Sektion von Büchern.
Es sind die wichtigsten Werke von Milton Friedman und der
Austrian School of Economics. Er hat sie selbst gesponsert
– für die besonders wachen Studenten.
67
Ansichten
und Angesichter
Photographiert von René Scheu und Martina Jung.
Rechts: die Höhlenstadt Vardzia;
links: ihre Umgebung.
Links: Fahrer Guram und Guide Sandro,
rechts: Giorgi Giorgadze und
René Scheu beim Schach.
68
Rechts: Innenhof unserer Bleibe;
links: die Free University und
Nodar vor dem Newsroom Caffé.
Links: Tbilisi von unten
mit Mutter Georgiens
und rechts: von oben auf
den Fluss Kura hinunter.
69
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Jeder ein Kurator
5
Während der Staat versucht, mit der Kunst die geschichtliche Brücke
über die Sowjetzeit hinweg zu schlagen, erfinden die zeitgenössischen Künstler
neue Berufe und gärtnern mit Studenten auf dem Biohof.
von Serena Jung
E
in Land sucht seine Identität. Nach 70 Jahren als südliche Feriendestination der Sowjetunion und guten 20 Jahren der Unabhängigkeit mit Bürger- und Territorialkriegen, politischen und
ökonomischen Krisen befindet sich Georgien heute in so etwas
wie einem Prozess der Stabilisierung und Positionierung. Dazu
greift es wie viele junge (und auch nicht so junge) Staaten auf die
Geschichte zurück. Über die goldenen Zeiten unter König Tamar,
der heiliggesprochenen Herrscherin über das historisch grösste
Gebiet Georgiens – und deshalb mit dem Attribut «König» geehrt
–, weiss jeder Einwohner des kleinen Landes etwas zu berichten.
Die Erzählungen aus dem Mittelalter und die auf 8000 Jahre alt
geschätzte Tradition des Weinanbaus bilden die beiden Hauptquellen für die gängigen Narrative zur georgischen Identität. Präsident Giorgi Margvelashvili beruft sich zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts ebenfalls auf die Dichter des Mittelalters,
nicht nur auf den berühmtesten, Shota Rustaveli mit seinem Epos
«Der Recke im Tigerfell», sondern auch auf Vazha-Pshavela und
seine animistisch anmutende Dichtung – manche nennen sie
auch die erste LSD-Literatur Georgiens. Man solle diese Inhalte
nehmen, sagt Margvelashvili im Gespräch, und in einen heutigen
Kontext übersetzen. So fänden die Georgier des 21. Jahrhunderts
zu ihrer Identität.
Alte Inhalte übernehmen und in die Gegenwart übersetzen,
das reicht Wato Tsereteli nicht. Wir besuchen den Künstler, Photographen und Leiter des Center of Contemporary Art-Tbilisi
(CCAT) an seinem Arbeitsort und werden freundlich, aber bestimmt empfangen. Er zündet sich eine Zigarette an und drückt
uns erstmal das Buch in die Hand, an dem er, zusammen mit dem
Goethe-Institut, die letzten beiden Jahre gearbeitet hat – Gespräche mit Museumstheoretikern und Kuratoren über das postsowjetische Museum. Auf den Medientheoretiker und «Monat»Autor Boris Groys, der einen Essay beigesteuert hat, ist Tsereteli
aber gar nicht gut zu sprechen und schlägt einen noch bestimmteren Ton an: sie seien letztes Jahr aneinandergeraten – dann
schmunzelt er. Meint er das ironisch? Groys habe ihnen, den
Künstlern aus der ehemaligen Sowjetunion, vorgeschlagen, den
kaufkräftigen Westlern doch einfach den Kommunismus und
seine Relikte zu verpacken und zu verkaufen. «Eine Mixtur aus
70
Serena Jung
ist Redaktorin dieser Zeitschrift.
Spekulation und Prostitution» nennt Tsereteli das. Es sei doch
nicht der Kommunismus, der die Künstler im Osten ausmache,
der interessiere sie einfach nicht mehr, und das simple Verpacken und Verkaufen sei erst recht nicht die Art und Weise, damit
umzugehen. Klare Worte, zumal wir viele solcher Beispiele aus
Deutschland kennen, Filme, die sogar die Nostalgie jener bedienen, die nicht mal darin aufgewachsen sind. Wie zynischer Luxus
erscheint da solche (N)ostalgie.
Kunst hat mit Zukunft zu tun
Tsereteli hat in den 1990er Jahren in Tbilisi Film und in Antwerpen Photographie studiert. 1999 ist er in die georgische Hauptstadt zurückgekehrt. Der Pulsgeber des CCAT wirkt wie ein alter
Hase, dabei ist er noch keine 40 Jahre alt. «Ich war schon immer
etwas hyper, bereits als Kind. Ich kann nicht anders», sagt Tsereteli und lacht. Mit 15 arbeitete er auf archäologischen Ausgrabungen, später als Kameraassistent, unbezahlt, nur um der Arbeit willen. Seit er zurück in Tbilisi ist, widmet er sich ganz der Kunst und
ihren Plattformen. Das CCAT, 2010 gegründet, ist das Resultat
seiner Anstrengungen der letzten Jahre: nicht nur klassischer
Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, sondern zugleich
Schule, Verlag, Artist Residency mit Austauschprogrammen und
Ausrichter der Tbilisi Triennale.
«Ah, und ihr müsst mir gratulieren, ich bin gerade erst aus der
Kunstakademie geworfen worden», schiebt Tsereteli nach, «das
war wirklich ein dunkles Kapitel in meinem Leben, das
schlimmste.» Er meint nicht die Zeit nach dem Rauswurf, sondern
seine Zeit als Leiter des Instituts für Photographie, dessen vierjährigen Studiengang er zunächst im Rahmen einer NGO mit- und
weiterentwickelt hat. Mit der Bolognareform hätte sich diese in
die staatliche Kunstakademie eingliedern müssen – für Tsereteli
ein schweres Opfer. Grosse Gebilde seien hier, wie überall, träge
und verbürokratisiert, und hebt an: den Louvre in Paris zum
Im Uhrzeigersinn:
Wato Tsereteli, die Art Villa Garikula,
Mamuka Japharidze auf der «Field Academy»,
Karaman Kutateladze mit Katze,
photographiert von Martina Jung.
71
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Beispiel ertrage er nicht, physisches Unwohlsein überkomme ihn
inmitten dieser Dingsammlung und ihrer imperialen Darbietung.
Er sei deshalb so glücklich über seine Entlassung, weil er nun an
keine starre Struktur mehr gebunden sei, die noch dazu wie ein
Clan geführt werde – seine ehemalige Stelle besetze nun ein Verwandter des Direktors.
An (Selbst-)Bildung aber glaubt er fest, weshalb diese auch im
CCAT an vorderster Stelle steht. «Informal Master» nennt sich
hier der Studiengang, der neun Monate dauert – genau so lange,
dass er und sein Team keine offizielle Unterrichtslizenz benötigen. «Wir wissen, was Lizenz heisst: das ist die Kontrolle durch
den Staat.» Tsereteli und die Autorität, denke ich, das wäre ein
weiteres Kapitel, und folge widerstandslos der seinigen, als er
mich den Titel von Nicolas Bourriauds Buch aufschreiben lässt:
«Relational Aesthetics». Bourriaud, Direktor der Pariser Kunstakademie, habe ihn auf die Idee gebracht, die dem CCAT zugrunde
liegt. Er holt aus: Die Aufgabe einer Kunstschule ist es nicht, Kunst
zu unterrichten und Künstler nach dem bewährten Bild des Künstlers zu formen, ganz im Gegenteil: ihre Aufgabe besteht darin,
neue Berufe zu erfinden. Kunst als Berufsgenerierungsmaschine,
als Bildungslabor. Die Studenten sollen lernen, nicht Ausstellungskunst zu produzieren, sondern auch kuratorische Fähigkeiten zu entwickeln, also einen Kontext für ihr Wirken zu schaffen.
«Kunst, wie ich sie verstehe, hat mit Zukunft zu tun», betont Tsereteli. Er nennt Buch und Ausstellung veraltete Medien, über die
er hinausdenken will. Das Leben nicht nur abbilden, sondern es
sich erfinden, gestalten. Lebenskunst wäre vielleicht ein Wort dafür, wenn es nicht so verstaubt klingen würde.
Feldstudien
Ein wichtiger Teil der Ausbildung findet denn auch ausserhalb der Schule statt. Einmal pro Woche arbeiten die Studenten
auf dem Biohof des Künstlers Mamuka Japharidze vor den Toren
der Stadt – ein kleines Paradies. Im letzten Licht des Tages führt
uns Japharidze, Anfang 50 und in an englische Jäger gemahnendes
Grün gekleidet, über den Hof; auf dem Holztisch vor dem selbstgebauten Haus steht ein Stillleben aus Kürbissen, Trauben und
Knoblauch. Daneben zeichnet Japharidze das Unbild des Künstlers als Maschine. Wenn die Studenten bei ihm sind, arbeiten sie
tagsüber im eigens abgesteckten Garten, der «Field Academy»,
kochen gemeinsam in der Feldküche ihr Abendessen und hören
den Vortrag eines geladenen Gastes. Während er uns selbstgesammelte Pilze auftischt, erklärt Japharidze: «Das Gärtnern ist
natürlich das eine, gleichzeitig können die Studenten hier aber
ausserhalb des schulischen Rahmens – Lehrer hier, Schüler da –
aufeinander- und auf geladene Gäste treffen und sich inspirieren
lassen.» Kunst, Medizin, Bioanbau oder Kochkunst – jede Woche
lade er Referenten aus allen möglichen Gebieten ein, von denen
auch er etwas lernen könne. Japharidze selbst arbeitet an und mit
Wahrnehmungs- und Sprachirritationen. Und irritiert sind wir:
Der Titel eines Werkes heisst «Opti-Mystic Translookation» – zu
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
Deutsch: optimistisch-mystisch Durchschaubares, das an verschiedenen Orten sein kann. Klingt kompliziert, gemeint ist damit
ein Kühlmobil, in dessen Laderaum die Betrachter herumgefahren
werden. Während sie also schaukeln, gewöhnt sich ihr Auge langsam an die Dunkelheit und erkennt allmählich die auf dem Kopf
stehende Aussenwelt – wie bei einer Camera obscura durch ein
kleines Loch in der Wand ins Innere geworfen. Von Shindisi aus,
wo Japharidzes Hof liegt, sieht man auf die Lichter der Stadt hinunter. Beim Einfall der Roten Armee war dies ein Schlachtfeld, im
Mittelalter wurde der Ort «Tor von Ganja» genannt, da hier die
Händler aus der gleichnamigen aserbaidschanischen Stadt mit
ihren Kamelen auf der Seidenstrasse nach Tbilisi einbogen. Die
Laternen der städtischen Autostrasse gleichen einer Schlange,
Japharidze aber sieht einen Bogen, in der Abflugbahn des Flughafens den Pfeil: den Arrow Port.
Die Idee, den Biohof in den Ausbildungsgang zu integrieren,
sei ihm im Flugzeug gekommen, sagt Tsereteli. Er habe sie zu Papier gebracht und nach gut zwei Monaten, mit Unterstützung der
Schweizer Botschaft, umgesetzt. Es scheint immer so zu gehen:
erst hat er eine Idee, dann sucht er nach geeigneten Partnern, die
meist unentgeltlich arbeiten, und setzt um. Unterricht und Ausstellung finden im CCAT im selben Raum statt. Künstler, die hier
ausstellen, müssen mit der Schule als Kontext umgehen können,
und Tsereteli meint damit, die Herausforderung anzunehmen,
über den Ausstellungsraum als leeren Raum mit blanken Wänden
hinauszudenken. Es sei gar nicht sein Traum, eine Organisation
zu leiten, Veranstaltungen zu organisieren, Sponsoren aufzutreiben. Was er im Moment am meisten brauche, sei ein Atelier mit
einem Schlüssel, in dem er in Ruhe arbeiten könne. Eben hat er
deshalb ein kleines Haus in Akhalkalaki gekauft, in unmittelbarer
Nähe zur Art Villa Garikula.
Tbilisi Triennale
Die Art Villa Garikula steht am Rande der Ortschaft Akhalkalaki, etwa eine Stunde von Tbilisi entfernt, auf dem Landweg in
Richtung Gori. Früher, als der Ort noch eine kleine Handelsstadt
an der Seidenstrasse war, lebten hier die Aristokraten. Jetzt stehen noch die Überreste der Kirche und der Festung, an denen vorbei wir von einem Ortsansässigen über die enge, löchrige Strasse
zur ehemals herrschaftlichen Villa geführt werden, durch deren
offenen Dachstock der Wind rast. Karaman Kutateladze hat das
Kunstcenter vor 15 Jahren gegründet. Er hat uns am Telephon angewiesen, jemanden nach dem Weg zu fragen, denn ja, alle im
Dorf würden ihn kennen. Die Leute seien nicht reich, erklärt er,
während er uns über das Gelände führt, auf dem die Werke und
Pavillons des jährlichen Festivals «Fest i Nova» stehen. Künstler
und Organisationen aus der ganzen Welt kommen und bringen
den Anwohnern etwas Arbeit, gleichzeitig steigen die Landpreise,
weil immer mehr Künstler aus der Stadt wie Tsereteli in der Nähe
zur Villa Häuser kaufen. «Wato und ich», sagt Kutateladze, «wir
versuchen beides zu vereinbaren und weiterzuentwickeln: die In-
tegration der Kunst in die Gesellschaft und das eigene Vorankommen in der Kunst durch Zusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund ist auch die Tbilisi Triennale entstanden.»
Das CCAT richtet nächstes Jahr die zweite Tbilisi Triennale
aus. Im Gegensatz zu anderen Biennalen oder Triennalen, die
bloss dem Branding der eigenen Stadt dienen, setzt sich das CCAT
ein Thema. Experimentelle Ausbildung stand 2012 im Zentrum,
2015 soll es um sich selbst organisierende Gemeinschaften gehen.
Die Menschen in Georgien hätten über drei Generationen hinweg
jegliche Instrumente zur Zusammenarbeit und Selbstorganisation verloren. «Die Sowjetunion hat zwei Dinge zerstört», so
Tsereteli, «die Individualität durch das Kollektiv des Staates und
das Kollektiv selbst durch ein künstliches, aufgezwungenes Kollektiv.» Nicht zu ihrem Spass richten sie die Triennale aus, wichtig
sei ihre Forschung, nicht nur für die Region, sondern für alle Menschen. Der Meinung ist nicht nur Tsereteli, sondern auch die International Biennal Association und das Asian Art Space Network.
Die Anfrage für letztere Organisation habe ihn besonders gefreut,
da sie sich endlich auch nach Asien orientieren könnten und nicht
immer nur nach Europa.
Geschichte schreiben
Die meisten Absolventen des «Informal Masters» bleiben dem
CCAT verbunden und gründen oft gleich an Ort und Stelle ihre
eigene Organisation, in der sie das Gelernte umsetzen. Aleksi
Soselia zum Beispiel ist Teil der Künstlergruppe «Tetsi Group» sowie der unabhängigen Plattform «Active for Culture». Mit letzterer hat er das erste georgische Videokunstarchiv initiiert – mit
dazugehöriger Ausstellung und Publikation. Der 26jährige Künstler und seine Kollegen wirken dabei als Kuratoren, Fundraiser,
Forscher und Verleger in einem und arbeiten gemeinsam die
kurze Geschichte der georgischen Kunst der bewegten Bilder – gerade mal 23 Jahre – auf.
Um die Geschichte und Tradition ist auch das CCAT selbst
bemüht: herausgegeben werden sechs Magazine zur georgischen
Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, die später zu sechs Kapiteln eines Buches zusammengeführt werden sollen. Die besten
georgischen Künstler, so Tsereteli, seien zu Zeiten der Sowjetunion umgebracht und so auch aus der – sowjetischen und bisher
einzigen – Kunstgeschichte gestrichen worden. Nicht als Fundus
für eine Identität der Nation soll das Werk dienen, sondern zur
Ermutigung junger Künstler. Um ihnen zu zeigen, dass international beachtete georgische Kunst möglich war und ist. �
73
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Das orthodoxe Paradox
6
So sehr sich Georgien im letzten Jahrzehnt liberalisiert hat: In religiösen Belangen hat sich das Land
verschlossen. Mit der georgisch-orthodoxen Kirche ist ein Player auferstanden, der der Moderne mächtig
entgegenwirkt. Seine national-religiöse Mixtur betört das Volk – und fordert den jungen Staat heraus.
von Zaal Andronikashvili und Giga Zedania
A
m 17. Mai 2013 griffen mehrere tausend Demonstranten, die
von Priestern der georgisch-orthodoxen Kirche angeführt
wurden, Aktivisten an, die am «Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie» mit einer Schweigedemonstration gegen Intoleranz protestierten. Die Priester riefen zu Gewalt gegen
Homosexuelle und Menschenrechtsaktivisten auf und sprachen
Morddrohungen aus. Homosexualität – so die Parolen der Ultraorthodoxen – sei nicht mit dem «Georgiertum» und mit dem
orthodoxen Glauben vereinbar; georgische Homosexuelle könne
es nicht geben, und Homosexualität sei ein Import aus dem verdorbenen Westen. Dieser Vorfall steht nicht isoliert in der Gegenwartsgeschichte Georgiens. Vielmehr ist er symptomatisch für
das Bestreben der übermächtig gewordenen georgisch-orthodoxen
Kirche (GOK), nationale Identität abschliessend zu definieren und
alle möglichen Lebensbereiche, von Alltagspraktiken bis zur Aussenpolitik, zu bestimmen. Wie konnte es dazu kommen?
Die GOK ist die populärste Institution Georgiens. Der Kirche
und dem Patriarchen vertrauen seit Jahren über 90 Prozent der
georgischen Bevölkerung, die beliebtesten Politiker und staatlichen
Institutionen liegen demgegenüber bei etwa 60 Prozent. Zum Teil
kann diese Popularität durch die komplizierte Geschichte der Religion in der Region erklärt werden. Nach militanten Kirchenverfolgungen, Instrumentalisierungsversuchen und der andauernd stark
ablehnenden Haltung des sozialistischen Staats gegenüber Religion, Kirche und nationaler Identität brachten die letzten Jahre der
UdSSR und die ersten Jahre der georgischen Unabhängigkeit ein
neues Interesse an religiösen und nationalen Themen mit sich.
Damit rückt sich die Kirche in den gesellschaftlichen Fokus, doch
musste sie sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit einem
mächtigen Konkurrenten teilen: der Nationalen Befreiungsbewegung und ihrem Anführer, dem sowjetischen Dissidenten Zviad
Gamsakhurdia. Gamsakhurdia, der 1991 erster Präsident Georgiens
wurde, formulierte eine eklektische Nationalismustheorie, in der
Sakralität nicht der Kirche, sondern der georgischen Nation zukam.
Einen weiteren Konkurrenten erhielt die Kirche 2003, als die damalige Regierungspartei Nationale Bewegung eine staatszentrierte
Version des georgischen Nationalismus vorlegte, in die alle Konfessionen und Ethnien gleichermassen eingebunden waren.
74
Zaal Andronikashvili
ist Assoziierter Professor an der Staatlichen Ilia-Universität (Tbilisi)
und Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin).
Giga Zedania
ist Professor und Rektor der Staatlichen Ilia-Universität (Tbilisi).
So entstanden drei verschiedene Formen des Nationalismus:
eine religiöse, eine ethnische und eine staatsbezogene. Alle drei
bezogen sich explizit auf das Ideengut von Ilia Chavchavadze, das
sie unterschiedlich auslegten bzw. für die jeweiligen Notwendigkeiten umschrieben. Ilia Chavchavadze (1837–1907), der als Jurist,
Banker und Publizist die wichtigsten Institutionen seiner Zeit
gegründet hatte und als «ungekrönter König Georgiens» galt, hat
eine durch und durch säkulare Version des Nationalismus vorgelegt: Obwohl Chavchavadze die Sakralität auf das «Vaterland»
übertrug und es mit religiösen Gefühlen auflud, kam die Kirche in
seinem Nationalismusprojekt so gut wie gar nicht vor.
Der Beichtvater als Volksmode
Ebendiesen Mann hat die georgisch-orthodoxe Kirche 1987
heiliggesprochen. Mit der Kanonisierung des Begründers des
säkularen Nationalismus haben die GOK und der Patriarch Ilia II.
ein umfassendes Projekt zur Umschreibung der Geschichte angefangen, das die GOK als Trägerin und Hüterin der georgischen
Nation seit dem Christentum darstellen und den Patriarchen zum
direkten Nachfolger des «ungekrönten Königs» machen sollte.
Wenn Chavchavadze den Nationalismus säkularisierte, indem er
das Sakrale von der Kirche auf das Vaterland übertrug, so wollte
die GOK den Nationalismus verkirchlichen, indem sie wichtige
Geschichtspersonen heiligsprach, vereinnahmte und versuchte,
sie aus dem säkularen Verkehr zu ziehen.
Die GOK machte das «Georgiertum», die nationale georgische
Identität, von der christlich-orthodoxen Religion abhängig. Diese
Engschliessung hatte sowohl gesellschaftliche als auch politische
Auswirkungen.
Anders als ihre eng mit dem russischen Staatsapparat kooperierende russisch-orthodoxe Schwesterkirche entwickelte sich
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
die GOK nicht mit, sondern parallel zu den Staatsstrukturen,
gleichsam als alternative Zivilgesellschaft. Dabei handelt es sich
nicht um eine Zivilgesellschaft nach westlichem Zuschnitt, sondern um etwas, das einige Theoretiker als «Uncivil Society» bezeichnen. Ihre Bausteine: eine antimoderne, antiwestliche, antiliberale und antidemokratische Haltung; die Weigerung, andere
religiöse Gemeinschaften als gleichberechtigte Akteure anzuerkennen; ein entschlossener Kampf gegen Pluralismus sowie ein
äusserst konservatives Wertesystem. So predigen Priester, Bischöfe und der Patriarch, dass die Frau ihrem Mann die Füsse
waschen, man nicht im Ausland studieren oder sich dort medizinisch behandeln lassen solle und überhaupt kein Georgier glücklich im Ausland leben könne. Zugleich erzeugt der von der GOK
gepredigte, verkirchlichte Nationalismus eine Art Volkskultur.
Etwa bekreuzigen sich Gläubige jedes Mal, wenn sie eine Kirche
sehen, bei Festtafeln ist ein Trinkspruch auf den Patriarchen fast
obligatorisch geworden, es ist in Mode, einen Beichtvater zu haben, dessen «Segen» man einholt, bevor man in den Urlaub fährt,
ein Buch liest oder eine neue Wohnung bezieht.
Politische Zugeständnisse
Auf der politischen Ebene versucht die GOK den Staat legislativ
zu «revolutionieren». Mit der Geltendmachung ihres politischen
Einflusses begann die GOK nach dem gewaltsamen Sturz von Präsident Zviad Gamsakhurdia. Dem ihm nachfolgenden Staatsoberhaupt, dem ehemaligen sowjetischen Aussenminister Eduard
Shevardnadze, verlieh die GOK Legitimität – um sich fortan als
oberste Schiedsrichterin bei politischen Krisen zu verstehen und
zur «Königsmacherin» aufzusteigen. 1995, als der frisch getaufte
Shevardnadze seine Inauguration in der Svetitzkhoveli-Kathedrale in Mtskheta, der sakralen Hauptstadt Georgiens, stattfinden
liess, wurde die neue georgische Verfassung angenommen. Im
wesentlichen durchaus säkular, wies sie eine signifikante Ausnahme auf: Art. 9 Abs. 1 der Verfassung sprach von der «besonderen Rolle» der georgischen Kirche in der Geschichte Georgiens.
Dieser Verweis schuf die Grundlage für den Verfassungsvertrag
zwischen GOK und dem Staat. Denn im März 2001 wurde dem
besagten Art. 9 ein zweiter Punkt hinzugefügt, nach dem die
Beziehungen zwischen dem Staat und der GOK in Zukunft durch
einen – den Normen des internationalen Völkerrechts entsprechenden – Verfassungsvertrag geregelt werden sollten. 2002 abgeschlossen, stattet dieser Verfassungsvertrag die GOK mit den
gleichen Attributen aus wie den Staat – zum Beispiel wird das
kanonische Recht als Regulationsinstrument neben dem Staatsrecht erwähnt – und verspricht dem Patriarchen dieselbe Immunität wie dem Präsidenten. Darüber hinaus erkennt der Staat den
moralischen und wirtschaftlichen Schaden an, den die Kirche
in der Sowjetzeit erlitten hat. Aus diesem Schaden werden heute
bestimmte, insbesondere steuerrechtliche Vorteile abgeleitet.
Zudem wird der Kirche Zugang zu Militär-, Strafvollzugs- und
Bildungsinstitutionen gewährt.
Ankunft im postsäkularen Zeitalter
Die Ambitionen der GOK gehen aber weit über die Umsetzung
der im Verfassungsvertrag verankerten Privilegien hinaus. Zwar
haben weder der Patriarch noch andere Kirchenhierarchen die
Grundordnung Georgiens je offiziell in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz untergräbt die GOK konsequent die existierende Rechtsordnung. In einer Weihnachtspredigt hat der Patriarch 2008 das
perfekte Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne in Israel
und Kuwait gefunden. Die Gründe dafür sind unschwer zu erkennen: die ansonsten schwer vergleichbaren Staaten anerkennen
beide kanonisches Recht. In Israel ist die Religion keine Gesetzesquelle, sie reguliert aber den Personenstand. Und in Kuwait sind
Islam und Sharia die wichtigsten Quellen der Gesetzgebung. Eine
konstitutionelle Monarchie mit kanonischem Recht entspricht
genau jener Staatsform, die die GOK für Georgien anstrebt. Dafür
initiierte der Patriarch gar ein konkretes Projekt: Er hat die Heirat
zwischen zwei konkurrierenden Zweigen des ehemaligen georgischen Königshauses Bagrationi arrangiert. Ein Kind aus dieser Ehe
soll vom Patriarchen erzogen und später georgischer König werden.
Mit all ihren Vorstössen schaffte es die GOK, einen Mix aus nationalem und religiösem Ethos zu entwickeln, das vielen Georgiern
ein «Wir-Gefühl» vermittelt. Dabei wird nicht nur das Verständnis
der Nation verkirchlicht, sondern gleichzeitig wird die Kirche nationalisiert. So ist Georgien im postsäkularen Zeitalter angekommen –
einem Zeitalter, das nicht nur durch die Rückkehr der Religion,
sondern insbesondere durch eine Mischung von religiösen und
säkularen nationalen Diskursen und Praktiken gekennzeichnet ist.
Die für den orthodoxen Raum charakteristische Verschmelzung der
Kirche mit dem Staat ist in Georgien zwar erfreulicherweise nicht
zu beobachten. Der Anspruch der Kirche, die alleinige Quelle für
gesellschaftliche Werte- und Rechtsordnungen zu sein, wird aber
gerade deshalb zur Herausforderung für den jungen georgischen
Staat, der sich dagegen behaupten muss. �
«Die orthodoxe
Kirche strebt eine
konstitutionelle
Monarchie mit kanonischem Recht an.»
Zaal Andronikashvili und Giga Zedania
75
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Anarcho-Winzer
7
Eine Begegnung der dritten Art – ein bekennender Weinliebhaber
auf den Spuren von Georgiens wohl grösstem Kulturerbe:
der traditionellen Weinproduktion in Amphoren.
von René Scheu
G
eorgier pflegen zu sagen, Georgien sei die Wiege des Weins.
Es scheint ganz so, als hätten sie recht. In Marneuli, südlich von
Tbilisi, haben die Forscher unlängst 6000 Jahre alte Kerne von vitis
vinifera sativa gefunden – der Weintraube. Zuerst wurden die
Reben so gepflegt, dass sie sich um Bäume rankten (Name des Kultivationsstils auf Georgisch: maghlari), später um Büsche (olikhnari),
seit rund 3000 Jahren werden sie als eigene Pflanzen gehegt
(dablari). Das Typische an der georgischen Kelterung besteht seit
alters her darin, dass der Traubensaft in Amphoren (quevri) vergärt,
die in die Erde oder in den Boden eines Kellers eingelassen sind. Es
findet trotz Deckel ein leichter Sauerstoffaustausch statt – georgische Weine haben oftmals eine oxidative Note, die mir persönlich
sehr behagt und an Weine aus dem französischen Jura erinnert (in
Extremform: Vin Jaune aus der Traube Savagnin).
Ich habe mich mit zwei georgischen Freunden, Guram und
Sandro, auf Weintour nach Kachetien aufgemacht, der wichtigsten
Weinbauregion Georgiens, ganz im Osten gelegen. Zuerst treffen
wir David Meisuradze, bekannter Winzer im Dienste des eigenen
Familienunternehmens (Meisuradze Vines) und freier Weinconsultant für das neue Weingut Tsinandali Vineyards. Wir durchqueren das Quartier Tsinandali der Stadt Telavi (20 000 Einwohner),
es holpert, ältere, zumeist zahnlose Frauen sitzen auf Steinbänken, Mädchen und Jungen spielen in den Vorhöfen kleiner Steinhäuser an ihren Handys herum. Wir glauben, uns verfahren zu
haben, niemand will hier etwas von einem Rebberg wissen. Doch
lassen wir uns nicht beirren, erklimmen einen Hang – und stehen
plötzlich vor einer hochmodern ausgerüsteten Kellerei, die Stahltanks stammen aus Italien. Meisuradze zapft den jungen 2013er
Saperavi direkt aus dem Tank an – eine Fruchtbombe, zugleich
komplex, tief, ehrgeizig. Ein Investor hat hier vor ein paar Jahren
35 Hektaren Land gekauft, Meisuradze hilft ihm nun, daraus Premiumsäfte zu keltern. Angepeilte Jahresproduktion: 100 000 Flaschen aus handverlesenen Trauben, 10 verschiedene Sorten,
höchste Qualität, Reifung in den typischen Amphoren. So weit, so
(halbwegs) vorhersehbar.
Wir fahren weiter gen Artana, ein Kaff in Kachetien. Sandro
hat unlängst jemanden kennengelernt, der einen Wein produziert, wie er, Sandro, ihn noch nie getrunken habe. Das Dorf liegt
76
bereits hinter uns, wir halten unvermittelt am Wegrand an. Rechts
eine Mauer, von Reben überwachsen, das alte Eisentor nur angelehnt. Wir treten ein, und es ist, als wären wir in einer Kommune
gelandet. Links eine Baracke, auf der improvisierten Veranda
stehen alte Weinflaschen und schmutzige Gläser herum, an der
Holzfront hängen Messer und allerlei Krimskrams.
Ruhigen Schrittes kommt Kakha Berishvili auf uns zu, schüttelt die Hand, sagt ein paar Worte auf Georgisch. Er bittet uns in
den Schuppen, sein Labor – Quevri auch hier. Kakha antwortet auf
alle Fragen bloss mit Ja, Nein, verzieht den Mund, wackelt mit
dem Kopf. Zuerst schweigen, dann trinken. Er säubert ein paar
schmutzige Gläser mit Quellwasser, so dass sie halbwegs durchsichtig wirken, und drückt sie uns in die Hand. Wir setzen uns auf
stuhlähnliche Gebilde, die um einen gefrästen Baumstumpf stehen, auf dem allerlei etikettenlose Flaschen und Behältnisse unterschiedlicher Grösse versammelt sind. Ich degustiere die erste
orange Flüssigkeit. Hart oxidiert, Hefearomen, ein zäher Weisswein von seltener Güte. Entweder ist Kakha ein Kurpfuscher oder
ein Meister.
Ich habe Jahre gebraucht, um die oxidierten Naturalweine aus
dem französischen Jura zu schätzen. Und nun treffe ich auf sie in
nahezu vollendeter Form im georgischen Hinterland? So ist es in
der Tat. Kakha outet sich als Anarchist des Laisser-faire, der die
ganze Arbeit der Natur überlässt. Spontan wachsende Reben,
Spontanfermentation, keine Chemie, nichts – nur der volle Geschmack bis zur äussersten Schmerzgrenze. Als ich, schon leicht
angetrunken, vom Jura zu fabulieren beginne, verschwindet
Kakha in der Baracke, um mit einer Flasche Vin Jaune von Philippe
Bornard aufzutauchen, einem völlig durchgeknallten Winzer aus
dem Jura. «Der war letzte Woche hier.» Ich mache grosse Augen.
Ich selbst wollte Bornards Weine vor ein paar Jahren in die
Schweiz importieren, aber Bornard wollte am Ende nicht – obwohl er mich doch genau darum gebeten hatte. Unberechenbarer
Anarcho auch er. Sandro übersetzt, Kakhas Augen leuchten in
diesem – seinem – Mikrokosmos aus Reben und Amphoren. Er
serviert eine Chacha. Die Grappa zieht schön den Hals runter. Wir
empfinden beide Hochgefühle. Und bewundern diese Welt, die so
klein und doch so unergründlich ist. �
Im Uhrzeigersinn: Kakha Berishvili,
Quevri im Boden und auf Wiese,
Weindegustation mit Vin Jaune,
photographiert von René Scheu.
77
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 november 2014 Wo die Frau König ist…
8
…sind die Frauen nicht zwingend am Drücker. Doch auch wenn sie in der Politik «untervertreten» sind und
auf keine staatlichen Förderstrukturen bauen können, haben die georgischen Frauen heute gute Karrierechancen.
Sagt Maia Panjikidze, die es an die Spitze des Aussenministeriums geschafft hat.
Serena Jung und Claudia Mäder treffen Maia Panjikidze
Frau Panjikidze, wir haben während unserer Reisen in Ihrem Land immer wieder gehört, dass die Blütezeit Georgiens mit einer Frau assoziiert
werde: mit «König» Tamar, die das Land im 12. Jahrhundert modernisiert
und dafür einen Männertitel verliehen bekommen habe. Bei Ihnen im
Aussenministerium sind heute 60 Prozent aller Angestellten weiblich.
Ist Politik in Georgien traditionsgemäss eine Frauendomäne?
Tatsächlich sind viele Staatsangestellte weiblich, die 60 Prozent
würden Sie auch in anderen Ministerien finden. Daraus zu schliessen, dass Politik eine weibliche Angelegenheit sei, ist aber – leider –
falsch: In unserem 20-köpfigen Ministerkabinett finden sich gerade
einmal drei Frauen, und nur jeder fünfte Parlamentssitz ist von einer Frau besetzt. In den Führungspositionen gibt es also wenig
Frauen – auch im Aussenministerium: Unter meinen 65 Botschaftern und Aussenstellenleitern zähle ich genau 6 Frauen.
Eine dieser Führungspositionen besetzen Sie als Ministerin ja höchstselbst. Worauf führen Sie die geringe Frauendichte zurück – fehlt es
etwa an geeigneten Kandidatinnen?
Nein, das liegt in diesem Fall an der Struktur des Amts. Ich bin ja erst
vor zwei Jahren auf diesen Posten gekommen und habe damals einen
bestehenden – männlichen – Botschafterstab übernommen. Die sechs
Frauen, die inzwischen im Korps sind, sind allesamt von mir berufen
worden. Aber Achtung: das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich
aufgrund meines eigenen Geschlechts nun Kandidaturen von Frauen
bevorzuge. Es geht bei jedem Entscheid um die Qualifikation der Leute.
Sind Frauenquoten in Georgien ein Thema?
Nein, weder gesamtgesellschaftlich noch bei mir: Ich bin absolut
keine Feministin, aber eine starke Verteidigerin der Frauenrechte.
Ich bin nicht der Meinung, dass man Frauen mit Quoten fördern
und ihnen spezielle Zugeständnisse machen sollte. Umgekehrt
darf es aber auch nicht sein, dass eine Frau doppelt so gut sein
muss wie ein Mann, um etwas erreichen zu können. Was wir brauchen, ist Chancengleichheit, und in dieser Hinsicht sind wir, wie
ich glaube, nicht schlecht aufgestellt hier.
Inwiefern wird den Frauen das Erreichen von Karrierezielen durch
Strukturen zur Kinderbetreuung erleichtert? Verfügen etwa die Ministerien über Kinderkrippen?
Nein, solche Betreuungsangebote führt keine hiesige Staatsstelle –
so wie es überhaupt in Georgien keine Kinderkrippen gibt und ver-
78
Maia Panjikidze
ist als promovierte Germanistin seit 1994 im diplomatischen Dienst
tätig und steht seit 2012 dem georgischen Aussenministerium vor.
Serena Jung und Claudia Mäder
sind Redaktorinnen dieser Zeitschrift.
mutlich auch in Zukunft nicht geben wird: Ein Kind im Babyalter
fremdbetreuen zu lassen, kommt für eine georgische Familie nicht
in Frage. Dafür sind die Familienbindungen zu eng und das Bild der
Frau, die sich um das Neugeborene kümmert, zu stark. Für ältere
Kinder gibt es dann sehr wohl Angebote – etwa Kindergärten, wo
man den Nachwuchs ab drei Jahren unterbringen kann –, aber nicht
genügend; hier hinkt das Angebot der Nachfrage hinterher.
Wie stark beeinflusst die orthodoxe Kirche das Rollenverständnis,
sprich das «Bild der Frau, die sich um das Neugeborene kümmert»?
Die Kirche hat zwar einen ziemlich grossen Einfluss auf die Gesellschaft: Laut Umfragen haben die Georgier mehr Vertrauen in
die Kirche als in Einrichtungen wie die Armee oder die Polizei. Das
heutige Familien- und Frauenbild ist aber sicher nicht ausschliesslich auf den Einfluss der Kirche zurückzuführen, denn in den
70 Jahren der Sowjetzeit war die Religion ja weitgehend unterdrückt und also nicht in der Lage, derart prägend zu wirken. Familie und Tradition sind einfach sehr wichtig in Georgien, und beide
vereinen sich im Bild der Mutter, die sich ums Kind kümmert.
Wie sieht es mit Traditionsbrüchen aus: Gibt es heutzutage in Georgien
auch Männer, die sich um Kind und Herd kümmern?
Ich selber kenne kein einziges solches Beispiel… was natürlich
nicht heisst, dass es das nicht gibt – verbreitet ist es aber sicher
nicht. Hingegen gibt es viele Familien, die auf Tagesmütter zurückgreifen: das ist weniger unpersönlich als eine Krippe und ermöglicht den Frauen doch eine rasche Rückkehr ins Berufsleben.
Und vielfach kommen natürlich auch die Grosseltern zum Einsatz
und andere familiäre Strukturen zum Tragen. Möglichkeiten gibt
es viele, und am Schluss ist alles eine Frage der Organisation.
Hierin liegt das Geheimnis der Frauen in Georgien: Wenn sie es
schaffen, sich gut zu organisieren, können sie, ohne Quoten und
Förderprogramme, auch im Beruf weit kommen.
Maia Panjikidze, photographiert von Aleqsandre Sharvadze.
79
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 Nach dem Ende der Sowjetunion haben Sie sich früh im jungen Staat engagiert und haben 1994 erstmals für das Auswärtige Amt gearbeitet – als
diplomatische Assistentin auf der Botschaft in Deutschland. Sind Sie
den Weg gegangen, den Sie immer schon gehen wollten?
chen Aserbaidschan. Georgien ist also ein Transport- und Pipelinekorridor; das ist sein wichtigster wirtschaftlicher Trumpf. Damit wir den ausspielen können, sind wir aber auf gute Beziehungen
zu den umliegenden Ländern angewiesen.
Überhaupt nicht! Als ich 1977 mein Germanistikstudium begann, war
ja die Unabhängigkeit noch nirgends in Sicht und an eine Karriere in
der Aussenpolitik folglich nicht zu denken; erst Anfang der 1990er
Jahre hat Georgien überhaupt begonnen, Botschaften aufzubauen.
Ich hatte mich eigentlich schon auf eine akademische Laufbahn eingestellt, als ich vom ersten georgischen Botschafter in Deutschland
gefragt wurde, ob ich Interesse hätte, mit ihm zu arbeiten. So bin ich
allmählich und auf nie beabsichtigte Weise in die Diplomatie hineingewachsen, habe Posten um Posten durchlaufen und bis zu meiner
heutigen Station vermutlich jede einzelne Stelle des Ministeriums gesehen. Das ist ein grosser Vorteil: Heute kann mir niemand irgendetwas vormachen; ich weiss überall, wie der Hase läuft! (lacht)
Kritiker werfen der seit 2012 amtierenden Regierung vor, die Beziehungen zum Nordnachbarn allzu gut zu gestalten: Während Saakashvili nur
über scharfe Rhetorik mit Russland kommunizierte, haben die Exporte
nach Russland unter der neuen Landesleitung stark zugenommen beziehungsweise überhaupt erst wieder eingesetzt. Was entgegnen Sie
den Skeptikern?
Heute dirigieren Sie die Aussenpolitik eines Landes, das sich seit seiner
Unabhängigkeit dezidiert europäisch gibt…
…nicht erst seit seiner Unabhängigkeit pocht Georgien auf seine
europäische Identität! Vor 2000 Jahren hat es sich schon europäisch gebärdet – nur gab es damals noch gar kein eigentliches Europa. Georgien ist im Jahre 337 christlich geworden, und mit der
christlichen Kultur, die es seither lebt, ist es auch Teil der abendländischen Kultur. In Literatur, Kunst, Musik und Philosophie hat
sich Georgien in denselben Schritten weiterbewegt wie Zentraleuropa, war von Renaissance und Romantik geprägt und teilte stets
das europäische Wertesystem.
…gut, nichtsdestotrotz arbeiten Sie für ein Land, das gewissermassen
zwischen den Kontinenten steht und in den Augen mancher Betrachter
zu Asien gehört. Positiv gesehen befindet sich Georgien in einer Brückenlage zwischen Europa und Asien. Wie versuchen Sie als Aussenministerin diese Scharnierfunktion zu nutzen?
Diese Brückenposition ist Georgiens wichtigster Wirtschaftsfaktor. Das Land verfügt über keine natürlichen Ressourcen, hat aber
Zugang zum Schwarzen Meer und eine Grenze zum rohstoffrei-
Dass man die Dinge unterscheiden muss. Ja, wir versuchen wieder
Fuss zu fassen auf dem russischen Markt – was uns ziemlich gut
gelungen ist im letzten Jahr. Wir exportieren jetzt wieder Wein
und Mineralwasser, aber auch Obst und Gemüse – georgische
Obst- und Gemüsesorten gelten in Russland traditionell als die
besten. Es ist gut, diese Wirtschaftsbeziehungen zu pflegen: Davon profitiert das Land. Das heisst aber nicht, dass wir in anderen
Fragen nun eine nachgiebige Haltung einnehmen. Russland besetzt mit Abchasien und Südossetien 20 Prozent unseres Territoriums und anerkennt zwei Teile Georgiens als unabhängige Staaten. Solange dieses Problem ungelöst ist, werden wir keine
normalen Beziehungen zu dem Land pflegen, nie, ausgeschlossen.
Alle georgischen Parteien streben den EU- und Nato-Beitritt an. Mit
Blick auf die vielfältigen Verflechtungen und die komplexe regionale
Konstellation, in der sich das Land befindet, stellt sich uns die Frage, ob
nicht Neutralität die beste Option wäre für Georgien?
Gerade wegen der rundherum instabilen Lage ist dezidierte Neutralität keine Strategie, die für uns in Frage kommt. Würde Georgien in der Schweiz, also im Herzen Europas liegen, wäre das vielleicht anders. Aber in unserer Region ist es schwer, völlig neutral
und unabhängig zu sein; Georgien ist in seiner Geschichte sehr
oft zu einem Spielball geworden im Machtpoker von grossen Gefügen, und das wollen wir in Zukunft vermeiden. Wenn man
70 Jahre Sowjeterfahrung hinter sich hat, ist man vorsichtiger als
in der Schweiz und gerne bereit, sich in Bündnisse zu begeben. �
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Schweizer Monat 1021 november 2014 Vertiefen / Dossier
Auf dem Vordach Europas
9
Russischkenntnisse empfohlen, Trinkfestigkeit unabdingbar:
Wer im Kaukasus auf Berge steigen will, braucht anderes Rüstzeug als in den Alpen.
Ein Selbstversuch am sagenumwobenen Kazbek.
von Claudia Mäder
M
ütter sind Mütter. Ob sie an der Zürcher Pfnüselküste oder
im kaukasischen Bergdorf wohnen: Manchmal können sie
nur den Kopf schütteln über ihre Kinder. Wie er den nun stundenlang tragen wolle, scheint die kleine Frau mit Verweis auf den bis
unter die Deckeltasche gefüllten Mammut-Rucksack ihres
schmächtigen Sohns zu fragen, doch sicher bin ich mir nicht. Prüfend hebt sie dann aber auch mein Gepäckstück hoch – und eilt
entsetzt in die Küche, um uns mit zuckrigem Kaffee zu stärken.
Tatsächlich, denke ich in der kleinen georgischen Stube, könnte
dem jungen Mann etwas zusätzliche Muskelmasse nicht schaden,
zumal er nebst seinen 60+ Litern im Notfall auch meine 60+ Kilo
müsste halten können. Aber glücklicherweise fehlen mir für
solche Bedenken die Worte. Ich verlege mich auf ein universal
verständliches Lächeln, warte, bis Beqa sich von seiner Mutter
verabschiedet hat, und nehme gutgläubig an, dass sich der Segen,
den sie ihm mit auf den Weg gibt, auch auf mich erstreckt.
Wir machen uns an diesem strahlenden Septembermorgen
auf, einen mythischen Berg zu besteigen: Von Gergeti, einem auf
1800 Metern gelegenen Dorf im Terektal, wollen wir in drei Tagen
zum Kazbek gelangen, einem Kaukasusgiganten, der 5047 Meter
erreicht. Sechs höhere Berge zählt die kaukasische Kette zwischen
Schwarzem und Kaspischem Meer, und selbst Georgien hat zwei
Gipfel vorzuweisen, die den Kazbek überragen. An Schönheit
und Anziehungskraft aber ist der «Schneeberg» (nach seinem georgischen Namen «Mkinvari») nicht zu übertreffen: Ins milde
Herbstlicht getaucht, erscheint der erloschene Vulkan bei unserer
ersten Rast wie ein brüderlicher Riese, vollendet geformt und
allem entrückt.
Schon die abenteuerlustigen Wissenschafter, die den Kaukasus vor rund 200 Jahren zu bereisen, vermessen und beschreiben
begannen, bemerkten die Besonderheit dieses Berges. Seit die aufgeklärte Katharina II. 1767 Weisung gegeben hatte, das ganze russische Reich zu erforschen, und spätestens als dazu ab 1810 auch
der gesamte Südkaukasus gehörte, setzten sich zahlreiche,
namentlich auch deutsche Gelehrte in Bewegung, um «diese geheimnisvolle Werkstatt der Natur, welche die Kindheit des Menschengeschlechts mit so vielen Fabeln zu verschönern versucht
hat», zu erkunden. Weder die ihren Diplomatengatten begleitende
Claudia Mäder
ist Redaktorin dieser Zeitschrift.
Friederike von Freygang, die diesen Satz 1811 in «Kasibeg» verfasste, noch irgendein anderer Kaukasusreisender kam dabei um
den Kazbek herum. «Somewhat unfairly», hielt 1868 der englische
Erstbesteiger Douglas Freshfield fest, stelle der Kazbek gar den
Elbruz in den Schatten und geniesse allenthalben grösseres Ansehen als sein höchster kaukasischer Nachbar.
Erklären mag sich dies durch die geographische Lage des Kazbek. Der Fünftausender flankiert die Darialschlucht, jenes Nadelöhr zwischen Georgien und Russland, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts von der 226 Kilometer langen Heerstrasse zwischen Tbilisi und Vladikavkaz durchstossen wird, tatsächlich aber schon
seit Menschengedenken als entscheidender Grenzposten gilt. Plinius beschrieb die Schlucht als «kaukasische Pforte», die, einem
eisenbeschlagenen Tor gleich, das bis hierher gelangte römische
Reich gegen Osten abdichte, und den Griechen der Archaik bezeichnete sie gar das Ende der Welt – hinter ihr ahnten die in den
Schwarzmeerraum vorgedrungenen Siedler nurmehr Dunkelheit.
Als östlichster Kaukasusgipfel war der Kazbek demnach nicht nur
Grenzwächter, sondern auch Symbol für grösstmögliche Ferne:
An diesen entlegensten aller Berge, so die Sage, soll Prometheus
gekettet gewesen sein; hier, so heisst es bei Apollonios, sollen die
Argonauten sein seufzendes Wimmern vernommen haben – und
die Flügelschläge des Adlers, der täglich herbeiflog, um sich an
seiner Leber zu laben.
***
Weniger behend als der König der Lüfte gewinnen auch wir an
Höhe. Oberhalb eines vom Gletscherfluss ausgefressenen Tals steigen wir über lieblich begrastes, allmählich steiniger und steiler werdendes Terrain unserem Tagesziel entgegen: einem 1937 errichteten
meteorologischen Observatorium, das inzwischen zur Berghütte
umfunktioniert worden ist und auf 3653 Metern unter dem Slogan
«Top of Georgia» als Basisstation für Gipfelbesteigungen dient. Beqa
ist ein Habitué in diesem Höhenlager. Am Fusse des Kazbek geboren
81
Im Uhrzeigersinn: Meteorologisches Observatorium und Gergeti-Gletscher im Morgenlicht,
Kazbek bei Sonnenschein, photographiert von Claudia Mäder.
82
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
und aufgewachsen, ist der 24jährige Bergführer und Skilehrer, den
mir georgische Kontakte vermittelt haben, allein diesen Sommer
20mal auf der Meteostation gewesen – und 16mal auf dem Gipfel.
Eine vielversprechende Bilanz. Wenn ich sie denn richtig verstanden habe: Nach fünf Tagen im Land beschränken sich meine
Georgischkenntnisse auf die absoluten Basics – «Gamarjoba» und
«Gaumarjos», das heisst «guten Tag» und «Cheers»; zwei Worte,
die im Georgischen nicht zufällig fast identisch sind – und bewegen
sich damit auf ähnlichem Niveau wie Beqas Englisch.
«Drink Wodka?», fragt er bei unserem Mittagshalt und zeigt
lachend eine Literflasche, die er, wie andere Wasser, den Berg hochschleppt. Auch mehrere Liter Bier transportiert der blauäugige
Magermann in seinem Rucksack – langsam verstehe ich den sorgenvollen Blick seiner Mutter –, denn seine Kollegen oben in der Hütte
sitzen bald auf dem Trockenen. Ab und zu werden sie per Helikopter
mit Gas beliefert, das Gros der Waren aber tragen die Bergler genau
wie die Gäste aus dem Tal hoch. Ich weigere mich, die kostbare
Fracht zu schmälern, komme gegen andere Angebote aber nicht an:
Das von Beqas Mama zum Picknick zubereitete Khachapuri zu
verschmähen, wäre beleidigend und schade – herrlich schmeckt das
georgische Käsebrot, und kurzzeitig vergesse ich, wie wenig mein
Magen mit der hiesigen Kost anzufangen weiss.
Bald muss ich ihn dann doch wieder mit Alkohol desinfizieren.
Nach der letzten Etappe, der Querung des Gergeti-Gletschers, an
dessen Zunge sich die heute zahlreich und in bizarrem Schuhwerk
ausgeschwärmten Tagesausflügler von den besser behuften Bergsteigern scheiden, kommen wir am frühen Nachmittag zur Meteohütte, wo der «Direktor» alle Neuankömmlinge mit einem Shot
begrüsst. Seinem Zustand nach zu urteilen, muss sein Bunker
bald vor Leuten bersten. Zu sehen sind einstweilen aber nur zwei
Israelis, die leicht geplättet am Tisch des kärglichen «Direktionszimmers» sitzen und mir ratlos erklären, dass sie es nach drei
Gläsern Wodka noch immer nicht geschafft hätten, sich ordnungsgemäss für einen Schlafplatz zu registrieren. Ich mache
mich auf ein längeres Prozedere gefasst – und werde diesen Raum
die nächsten anderthalb Tage tatsächlich kaum mehr verlassen.
***
Draussen mag man sich ohnehin nicht mehr aufhalten. Durch
die offene Tür dringt jäh ein garstiger Wind, und das herbstliche
Blau weicht einer grauen Wand: Obwohl wir ihm hier zu Füssen
liegen, entzieht sich uns der Kazbek jetzt. Seit je gilt der meist in
Gewölk gehüllte Berg als unnahbar; als etwa die russischen Poeten, von der schaurigen Faszination der Wildnis angezogen oder
von der Regierung ins «Sibirien des Südens» abgestossen, in den
Kaukasus kamen, widmeten sie seiner kühlen Distanz glühende
Zeilen. «Du ferner, heissersehnter Ort, / könnt ich aus enger
Schlucht aufsteigen / Zu dir und fänd’ der Freiheit Hort», dichtete
Alexander Pushkin mit Blick auf den Kazbek. Und Michail Lermontov, der zweimal in den Kaukasus verbannt wurde, machte
die Gegend rund um den Berg nicht nur zum Hintergrund seines
Romans «Ein Held unserer Zeit», sondern besang den stolzen,
nicht aus der Ruhe zu bringenden «Schild des Ostens» auch in
mehreren Gedichten.
Im berühmten «Streit» zwischen Elbruz und Kazbek legte
Lermontov dem Höheren eine Warnung vor menschlichen
Eindringlingen in den Mund: «‹Nimm in acht dich!›, sprach der
Graukopf / Elbruz zum Kazbek / ‹vor dem Menschen, denn der
Schlaukopf / kommt dir ins Geheg! / […] / Mit dem Eisenspaten
sprengt er / Dir die Brust von Stein / und nach Gold und Kupfer
drängt er / tief in dich hinein. / Über deine Felsenristen / Karawanen gehn, / wo jetzt nur die Adler nisten / und die Nebel
wehn.›» Der Kazbek wollte von der Gefahr zunächst nichts wissen – und zog sich in die Wolken zurück, als er sie für wahr
erkannte: «Der Kazbek, mit düstrer Seele, / wandte sein Gesicht,
/ dass er seine Feinde zähle, / doch vermocht er’s nicht. / Traurig
schaut er, wie verloren, / ins Gebirg ringsum, / zog die Kappe auf
die Ohren / und blieb ewig stumm.»
Bis in Lermontovs Zeit war der trotzige Kazbek unbestiegen
geblieben. Auch weil sich kaum jemand an den legendären Berg
heranwagte. Als der an Humboldts Methoden orientierte Botaniker Friedrich Wilhelm Parrot 1811 den ersten verbürgten Aufstiegsversuch unternahm, konnte er seinen einheimischen Führer
partout nicht dazu bewegen, einen auf rund 4000 Metern gelegenen Punkt zu überschreiten: «Weder der Eigennutz, den wir durch
das Vorzeigen der Dukaten rege gemacht, noch Bitten und
Drohungen konnten den Aberglauben des Menschen besiegen.»
Der Kazbek soll den Legenden der Bergbewohner zufolge nicht
nur Prometheus – respektive dessen lokales Pendant namens
Amirani – beherbergt, sondern auch zahlreiche und nur wenigen
Auserwählten zugängliche religiöse Wunderschätze geborgen
haben. Nicht ohne Grund gilt der Kazbek den Osseten als Christusberg («Beitlam»): In Höhlen unweit der auch Betlemi-Hütte genannten Meteostation hausten nach hiesigen Erzählungen einst
fromme Mönche, die sich mit Hilfe einer unsichtbaren Kette zu
einer Grotte emporhangeln und dort der Wiege Jesu, den Kleidern
Marias sowie dem Zelt des Abraham einen Besuch abstatten konnten. Erstbesteiger Freshfield erfuhr gar, dass der Gipfel des
Kazbek von einem Kristallschloss mitsamt goldener Taube bewacht werde, doch liess sich der kühne Engländer von derlei
«superstitious legends» nicht schrecken und engagierte anstelle
eines abergläubischen Georgiers einen säkularisierten Franzosen,
der ihn 1868 zielstrebig auf den Gipfel führte.
«Karawanen», wie der Elbruz sie an die Wand malte, sind seither zwar nicht auf den Kazbek gezogen. Die Zunahme an Bergsteigern, vornehmlich aus Osteuropa, ist aber frappant. Wurde die
maximal 60 Personen und ebenso vielen Zelten Platz bietende
Meteostation vor 10 Jahren von jährlich kaum 50 Ausländern besucht, verzeichnet der Direktor heuer deren 1800. Dieser Anstieg
dürfte vorab der seit der Rosenrevolution stabilisierten Lage des
Landes und den Investitionen in den Tourismus geschuldet sein.
Zusätzlich mag aber auch die unsichere Situation in anderen
Berggegenden die Attraktivität des Kazbek gesteigert haben: Als
83
Vertiefen / Dossier Schweizer Monat 1021 November 2014 der Elbruz 2011 nach terroristischen Zwischenfällen für Berggänge gesperrt wurde, verzeichnete die Region um Kazbegi massiv
höhere Besucherzahlen.
***
Im Vergleich zu den bis zu 140 Leuten, die täglich aufs Matterhorn aufbrechen, mag auch der aktuelle Bergsteigerstrom noch
bescheiden anmuten. Deutlich ist aber, dass die Infrastruktur
am Berg dem touristischen Wachstum hinterherhinkt. Was man
«Top of Georgia» vorfindet, ist absolut low scale – zumal für alpine Gemüter, die sich an den Komfort von SAC-Hütten gewöhnt
haben. Die sanitären Einrichtungen bestehen aus einer Steinmauer, die es sich trotz atemberaubendem Panorama möglichst
selten aufzusuchen empfiehlt, die Zimmer sind wahlweise mit
oder ohne «Matratze» zu haben, Wasser ist nur über die Änderung
des Aggregatszustands von Schnee zu fabrizieren, und das nimmt
einige Zeit in Anspruch, da der ganze Bau ein gigantischer Kühlschrank ist. Wärme verströmt einzig ein kleiner Holzofen im
Direktionszimmer, wo ich als Einzelfrau und dank Beqas Bekanntschaft uneingeschränktes Gastrecht geniesse, sprich am Feuer
sitzen darf und dazu den ganzen Abend über mit lokalen Spirituosen und Spezialitäten versorgt werde – nur die auf einer Speck-
schwarte dargebotene Knoblauchzehe muss ich aus Gewissensgründen ablehnen.
«Wer in Kaukasien zu reisen beabsichtigt, der muss vor allen
Dingen nicht vergessen, dass die Sitten und Gewohnheiten der
Völkerschaften, mit denen er zusammenkommt und die nicht
ohne Einfluss auf ihn bleiben können, sich von denen Europas
wesentlich unterscheiden.» Was der Agronom Alexander Petzholdt 1863 feststellte, gilt heute nicht minder: Als ich nach einigen im Schlafsack durchzitterten Stunden vormittags wieder in
die warme Stube komme, hat die Wodkaflasche schon ein paar
Runden gemacht. Ein Blick ins himmlische Grau und das Lauschen auf das Pfeifen des Windes machen klar, dass an die vorgesehene Akklimatisierungstour nicht zu denken ist. «Acclimatization? Drink!», lautet denn auch die Losung des Direktors, und ich
weiss ihr nichts zu entgegnen. Flüssiger wird die Konversation
nur, wenn einer der polnischen oder ukrainischen Gäste dazukommt und mit Russisch – in diesen Gefilden noch immer die
Lingua franca – und Englisch Brücken in die eine und andere
Richtung schlägt.
Über diesen schmalen Korridor kommuniziert bald auch ein
Ire, der mit seiner Gefährtin zur sagenhaften Grotte klettern
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2
:
Start 2015
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rua y
7 Feb
Zürcher Fachhochschule
Head of Program
Max Schweizer, Dr. phil. II, Dr. h.c., former diplomat
[email protected]
01_Ins_CAS_Foreign_Affairs&Applied_Dipl_202x135.indd 1
84
22.09.2014 10:24:30
Schweizer Monat 1021 November 2014 Vertiefen / Dossier
möchte. Entschieden wehren die Bergführer ab. Nicht des Wetters, sondern des Geschlechts wegen: Seit laut Legende der
frommste aller Kazbek-Mönche nach Bewirtung einer verirrten
Schäferin zu Tode gestürzt ist, ist die fragliche Felswand für
Frauen tabu. Daran ist nicht zu rütteln. Auf die Frauen! Gaumarjos! Nach weiteren Toasts auf Berge, Bergtote, Freude, Freunde
und die Liebe, gutes Wetter, besseres Wetter, diesen schönen Tag
und schliesslich auf das Trinken selbst rückt der Ire von seinem
Vorhaben ab und fällt unter den Tisch.
***
Morgens um halb drei treffen wir uns wieder, im Unterschied
zu den topfiten Georgiern leicht gezeichnet, aber bester Dinge:
Eben hat sich der Wind gelegt, der Himmel hängt voller Sterne,
und der Kazbek scheint uns gewogen – wir wagen den Aufstieg.
Die Iren mit ihrem Führer in einer Dreier-, ich mit Beqa in einer
Zweierseilschaft, ziehen wir durch die Nacht, atmen Kälte und
Ruhe, ich liebe jeden Schritt. «Ich war noch fern von meinem Ziel,
als mich ein kalter Sturm und Schneegestöber unfreundlich
begrüssten. Meine Begleiter legten nun ihre Pelze an.» Genau wie
vormals den Vermesser Parrot trifft auch uns schon bald die Launigkeit des Berges. An dessen Wankelmut gewöhnt, zieht Beqa die
Skibrille ins Gesicht und ein zweites Paar Daunenhandschuhe
hervor; ich merke, wie mein vor den Mund geschobenes Feinmerinotuch steif gefriert und meine Finger ihm nacheifern.
Das Sternenheer ist verflogen, schneidend hat der Wind es
hinter Gewölk getrieben, beissend versucht er uns in den Schnee
zu zwingen, wir trotzen, stapfen, ich friere, fürchte, zweifle, wann
hat der Messner seine Zehen verloren?, nach Tagen doch erst,
gewiss, oder?, war auch viel höher, der, aber kälter, wo ist es
kälter, ist es wo kälter?, kaum, wer weiss, ich nicht, weiss nichts,
egal, nur gehen, geht nicht, kann man schreiben ohne Finger?,
nein, vielleicht, diktieren, doch wer tippt, tödlich, ohne Finger,
geht nicht, wir müssen zurück. Nach zweieinhalb Stunden treffen
wir auf zwei verirrte Polen, die sich uns anschliessen möchten –
und dank ihrer Russischkenntnisse in Erfahrung bringen, dass
heute kein Ankommen sein wird gegen den Berg. Die fünf Stunden, die uns noch vom Gipfel trennen, würde uns der Wind zur
Hölle machen oder zum Grab.
Alkohol wird zu meinem Erstaunen noch nicht ausgeschenkt,
als wir gegen 7 Uhr in die Hütte zurückkommen. Dafür heisser
Kaffee, der Wunder wirkt und neue Gelüste weckt. Wie die Aussichten für den nächsten Tag sind, würde ich gerne wissen, doch
Wetterprognosen gibt auf der Meteostation niemand ab. Der Berg
macht, was er will. Und ich? Mein sturer Kopf und das mit zwei
Stimmen dotierte Herz plädieren fürs Bleiben, Magen und Mittelfingerbeeren fordern den Abstieg, die Leber gibt den Ausschlag.
Denn nachwachsen wird mir ja vermutlich keine. �
«Der Kazbek, mit düstrer Seele,
wandte sein Gesicht,
dass er seine Feinde zähle,
doch vermocht er’s nicht.
Traurig schaut er, wie verloren,
ins Gebirg ringsum,
zog die Kappe auf die Ohren
und blieb ewig stumm.»
Michail Lermontov
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