GuitarDreams Pink Floyd 01/2011

Transcrição

GuitarDreams Pink Floyd 01/2011
[ 8 ] VintageDreams | Pink Floyd
Chef-Architekten des Prog-Rock:
Rick Wright, Roger Waters,
Nick Mason und David Gilmour (v. l.)
Wie Pink Floyd THE DARK SIDE OF THE MOON schufen
Text | Ernst Hofacker
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Fotos: Getty Images
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Scherzhaft nannte man sie „die führende Band im All“.
Aber auch auf der Erde hatten Pink Floyd einiges zu
melden. Unter anderem produzierten sie 1973 mit
THE DARK SIDE OF THE MOON so etwas wie den
Mount Rushmore des Progressive Rock.
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Womöglich war es jener Abend des 26.
Januar 1968, als die Reise zum Mond begann. In einem alten Kleintransporter,
irgendwo im Londoner Stadtteil Kensington. Die Besatzung des Transporters war
bereits identisch mit jener, die fünf Jahre
später mit THE DARK SIDE OF THE MOON
tatsächlich in für Popbands bis dahin unbekannte Gefilde aufbrechen sollte: Roger
Waters, Rick Wright, Nick Mason und David Gilmour.
„Sollen wir Syd abholen?“
– „Nein, scheiß drauf!“
Die Sache mit dem Mond war zu diesem
Zeitpunkt allerdings nicht das Thema.
Das Gespräch an jenem kalten Wintertag
drehte sich vielmehr um die ganz irdische
Frage, ob man sich die Nervereien mit dem
ständig zugedröhnten und inzwischen völlig unberechenbaren Syd Barrett weiter
antun sollte. Wie sich Nick Mason in seiner Autobiografie „Inside Out“ (Rockbuch,
edel entertainment, 2005) erinnert: „Auf
der Autofahrt zu Syds Wohnung stellte irgendwer die Frage: ‘Sollen wir Syd wirklich abholen?’ Die Antwort lautete: ‘Nein,
scheiß drauf!’ Es mag hartherzig, wenn
nicht sogar grausam klingen, das hier so
offen wiederzugeben – aber genauso ist es
gelaufen.“
Das Pink-Floyd-Konzert am 26. Januar 1968
in der Universität von Southampton fand
also ohne Syd Barrett statt. Der erst Wochen zuvor als fünfter Mann angeheuerte
Gitarrist David Gilmour übernahm nun
endgültig den Bühnenjob des Mannes, der
Pink Floyd gegründet hatte und bis dahin
als deren Hirn galt. Wer aber, stellte sich
die Frage, sollte nun den Part dieses Hirns
übernehmen? Immerhin war Barrett der
Songschreiber von Pink Floyd, er war es,
der dem Quartett aus der Universitätsstadt
Cambridge mit seinen so skurillen wie originellen Kompositionen „Arnold Layne“
und „See Emily Play“ einen respektablen
Start in den Single Charts ermöglicht hatte. Und ohne seine eigenwilligen Ideen
wäre Floyds Debütalbum THE PIPER AT
THE GATES OF DAWN, entstanden in den
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Syd Barrett:
Das Vakuum, das der
Floyd-Gründer
1968 hinterlässt,
macht DARK SIDE
erst möglich
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berühmten Abbey Road Studios im Frühling 1967, als nebenan die Beatles letzte
Hand an SGT PEPPER legten, kaum zu dem
überraschenden Erfolg geworden, der Kritik und Publikum schwärmen ließ von den
neuen Superstars der Pop-Moderne. Aus
gutem Grund, denn wohl kaum je war es
einer Band gelungen, Widersprüchliches
wie Folk- und Avantgardeklänge, Märchenfabeln und Fernöstliches zu einem
so organischen Ganzen zu fügen wie auf
diesem Meisterwerk der englischen Psychedelia. Selbst Paul McCartney hatte Pink
Floyd denn auch gelobt und die Gruppe als
Scouts bei der Erforschung musikalischer
Zukunftswelten begrüßt, die es jenseits
des Sgt.-Pepper-Pop zu entdecken galt.
Paradoxerweise aber machten sich die
verbliebenen Floyds weniger Sorgen um
ihre kreative Zukunft als vor allem darum, dass die Abwesenheit ihres Spiritus
Rector bei ihren Konzerten dem Publikum
nicht negativ auffiel. In Southampton vermisste ihn offenbar niemand – lassen wir
Nick Mason noch einmal das Wort: „Doch
das Wichtigste war, dass die Zuschauer ihr
Geld nicht zurückverlangten: Syds Abwesenheit hatte sich eindeutig als nicht nachteilig ausgewirkt. Danach haben wir ihn
einfach nie mehr abgeholt.“
Im Frühling 1968 waren Pink Floyd also
gezwungen, sich neu zu erfinden. Neben
Syds Songwritertalent hatten sie bislang
zwei weitere Faktoren auf der Haben-Seite,
und daraus zimmerten sie sich nun eine
neue künstlerische Perspektive. Zum einen war da ihr Anspruch, getreu ihrer
Architektur-Passion – drei der vier Bandmitglieder hatten zuvor am Londoner Polytechnikum studiert – jenseits gewöhnlicher Songstrukturen neue musikalische
Formen zu schaffen. Zum anderen aber
waren sie bereits die anerkannte Kapazität
in Sachen „Jugend forscht, Abtlg. elektronische Klangerzeugung“. Wobei sie schon
zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen
waren – trotz des technischen Handicaps,
dass Mitte der sechziger Jahre noch kaum
entsprechende Effekte, höchstens WahWahs, Echogeräte und Leslie-Cabinets, zur
Verfügung standen.
Die Band schlug nun eine künstlerische
Richtung ein, die sie alsbald von den
wunderlichen Abgründen der Barrettschen Phantasie in die avantgardistischen
Klanglandschaften von UMMAGUMMA
und von dort weiter zur kommerziellen
Gigantomanie von Klassikern wie THE
DARK SIDE OF THE MOON und WISH
YOU WERE HERE führen sollte. Schon auf
dem zweiten Floyd-Album, A SAUCERFUL
OF SECRETS (1968), war das kaum mehr
zu überhören. Von den sieben Stücken
stammte nur noch eines, der wirre „Jugband Blues“, von Barrett. Ansonsten wurde
das Album dominiert von kühlem Spacerock, düsteren Klangexperimenten und
hymnischer Melodik. Bereits vier Kompositionen stammten von Roger Waters. Der
berückende Charme, der noch das Debüt
auszeichnete, war verflogen, Pink Floyd
hatten sich auf die Reise in die siebziger
Jahre begeben – die kommenden Alben
sollten gleichsam zu Testflügen für die
spätere Expedition auf die dunkle Seite des
Trabanten werden. Und: Ab sofort standen
Pink Floyd nicht mehr für verspielten Pop,
sondern für ernsthafte Kunst. Um Singles
wollten sie sich nicht mehr kümmern, die
Langspielplatte war fortan ihr primäres
Medium.
Zu entscheidenden Stationen wurden
ATOM HEART MOTHER (1970) und MEDDLE (1971). Mit Ersterem hatten sich Waters & Co. nach einem Ausflug ins Filmscore-Geschäft (MORE, 1969) und dem
Expeditionen in avantgardistische Klanglandschaften
Live-Dokument UMMAGUMMA (1969)
ein erstes echtes Konzeptwerk vorgenommen. Den Kern des Albums bildete das
ambitionierte 23-minütige Titelstück, das
mit Orchester und Chor daherkam und,
der damaligen Mode entsprechend, die
Möglichkeiten des Crossovers zwischen
Rock und Klassik erkundete. Das Ganze
war mit Hilfe des renommierten E-MusikKomponisten Ron Geesin entstanden und
hatte tolle Momente, unterm Strich jedoch
wirkte es noch unausgegoren. Die B-Seite
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bestand aus elegischen Folkballaden und
einer aufwendigen Klangkollage mit dem
Titel „Alan’s Psychedelic Breakfast“. Neben dem zusätzlichen musikalischen Terrain, das sich die Band erschloss, wurde
zum ersten Mal ein weiterer, für den einzigartigen Status von Pink Floyd verantwortlicher Faktor hörbar: ATOM HEART
MOTHER glänzte mit sorgfältigster Produktion und einer konkurrenzlos highfidelen Klangqualität. Ein gefundenes
MEDDLE ließ Gigantomanie
und Paranoia ahnen
Fressen für die seinerzeit aufkommende
Audiophilen-Szene, Pink Floyds Werke
würden in Zukunft als Maßstab in Sachen
High Fidelity gelten.
MEDDLE, das die Band nach der Compilation RELICS im November 1971 nachschob,
ging den eingeschlagenen Weg konsequent
weiter. Die Musiker, deren Debüt noch auf
vier Spuren aufgenommen wurde, konnten nun auf komfortablen 16 Spuren arbeiten. Stolz erhob sich hier zum ersten
Mal der majestätische Floyd-Sound, der
auf späteren Welterfolgen zur Trademark
wurde. Wieder bildete eine kompliziert
verschachtelte, über eine ganze Plattenseite reichende Rocksuite das zentrale Stück.
Mangelte es ATOM HEART MOTHER noch
an kompositorischer Schlüssigkeit und
dramaturgischer Durchschlagskraft, so
erreichte „Echoes“ nun in allen Belangen
die volle Punktzahl. Auch die andere Albumseite, eingeleitet vom grandiosen Instrumental „One Of These Days“, das zum
Dauerbrenner in Undergrounddiskotheken
wurde, überzeugte.
Mit MEDDLE war die Selbstfindung der
Barrett-losen Band abgeschlossen. Erstmalig hatten sich Wrights atmosphärische
Klangwelten, Gilmours feierlicher Ton und
seine effizient konstruierten Soloausflüge
sowie die zur Slow Motion neigende Rhythmusgruppe zum großen Ganzen vereint
– die Ahnung kommender Gigantomanie
und Paranoia eingeschlossen.
Das Jahr 1972 verbrachte die Band mit
der Arbeit an einem Filmsoundtrack („La
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Valleé“), der unter dem Titel OBSCURED
BY CLOUDS erschien, kaum Wellen schlug,
aber mit seinen kompakten Kompositionen ein wichtiges Bindeglied zwischen
MEDDLE und dem überwältigenden Opus
Magnum schuf, das nun folgen sollte. Ab
Juni verschanzte sich die Band mit ihrem
Toningenieur Alan Parsons in den Abbey
Road Studios. Die Musik für das nächste
Werk war bereits vorhanden. Entstanden
waren erste Fragmente schon Ende 1969
bei der Soundtrack-Arbeit zu Michelangelo
Antonionis „Zabriskie Point“, sie bildeten
die Grundlage für den späteren Song „Us
And Them“. Weiteres Material erarbeitete
die Band im Laufe der kommenden zwei
Jahre in einem Proberaum im Londoner
Stadtteil Bermondsey, der ihnen von den
Rolling Stones überlassen worden war. Im
Grunde war die Musik für THE DARK SIDE
OF THE MOON bereits fertig, als die Studioaufnahmen begannen. Sogar der Titel
stand fest. Allerdings brachte die britische
Gruppe Medicine Head in diesem Jahr ein
Album gleichen Titels auf den Markt, weshalb Pink Floyd beschlossen, ihre Platte
„Eclipsed“ zu nennen. Als sich zu Beginn
des folgenden Jahres jedoch herausstellte,
dass Medicine Head einen Flop gelandet
hatten, kehrten Rogers & Co. zur ursprünglichen Titelidee zurück. Pink Floyd hatten
das noch nicht existierende Album sogar
schon live vorgestellt, seit Januar 1972 präsentierten sie es auf einer England- und
US-Tour unter dem Titel „Dark Side Of The
Moon – A Piece For Assorted Lunatics“, diverse Bootlegs dokumentierten das Spektakel schon im Frühling 1972.
Und doch war all dies noch meilenweit
entfernt von dem, was die inzwischen
zahlreichen Floyd-Fans ein knappes Jahr
später tatsächlich zu hören bekamen, als
THE DARK SIDE OF THE MOON in die Plattenläden kam. In den Abbey Road Studios
hatten Pink Floyd in den neun Monaten zuvor einen Quantensprung geschafft – musikalisch, lyrisch, produktionstechnisch.
Das begann bei den Kompositionen. Alle
vier konzentrierten sich darauf, kompakte,
greifbare Musik zu schreiben und Roger
Waters, von dem erstmals sämtliche Texte
David Gilmour: Er kam für Barrett und
schenkte der Band seinen einzigartig
majestätischen Gitarrenton
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stammten, legte es ganz bewusst auf klare
und verständliche Lyrics an. Stücke wie
„Money“, „Time“, „Brain Damage“ und „Us
And Them“ taugten im Zweifel sogar fürs
Lagerfeuer, eine bei Pink Floyd bislang
eher ungewöhnliche Qualität.
Des weiteren betraf der Quantensprung
die Inszenierung der Musik. In jeder der
rund 43 Minuten Spielzeit des Albums
staunte der Hörer über atemberaubende
Effekte, nie gehörte Sounds und geradezu
halsbrecherische
Klangkombinationen,
die am Ende aber sämtlich perfekt ineinander passten. Da war zum Beispiel die
laut ratternde Registrierkasse am Anfang
von „Money“, die zu einem im waghalsigen
7/8-Takt gespielten Bluesriff führte, das
am Ende von einem soullastigen Saxophonsolo gekrönt wurde, bevor es in einen
wilden 4/4-Rhythmus mit jubilierendem
Gitarrensolo explodierte. Oder die schwirrenden Synthesizer-Loops, die die Basis
für die aufregende Klangkollage von „On
The Run“ bildeten (womit Pink Floyd zu
einer der ersten Rockbands der Geschichte
wurden, die zu einem Loop spielte – eine
Technik, die erst 20 Jahre später im Techno
wieder aufgenommen wurde). Dazu immer
wieder geisterhaft-manisches Gemurmel
aus dem Off, das eine höchst gespenstische,
düstere Atmosphäre heraufbeschwor. Oder
die schrill tönende Kakophonie der Uhren,
mit denen „Time“ eingeleitet wurde. Höhepunkt der ersten Plattenseite: der sirenenhafte Gesang von „The Great Gig In The
Geisterhaft-manisches
Gemurmel aus dem Off
Sky“, mit dem Gastvokalistin Clare Torry
ihr Innerstes nach außen kehrte; nie hatte man eine dermaßen emotionale Performance gehört, bestehend nur aus „Uhs“
und „Ahs“ – ohne eine einzige Textzeile.
Über all dem aber schwebte eine wahrhaftig himmlische Gitarre. David Gilmour
zelebrierte einige der schönsten Soli, die
ihm je aus den Fingern geflossen sind.
Spätestens hier, auf der dunklen Seite
des Mondes, hatte er seinen einzigartig
erhabenen Trademark-Ton gefunden, glei-
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chermaßen Blues-geerdet, rau und scharfkantig wie von ätherischer Schönheit und
eleganter Anmut. Wobei er nicht nur ein
auffälliges Gespür für Effizienz und Dramaturgie bewies, sondern auch musikalische Phantasie, etwa als er für „The Great
Gig In The Sky“ die bis dahin weitgehend
für die Countrymusik reserviertete Pedalsteel Guitar einsetzte. Gebettet war all
dies in Rick Wrights Keyboard-Teppiche
und seine elegischen Klavierlandschaften,
die mit gelegentlich komplexen Jazzhar-
Pink Pop: Background-Girls
als Zuckerguss
monien handelsübliche Dur-Rockismen
als das erscheinen ließen, was sie bei
vielen Konkurrenten tatsächlich waren:
Ausdruck mangelnden Vokabulars. Vorangetrieben wurden die dramatischen
Klangwelten des Albums von Nick Masons
und Roger Waters’ souveränen Slow-Motion-Rhythmen. Beide produzierten nicht
eine Note zu viel, die wenigen aber, die sie
spielten, standen wie die Beine einer Leiter
auf festem Grund, mochten die Sprossen
auch direkt in den Himmel führen. Nicht
genug mit dieser komplexen Klangarchitektur, Pink Floyd hatten inzwischen gelernt, dass Zuckerguss auch den schönsten
Kuchen noch schmackhafter machen kann
und also Pop-Elemente wie einen vierköpfigen weiblichen Backgroundchor verwendet – absolutes Novum damals auf FloydPlatten. Pink Pop sozusagen.
Höchsten Anteil an der Konstruktion der
grandiosen Klangkathedrale hatte Toningenieur Alan Parsons, damals gerade
24-jährig. In den Abbey Road Studios hatte
er bereits am Spätwerk der Beatles mitgearbeitet, inzwischen gehörte er zu den
kreativsten und experimentierfreudigsten
Vertretern seiner Zunft. Auf ihn ging nicht
nur die ungewöhnliche Idee zurück, Clare
Torry ohne Text singen zu lassen. Auch die
berühmten Uhren von „Time“. Parsons war
parallel zur Floyd-Produktion mit der Erstellung einer Testplatte für die neu entwickelte Quadrophonie-Technik beschäftigt
und hatte dafür in einem Antiquitätenla-
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den diverse Uhren aufgenommen – die
perfekte Klangkulisse für „Time“.
Auch wenn der unglaublich gute Sound
des Albums wie von einem anderen Stern
schien, mit dem Erdtrabanten hatte Pink
Floyds Reise zum Mond allenfalls im
übertragenen Sinne zu tun. Thematisch
beschäftigte sich THE DARK SIDE OF THE
MOON mit Innenwelten, und der Titel ging
auf ein Wort des US-Schriftstellers Mark
Twain zurück, der einmal sagte, dass jeder
Mensch ein bisschen wie der Mond sei –
Thematisch reiste DARK
SIDE in Innenwelten
mit einer dunklen Seite, die er verborgen
halte. Die Platte, deren Songs sich um die
Entfremdung und Desillusionierung des
Menschen in einer hochtechnisierten Umwelt drehten, traf den Nerv einer Generation, die ihre Identität zwischen Post-Sixties-Katerstimmung und bevorstehender
Punk-Rebellion suchte. Und darum ging
es Roger Waters: Identität, wir und sie,
„Us And Then“. Wenn er in „Brain Damage“ sang „there’s someone in my head but
it’s not me“, dann wussten die Kids genau,
wer dieser Jemand war: Them, sie, die Autoritäten, die anonymen Strukturen, die
die freie Entfaltung des Individuums unterbanden. Mochte Waters dabei auch, wie
er später einräumte, an das Schicksal des
unglücklichen Syd Barrett gedacht haben,
so blieb das Thema doch universell. David
Gilmour brachte das auf den Punkt: „Die
Themen, die Roger ansprach, betreffen
jede Generation von jungen Leuten.“ Einer
der Gründe, warum das Album über Dekaden immer wieder neue Fans fand.
Als THE DARK SIDE OF THE MOON am 24.
März 1973 erschien, war nichts mehr wie
zuvor. Für die Band nicht, die nun urplötzlich in die lichten Höhen des Superstar-Daseins katapultiert wurde, und für die Fans
nicht, die von der überwältigenden Mondreise wie berauscht schienen. Das Album
kletterte in die Top-Positionen der Hitparaden, erreichte Platz drei in Deutschland,
Platz zwei in England und Platz eins in
den USA, einem Markt, der Pink Floyd bis
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dahin weitgehend ignoriert hatte. Dank einer der aufwendigsten Werbekampagnen
in der Geschichte der Tonträgerindustrie
stürmte die Platte in den Staaten diesmal
jedoch schon in der ersten Woche an die
Spitze der Billboard-Charts.
Der amerikanische Rockkritiker David
Fricke hat den zeitlosen Erfolg von THE
DARK SIDE OF THE MOON zu erklären
versucht. Er dürfte der Wahrheit ziemlich
nahe gekommen sein: „Es war eine deprimierende Zeit, und Roger Waters hatte eine
deprimierende Platte geschrieben. Aber er
tat das mit extrem aufmunternder, mitreißender und bezaubernd schöner Musik.“
Wobei der immense Erfolg nicht allein darauf gründete, dass die Band am Ziel ihrer
Reise zu einer aufregenden und einzigartigen Klangästhetik angekommen war und
die perfekte Mischung aus futuristischem
Experiment und massentauglichem Popappeal gefunden hatte. Auch lud Pink
Floyds Musik zu einem romantischen
Eskapismus ein, der in phantastische
fremde Welten führte, wo ebenso Jules
Vernes Visionen herzustammen schienen
wie Tolkiens Märchen-Geschöpfe und die
Fantasy-Plattencover aus der Werkstatt
von Roger Dean. Dass Floyd indes bei diesem Album auch in Sachen Artwork lieber
Platz 3 in Deutschland,
2 in UK und 1 in den USA!
auf die kühle Mystik ihrer Haus-Designschmiede Hipgnosis setzten und mit dem
Prisma-Symbol eines der bildstärksten
Plattencover der Rockgeschichte schufen,
zeigt nur, wie sehr ihr Futurismus immer
auch von der nüchternen Rationalität der
Architektur geprägt war.
Wer wollte schon auf den Mond, wenn es
dort ohnehin stockduster war? Oder wie
es Jerry Driscoll, damals Pförtner der Abbey Road Studios, im Fade-Out des Werkes
formulierte: „There’s no dark side in the
moon, really; as a matter of fact it’s all
dark.“ Den entlarvenden Nachsatz hatte
man für das Album nicht verwendet. Er
lautete: „The only thing that makes it look
light is the sun.“ Ein Philosoph.
S
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Die Studioalben von Pink Floyd
THE PIPER AT THE GATES OF DAWN
WISH YOU WERE HERE (1975)
THE FINAL CUT (1983)
(1967)
Pink Floyd im Zenit: dramatische
Depressives Antikriegs-Lament, mehr
Brillant-phantastisches Psychedelia-
Klanglandschaften, berückende Melodien
Waters solo als Pink Floyd. Bereits ohne
Kaleidoskop und Syd Barretts Vermächt-
und die Beschwörung von Barretts Geist.
Richard Wright entstanden.
ANIMALS (1977)
A MOMENTARY LAPSE OF REASON (1987)
A SAUCERFUL OF SECRETS (1968)
Nihilistische Waters-Lyrics und Rückkehr
Nach Waters‘ Ausstieg unter Gilmours
„Set The Controls For The Heart Of The
zu bodenständigem Rock – düsterer und
Regie vollzogener Neustart, noch (fast)
Sun“: erste Expeditionen in die futuri-
spröder als die Vorgänger.
ohne Wright. Schaler Aufguss.
THE WALL (1979)
A DIVISION BELL (1994)
MORE (!969)
Neurotische Rockoper voll Pathos und
Gilmour, Wright & Mason liefern PF-
Soundtrack für den gleichnamigen
Paranoia. Enthält mit „Another Brick In
Schlüsselreize für Stadionrock-Revuen –
Film – nicht wirklich homogen, aber mit
The Wall, Pt. 2“ Floyds größten Hit.
nostalgisch und weitgehend uninspiriert.
nis für die Ewigkeit.
stischen Welten der Milchstraße.
berückenden Momenten.
UMMAGUMMA (1969)
Doppelalbum mit grandioser Live-Hälfte
und erratischen Studio-Experimenten auf
der zweiten Platte.
ATOM HEART MOTHER (1970)
Erstes großes Konzeptwerk, nicht wirklich fokussiert, aber immerhin 7 Punkte
auf der „Echoes“-Skala.
MEDDLE (1971)
Abschluss der Selbstfindung mit der
großartigen Rock-Suite „Echoes“. Nicht
weniger gelungen: „One Of These Days“
OBSCURED BY CLOUDS (1972)
Als Soundtrack für Barbet Schroeders
„La Valeé“ nur ein Zwischenwerk, mit
interessanten Passagen und neuerlicher
Hinwendung zum Pop („Free Four“).
THE DARK SIDE OF THE MOON (1973)
Opus Magnum und Prototyp des konzeptionellen Progrock-Albums. Mehr als 741
(!) Wochen in den Billboard Charts.
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