Johann Wolfgang von Goethe
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Johann Wolfgang von Goethe
Indirizzo Lingue e Letterature Straniere Corso Speciale Abilitante DM 85/05 Analisi Testuale per la Lingua Tedesca - Prof. Raul Calzoni Raccolta di liriche tedesche Anno Accademico 2006-2007 INDICE Lyrik………………………………………………………………………………………………....4 Johann Wolfgang von Goethe Maifest……………………………………………………………………………………………......7 Mailied……………………………………………………………………………………………......7 Mir schlug das Herz, geschwind zu Pferde..........................................................................................9 Willkomm und Abschied [Späte Fassung] …………………………………………………….......9 Wandrers Nachtlied [Frühe Fassung]……………………………………………………………..11 Wandrers Nachtlied [Späte Fassung].…………………………………………………………….11 Prometheus [Frühe Fassung]……………………………………………………………………...12 Prometheus [Späte Fassung]……………………………………………………………………....12 Prometheus [Späte Fassung]……………………………………………………………………....12 Ganymed [Späte Fassung]…………………………………………………………………….......15 Ganymed [Frühe Fassung]……………………………………………………………………......15 Grenzen der Menschheit…………………………………………………………………………….17 Johann Christoph Friedrich von Schiller Nänie……………………………………………………………………………………...................19 Friedrich Hölderlin Hälfte des Lebens………………………………...…………………………………………………20 Novalis (Friedrich von Hardenberg) Sehnsucht nach dem Tode……………………….……………………………………………….…21 Joseph Freiherr von Eichendorff Mondnacht.............………………………………………………………………………………….24 Heinrich Heine [Ich weiß nicht was soll es bedeuten]…………………………………………………………….…25 Die schlesischen Weber [Späte Fassung]…………………………………………………………27 Die schlesischen Weber [Frühe Fassung] ……………………………………………………...…27 Stefan George [Komm in den totgesagten park und schau] ………………..………………………………………29 Hugo von Hofmannsthal Über Vergänglichkeit…………………………………………………….…………………………30 2 Rainer Maria Rilke Archaïscher Torso Apollos…………………………………………………………………………31 Jakob van Hoddis Weltende…………..………………………………………………………………………...............32 Alfred Lichtenstein Die Dämmerung………………………………………………………………………………….…33 Die Stadt…………………………………………………………………………………….............34 Georg Heym Der Gott der Stadt……………………………………………………………………………….......35 Der Krieg I……………………………………………………………………………………..........37 Gottfried Benn Schöne Jugend ...................................................................................................................................39 Kleine Aster........................................................................................................................................40 3 LYRIK 1. Typen a) formal: Sonett, Elegie, Hymne, Epitaph, Epigramm, Ballade, Madrigal, Ode, (Volks-)Lied. b) inhaltlich (Genre): Liebes-, Natur-, politisches, sozialkritisches ... Weltanschauungsgedicht, Spottgedicht, Parodie, Dinggedicht. 2. Formen a) Struktur: Zahl der Abschnitte (Strophen), Zeilenzahl (Verse), regelmäßiger, symmetrischer Aufbau? b) Versformen: Distichon (Hexameter/Pentameter), Blankvers, Knittelvers, Volksliedstrophe, Alexandriner. 3. Klänge a) Reim: Paarreim (aabb), Kreuzreim (abab), umarmender/umschließender Reim (abba) oder Schweifreim (aabccb), Binnenreim, ("als ob es tausend Stäbe gäbe"), unreiner Reim (gießen/grüßen). b) Alliteration: gleicher Anfangsbuchstabe mehrerer dicht beieinanderliegender Wörter ("Für dich soll's rote Rosen regnen", H. Knef). c) Assonanz: Wiederholung des gleichen Vokales: "...blühen die Blümlein auf" d) Metrum: Jambus -/, Trochäus /-, Daktylus /--, Anapäst --/. e) Versschlüsse (Kadenz): stumpf (Glut/Flut), klingend (Ferne/Sterne). f) Zeilensprung (Enjambement): Nichtübereinstimmung von Zeilenlänge und Satzgrammatik, befördert den Sprachfluss ... 4. Bilder a) Vergleich - "Wolken ziehn wie schwere Träume" (Eichendorff: Zwielicht) / "Uns ist so kanibalisch wohl / als wie fünfhundert Säuen" (Faust I, Auerbachs Keller) / "Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn" (Gryphius: Abend) b) Metonymie - ein Begriff wird durch einen anderen, ihm nahe stehenden ersetzt: 'Lorbeer' für 'Ruhm'. c) Metaphern - Bedeutungsübertragung ohne Vergleichssignale ("Antennen stechen in den Himmel"): Manche Metaphern werden als "schwach" empfunden, andere als "stark" oder "kühn". Es gibt richtiggehend "tote" Metaphern, wenn z.B. zur "Krönung des Abends" eine "Flasche geköpft" wird oder sich die "Autoschlange" über den Asphalt "quält". Sie werden gar nicht mehr als bildhaft wahrgenommen, eröffnen von daher auch keine Bedeutungsfelder und Assoziationsräume mehr, sie sind eben 'tot'. "Kühne" Metaphern sind z.B. die Oxymora (sing. Oxymoron): Das NichtZusammengehörende, ja Widersprechende, wird zusammengezwungen, ein Sinn entsteht gerade aus dem Aufeinanderprallen des Gegensätzlichen. Berühmtes Beispiel: "die schwarze Milch" in Paul Celans 'Todesfuge'. Einfachere Beispiele: "kleiner Riese", "weißer Rabe", "hübsch-hässliches Fräulein", "herbe Schönheit", "Plastikglas". 4 d) Synästhesien sind auch solche "kühne" Metaphern: Zwei oder mehr Sinnesbereiche werden zusammengezwungen (gerne in der Romantik verwendet, hier aus Brentanos Abendständchen"): Hör, es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen, ... Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht. e) Allegorie - Darstellung eines abstrakten Begriffes durch ein Bild, häufig in Form einer Personifikation, z.B. Justitia als Versinnbildlichung von Recht und Gerechtigkeit; die apokalyptischen Reiter Ritter, Tod, Pest .... f) Symbol - Bild für etwas allen gleichermaßen Bekanntes (das Kreuz für Christentum, der Halbmond...) g) Personifikation - "Gelassen stieg die Nacht ans Land"(Mörike: Um Mitternacht) h) Animation - "Dämmrung will die Flügel spreiten" (Eichendorff: Zwielicht) 5. Motive a) Gibt es Hauptmotive, Schlüsselmotive, vorherrschende Bewegungsabläufe? b) Aus welchen Erfahrungs- Wirklichkeitsbereichen sind sie gewählt? c) Wie fügen sich die einzelnen Motivbereiche zusammen: Antithetisch, steigernd, als Aneinanderreihung? Arbeitsschritte 1. Schritt: Erfassen der Aufgabenstellung 2. Schritt: Lektüre des Textes und Formulierung einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung sowie einer Arbeitshypothese bzw. eines ersten Sinnentwurfs. 3. Schritt: systematische Bearbeitung des Textes und Erarbeitung aller für die Interpretation wichtigen Textkonstituenten unter Berücksichtigung der Aufgabenstellung. 4. Schritt: Aufgreifen „außertextlicher“ Informationen für die Analyse. 5. Schritt: Integration der bisher gewonnen Ergebnisse, Überprüfung der Arbeitshypothese, Formulierung eines Deutungsansatzes, begründete Bewertung (Erörterung). 6. Schritt: Entwicklung einer Gliederung des Interpretationsaufsatzes. 5 6 Johann Wolfgang von Goethe [Frühe Fassung] 5 [Späte Fassung] Maifest Mailied Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten 5 Aus jedem Zweig, Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch, 10 15 20 Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd o Sonne O Glück o Lust! O Lieb' o Liebe, So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn; Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe Die volle Welt. O Mädchen Mädchen, Wie lieb' ich dich! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig, Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch, 10 15 20 Und Freud' und Wonne Aus jeder Brust. O Erd'! o Sonne! O Glück! o Lust! O Lieb'! o Liebe! So golden-schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn! Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe Die volle Welt. O Mädchen, Mädchen, Wie lieb' ich dich! 7 Wie blinkt dein Auge! Wie liebst du mich! 25 30 35 So liebt die Lerche 25 So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmels Duft, Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmelsduft, Wie ich dich liebe Mit warmen Blut, Die du mir Jugend Und Freud und Mut Wie ich dich liebe Mit warmen Blut, Die du mir Jugend Und Freud' und Mut Zu neuen Liedern, Und Tänzen gibst! Sei ewig glücklich Wie du mich liebst! 30 35 Zu neuen Liedern Und Tänzen gibst. Sei ewig glücklich, Wie du mich liebst! Entstehungsjahr: vor 1775 Entstehungsjahr: vor 1776 Erscheinungsjahr: 1775 Erscheinungsjahr: 1789 Fassung: Frühe Fassung: Späte Aus: Gelegenheiten / StraßburgSessenheim Aus: Vermischte Gedichte Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 129-130. Bemerkungen Erstdruck in »Iris«, Bd 2, I Frühe Fassung von »Mailied« 8 Wie blickt dein Auge! Wie liebst du mich! Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 287288. Bemerkungen Späte Fassung von »Maifest« Frühe Fassung] [Späte Fassung] Mir schlug das Herz, geschwind zu Pferde 5 10 15 20 25 Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde, Und fort, wild, wie ein Held zur Schlacht! Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht; Schon stund im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von seinem Wolkenhügel Schien kläglich aus dem Duft hervor; Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer Doch tausendfacher war mein Mut; Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloß in Glut. Ich sah dich, und die milde Freude Floß aus dem süßen Blick auf mich. Ganz war mein Herz an deiner Seite, Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbes Frühlings Wetter Lag auf dem lieblichen Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter! Ich hofft' es, ich verdient' es nicht. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen, welche Liebe, Willkomm und Abschied 5 10 15 20 25 Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh' gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsaus'ten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer; Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut! Dich sah ich, und die milde Freude Floß von dem süßen Blick auf mich, Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter! Ich hofft' es, ich verdient' es nicht! Doch ach! schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz: In deinen Küssen, welche Wonne! In deinem Auge, welcher Schmerz! 9 30 O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund, und sah zur Erden, Und sah dir nach mit nassem Blick; Und doch, welch Glück! geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück. Entstehungsjahr: 1771 Entstehungsjahr: 1771 Erscheinungsjahr: 1775 Erscheinungsjahr: 1789 Fassung: Fassung: Frühe Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 128-129. 10 30 Ich ging, du standst und sahst zur Erden, Und sahst mir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! Späte Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 283. [Frühe Fassung] 5 [Späte Fassung] Wandrers Nachtlied Wandrers Nachtlied Der du von dem Himmel bist Alle Freud und Schmerzen stillest, Den der doppelt elend ist Doppelt mit Erquickung füllest, Ach ich bin des Treibens müde! Was soll all die Qual und Lust. Süßer Friede, Komm ach komm in meine Brust! Der du vom Himmel bist Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest, Ach! ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede! Komm, ach komm in meine Brust! 5 Am Hang des Ettersberg d. 12. Febr. 76 G. 10 Entstehungsjahr: 1776 Entstehungsjahr: 1776 Erscheinungsjahr: 1780 Erscheinungsjahr: 1789 Fassung: Frühe Fassung: Späte Aus: Persönlicher Kreis / Frau von Stein Aus: Vermischte Gedichte / Erste Sammlung Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. KlassikerVerlag: 1987, S. 229. Bemerkungen Erstdruck »Christliches Magazin«, hg. v. J. C.Pfenninger, Bd. 3, I. Stück, Zürich 1780, dort noch unter dem Titel »Um Frieden«. Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 300. Bemerkungen Entgegen der landläufigen Interpretation ist folgende Idee aufgekommen: Die ersten vier Verse des Gedichtes beschreiben den Menschen in dem ewigen Hin und Her von Leid und Schmerz auf der einen Seite und der göttlichen Erquickung auf der anderen Seite. In den folgenden vier Versen wird mit »Treiben« auf dieses Oszillieren verwiesen. Der Ausweg aus dem Fallen und von GottAufgerichtet-Werden soll durch den Frieden endlich vom lyrischen Ich genommen werden. Der Friede als nicht transzendente Macht enthebt sozusagen in ein gefühlloses Nirvana und befreit den Menschen und Gott aus der Pflicht. 11 [Frühe Fassung] 5 10 15 20 25 12 [Späte Fassung] [Späte Fassung] Prometheus Prometheus Prometheus Bedecke deinen Himmel Zeus Mit Wolkendunst! Und übe Knabengleich Der Disteln köpft An Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte Die du nicht gebaut, Und meinen Herd Um dessen Glut Du mich beneidest. Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Müßt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn als euch Götter. Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war Nicht wußt wo aus wo ein Kehrt ich mein verirrtes Aug Zur Sonne als wenn drüber wär Ein Ohr zu hören meine Klage 5 10 15 20 25 Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn' als euch, Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät, Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte wo aus noch ein, Kehrt' ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär' Ein Ohr zu hören meine 5 10 15 20 25 Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn’, als euch, Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät, Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte wo aus noch ein, Kehrt’ ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär’ Ein Ohr, zu hören meine 30 35 40 45 50 Klage Ein Herz wie meins Sich des Bedrängten zu erbarmen. Klage, Ein Herz wie mein's, Sich des Bedrängten zu erbarmen. Klage, Ein Herz, wie mein’s, Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir wider Der Titanen Übermut Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverei? Hast du's nicht alles selbst vollendet Heilig glühend Herz Und glühtest jung und gut Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden dadroben Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Hast du nicht Alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal Meine Herrn und deine. Wähntest etwa Ich sollt das Leben hassen In Wüsten fliehn, Weil nicht alle Knabenmorgen Blütenträume reiften. 30 35 45 Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? 50 Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blütenträume reiften? 40 30 35 45 Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? 50 Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blütenträume reiften? 40 13 55 Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde Ein Geschlecht das mir gleich sei Zu leiden, weinen Genießen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten Wie ich! 55 Hier sitz’ ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Entstehungsjahr: vor 1778 Entstehungsjahr: vor 1779 Entstehungsjahr: vor 1779 Erscheinungsjahr: 1778 Erscheinungsjahr: 1789 Erscheinungsjahr: 1815 Fassung: Frühe Fassung: Späte Fassung: Späte Aus: Erste Weimarer Sammung Aus: Vermischte Gedichte / Zweite Sammlung Aus: Die Sammlung von 1815 / Vermischte Gedichte Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 203-204. Bemerkungen Frühe Fassung von »Prometheus« 14 55 Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 329-330. Bemerkungen Späte Fassung von »Prometheus« Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 298-300. [Frühe Fassung] 5 [Späte Fassung] Ganymed Ganymed Wie im Morgenrot Du rings mich anglühst Frühling Geliebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl, Unendliche Schöne! 5 Unendliche Schöne! Daß ich dich fassen möcht 10 10 15 In diesen Arm! Ach an deinem Busen Lieg ich, schmachte, Und deine Blumen dein Gras Drängen sich an mein Herz. Du kühlst den brennenden Durst meines Busens Lieblicher Morgenwind! Ruft drein die Nachtigall 15 Daß ich dich fassen möcht' In diesen Arm! Ach an deinem Busen Lieg' ich, schmachte, Und deine Blumen, dein Gras Drängen sich an mein Herz Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, Lieblicher Morgenwind, Ruft drein die Nachtigall Liebend nach mir aus dem Nebeltal. Liebend nach mir aus dem Nebeltal. Ich komme! Ich komme! 20 Ich komm'! ich komme! Wohin? Ach, wohin? 20 Wohin? Ach wohin? Hinauf hinauf strebts! Es schweben die Wolken Abwärts die Wolken Neigen sich der sehnenden Liebe. Mir! Mir In euerm Schoße f 25 Hinauf! Hinauf strebt's. Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken, Neigen sich der sehnenden Liebe. Mir! Mir! 15 25 Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts An deinem Busen Alliebender Vater! Entstehungsjahr: 1774 Entstehungsjahr: 1774 Erscheinungsjahr: 1778 Erscheinungsjahr: 1789 Fassung: Frühe Fassung: Späte Aus: Vermischte Gedichte / Zweite Sammlung Aus: Erste Weimarer Gedichtsamlung Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 205. 16 30 In eurem Schoße Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts an deinen Busen Alliebender Vater! Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 331. Grenzen der Menschheit 5 10 15 20 25 30 Wenn der uralte, Heilige Vater Mit gelassener Hand Aus rollenden Wolken Segnende Blitze Über die Erde sä't, Küss' ich den letzten Saum seines Kleides, Kindliche Schauer Treu in der Brust. Denn mit Göttern Soll sich nicht messen Irgend ein Mensch. Hebt er sich aufwärts, Und berührt Mit dem Scheitel die Sterne, Nirgends haften dann Die unsichern Sohlen, Und mit ihm spielen Wolken und Winde. Steht er mit festen, Markigen Knochen Auf der wohlgegründeten, Dauernden Erde; Reicht er nicht auf, Nur mit der Eiche Oder der Rebe Sich zu vergleichen. Was unterscheidet Götter von Menschen? 17 35 40 Daß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken. Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette. Entstehungsjahr: 1780 Erscheinungsjahr: 1789 Aus: Vermischte Gedichte / Zweite Sammlung Referenzausgabe: Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 332-333. 18 Johann Christoph Friedrich von Schiller Nänie Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk. 5 Nicht stillt Afrodite dem schönen Knaben die Wunde, Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt. Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt. Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, 10 Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. Entstehungsjahr: 1799 Erscheinungsjahr: 1804 Aus: Gedichte / Erster Teil. 1804 Referenzausgabe: Georg Kurscheidt: Friedrich Schiller. Werke und Briefe, Bd. 1. Deutscher Klassiker Verlag: 1992, S. 182-183. 19 Friedrich Hölderlin Hälfte des Lebens 5 10 Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm' ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Entstehungsjahr: 1802-1803 Erscheinungsjahr: ? Aus: / Gedichte 1800-1805 Referenzausgabe: Jochen Schmidt: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Gedichte und Hyperion. Insel-Verlag: 1999, S. 320. 20 Novalis (Friedrich von Hardenberg) Sehnsucht nach dem Tode 5 10 15 20 25 Hinunter in der Erde Schoß, Weg aus des Lichtes Reichen, Der Schmerzen Wut und wilder Stoß Ist froher Abfahrt Zeichen. Wir kommen in dem engen Kahn Geschwind am Himmelsufer an, Gelobt sei uns die ewge Nacht, Gelobt der ewge Schlummer. Wohl hat der Tag uns warm gemacht, Und welk der lange Kummer. Die Lust der Fremde ging uns aus, Zum Vater wollen wir nach Haus. Was sollen wir auf dieser Welt Mit unsrer Lieb und Treue. Das Alte wird hintangestellt, Was soll uns dann das Neue. O! einsam steht und tiefbetrübt, Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt. Die Vorzeit wo die Sinne licht In hohen Flammen brannten, Des Vaters Hand und Angesicht Die Menschen noch erkannten. Und hohen Sinns, einfältiglich Noch mancher seinem Urbild glich. Die Vorzeit, wo noch blütenreich 21 30 35 40 45 50 55 22 Uralte Stämme prangten, Und Kinder für das Himmelreich Nach Qual und Tod verlangten. Und wenn auch Lust und Leben sprach Doch manches Herz für Liebe brach. Die Vorzeit, wo in Jugendglut Gott selbst sich kundgegeben Und frühem Tod in Liebesmut Geweiht sein süßes Leben. Und Angst und Schmerz nicht von sich trieb, Damit er uns nur teuer blieb. Mit banger Sehnsucht sehn wir sie In dunkle Nacht gehüllet, In dieser Zeitlichkeit wird nie Der heiße Durst gestillet. Wir müssen nach der Heimat gehn, Um diese heilge Zeit zu sehn. Was hält noch unsre Rückkehr auf, Die Liebsten ruhn schon lange. Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf, Nun wird uns weh und bange. Zu suchen haben wir nichts mehr Das Herz ist satt - die Welt ist leer. Unendlich und geheimnisvoll Durchströmt uns süßer Schauer Mir deucht, aus tiefen Fernen scholl Ein Echo unsrer Trauer. Die Lieben sehnen sich wohl auch Und sandten uns der Sehnsucht Hauch. Hinunter zu der süßen Braut, 60 Zu Jesus, dem Geliebten Getrost, die Abenddämmrung graut Den Liebenden, Betrübten. Ein Traum bricht unsre Banden los Und senkt uns in des Vaters Schoß. Entstehungsjahr: 1799-1800 Erscheinungsjahr: 1800 Aus: Hymnen an die Nacht 6 Referenzausgabe: Gerhard Schulz: Novalis Werke. C. H. Beck Verlag: 3. Auflage 1987, S. 52-53. 23 Joseph Freiherr von Eichendorff Mondnacht Es war, als hätt' der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blüten-Schimmer Von ihm nun träumen müßt'. 5 Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. 10 Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. Entstehungsjahr: 1835 Erscheinungsjahr: 1987 Aus: Gedichte 1831-1836 Referenzausgabe: Hartwig Schultz (Bd. 1) / Wolfgang Frühwald (Bd. 2) / Brigitte Schillbach (Bd. 3): Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt: 1985ff., S. 322-323. Bemerkungen Erstdruck 1837 in G1 unter dem Titel »Mondnacht«, S. 391 (=DV) Das Thema 'Himmel küßt Erde' bereits bei Friedrich Logau (vgl. Artikel "Kuß" in 1DWB, Bed.: II. 3): "dieser monat ist ein kusz, den der himmel gibt der erde" 24 Heinrich Heine [Ich weiß nicht was soll es bedeuten] 5 Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. 10 Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar. 15 20 25 Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Ley getan. 25 Entstehungsjahr: 1823-1824 Erscheinungsjahr: 1968 Aus: Buch der Lieder / Die Heimkehr 2 Referenzausgabe: Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Bd. 1. Hanser Verlag, München: 1968ff, S. 107. Bemerkungen Auch bekannt unter dem Titel »Loreley« 26 [Frühe Fassung] [Späte Fassung] Die schlesischen Weber 5 10 15 20 Im düstern Auge keine Träne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben Zu dem wir gebeten mit kindlichem Glauben Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt Wir weben, wir weben! Die schlesischen Weber 5 10 Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten In Winterskälte und Hungersnöten; Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt Wir weben, wir weben! 15 Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Den unser Elend nicht konnte erweichen, Der den letzten Groschen von uns erpreßt Und uns wie Hunde erschießen läßt Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Den unser Elend nicht konnte erweichen, Der den letzten Groschen von uns erpreßt Und uns wie Hunde erschießen läßt Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Lüg und Schande, Wo nur Verwesung und Totengeruch Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch: Wir weben, wir weben! Im düstern Auge keine Träne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume früh geknickt, Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt 27 20 Wir weben, wir weben! 25 Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch, Wir weben, wir weben! Entstehungsjahr: 1844 Entstehungsjahr: 1844 Erscheinungsjahr: 1844 Erscheinungsjahr: 1968 Fassung: Frühe Fassung: Späte Aus: Nachgelesene Gedichte 1828-1844 / 3.Abschnitt:>Zeitgedichte< Aus: Nachgelesene Gedichte 1828-1844 / 3.Abschnitt: >Zeitgedichte< 2 Referenzausgabe: Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Bd. 4. Hanser Verlag, München: 1968ff, S. 969-970. Bemerkungen Erste Fassung Referenzausgabe: Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Bd. 4. Hanser Verlag, München: 1968ff, S. 455. Bemerkungen Spätere Fassung 28 Stefan George [Komm in den totgesagten park und schau] Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade · Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. 5 Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau Von birken und von buchs · der wind ist lau · Die späten rosen welkten noch nicht ganz · Erlese küsse sie und flicht den kranz · 10 Vergiss auch diese lezten astern nicht · Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht. Entstehungsjahr: 1895 Erscheinungsjahr: 1982 Aus: Das Jahr der Seele / Nach der Lese Referenzausgabe: Ohne Herausgeber: Stefan George. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 4. Klett-Cotta, Stuttgart: 1982ff., S. 12. 29 Hugo von Hofmannsthal Über Vergänglichkeit Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein, daß diese nahen Tage Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? 5 Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt. Und daß mein eigenes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind, Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. 10 Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eigenes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar. Entstehungsjahr: 1894 Erscheinungsjahr: 1984 Referenzausgabe: Eugene Weber (Bd. 1): Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 1. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main: 1984, S. 45. Bemerkungen Erstdruck in »Blätter für die Kunst« im März 1896. In anderen Ausgaben gerne als Teil I des Zyklus »Terzinen« bezeichnet 30 Rainer Maria Rilke Archaïscher Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, 5 sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. 10 Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern Entstehungsjahr: vor 1908 Erscheinungsjahr: 1986 Aus: Der neuen Gedichte anderer Teil Referenzausgabe: Ernst Zinn: Rainer Maria Rilke. Die Gedichte. Insel Verlag, Frankfurt: 1986, S. 503. 31 Jakob van Hoddis Weltende 4 10 32 Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, in allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei und an den Küsten - liest man - steigt die Flut Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken Alfred Lichtenstein Die Dämmerung Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. Der Wind hat sich in einem Baum gefangen. Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, Als wäre ihm die Schminke ausgegangen. 5 Auf lange Krücken schief herabgebückt. Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme. Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt. Ein Pferdchen stolpert über eine Dame. 10 An einem Fenster klebt ein fetter Mann. Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen. Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an. Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen. Entstehungsjahr: 1911 Erscheinungsjahr: 1989 Aus: Gedichte / Die Dämmerung Referenzausgabe: Klaus Kanzog / Hatmut Vollmer: Alfred Lichtenstein. Dichtungen. Arche Verlag, Zürich: 1989, S. 43. Bemerkungen Erstdruck 1915 in »Der Sturm« I, Nr. 55, 18.3.1911, S. 439 Dem Gedicht gegenübergestellt ist auf Seite 42 die Handschrift des Gedichtes aus Alfred Lichtensteins Gedichtheften. 33 Die Stadt Ein weißer Vogel ist der große Himmel. Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt. Die Häuser sind halbtote alte Leute. 5 Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel. Und Winde, magre Hunde, rennen matt. An scharfen Ecken quietschen ihre Häute. In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände ... Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott. 10 Drei kleine Menschen spielen Blindekuh Auf alles legt die grauen Puderhände Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott. Entstehungsjahr: 1913 Erscheinungsjahr: 1989 Aus: Gedichte / Die Dämmerung Referenzausgabe: Klaus Kanzog / Hatmut Vollmer: Alfred Lichtenstein. Dichtungen. Arche Verlag, Zürich: 1989, S. 65. Bemerkungen Erstdruck 1913 in »Die Aktion« III, Nr. 40, 4.10.1913, Sp. 945 34 Georg Heym Der Gott der Stadt Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. 5 Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal, Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. 10 15 20 Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt. Entstehungsjahr: 1910 Erscheinungsjahr: 1964 Aus: Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1912 Referenzausgabe: Karl Ludwig Schneider / Gunter Martens: Georg Heym. Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, Bd. 1. Verlag 35 Heinrich Ellermann,: 1962ff., S. 192. Bemerkungen Erstdruck in »Der ewige Tag«, Leipzig 1911 36 Der Krieg Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand. 5 In den Abendlärm der Städte fällt es weit, Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit, Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis. Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß. 10 15 20 In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht. Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht. In der Ferne [ wimmert ] ein Geläute dünn Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn. Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an. Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt, Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt. Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut, Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut. Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt, Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt. Über runder Mauern blauem Flammenschwall Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall. [ Über Toren, wo die Wächter liegen quer, Über Brücken, die von Bergen Toter schwer. ] 37 25 In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein. Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt, Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt. 30 35 40 Und mit tausend roten Zipfelmützen weit Sind die finstren Ebnen flackend überstreut, Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her, [ Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr. ] Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald, Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt. Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht In die Bäume, daß das Feuer brause recht. Eine große Stadt versank in gelbem Rauch, Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch. Aber riesig über glühnden Trümmern steht Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht, Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein, In des toten Dunkels kalten Wüstenein, Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr, Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh. Entstehungsjahr: 1911 Erscheinungsjahr: 1964 Aus: Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1912 Referenzausgabe: Karl Ludwig Schneider / Gunter Martens: Georg Heym. Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, Bd. 1. Verlag Heinrich Ellermann,: 1962ff., S. 346-347. Bemerkungen Erstdruck in »Umbra vitae«, Leipzig 1912 Die in "[ ]" gesetzten Textteile sind vom Herausgeber als unsicher angegeben, da die Handschrift nicht abschließend interpretiert werden konnte. 38 Gottfried Benn Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell 5 fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. 10 Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! Entstehungsjahr: Ca. 1912 Erscheinungsjahr: 1912 Aus: Morgue 39 Kleine Aster 5 Ein ersoffener Bierfahrer1 wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster2 zwischen die Zähne geklemmt Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, 10 muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle3, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! 15 Ruhe sanft, kleine Aster! Entstehungsjahr: Ca. 1912 Erscheinungsjahr: 1912 Aus: Morgue Anmerkungen: 1 Als „Bierfahrer“ würde man heutzutage LKW-Fahrer bezeichnen, die Bier transportieren. Damals wurde dies mit Karren gemacht. 2 Die Aster ist eine winterfeste Pflanze. Sie ist hauptsächlich in Amerika beheimatet, es gibt sie jedoch auch auf fast allen anderen Kontinenten. Sie blüt in weiß, rosa, rot, blau und lila und hat eine strahlenförmige Anordnung der Blütenblätter. Benn hat die Aster in seinem Gedicht „Kleine Aster“ literarisch unsterblich gemacht. 3 Holzwolle ist ein Baustoff, der zur Wärmeisolierung beim Hausbau verwendet wird. Wurde früher auch in Stofftieren verwendet. Holzwolle kann Wasser aufsaugen und wurde daher wahrscheinlich für Obduktionen benutzt. 40