Johann Wolfgang von Goethe

Transcrição

Johann Wolfgang von Goethe
Indirizzo Lingue e Letterature Straniere
Corso Speciale Abilitante DM 85/05
Analisi Testuale per la Lingua Tedesca - Prof. Raul Calzoni
Raccolta di liriche tedesche
Anno Accademico 2006-2007
INDICE
Lyrik………………………………………………………………………………………………....4
Johann Wolfgang von Goethe
Maifest……………………………………………………………………………………………......7
Mailied……………………………………………………………………………………………......7
Mir schlug das Herz, geschwind zu Pferde..........................................................................................9
Willkomm und Abschied [Späte Fassung] …………………………………………………….......9
Wandrers Nachtlied [Frühe Fassung]……………………………………………………………..11
Wandrers Nachtlied [Späte Fassung].…………………………………………………………….11
Prometheus [Frühe Fassung]……………………………………………………………………...12
Prometheus [Späte Fassung]……………………………………………………………………....12
Prometheus [Späte Fassung]……………………………………………………………………....12
Ganymed [Späte Fassung]…………………………………………………………………….......15
Ganymed [Frühe Fassung]……………………………………………………………………......15
Grenzen der Menschheit…………………………………………………………………………….17
Johann Christoph Friedrich von Schiller
Nänie……………………………………………………………………………………...................19
Friedrich Hölderlin
Hälfte des Lebens………………………………...…………………………………………………20
Novalis (Friedrich von Hardenberg)
Sehnsucht nach dem Tode……………………….……………………………………………….…21
Joseph Freiherr von Eichendorff
Mondnacht.............………………………………………………………………………………….24
Heinrich Heine
[Ich weiß nicht was soll es bedeuten]…………………………………………………………….…25
Die schlesischen Weber [Späte Fassung]…………………………………………………………27
Die schlesischen Weber [Frühe Fassung] ……………………………………………………...…27
Stefan George
[Komm in den totgesagten park und schau] ………………..………………………………………29
Hugo von Hofmannsthal
Über Vergänglichkeit…………………………………………………….…………………………30
2
Rainer Maria Rilke
Archaïscher Torso Apollos…………………………………………………………………………31
Jakob van Hoddis
Weltende…………..………………………………………………………………………...............32
Alfred Lichtenstein
Die Dämmerung………………………………………………………………………………….…33
Die Stadt…………………………………………………………………………………….............34
Georg Heym
Der Gott der Stadt……………………………………………………………………………….......35
Der Krieg I……………………………………………………………………………………..........37
Gottfried Benn
Schöne Jugend ...................................................................................................................................39
Kleine Aster........................................................................................................................................40
3
LYRIK
1. Typen
a) formal: Sonett, Elegie, Hymne, Epitaph, Epigramm, Ballade, Madrigal, Ode,
(Volks-)Lied.
b) inhaltlich (Genre): Liebes-, Natur-, politisches, sozialkritisches ...
Weltanschauungsgedicht, Spottgedicht, Parodie, Dinggedicht.
2. Formen
a) Struktur: Zahl der Abschnitte (Strophen), Zeilenzahl (Verse), regelmäßiger,
symmetrischer Aufbau?
b) Versformen: Distichon (Hexameter/Pentameter), Blankvers, Knittelvers,
Volksliedstrophe, Alexandriner.
3. Klänge
a) Reim: Paarreim (aabb), Kreuzreim (abab), umarmender/umschließender Reim
(abba) oder Schweifreim (aabccb), Binnenreim, ("als ob es tausend Stäbe
gäbe"), unreiner Reim (gießen/grüßen).
b) Alliteration: gleicher Anfangsbuchstabe mehrerer dicht beieinanderliegender
Wörter ("Für dich soll's rote Rosen regnen", H. Knef).
c) Assonanz: Wiederholung des gleichen Vokales: "...blühen die Blümlein auf"
d) Metrum: Jambus -/, Trochäus /-, Daktylus /--, Anapäst --/.
e) Versschlüsse (Kadenz): stumpf (Glut/Flut), klingend (Ferne/Sterne).
f) Zeilensprung (Enjambement): Nichtübereinstimmung von Zeilenlänge und
Satzgrammatik, befördert den Sprachfluss ...
4. Bilder
a) Vergleich - "Wolken ziehn wie schwere Träume" (Eichendorff: Zwielicht) /
"Uns ist so kanibalisch wohl / als wie fünfhundert Säuen" (Faust I, Auerbachs
Keller) / "Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn" (Gryphius: Abend)
b) Metonymie - ein Begriff wird durch einen anderen, ihm nahe stehenden ersetzt:
'Lorbeer' für 'Ruhm'.
c) Metaphern - Bedeutungsübertragung ohne Vergleichssignale ("Antennen
stechen in den Himmel"): Manche Metaphern werden als "schwach"
empfunden, andere als "stark" oder "kühn". Es gibt richtiggehend "tote"
Metaphern, wenn z.B. zur "Krönung des Abends" eine "Flasche geköpft" wird
oder sich die "Autoschlange" über den Asphalt "quält". Sie werden gar nicht
mehr als bildhaft wahrgenommen, eröffnen von daher auch keine
Bedeutungsfelder und Assoziationsräume mehr, sie sind eben 'tot'.
"Kühne" Metaphern sind z.B. die Oxymora (sing. Oxymoron): Das NichtZusammengehörende, ja Widersprechende, wird zusammengezwungen, ein
Sinn entsteht gerade aus dem Aufeinanderprallen des Gegensätzlichen.
Berühmtes Beispiel: "die schwarze Milch" in Paul Celans 'Todesfuge'.
Einfachere Beispiele: "kleiner Riese", "weißer Rabe", "hübsch-hässliches
Fräulein", "herbe Schönheit", "Plastikglas".
4
d) Synästhesien sind auch solche "kühne" Metaphern: Zwei oder mehr
Sinnesbereiche werden zusammengezwungen (gerne in der Romantik
verwendet, hier aus Brentanos Abendständchen"):
Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen, ...
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.
e) Allegorie - Darstellung eines abstrakten Begriffes durch ein Bild, häufig in
Form einer Personifikation, z.B. Justitia als Versinnbildlichung von Recht und
Gerechtigkeit; die apokalyptischen Reiter Ritter, Tod, Pest ....
f) Symbol - Bild für etwas allen gleichermaßen Bekanntes (das Kreuz für
Christentum, der Halbmond...)
g) Personifikation - "Gelassen stieg die Nacht ans Land"(Mörike: Um
Mitternacht)
h) Animation - "Dämmrung will die Flügel spreiten" (Eichendorff: Zwielicht)
5. Motive
a) Gibt es Hauptmotive, Schlüsselmotive, vorherrschende Bewegungsabläufe?
b) Aus welchen Erfahrungs- Wirklichkeitsbereichen sind sie gewählt?
c) Wie fügen sich die einzelnen Motivbereiche zusammen: Antithetisch,
steigernd, als Aneinanderreihung?
Arbeitsschritte
1. Schritt: Erfassen der Aufgabenstellung
2. Schritt: Lektüre des Textes und Formulierung einer kurzen inhaltlichen
Zusammenfassung sowie einer Arbeitshypothese bzw. eines ersten
Sinnentwurfs.
3. Schritt: systematische Bearbeitung des Textes und Erarbeitung aller für die
Interpretation wichtigen Textkonstituenten unter Berücksichtigung der
Aufgabenstellung.
4. Schritt: Aufgreifen „außertextlicher“ Informationen für die Analyse.
5. Schritt: Integration der bisher gewonnen Ergebnisse, Überprüfung der
Arbeitshypothese, Formulierung eines Deutungsansatzes, begründete
Bewertung (Erörterung).
6. Schritt: Entwicklung einer Gliederung des Interpretationsaufsatzes.
5
6
Johann Wolfgang von Goethe
[Frühe Fassung]
5
[Späte Fassung]
Maifest
Mailied
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
5
Aus jedem Zweig,
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch,
10
15
20
Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd o Sonne
O Glück o Lust!
O Lieb' o Liebe,
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn;
Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.
O Mädchen Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig,
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch,
10
15
20
Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd'! o Sonne!
O Glück! o Lust!
O Lieb'! o Liebe!
So golden-schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn!
Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
7
Wie blinkt dein Auge!
Wie liebst du mich!
25
30
35
So liebt die Lerche
25
So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmels Duft,
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,
Wie ich dich liebe
Mit warmen Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut
Wie ich dich liebe
Mit warmen Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud' und Mut
Zu neuen Liedern,
Und Tänzen gibst!
Sei ewig glücklich
Wie du mich liebst!
30
35
Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!
Entstehungsjahr: vor 1775
Entstehungsjahr: vor 1776
Erscheinungsjahr: 1775
Erscheinungsjahr: 1789
Fassung:
Frühe
Fassung:
Späte
Aus:
Gelegenheiten / StraßburgSessenheim
Aus:
Vermischte Gedichte
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1.
Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 129-130.
Bemerkungen
Erstdruck in »Iris«, Bd 2, I
Frühe Fassung von »Mailied«
8
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd.
1. Deutscher Klassiker-Verlag: 1987, S. 287288.
Bemerkungen
Späte Fassung von »Maifest«
Frühe Fassung]
[Späte Fassung]
Mir schlug das Herz, geschwind
zu Pferde
5
10
15
20
25
Mir schlug das Herz; geschwind zu
Pferde,
Und fort, wild, wie ein Held zur Schlacht!
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stund im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von seinem Wolkenhügel
Schien kläglich aus dem Duft hervor;
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer Doch tausendfacher war mein Mut;
Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.
Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich.
Ganz war mein Herz an deiner Seite,
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbes Frühlings Wetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!
Ich hofft' es, ich verdient' es nicht.
Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen, welche Liebe,
Willkomm und Abschied
5
10
15
20
25
Es schlug mein Herz, geschwind zu
Pferde!
Es war getan fast eh' gedacht;
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht:
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsaus'ten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer;
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich,
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft' es, ich verdient' es nicht!
Doch ach! schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen, welche Wonne!
In deinem Auge, welcher Schmerz!
9
30
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund, und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick;
Und doch, welch Glück! geliebt zu
werden,
Und lieben, Götter, welch ein Glück.
Entstehungsjahr: 1771
Entstehungsjahr: 1771
Erscheinungsjahr: 1775
Erscheinungsjahr: 1789
Fassung:
Fassung:
Frühe
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd.
1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 128-129.
10
30
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück geliebt zu
werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Späte
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd.
1. Klassiker-Verlag: 1987, S. 283.
[Frühe Fassung]
5
[Späte Fassung]
Wandrers Nachtlied
Wandrers Nachtlied
Der du von dem Himmel bist
Alle Freud und Schmerzen
stillest,
Den der doppelt elend ist
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust.
Süßer Friede,
Komm ach komm in meine
Brust!
Der du vom Himmel bist
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach! ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede!
Komm, ach komm in meine Brust!
5
Am Hang des Ettersberg
d. 12. Febr. 76
G.
10
Entstehungsjahr: 1776
Entstehungsjahr: 1776
Erscheinungsjahr: 1780
Erscheinungsjahr: 1789
Fassung:
Frühe
Fassung:
Späte
Aus:
Persönlicher Kreis /
Frau von Stein
Aus:
Vermischte Gedichte / Erste Sammlung
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe.
Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher
und Gespräche, Bd. 1. KlassikerVerlag: 1987, S. 229.
Bemerkungen
Erstdruck »Christliches Magazin«, hg.
v. J. C.Pfenninger, Bd. 3, I. Stück,
Zürich 1780, dort noch unter dem Titel
»Um Frieden«.
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke,
Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Deutscher
Klassiker-Verlag: 1987, S. 300.
Bemerkungen
Entgegen der landläufigen Interpretation ist folgende Idee
aufgekommen:
Die ersten vier Verse des Gedichtes beschreiben den
Menschen in dem ewigen Hin und Her von Leid und
Schmerz auf der einen Seite und der göttlichen
Erquickung auf der anderen Seite. In den folgenden vier
Versen wird mit »Treiben« auf dieses Oszillieren
verwiesen. Der Ausweg aus dem Fallen und von GottAufgerichtet-Werden soll durch den Frieden endlich vom
lyrischen Ich genommen werden. Der Friede als nicht
transzendente Macht enthebt sozusagen in ein gefühlloses
Nirvana und befreit den Menschen und Gott aus der
Pflicht.
11
[Frühe Fassung]
5
10
15
20
25
12
[Späte Fassung]
[Späte Fassung]
Prometheus
Prometheus
Prometheus
Bedecke deinen Himmel
Zeus
Mit Wolkendunst!
Und übe Knabengleich
Der Disteln köpft
An Eichen dich und
Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Bedecke deinen Himmel,
Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben
gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und
Bergeshöhn;
Müßt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte, die du
nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Bedecke deinen Himmel,
Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben
gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und
Bergeshöhn;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte, die du
nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts ärmers
Unter der Sonn als euch
Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war
Nicht wußt wo aus wo
ein
Kehrt ich mein verirrtes
Aug
Zur Sonne als wenn
drüber wär
Ein Ohr zu hören meine
Klage
5
10
15
20
25
Ich kenne nichts ärmers
Unter der Sonn' als euch,
Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte wo aus noch
ein,
Kehrt' ich mein verirrtes
Auge
Zur Sonne, als wenn
drüber wär'
Ein Ohr zu hören meine
5
10
15
20
25
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn’, als euch,
Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte wo aus noch
ein,
Kehrt’ ich mein verirrtes
Auge
Zur Sonne, als wenn
drüber wär’
Ein Ohr, zu hören meine
30
35
40
45
50
Klage
Ein Herz wie meins
Sich des Bedrängten zu
erbarmen.
Klage,
Ein Herz wie mein's,
Sich des Bedrängten zu
erbarmen.
Klage,
Ein Herz, wie mein’s,
Sich des Bedrängten zu
erbarmen.
Wer half mir wider
Der Titanen Übermut
Wer rettete vom Tode
mich
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles
selbst vollendet
Heilig glühend Herz
Und glühtest jung und
gut
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden
dadroben
Wer half mir
Wider der Titanen
Übermut?
Wer rettete vom Tode
mich
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst
vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und
gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da
droben?
Wer half mir
Wider der Titanen
Übermut?
Wer rettete vom Tode
mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht Alles selbst
vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da
droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen
gelindert
Je des Beladenen
Hast du die Tränen
gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum
Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal
Meine Herrn und deine.
Wähntest etwa
Ich sollt das Leben
hassen
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle
Knabenmorgen
Blütenträume reiften.
30
35
45
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen
gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen
gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum
Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
50
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben
hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?
40
30
35
45
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen
gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen
gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum
Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
50
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben
hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?
40
13
55
Hier sitz ich, forme
Menschen
Nach meinem Bilde
Ein Geschlecht das mir
gleich sei
Zu leiden, weinen
Genießen und zu freuen
sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich!
55
Hier sitz’ ich, forme
Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir
gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu
freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Entstehungsjahr: vor 1778
Entstehungsjahr: vor 1779
Entstehungsjahr: vor 1779
Erscheinungsjahr: 1778
Erscheinungsjahr: 1789
Erscheinungsjahr: 1815
Fassung:
Frühe
Fassung:
Späte
Fassung:
Späte
Aus:
Erste
Weimarer
Sammung
Aus:
Vermischte
Gedichte /
Zweite
Sammlung
Aus:
Die
Sammlung
von 1815 /
Vermischte
Gedichte
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang
Goethe. Sämtliche Werke,
Briefe, Tagebücher und
Gespräche, Bd. 1. Deutscher
Klassiker-Verlag: 1987, S.
203-204.
Bemerkungen
Frühe Fassung von
»Prometheus«
14
55
Hier sitz' ich, forme
Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir
gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu
freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang
Goethe. Sämtliche Werke,
Briefe, Tagebücher und
Gespräche, Bd. 1. Deutscher
Klassiker-Verlag: 1987, S.
329-330.
Bemerkungen
Späte Fassung von
»Prometheus«
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang
Goethe. Sämtliche Werke,
Briefe, Tagebücher und
Gespräche, Bd. 2. Deutscher
Klassiker-Verlag: 1987, S.
298-300.
[Frühe Fassung]
5
[Späte Fassung]
Ganymed
Ganymed
Wie im Morgenrot
Du rings mich anglühst
Frühling Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl
Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
5
Unendliche Schöne! Daß ich dich
fassen möcht
10
10
15
In diesen Arm! Ach an deinem Busen
Lieg ich, schmachte,
Und deine Blumen dein Gras
Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
15
Daß ich dich fassen möcht'
In diesen Arm!
Ach an deinem Busen
Lieg' ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind,
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.
Liebend nach mir aus dem Nebeltal. Ich
komme! Ich komme!
20
Ich komm'! ich komme!
Wohin? Ach, wohin?
20
Wohin? Ach wohin? Hinauf hinauf
strebts!
Es schweben die Wolken
Abwärts die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir
In euerm Schoße
f
25
Hinauf! Hinauf strebt's.
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken,
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
15
25
Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts
An deinem Busen
Alliebender Vater!
Entstehungsjahr: 1774
Entstehungsjahr: 1774
Erscheinungsjahr: 1778
Erscheinungsjahr: 1789
Fassung:
Frühe
Fassung:
Späte
Aus:
Vermischte Gedichte /
Zweite Sammlung
Aus:
Erste Weimarer
Gedichtsamlung
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe.
Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und
Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag: 1987, S.
205.
16
30
In eurem Schoße
Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen
Alliebender Vater!
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1.
Klassiker-Verlag: 1987, S. 331.
Grenzen der
Menschheit
5
10
15
20
25
30
Wenn der uralte,
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Über die Erde sä't,
Küss' ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust.
Denn mit Göttern
Soll sich nicht messen
Irgend ein Mensch.
Hebt er sich aufwärts,
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.
Steht er mit festen,
Markigen Knochen
Auf der wohlgegründeten,
Dauernden Erde;
Reicht er nicht auf,
Nur mit der Eiche
Oder der Rebe
Sich zu vergleichen.
Was unterscheidet
Götter von Menschen?
17
35
40
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.
Entstehungsjahr: 1780
Erscheinungsjahr: 1789
Aus:
Vermischte Gedichte / Zweite Sammlung
Referenzausgabe:
Karl Eibl: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1. Klassiker-Verlag:
1987, S. 332-333.
18
Johann Christoph Friedrich von Schiller
Nänie
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
5 Nicht stillt Afrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
10 Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
Entstehungsjahr: 1799
Erscheinungsjahr: 1804
Aus:
Gedichte / Erster Teil. 1804
Referenzausgabe:
Georg Kurscheidt: Friedrich Schiller. Werke und Briefe, Bd. 1. Deutscher Klassiker Verlag: 1992, S. 182-183.
19
Friedrich Hölderlin
Hälfte des
Lebens
5
10
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Entstehungsjahr: 1802-1803
Erscheinungsjahr: ?
Aus:
/ Gedichte 1800-1805
Referenzausgabe:
Jochen Schmidt: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Gedichte und Hyperion. Insel-Verlag: 1999, S. 320.
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Novalis (Friedrich von Hardenberg)
Sehnsucht nach dem
Tode
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Hinunter in der Erde Schoß,
Weg aus des Lichtes Reichen,
Der Schmerzen Wut und wilder Stoß
Ist froher Abfahrt Zeichen.
Wir kommen in dem engen Kahn
Geschwind am Himmelsufer an,
Gelobt sei uns die ewge Nacht,
Gelobt der ewge Schlummer.
Wohl hat der Tag uns warm gemacht,
Und welk der lange Kummer.
Die Lust der Fremde ging uns aus,
Zum Vater wollen wir nach Haus.
Was sollen wir auf dieser Welt
Mit unsrer Lieb und Treue.
Das Alte wird hintangestellt,
Was soll uns dann das Neue.
O! einsam steht und tiefbetrübt,
Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt.
Die Vorzeit wo die Sinne licht
In hohen Flammen brannten,
Des Vaters Hand und Angesicht
Die Menschen noch erkannten.
Und hohen Sinns, einfältiglich
Noch mancher seinem Urbild glich.
Die Vorzeit, wo noch blütenreich
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Uralte Stämme prangten,
Und Kinder für das Himmelreich
Nach Qual und Tod verlangten.
Und wenn auch Lust und Leben sprach
Doch manches Herz für Liebe brach.
Die Vorzeit, wo in Jugendglut
Gott selbst sich kundgegeben
Und frühem Tod in Liebesmut
Geweiht sein süßes Leben.
Und Angst und Schmerz nicht von sich trieb,
Damit er uns nur teuer blieb.
Mit banger Sehnsucht sehn wir sie
In dunkle Nacht gehüllet,
In dieser Zeitlichkeit wird nie
Der heiße Durst gestillet.
Wir müssen nach der Heimat gehn,
Um diese heilge Zeit zu sehn.
Was hält noch unsre Rückkehr auf,
Die Liebsten ruhn schon lange.
Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf,
Nun wird uns weh und bange.
Zu suchen haben wir nichts mehr Das Herz ist satt - die Welt ist leer.
Unendlich und geheimnisvoll
Durchströmt uns süßer Schauer Mir deucht, aus tiefen Fernen scholl
Ein Echo unsrer Trauer.
Die Lieben sehnen sich wohl auch
Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.
Hinunter zu der süßen Braut,
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Zu Jesus, dem Geliebten Getrost, die Abenddämmrung graut
Den Liebenden, Betrübten.
Ein Traum bricht unsre Banden los
Und senkt uns in des Vaters Schoß.
Entstehungsjahr: 1799-1800
Erscheinungsjahr: 1800
Aus:
Hymnen an die Nacht 6
Referenzausgabe:
Gerhard Schulz: Novalis Werke. C. H. Beck Verlag: 3. Auflage 1987, S. 52-53.
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Joseph Freiherr von Eichendorff
Mondnacht
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüten-Schimmer
Von ihm nun träumen müßt'.
5
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
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Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Entstehungsjahr: 1835
Erscheinungsjahr: 1987
Aus:
Gedichte 1831-1836
Referenzausgabe:
Hartwig Schultz (Bd. 1) / Wolfgang Frühwald (Bd. 2) / Brigitte Schillbach (Bd. 3): Joseph von Eichendorff. Werke in
sechs Bänden, Bd. 1. Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt: 1985ff., S. 322-323.
Bemerkungen
Erstdruck 1837 in G1 unter dem Titel »Mondnacht«, S. 391 (=DV)
Das Thema 'Himmel küßt Erde' bereits bei Friedrich Logau (vgl. Artikel "Kuß" in 1DWB, Bed.: II. 3): "dieser monat ist
ein kusz, den der himmel gibt der erde"
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Heinrich Heine
[Ich weiß nicht was soll es
bedeuten]
5
Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
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Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
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Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
25
Entstehungsjahr: 1823-1824
Erscheinungsjahr: 1968
Aus:
Buch der Lieder / Die Heimkehr 2
Referenzausgabe:
Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Bd. 1. Hanser Verlag, München: 1968ff, S. 107.
Bemerkungen
Auch bekannt unter dem Titel »Loreley«
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[Frühe Fassung]
[Späte Fassung]
Die schlesischen Weber
5
10
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Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die
Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem
tauben
Zu dem wir gebeten mit kindlichem Glauben
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt Wir weben, wir weben!
Die schlesischen Weber
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Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir
gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und
geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und
genarrt Wir weben, wir weben!
15
Ein Fluch dem König, dem König
der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte
erweichen,
Der den letzten Groschen von uns
erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der
Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Lüg und Schande,
Wo nur Verwesung und Totengeruch Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch:
Wir weben, wir weben!
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und
fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein
Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen
Fluch Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und
Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm
erquickt 27
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Wir weben, wir weben!
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Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl
kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht Altdeutschland, wir weben dein
Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen
Fluch,
Wir weben, wir weben!
Entstehungsjahr: 1844
Entstehungsjahr: 1844
Erscheinungsjahr: 1844
Erscheinungsjahr: 1968
Fassung:
Frühe
Fassung:
Späte
Aus:
Nachgelesene Gedichte 1828-1844
/ 3.Abschnitt:>Zeitgedichte<
Aus:
Nachgelesene Gedichte
1828-1844 /
3.Abschnitt:
>Zeitgedichte< 2
Referenzausgabe:
Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke,
Bd. 4. Hanser Verlag, München: 1968ff, S. 969-970.
Bemerkungen
Erste Fassung
Referenzausgabe:
Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche
Werke, Bd. 4. Hanser Verlag, München:
1968ff, S. 455.
Bemerkungen
Spätere Fassung
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Stefan George
[Komm in den totgesagten park und
schau]
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade ·
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
5
Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau
Von birken und von buchs · der wind ist
lau ·
Die späten rosen welkten noch nicht ganz ·
Erlese küsse sie und flicht den kranz ·
10
Vergiss auch diese lezten astern nicht ·
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem
leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
Entstehungsjahr: 1895
Erscheinungsjahr: 1982
Aus:
Das Jahr der Seele / Nach der Lese
Referenzausgabe:
Ohne Herausgeber: Stefan George. Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 4. Klett-Cotta, Stuttgart: 1982ff., S. 12.
29
Hugo von Hofmannsthal
Über
Vergänglichkeit
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
5
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
Und daß mein eigenes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind,
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.
10
Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eigenes Haar,
So eins mit mir als wie mein eignes Haar.
Entstehungsjahr: 1894
Erscheinungsjahr: 1984
Referenzausgabe:
Eugene Weber (Bd. 1): Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 1. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main: 1984, S. 45.
Bemerkungen
Erstdruck in »Blätter für die Kunst« im März 1896. In anderen Ausgaben gerne als Teil I des Zyklus »Terzinen«
bezeichnet
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Rainer Maria Rilke
Archaïscher Torso
Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
5
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
10
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern
Entstehungsjahr: vor 1908
Erscheinungsjahr: 1986
Aus:
Der neuen Gedichte anderer Teil
Referenzausgabe:
Ernst Zinn: Rainer Maria Rilke. Die Gedichte. Insel Verlag, Frankfurt: 1986, S. 503.
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Jakob van Hoddis
Weltende
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Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten - liest man - steigt die Flut
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken
Alfred Lichtenstein
Die
Dämmerung
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
5
Auf lange Krücken schief herabgebückt.
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
10
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
Entstehungsjahr: 1911
Erscheinungsjahr: 1989
Aus:
Gedichte / Die Dämmerung
Referenzausgabe:
Klaus Kanzog / Hatmut Vollmer: Alfred Lichtenstein. Dichtungen. Arche Verlag, Zürich: 1989, S. 43.
Bemerkungen
Erstdruck 1915 in »Der Sturm« I, Nr. 55, 18.3.1911, S. 439
Dem Gedicht gegenübergestellt ist auf Seite 42 die Handschrift des Gedichtes aus Alfred Lichtensteins Gedichtheften.
33
Die
Stadt
Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.
Die Häuser sind halbtote alte Leute.
5
Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel.
Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.
In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände ...
Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.
10
Drei kleine Menschen spielen Blindekuh Auf alles legt die grauen Puderhände
Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.
Entstehungsjahr: 1913
Erscheinungsjahr: 1989
Aus:
Gedichte / Die Dämmerung
Referenzausgabe:
Klaus Kanzog / Hatmut Vollmer: Alfred Lichtenstein. Dichtungen. Arche Verlag, Zürich: 1989, S. 65.
Bemerkungen
Erstdruck 1913 in »Die Aktion« III, Nr. 40, 4.10.1913, Sp. 945
34
Georg Heym
Der Gott der
Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
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Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knien um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
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Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Entstehungsjahr: 1910
Erscheinungsjahr: 1964
Aus:
Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1912
Referenzausgabe:
Karl Ludwig Schneider / Gunter Martens: Georg Heym. Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, Bd. 1. Verlag
35
Heinrich Ellermann,: 1962ff., S. 192.
Bemerkungen
Erstdruck in »Der ewige Tag«, Leipzig 1911
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Der
Krieg
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
5
In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.
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In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne [ wimmert ] ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.
Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.
Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.
Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
[ Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer. ]
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In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.
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Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
[ Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr. ]
Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.
Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,
Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.
Entstehungsjahr: 1911
Erscheinungsjahr: 1964
Aus:
Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1912
Referenzausgabe:
Karl Ludwig Schneider / Gunter Martens: Georg Heym. Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, Bd. 1. Verlag
Heinrich Ellermann,: 1962ff., S. 346-347.
Bemerkungen
Erstdruck in »Umbra vitae«, Leipzig 1912
Die in "[ ]" gesetzten Textteile sind vom Herausgeber als unsicher angegeben, da die Handschrift nicht abschließend
interpretiert werden konnte.
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Gottfried Benn
Schöne
Jugend
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
5
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
10
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
Entstehungsjahr: Ca. 1912
Erscheinungsjahr: 1912
Aus:
Morgue
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Kleine
Aster
5
Ein ersoffener Bierfahrer1 wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster2
zwischen die Zähne geklemmt
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
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muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle3,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
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Ruhe sanft,
kleine Aster!
Entstehungsjahr: Ca. 1912
Erscheinungsjahr: 1912
Aus:
Morgue
Anmerkungen:
1 Als „Bierfahrer“ würde man heutzutage LKW-Fahrer bezeichnen, die Bier transportieren. Damals wurde dies mit
Karren gemacht.
2 Die Aster ist eine winterfeste Pflanze. Sie ist hauptsächlich in Amerika beheimatet, es gibt sie jedoch auch auf fast
allen anderen Kontinenten. Sie blüt in weiß, rosa, rot, blau und lila und hat eine strahlenförmige Anordnung der
Blütenblätter. Benn hat die Aster in seinem Gedicht „Kleine Aster“ literarisch unsterblich gemacht.
3 Holzwolle ist ein Baustoff, der zur Wärmeisolierung beim Hausbau verwendet wird. Wurde früher auch in Stofftieren
verwendet. Holzwolle kann Wasser aufsaugen und wurde daher wahrscheinlich für Obduktionen benutzt.
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