Charles Darwin - Themen der Zeit

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Charles Darwin - Themen der Zeit
C h arle s D ar win
1809-1882
Eine B etra chtun g von C hri stoph S c h o eller
Schloss Hamborn, im November 2003
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Inhaltsangabe
Leben und Werk
Seite 5
Die Entstehung der Arten
Die Abstammung des Menschen
Mein Leben
Seite 18
Seite 25
Seite 36
Schlussbetrachtung
Seite 44
Zeittafel
Seite 49
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„Das geistige Leben der Gegenwart hätte eine völlig andere Physiognomie, wenn in diesem Jahrhundert zwei
Bücher nicht erschienen wären: Darwins ‚Entstehung der
Arten’ und Lyells ‚Prinzipien der Geologie’. Anders, als
sie es tun, sprächen die Professoren in den Hörsälen der
Universitäten über viele Dinge, anders als es ist, wäre
das religiöse Bewußtsein der gebildeten Menschheit, andere Ideen, als die wir aus ihnen vernehmen, hätte Ibsen
in seinen Dramen verkörpert, wenn Darwin und Lyell
nicht gelebt hätten.“
Rudolf Steiner 1897
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Leben und Werk
Charles Darwin wurde am 12. Februar 1809 als fünftes
von sechs Kindern in Shrewsbury (Westengland) geboren. Sein Vater war eine hervorragende Persönlichkeit.
Von stattlicher äußerer Statur war er zugleich ein begnadeter und anerkannter Arzt. Charles bezeichnete ihn später als den weisesten Mann, den ich je gekannt habe.
Auch sein Großvater väterlicherseits – Erasmus Darwin –
war ein bedeutender Arzt und Naturforscher gewesen. Er
hatte sich als einer der ersten Forscher in seiner ‚Zoonomie’ mit der natürlichen Evolutionslehre befasst und
schon Gedanken vorweggenommen, die Charles Darwin
später weitergeführt hat.
Die Mutter verstarb früh. – Charles war gerade 8 Jahre
alt. Aus der gegen Ende seines Lebens verfassten Autobiographie (1876) geht hervor, dass ihm besonders das
Bild ihres Sterbelagers und des schwarzen Samtkleides,
das sie trug, im Gedächtnis geblieben ist.
Andere, bemerkenswerte Begebenheiten aus seiner
Kindheit tauchen im Lebensrückblick vor Darwins selbstkritischen Auge auf:
So erinnert er sich daran, daß er sich schon früh für die
Variabilität von Pflanzen interessierte. Jedenfalls erzählte
ich einem anderen kleinen Jungen, ... ich könnte Primeln
und Schlüsselblumen durch Begießen mit bestimmten
farbigen Flüssigkeiten verschieden einfärben. Das war
natürlich reine Erfindung...
Desweiteren bekennt er, daß er überhaupt die Neigung
hatte, unwahre Geschichten zu erfinden.
Besonders bemerkenswert erscheint auch die von ihm
selbst hervorgehobene Tatsache eines starken Sammeltriebs... Ich sammelte alles Mögliche: Muscheln, Siegel,
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Briefumschläge, Münzen und Mineralien. Wichtig bei den
Pflanzen war ihm vor allem, deren Namen festzustellen.
Einmal hatte Darwin in dieser Zeit ein Nahtoderlebnis. In
seinem späteren Lebensrückblick schildert er es in folgender Weise: Einmal ging ich auf dem Rückweg von der
Schule auf der alten Stadtmauer entlang, die Shrewsbury
umschließt. Der ehemalige Wehrgang war in einen öffentlichen Fußweg umgewandelt, hatte aber auf der
einen Seite keine Brüstung; ich achtete in meiner Versunkenheit nicht darauf, trat daneben und fiel von der
Mauer... Mir schossen während dieses sehr kurzen, doch
ganz und gar unerwarteten Falls erstaunlich viele Gedanken durch den Kopf; eine solche Vielzahl scheint kaum
verträglich mit dem, was Physiologen wohl überzeugend
bewiesen haben, daß nämlich jeder Gedanke seine meßbare Zeit braucht. –
Charles Darwin wurde im konfessionell gebundenen
Rahmen der Unitariergemeinde christlich-religiös erzogen. Das Beten war ihm nicht fremd und hat ihm in
ängstlichen Augenblicken vermeintlich auch geholfen.
Als Kind wurde er gleichzeitig hineingezwungen in eine
klassisch-humanistische Bildung, obwohl er sich lieber
mit Naturkunde beschäftigte.
Seinen in dieser Richtung gehenden Interessen schaffte
er Raum, indem er sich mit seinem Bruder im Geräteschuppen des elterlichen Gartens ein chemisches Laboratorium einrichtete. Diese Tatsache trug ihm bei seinen
Klassenkameraden den Spitznamen „gas“ ein.
Besonders hervorzuheben ist noch Darwins Jagdleidenschaft, die zumindest in der Jugend alle anderen Neigungen übertraf. Er selbst äußerte sich dazu in seinem Lebensrückblick: In der letzten Zeit meines Schullebens
wurde ich ein leidenschaftlicher Liebhaber vom Schießen. Ich glaube, niemand hätte für die heiligste Sache
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mehr Eifer zeigen können, als ich für das Schießen von
Vögeln hatte.
Charles war ein mittelmäßiger Schüler, da er aber sehr
gewissenhaft war, machte es ihn sehr betroffen, als ihm
sein Vater einmal sagte: Außer Schießen, Hunden und
Rattenfangen hast Du nichts im Kopf. Du wirst noch zur
Schande für Dich selbst und die ganze Familie.
Schließlich verließ Charles auf Drängen seines Vaters
vorzeitig die Schule und begann – was damals in England möglich war und gleichzeitig der Familientradition
entsprach, - mit 16 Jahren (1825) ein Medizinstudium in
Edinburgh.
Die Vorlesungen fand er fast ausnahmslos unerträglich
langweilig. Außerdem sah er zwei schlimme Operationen, sodass er weglaufen musste, bevor sie zu Ende waren. Mehr interessierte Darwin die Zoologie und er begleitete einen seiner Lehrer des öfteren zu Ausflügen ans
Meer. Dort, in den Ebbetümpeln, machte er seine erste
kleine naturwissenschaftliche Entdeckung: Er fand nämlich heraus, dass mikroskopisch kleine, rundliche Formen
nicht wie – bisher angenommen – Eier von Flustra waren, sondern dass es sich um bewimperte Wesen, also
um Larven handelte. Diesen Fund verdankte Darwin vor
allem seiner guten Beobachtungsgabe.
Seine Lehrer wurden auf ihn aufmerksam, und er wurde
als Mitglied in die Royal Medical Society aufgenommen,
an deren Sitzungen er fortan regelmäßig teilnahm.
Die Entscheidung zu Darwins nächstem Lebensschritt
ging wiederum von seinem Vater aus. Als dieser bemerkte, dass sein Sohn wohl nicht den Weg zum Arztberuf finden würde, schlug er ihm vor, Pfarrer zu werden. Da
Charles Darwin – wie er später selber schreibt – damals
nicht den mindesten Zweifel daran hatte, dass jedes
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Wort in der Bibel in strengem Sinn und buchstäblich wahr
sei, ging er schließlich, nach einiger Überlegung, auf den
Rat seines Vaters ein und begann mit 19 Jahren in Cambridge Theologie zu studieren.
Im Lebensrückblick von 1876 bezeichnet er diese Entscheidung allerdings als spaßhaft und stellt fest, dass
auch diese Berufswahl nach 4 Jahren eines natürlichen
Todes – d.h. ohne die Anzeichen eines inneren Kampfes
– gestorben sei.
Vor allem in dieser Zeit fand Darwin auch Zugang zur bildenden Kunst und Musik. Obwohl er selbst kein Instrument spielte und nicht richtig die Stimme halten konnte,
war er doch oft beim Anhören eines Chorgesangs bis ins
Mark erschauert, ja manchmal engagierte er die Chorknaben sogar zu einem Konzert in seiner Wohnung.
Nebenher aber betrieb Darwin weiter seine naturkundlichen Studien; besonders leidenschaftlich sammelte er
Käfer; dabei interessierten ihn nicht so sehr höhere Gesichtspunkte als vor allem der Seltenheitswert seiner Objekte. Zum Sammeln stellte er auch noch einen Mitarbeiter ein.
Einer seiner Lehrer an der Universität – Henslow – war
glücklicherweise zugleich Theologe und Botaniker; mit
ihm unternahm Darwin Beobachtungsausflüge in die Natur, und beide Männer wurden bald enge Freunde.
In dieser Zeit las Darwin mit großer Begeisterung Humboldts Reisebeschreibungen, welche in ihm den Wunsch
erweckten, selbst einen, wenn auch nur bescheidenen,
Beitrag für die weitere Erforschung der Naturreiche zu
liefern.
Außerdem erwachte nun sein Interesse an der Geologie.
Auch hier schloss er sich einem bedeutenden Lehrer an.
Als er wenig später von einer geologischen Exkursion
aus Wales nach Cambridge zurückkehrte, fand er dort
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einen Brief Henslows vor, dessen Inhalt ihm wie ein Ruf
des Schicksals erschien, und der die entscheidende
Wende in sein Leben brachte.
Henslow fragte Darwin, ob er bereit wäre, eine, an sich
als Vermessungsfahrt nach Südamerika und Feuerland
geplante, Seereise als Naturforscher zu begleiten, denn
er – Henslow – hielte Darwin für die „bestqualifizierte
Person“, vor allem weil er die Fähigkeit besäße „zu sammeln“, „zu beobachten und alles aufzuzeichnen“.
Darwin fühlte sich zutiefst angesprochen. Doch wieder
trat zunächst sein Vater auf den Plan und versagte seine
Zustimmung. Nur unter einer Bedingung war dieser bereit, sie zu geben, nämlich wenn er – Charles Darwin –
„auch nur einen Mann mit gesundem Menschenverstand
fände, der ihm riete mitzufahren.“ Noch ist Charles unschlüssig, ja bereit, von seinem Wunsch Abstand zu nehmen, denn der Umstand, daß es mein Vater nicht gerne
sieht, würde mir alle Energie rauben. So schrieb er noch
am selben Abend und lehnte das Angebot ab; doch dann
half das Schicksal nach; es fand sich der Mensch mit
dem „gesunden Menschenverstand“. Es war sein Onkel,
Josiah Wedgwood. Durch dessen Fürsprache wendete
sich das Blatt und Charles stand nun der Weg in die Welt
offen. Nach einiger Zeit zermürbenden Wartens stach die
„Beagle“ am 27. Dezember 1831 endlich von Plymouth
aus in See.
Darwin selbst bezeichnet diese Reise später als bei weitem das wichtigste Ereignis in meinem Leben. Es hat
meine ganze Laufbahn bestimmt.
Er selbst war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Auf engstem Raum waren nun für die Zeit von etwa 5 Jahren 66
Menschen auf dem Dreimaster zusammengedrängt. Darwin musste mit dem Kapitän Fitz Roy dessen Kajüte teilen, aber er machte aus der Not eine Tugend und notier9
te: Alles ist so dicht bei der Hand... man wird so methodisch, daß ich auf die Länge nur der Gewinnende bin.
Obwohl Darwin stark an Seekrankheit litt, mikroskopierte
er an Bord und betrieb botanische und geologische Studien. Schon auf den Kapverdischen Inseln, der ersten
Haltestation, machte er sich mit dem Geologenhammer
auf den Weg.
Am 28. Februar 1832 erreichte die Expedition Brasilien.
Vor allem beim Anblick des tropischen Regenwaldes geriet Darwins Seele in einen wahren Sturmwind des Entzückens und Erstaunens. Es ist unmöglich – so schreibt
er in seinem späteren Reisebericht – eine einigermaßen
entsprechende Idee jener höheren Gefühle der Bewunderung, des Erstaunens und der Andacht zu geben, welche die Seele des Reisenden erfüllen und erheben.
Ganz in der Empfindung lebte Darwin in dieser Zeit.
An Land unternahm er die verschiedensten Entdeckungsreisen, deren äußeres Ergebnis eine gewaltige
Sammlung von Steinen, Pflanzen und Tieren ist. Die Begegnung mit den Menschen, besonders mit den Sklaven,
hinterließ einen tiefen Eindruck in seiner Seele. Sein
Freiheitsempfinden wurde dabei auf eine harte Probe gestellt, entdeckte er doch auf klare Weise gerade in den
unterdrückten Schwarzen das zutief Menschliche:
Es ist unmöglich einen ‚Neger’ zu sehen und nicht
freundlich gegen ihn gestimmt zu sein: ein so gemütvoller, offener, ehrlicher Ausdruck... Auch bewunderte er
ihre schönen Körper. Aus tiefstem Herzen brach es aus
seiner Seele hervor: Die Sklaverei ist ein monströser
Schandfleck auf unserer gerühmten Freiheit...
Etwa 2 Jahre verblieb die Mannschaft der „Beagle“ an
der Westküste Südamerikas. Seine Eindrücke der verschiedenen Landschaften fasste Darwin mit treffenden
Worten zusammen: Brasilien, ein Land, wo die Kräfte
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des Lebens vorherrschend sind. Feuerland, ein Land, wo
Tod und Zerfall herrschen. Dann ging die Reise weiter
durch die Magellanstraße, an der Ostküste Südamerikas
entlang zu den Galapagosinseln.
In Hinblick auf seine spätere Anschauung von der „Entstehung der Arten“ und der „Abstammung des Menschen“ waren vor allem drei Entdeckungen von Bedeutung:
– Die Begegnung mit den Ureinwohnern Südamerikas,
besonders mit den wilden Feuerländern, deren Erscheinung und Lebensart er bei der ersten Begegnung als
grundverschieden von den Menschen der zivilisierten
Welt erlebte.
– Das Auffinden ausgestorbener Tierrassen in Patagonien und die Feststellung ihrer Ähnlichkeit mit manchen
noch lebenden Organismen und schließlich
– die Beobachtung besonders der Vogelwelt auf den verschiedenen Galapagosinseln, die in ihrer geographischen
Isolation auch unterschiedliche Merkmale, ja schon eigene Arten ausgebildet hatte.
Die weitere Reise führte Darwin über Tahiti, Australien
und Neuseeland, die Südspitze Afrikas und noch einmal
Brasilien wieder zurück nach England.
Als wirklicher Weltumsegler betrat er am 2. Oktober 1836
in Falmouth (Cornwall) wieder heimatlichen Boden.
Neben den gesammelten, in vielen Kisten aufbewahrten
Naturschätzen, verzeichnete Darwin auch einen inneren
Gewinn der Reise:
Gutmütige Geduld, Freiheit von Selbstsucht, die Gewohnheit für sich zu handeln und aus jedem Vorkommen
das Beste zu machen.
Zur Aufarbeitung des reichlichen phänomenologischen
Materials, der unzähligen Funde an Vögeln, Fischen,
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Reptilien und Wirbeltieren, wurde in England ein ganzer
Stab von Wissenschaftlern eingesetzt.
Charles Darwin selbst trat nun ins naturwissenschaftliche
Rampenlicht und in den Austausch mit den bedeutendsten Forschern seiner Zeit im In- und Ausland. Von diesen
besonders hervorzuheben ist Charles Lyell (1797 –
1875), der wohl größte Geologe seiner Zeit, dessen Werk
Darwin auf seiner Reise eingehend studiert hatte und
der, im Gegensatz zu älteren Anschauungen, eine allmähliche Entwicklung der Erde auf Grund von natürlichen, auch heute noch wirksamen Kräften (z. B. Erosion,
Ablagerung und Vulkanismus) konstatiert hatte.
Der um 12 Jahre ältere Lyell empfing den eben erst 28
jährigen Darwin als seinen Freund und anerkannte ihn
als einen ihm ebenbürtigen Wissenschaftler.
In jener Zeit begann Darwin nun selbst mit der Aufarbeitung seiner Reiseerfahrungen, und als erstes literarisches Kind erschien 1839 sein Reisetagebuch (Deutscher Titel: Reise eines Naturforschers um die Welt), das
sich bald großer Beliebtheit bei seinen Lesern erfreute
und von Hemleben (ro ro ro-Biographie 1290) als eins
der „gediegensten Reisetagebücher der Neuzeit“ bezeichnet wird.
Etwas später erschienen noch drei weitere Bücher als
wissenschaftliche Verarbeitung seiner unterwegs gemachten Erfahrungen, von denen vor allem das über die
Entstehung der Korallenriffe in der geologischen Fachwelt große Anerkennung fand.
Ab 1838, also als 29 jähriger, übernahm Darwin zum ersten und einzigen Male in seinem Leben ein offizielles
Amt; Er wurde für 3 Jahre Sekretär der geologischen Gesellschaft in England; ansonsten war er immer nur freiberuflich tätig – entweder als Naturforscher oder als Schriftsteller.
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Eine andere Frage hat Charles Darwin in dieser Zeit um
sein 28. Lebensjahr sehr beschäftigt: Es war die einer
möglichen Ehe.
Aus den zufällig erhaltenen Aufzeichnungen auf einem
Notizblatt geht hervor, dass Darwin sich mit diesem Thema in merkwürdig kalkulierender Weise auseinandergesetzt hat. Von der konkreten Begegnung mit einer Frau
war zumindest bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht die
Rede. Nicht zuletzt wegen seiner von ihm erahnten, zunehmenden gesundheitlichen Probleme und dem von einer Ehe erhofften Schutzraum kam Darwin zu dem dreifach betonten Resumeé: Heiraten, heiraten, heiraten.
Wie aus einem natürlichen Untergrunde heraus fügte
sich nun ein Schicksalsehebund, der schon in gemeinsam erlebten Kindheitstagen seine Wurzeln gehabt haben mag: Darwin fand in seiner Cousine Emma Wedgwood seine endgültige Weggefährtin. Sie verlobten sich
im November 1838 in Maer, einem stillen Ort auf dem
Lande, wo die Familie seines verehrten Onkels Josiah
Wedgwood wohnte. Die Hochzeit fand im Januar 1839 in
London statt. Darwin selbst blickte gegen Ende seines
Lebens voll Dankbarkeit auf diese Ehe und auf das hohe
Wesen seiner Frau hin:
Ihre verständnisvolle Güte mir gegenüber war immer beständig, und sie ertrug mit größter Geduld mein ewiges
Klagen über Unwohlsein und über Unbequemlichkeiten...
Mich setzt jenes außerordentliche Glück in Erstaunen,
daß sie, ein Mensch, der seinen sittlichen Qualitäten
nach unermeßlich höher stand als ich, einwilligte, meine
Frau zu werden. Sie war mir während meines Lebens,
das ohne sie lange Zeit durch Krankheit kläglich und unglücklich gewesen wäre, ein weiser Ratgeber und heiterer Tröster.
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Besonders in einem – wesentlichen – Punkt ist Emma
Darwin ihrem Mann Gegengewicht und Stütze zugleich
gewesen, ja immer mehr geworden:
Darwin beobachtete an sich selbst – was er in seiner Autobiographie rückhaltlos und offen schildert – einen etwa
um das 30. Lebensjahr beginnenden Umbruch, ja Verfall
besonders seiner religiösen Kräfte, aber auch seines höheren ästhetischen Empfindens. Er kam allmählich dazu,
nicht mehr an das Christentum als eine göttliche Offenbarung zu glauben. Sein Glaube ist eines natürlichen Todes gestorben. (s.o.) Sehr sachlich – aber auch schmerzlich – vermerkt er, dass er noch während seiner Weltreise durch Erlebnisse des Erstaunens, der Bewunderung
und der Ergebung, die den Geist erfüllen und erheben,
zu der Überzeugung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele geführt wurde, dass aber jetzt – zunehmend – selbst die großartigsten Szenen keine derartigen Überzeugungen und Empfindungen mehr entstehen ließen, und weiter spricht er aus: Man könnte ganz
zutreffend sagen, daß ich wie ein Mensch bin, der farbenblind geworden ist.
Demgegenüber war Emma Darwin in ihrer tiefen christlichen Religiosität und in ihrem Glauben an eine weise
göttliche Weltenlenkung unerschütterlich. So schreibt sie
einmal in einem Brief an ihren Mann (1860): Der einzige
Trost für meinen Geist besteht darin, alles aus Gottes
Hand zu empfangen und zu glauben, daß alle Leiden
und Krankheiten uns auferlegt werden, um unseren Geist
zu erheben und voller Hoffnung auf ein zukünftiges Leben zu schauen.
Immer wieder hat Emma Darwin darauf hingewirkt, den
tragischen Verlust an religiöser Überzeugung bei ihrem
Mann auszugleichen.
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Dreieinhalb Jahre lebten Emma und Charles Darwin zusammen in London. Soweit es nötig und ihm möglich
war, pflegte Darwin dort die Kontakte und den Austausch
mit seinen wissenschaftlichen Freunden und Kollegen.
Aber nach jeder Abendgesellschaft – und deren gab es
viele – war er am nächsten Morgen krank. Vor allem litt
er an Schwindelanfällen, Übelkeit und Schlaflosigkeit.
Schließlich hielt es Darwin nicht länger in der Großstadt
aus und zog mit seiner Familie in die Nähe von London
auf einen Landsitz. Bemerkenswert ist, dass dies zugleich der Ort war, an dem, von einigen kurzen Unterbrechungen abgesehen, Darwin sein ganzes weiteres Leben
und seinen Lebensabend verbrachte.
Hemleben (in seiner Darwinbiographie) formuliert kurz
und treffend:
„Der dreiunddreißigjährige hat seinen Altersruhesitz gefunden“! Darwin selbst fühlte diese äußerliche Gebundenheit zugleich auch als seelisches Festgelegtsein. In
einem Brief an seinen Kapitänsfreund Fitz Roy 1846
sprach er selbst in prophetischer Weise aus: Mein Leben
ist wie ein Uhrwerk, und ich bin an den Ort gefesselt, an
dem ich enden werde!
Emma und Charles Darwin hatten zusammen 10 (!) Kinder. Das erste wurde am 27.12.1839, genau 8 Jahre
nach dem Aufbruch mit der Beagle, in London geboren;
das dritte bis 10. Kind auf dem Landsitz in Down.
Sein Sohn Francis schreibt später in seinen Erinnerungen an den Vater: „Ich glaube nicht, dass er in seinem
ganzen Leben ein böses Wort zu irgendeinem seiner Kinder gesagt hat. Ich bin aber auch dessen sicher, dass es
uns niemals in den Sinn gekommen ist, ihm nicht gehorchen zu wollen“. Hemleben bezeichnet Darwin deshalb
zurecht als „liebevollen Patriarchen“.
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Der schmerzvolle und frühzeitige Verlust seines 2. Kindes Anna im Alter von 10 Jahren weckte in ihm eine Hellfühligkeit für deren wahres Wesen, und offenbarte in bewegender Weise seine Liebefähigkeit trotz seiner, von
ihm so bezeichneten, seelischen Farbenblindheit.
Von welchem Gesichtspunkte aus ich nur immer an sie
zurückdenke, der Hauptzug in ihrem ganzen Wesen, welcher vor mir erscheint, ist ihre sprudelnde Fröhlichkeit,
die von zwei anderen charakteristischen Eigenschaften
wohltuend gemäßigt wurde, nämlich ihrer Empfindsamkeit... und ihrer großen Liebe... Ich sehe jetzt ihr liebes
Gesicht vor mir, wie sie zuweilen die Treppe herabgelaufen kam mit einer heimlich gestohlenen Prise Tabak für
mich, ihre ganze Erscheinung Freude, Freude machen
zu können... In ihrer letzten Krankheit war ihr Benehmen
einfach engelgleich. Sie hat nicht ein einziges mal geklagt, sie wurde niemals eigensinnig, war immer rücksichtsvoll gegen andere und war dankbar... für alles was
man ihr tat. Als ich ihr etwas Wasser gab, sagte sie: „Ich
danke Dir innig“, und dies waren, glaube ich, die letzten
teuren Worte, welche von ihren lieben Lippen an mich
gerichtet worden sind... oh, daß sie jetzt wissen könnte,
wie tief und wie zärtlich wir jetzt noch ihr teures Gesicht
lieben und immer lieben werden! Sie sei gesegnet.
Auf seinem Landsitz in Down arbeitete Darwin nun sein
eigentliches Lebenswerk aus, durch das er die Denkweise der damaligen und der heutigen Welt entscheidend
beeinflusst hat.
Er selbst empfand sein Dasein so stark von dieser Arbeit
bestimmt, dass er zu der merkwürdigen Formulierung
kam:
Aus meinem weiteren Leben habe ich daher nichts zu
berichten, mit Ausnahme der Veröffentlichung meiner
verschiedenen Bücher.
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Doch blieb er in ständigem Austausch mit den Freunden
und anderen Großen seines Fachgebietes, besonders
mit dem wesentlich jüngeren Thomas H. Huxley (1825 –
95). Dessen Verstand – so sagte Darwin – ist hell wie ein
Blitz und messerscharf. Er zeigte sich als der kämpferischste Vertreter des damaligen Darwinismus.
Zusammengenommen haben Darwin und der mit ihm
verbundene Kreis von Wissenschaftlern einen fast die
ganze Welt umspannenden Erfahrungshorizont erworben, denn jeder von ihnen hatte auf teils jahrelangen Reisen mehrere Erdteile betreten. Es handelte sich bei ihren
Arbeiten also um eine umfassende Erfahrungswissenschaft, die aber nicht mehr wie die Naturphilosophie des
beginnenden 19. Jahrhunderts den Anspruch erhob, von
den äußeren Wahrnehmungen in der Natur zum Verständnis der sich in ihnen offenbarenden Ideen aufzusteigen, sondern nur noch möglichst umfassende Tatsachen
ohne jede Theorie zusammenzutragen.
Besonders deutlich tritt dieses Bestreben in Darwins Arbeit über die Rankenfüßler (Cirripedien) 1851 – 54 in Erscheinung, die nur einen kleinen Ausschnitt der Zoologie
behandelt. Zu ihrer Erstellung benötigte er 8 Jahre. Sie
umfasst 2 Bände mit insgesamt 1100 Seiten!
Hemleben pointiert diese Art exaktester, vor allem durch
Mikroskopieren gewonnenen, Beobachungsarbeit mit folgenden Worten:
„Die Forschung geriet unter die Tyrannei einseitiger Sinneswahrnehmung, die das Denken versklavte und unschöpferisch machte“.
Im Lebensrückblick äußert Darwin selbst Zweifel daran,
ob die Cirripedienforschung wirklich einen solchen Zeitaufwand lohnte.
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Die Entstehung der Arten (1859)
Schon im Jahre 1837, also kurz nach der Rückkehr von
seiner Weltreise, hatte sich Darwin erste Notizen zu seiner Annahme von der natürlichen Entstehung der Arten
gemacht. Zu einer solchen Überlegung hatten ihn seine
eigenen Erfahrungen und Forschunsergebnisse gedrängt: Zum einen waren es die verschiedenen von ihm
selbst aufgefundenen Fossilien auf dem Südamerikanischen Festland, zum anderen die Beobachtungen der –
in den geographisch abgegrenzten Bereichen der einzelnen Galapagosinseln – sich unterschiedlich entwickelnden Vogelarten (besonders Finken), die ihm den Gedanken nahelegten: Alle Arten, ob lebend oder ausgestorben, wären durch graduelle Veränderungen aus einem
oder wenigen gemeinsamen Vorfahren entstanden.
Darwins Auffassung vom fließenden Übergang der Organismen trat in Gegensatz zu der noch bis zum Ende des
18. Jahrhunderts geltenden Theorie Cuviers (1769 –
1832), derzufolge durch Erdkatastrophen jeweils eine bestimmte Fauna und Flora vernichtet und dann durch
einen folgenden Schöpfungsakt eine völlig neue, andere
hervorgebracht worden sein sollte.
Zwischen den Anschauungen von Cuvier und Darwin
steht die von Lamarck (1744 –1829), der gleich wie Darwin und im Gegensatz zu Cuvier die Unveränderlichkeit
der Arten bestritt; diese sollten sich in ihrer Besonderheit
vielmehr dadurch herausgebildet haben, dass ein Teil ihrer Organe – durch einseitigen Gebrauch – sich in Folge
auch verändert hätten. So wäre z. B. der lange Hals der
Giraffe dadurch zu erklären, dass diese sich immer nach
ihrer Nahrung strecken musste. Lamarck nahm – wie
auch Darwin selbst – an, dass solche Organveränderungen vererbbar wären.
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21 Jahre, von 1838 bis 1859, hat es gedauert, bis Darwin, gedrängt von den Freunden, seine Ideen von der
Entwicklung der Arten der Öffentlichkeit übergab.
Dieser Schritt erschien auch deshalb geboten, weil etwa
zur gleichen Zeit noch ein anderer bedeutender Naturforscher, A. R. Wallace (1823 – 1913), - völlig unabhängig
von Darwin – auf Grund seiner Beobachtungen auf den
Inseln des Malaischen Archipels auf den Gedanken des
Artenwandels gekommen war. Diese Ideen lagen also
sozusagen „in der Luft.“
Die Herausgabe von Darwins Buch „Die Entstehung der
Arten“ erfolgte im November 1859. Die erste Auflage,
1250 Exemplare, war noch am gleichen Tag vergriffen.
Auch die zweite, 3000 Exemplare, war im Handumdrehen verkauft. Das Buch wurde zum meist gelesenen wissenschaftlichen Werk seiner Zeit! Dabei ist es nicht leicht
zu lesen, denn es enthält unzählige Einzeltatsachen und
eine Reihe ermüdender Statistiken. Oftmals ist das geistige Band nur schwer aufzufinden.
Dieses geistige Band – sofern man es überhaupt als ein
solches bezeichnen kann – besteht eigentlich aus 2
Grundgedanken, die auch den Untertiteln des Buches
entsprechen. Es ist die Idee der natürlichen Zuchtwahl
und des Kampfes ums Dasein.
Wenden wir uns zunächst dem Begriff der (natürlichen)
Zuchtwahl zu. Darwin selbst hatte – wie viele seiner englischen Zeitgenossen – großes Interesse an allen Phänomenen, die mit der Zucht von Pflanzen und Tieren zusammenhängen, man denke auch an Darwins Schilderung aus seiner Kindheit mit den eingefärbten Pflanzen!
Nicht nur las er eine große Anzahl an Büchern und Zeitschriften zu diesem Thema und verschickte Fragebögen
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an Experten, sondern er führte auch selbst Experimente
mit seiner Kaninchen- und Taubenzucht durch.
Im ersten Kapitel der „Entstehung der Arten“ taucht dann
auch der im Zusammenhang mit der Domestikation sehr
zutreffende Begriff der Zuchtwahl erstmals auf. Denn das
Züchtungsresultat hängt wesentlich von der – den Absichten des Züchters entsprechenden – Auswahl an
Pflanzen oder Tieren für seine Zucht ab.
Dann aber führt Darwin einen weiteren Gedanken an, der
einen aufhorchen lassen muss:
Eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten bei unseren
domestizierten Rassen ist ihre Anpassung nicht zugunsten ihres eigenen Vorteils sondern zugunsten des Menschen und der Liebhaberei.
Nicht mehr richtet sich – so Darwins Aussage – das gezüchtete Tier oder die Pflanze in seiner Entwicklung nach
den in ihr selbst gelegenen Gesetzen oder Zweckmäßigkeiten sondern nach den Ideen des Züchters! Der Züchter wird hier quasi zum Schöpfer erhoben. Seine Wirkung
auf die tierische oder pflanzliche Lebenswelt wird zu einer magischen. Er hat den Zauberstab in der Hand, mit
dem er jede beliebige Form und Gestalt der Natur ins Leben rufen kann.
Es ist so, als ob der Züchter eine (geistige) Gestalt an die
Wand gezeichnet und dieser dann Leben eingehaucht
hätte.(!)
„Zuchtwahl“ bedeutet also für Darwin zugleich und zumindest Miterzeugung, ja sogar Über-zeugung. In Wirklichkeit aber kann ein Züchter niemals Erzeuger sein! Für
Darwin jedoch ist die so verstandene „Zuchtwahl“ der tatsächliche Schlüssel zum Verständnis der Entstehung der
Arten im Rahmen der Domestikation.
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Nur so sei es zu verstehen, dass z. B. aus einem Ackergaul ein Rennpferd und aus einem Dromedar ein Kamel
geworden sei.
Im Rahmen der Domestikation ist also deutlich, was Darwin unter „Zuchtwahl“ versteht, und was sie im Sinne des
in die Natur eingreifenden, vernünftigen und freien Wesens – des Menschen – bei der Entwicklung der Arten
bewirken soll. Welchen Sinn aber ergibt der für die Entwicklung unter natürlichen Bedingungen gewählte Ausdruck der natürlichen Zuchtwahl?
Welche Kraft soll es sein, die in der freien Natur der
mächtigen Hand des Züchters entspricht?
Sind es die Lebensbedingungen, oder die Beschaffenheiten, - der Wille – der Organismen selbst, die die nützlichen Veränderungen an den Individuen im Laufe der Entwicklung hervorbringen?
Es sei zwar richtig, so Darwin, dass die äußeren Verhältnisse bestimmte – unbedeutendere – Verwandlungen an
Wesen bewirken könnten; so wie z. B. die Körpergröße
von der Ernährung oder die Dicke der Haut und die Dichtigkeit des Haares von der Kälte abhingen. Aber damit
seien doch nicht so weisheitsvolle Bildungen zu begreifen wie z. B. der Bau des Spechts, die Form seiner Füße,
seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge,
die so wunderbar geeignet ist, Insekten unter der Baumrinde hervorzuholen; oder der Mistel, welche, um existieren zu können, auf das weisheitsvolle Zusammenspiel
mit anderen lebenden Wesen (Bäumen, Insekten, Vögeln) angewiesen ist.
Weder durch die äußeren Bedingungen noch durch den
Willen der Pflanze oder des Tieres also, so Darwin, seien
diese Erscheinungen zu erklären.
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Der Begriff, der ihm hier – angeregt durch die Lektüre
von Malthus „population“ – zunächst weiter hilft, ist der
vom „Kampf ums Dasein“. Es besagt das Folgende:
Wenn sich eine bestimmte Tier- oder Pflanzenart gemäß
der geometrisch zu erwartenden Zahl vermehren würde,
dann würde dieselbe nach kurzer Zeit ins Unermessliche
anwachsen. Dieser Vermehrung sind jedoch durch den
Lebensraum, durch die Nahrungsreserven und die natürlichen Feinde Grenzen gesetzt. So also können nur die
stärksten Individuen einer Art im sogenannten Kampf
ums Dasein bestehen. Immer also pflanzen sich nur die
Tüchtigsten fort. So ergibt sich eine Art von natürlicher
Selektion.
Die Veränderungen aber, die schließlich zur Dominanz
einer bestimmten – neuen – Art führen, treten nach Darwin plötzlich d. h. zufällig auf. (Zur fragwürdigen Bedeutung des „Zufalls“ in der Entwicklung von lebenden Organismen vgl. I. H. Fichtes ‚Anthropologie’ , S. 82, wo dieser auf Darwin eingeht.) Eigentliche – geistige – Ursachen dieser Veränderungen lassen sich für Darwin nicht
denken und schon gar nicht ergründen!
Je größer der Lebensraum, je zahlreicher die Vertreter
einer bestimmten Spezies, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich nützliche, d. h. den äußeren Lebensbedingungen am meisten angepasste und den anderen Individuen überlegene Mutationen bildeten. Die
Veränderung der Arten wird hier allein als ein quantitatives Problem angesehen. Die Frage nach der Herausbildung verschiedener Qualitäten bleibt unberücksichtigt.
Nun hat eigentlich die „natürliche Zuchtwahl“ nichts anderes mehr zu tun als jede geringfügige, wenn nur nützliche
Veränderung zu konservieren.
Aber welche Kraft ist es denn in Wirklichkeit, die „konserviert“, also das Leben in einer bestimmten Form erhält?
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Es kann doch keine andere sein als die, die das Leben
auch hervorbringt, also die in den jeweiligen Wesen
selbst wirksame Schöpfermacht. Für Darwin aber ist das
auswählende Prinzip, das die „natürliche Zuchtwahl“ vollziehen und erhalten soll, wie eine von außen über die
Natur sich ergießende Scheinmacht. Dabei misst Darwin
dieser Scheinmacht alle Eigenschaften eines freien geistigen Wesens zu, denn sie ist täglich und stündlich damit
beschäftigt, in der ganzen Welt auch die leisesten Veränderungen aufzuspüren, die schlechten zu verwerfen, alle
guten zu erhalten und zu vergrößern, in dem sie schweigend und unmerklich, wann und wo immer sich die Gelegenheit bietet, an der Verbesserung jedes organischen
Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen arbeitet.
Hier erscheint wieder das von Darwin so hochgeschätzte
Bild des Tier- oder Pflanzenzüchters, der den Lebensstrom nach seinen eigenen Vorstellungen und Ideen beobachtet und lenkt, nur, dass es diesen Züchter in der
freien Natur nicht gibt. Es sei denn Gott selbst! Aber von
diesem redet Darwin hier nicht. –
So sehr es Darwin Gewissheit ist, dass die Arten – sowohl die ausgestorbenen wie die lebenden – nicht unveränderlich waren und sind, so ist er sich doch der Grenzen seiner eigenen Anschauung bewusst, wenn er
schreibt:
Niemand wird überrascht sein, daß vieles über den Ursprung der Arten und Varietäten unerklärt bleibt, wenn er
bedenkt, wie gering unsere Kenntnis der gegenseitigen
Beziehungen der uns umgebenden Lebewesen ist.
Bisweilen vermag er auch weiterführende Fragen nach
den geistigen Ursachen der Dinge selbst zu stellen:
Wenn wir aber die endlosen, wundervollen Anpassungen, denen wir überall begegnen, beiseite lassen, so
23
kann man fragen, wie kann die allgemein wohltuende Anordnung der Welt erklärt werden?
Noch nichts eigentlich lässt das Buch: Entstehung der
Arten über die Entwicklung des Menschen verlauten, obwohl alle Gründe einer natürlichen Abstammungslehre
darin schon enthalten sind. Als einzigen in dieser Richtung gehenden Hinweis finden wir in dem Buch den Satz,
dass durch es Licht auf den Ursprung des Menschen und
seiner Geschichte geworfen werde.
In jedem Fall aber gab Darwin schon jetzt Anlass genug,
dass seine Zeitgenossen ihre eigene und der Welt
Schöpfung neu überdachten. Gegen die von ihm zwar
noch unausgesprochene Konsequenz, dass auch der
Mensch von einem einfachen Tierwesen abstamme, regte sich vor allem in theologischen aber auch in philosophischen Kreisen heftiger Widerspruch. Einer der Bedeutendsten unter ihnen ist I. H. Fichte, dessen Buch „Anthropologie“, in zweiter Auflage 1860 erschienen, gerade
auch als eine Antwort auf Darwins „Entstehung der Arten“ 1859 zu verstehen ist.
24
Die Abstammung des Menschen 1871
Während schon kurz nach dem Erscheinen der „Entstehung der Arten“ ein heftiger Geisteskampf um die Abstammung des Menschen entbrannte, den auf der Seite
des Darwinismus vor allem Darwins kämpferischster Gesinnungsgenosse, Thomas Huxley, verfocht, dauerte es
noch bis zum Jahre 1871, ehe Darwin selbst das entsprechende Buch herausbrachte. Dabei mied er jede öffentliche Auseinandersetzung und führte auf seinem
Landsitz in der Nähe von London – wie schon gesagt –
ein sehr zurückgezogenes Leben.
Die Abstammung des Menschen beginnt mit Worten, die
wie ein geistiger Paukenschlag oder eigentlich wie ein
geistiger Tiefschlag wirken, während sie – von Darwin
ausgesprochen – erstaunlich naiv und selbstverständlich
klingen:
Der Mensch ist ganz augenscheinlich nach demselben
Typus gebaut wie andere Säugetiere, und in der Einleitung zitiert er seinen Freund Huxley mit den Worten,
dass der Mensch in jedem einzelnen seiner erkennbaren
Merkmale weniger von den höheren Affen abweicht, als
diese von den niederen Vertretern derselben Ordnung.
Stütze für diese Grundthese bietet ihm vor allem die immerhin erstaunliche Tatsache, dass die embryonalen
Formen des Menschen und der Säugetiere – auch der
Vögel – von überraschender Ähnlichkeit sind, und sich
beim Tier erst im Verlauf der weiteren Entwicklung von
der gemeinsamen Grundform entfernen und differenzieren.
Gerade an diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie stark
ein bestimmter Glaube unsere Blickrichtung und unser
Urteil zu beeinflussen vermag, eine Tatsache, die Darwin
durchaus selber bewusst war, wie wir aus einem Brief
25
von 1861 ersehen, in dem er die Beobachtung auch als
eine selektive Handlung bezeichnet: Merkwürdig, daß es
Menschen gibt, die nicht sehen, daß alles Beobachten
für oder gegen eine Auffassung geschehen muß, wenn
sie irgendeinen Nutzen haben soll.
Dieser Tatsache des immer schon leise voreingenommenen Blicks des Menschen tritt Darwin an anderer Stelle –
zumindest von seinem wissenschaftlichen Anspruch her
– deutlich entgegen. Indem er sich auf seinen geistigen
Stammvater Francis Bacon (1561 – 1626) beruft, spricht
er sein methodisches Hauptanliegen aus: ohne jede
Theorie möglichst umfassend Tatsachen zusammentragen... und doch sehen wir, dass Darwin gleich zu Anfang
des Buches von der Abstammung... ganz aus einer bestimmten Theorie und Anschauung heraus spricht, nämlich, dass der Mensch wie das höher entwickelte Tier von
einem gemeinsamen, einfacheren Tierwesen abstammen
soll, oder, was dasselbe bedeutet, dass der Mensch im
Grunde ein Tier sei.
Was den oben von Darwin erwähnten Typus angeht, so
lässt sich sagen, dass der Typus eigentlich immer auf
das geistige Urbild, auf die in einem Wesen schaffende
Idee hinweist. Wenn also Darwin von demselben Typus
bei Säugetieren und beim Menschen spricht, so müssen
wir uns fragen, was für ein gemeinsames Urbild es ist,
das ihm hier vorschwebt?
Blicken wir noch einmal auf die Tatsache der verwandten
Embryonalformen bei Tier und Mensch, so könnte man
dieses Phänomen – mit einer anderen Anschauung –
auch anders als Darwin ausdeuten, denn es weist ja zunächst nur auf eine gemeinsame physische Stammform
von Mensch und Tier hin.
Die Kräfte, die aus dieser allgemeinen Form das eine Mal
Tierleiber, das andere Mal die heutige Menschengestalt
26
herausgebildet haben, müssen in jedem Fall von sehr unterschiedlicher – geistiger – Art gewesen sein.
Gemäß den Angaben Rudolf Steiners in „Offenbarungen
des Karma“ (2. Vortrag) dürfen wir annehmen, dass die –
in der heutigen Embryonalentwicklung als Abbild erscheinende – gemeinsame Stammform von Tier und Mensch
eigentlich eine Form war, die sich auf dem Wege zur
Menschenwerdung befand. Durch gewisse kosmische
Vorgänge trat nun ein solcher Verdichtungs- und Verhärtungsprozess auf der Erde ein, dass sich der Mensch auf
ihr nicht mehr hätte weiterentwickeln können, wenn ihm
diese verdichtete Form seines damaligen Leibes nicht
abgenommen worden wäre. Sie wurde nun von den Tierseelen ergriffen und zu den einzelnen Tiergestalten ausdifferenziert, während der Mensch dadurch seine eigene
Gestalt bildsam erhalten konnte für neue geistig-individuelle Impulse.
Die Tiere haben sich also damals der verhärteten Menschenform angenommen, sich für die Weiterentwicklung
des Menschen geopfert!
So sehen wir, dass Mensch und Tier in geistiger Hinsicht
von verschiedener, in physischer Hinsicht von verwandter Abstammung sind. Das gemeinsame Urbild, das Darwin vorschwebt, kann also allein das physische sein.
Gerade bei der vergleichenden Betrachtungen von Tier
und Mensch fällt Darwins Blick dementsprechend nicht
auf die charakteristischen Unterschiede, sondern, seiner
innersten Überzeugung von ihrer Wesensgleichheit folgend, sieht er überall nur Ähnlichkeiten:
Alle Knochen seines (des Menschen) Skeletts können
verglichen werden mit den entsprechenden Knochen eines Affen, einer Fledermaus oder eines Seehundes,
ebenso ist es mit seinen Muskeln, Nerven Blutgefäßen
und Eingeweiden...
27
Ja selbst in Bezug auf sein am höchsten entwickeltes Organ, das Gehirn, stehe der Mensch den Anthropomorphen (Menschenaffen) viel näher als diese den anderen
Säugetieren. Und Darwin resümmiert kurz entschlossen:
Weitere Einzelheiten über die Ähnlichkeit des Menschen
mit den höheren Säugetieren... sind hier überflüssig.
In Hinblick auf die drei Haupterrungenschaften des Menschen, das sich Aufrichten (Gehen), Sprechen und Denken, erscheint es ihm immerhin als angebracht, eine vergleichende Betrachtung zwischen Tier und Mensch anzustellen. Bei „genauerem Zusehen“ können sich allerdings
der Beobachtung schon bei der Morphologie z. B. des
Knochens, wesentliche Unterschiede ergeben (vgl. R.
Steiner 1. Vortrag „Geisteswissenschaft und Medizin“):
So kann man an dem nach vorne-unten strebenden Unterkiefer des Gorillas ersehen, wie hier mehr die lastenden Erdenschwere-Kräfte wirken. (Diese Tatsache lässt
sich auch an anderen Phänomenen des Skelettsystems,
insbesondere aber an der nicht voll aufgerichteten Gesamtgestalt des Affen ablesen)
Beim Menschen zeigt sich ein ganz anderes Kräfteparallelogramm, - der Unterkiefer weist nicht nach unten in die
Schwere sondern in die Horizontale, er selbst steht aufrecht - , entsprechend der Wirksamkeit der – von R. Steiner so genannten – „außertellurischen Zugkräfte“.
Also bis in die Gestaltbildung der Knochen und Muskeln
hinein lassen sich die unterschiedlichen geistigen Formkräfte bei Tier und Mensch verfolgen. Eine Tatsache, die
Darwins Blick tragischerweise verborgen bleibt, denn
„dem geistigen Ursprung aller Organismen gegenüber
trat bei ihm eine Problemblindheit ein.“ (Hemleben)
Dementsprechend kann Darwin auch nicht überzeugend
erklären, durch welche Kräfte sich der Mensch aufgerichtet hat und zum freien Gebrauch seiner Hände gelangt
28
ist. Der Hinweis auf die von ihm schon in der „Entstehung
der Arten“ benannten allgemeinen Ursachen der Entwicklung (Umweltbedingungen, häufiger Gebrauch oder
Nichtgebrauch bestimmter Organe, sowie Kampf um die
Existenz) reichen zur Erklärung nicht aus.
Wenden wir nun unseren Blick der Sprachentwicklung
des Menschen zu. Auch hier erscheint es erhellend, die
Auffassung Darwins einmal der des Geisteswissenschaftlers (R. Steiner) gegenüberzustellen:
Damit Sprache sich entfalten kann, müssen vorher die
Sprachwerkzeuge, insbesondere der Kehlkopf, ent-sprechend ausgeformt sein. So wie nach der Anschauung
Goethes das Auge „durch das Licht für das Licht“ gebildet ist, so nach R. Steiner der Kehlkopf von dem Geist
(der Sprache) für das Sprechen. Es ist derselbe, „von
Verkörperung zu Verkörperung schreitende Geist“ des
Menschen, der bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres „den Keim zur Kehlkopfentwicklung legt“, wie der,
der sich dann durch dieses Organ ausspricht: Der individuelle Menschengeist.
Darwin dagegen, für den der Mensch demselben Typus
entstammt wie das Säugetier, konstatiert dementsprechend: Alle höheren Säugetiere besitzen Stimmorgane,
welche nach demselben allgemeinen Plan wie die unseren gebaut sind. So differenziert er nicht im qualitativen
sondern nur im quantitativen Sinne Lautbildung beim Tier
und Sprache beim Menschen: Von den Tieren unterscheidet sich der Mensch bloß durch seine unendlich
größere Fähigkeit die verschiedenartigsten Laute und
Ideen zu assoziieren.
In Bezug auf den Ursprung der Sprache nennt Darwin
vor allem: Nachahmung und Modifikation verschiedener
natürlicher Laute, d. h. nur die Töne, ganz äußerlich, 29
ohne ihre innere, geistige Bedeutung genommen – veranlassten den Menschen zur Sprachbildung.
Dagegen weist R. Steiner darauf hin, dass die Sprache
auf den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung, - sowohl
der „nachahmenden“, als auch der „symbolisierenden“
wie der mitempfindenden – immer Wesensausdruck der
Dinge und der geistig-physischen Vorgänge in der Welt
sei. (R. Steiner Geisteswissenschaft und Sprache 1910)
Zusammenfassend bezeichnet Darwin die Sprache als
nicht aus einem besonderen Schöpfungspakt entstandenen. R. Steiner äußert dagegen:
Die Sprache ist angeregt in der menschlichen Seele
durch die Inspiration der übermenschlichen Wesenheiten... (Die „geistige Führung des Menschen“)
Auch die Ausführungen über das Denken, und über die
geistigen Fähigkeiten der Menschen und der Tiere, beginnt Darwin mit einem Satz, der schon das erwünschte
Ergebnis seiner Untersuchungen vorwegnimmt:
Ich werde in diesem Kapitel zu zeigen haben, daß in den
geistigen Fähigkeiten kein fundamentaler Unterschied
zwischen den Menschen und den höheren Säugetieren
besteht.
Eine Frage hebt Darwin dabei besonders hervor: Die
nach dem Zusammenhang zwischen Instinkt und Intelligenz beim Tier und beim Menschen.
Cuvier, der ältere Naturforscher (1769-1832), hatte auf
Grund seiner Beobachtungen festgestellt, dass Instinkt
und Intelligenz im umgekehrten Verhältnis zueinander
stünden, das heißt, dass bei dem intellektuell höher entwickelten Wesen – dem Menschen – mit dieser Höherentwicklung zugleich ein Verlust an Instinkten auftritt.
30
An dieser Tatsache kommt auch Darwin nicht vorbei,
aber er widerspricht ihr zunächst, in dem er einen anderen Wissenschaftler zitiert.
Es ist ein Zeichen der Unsicherheit seiner Erklärungen,
dass er an anderer Stelle zu diesem Thema einräumt,
dass es doch nicht unwahrscheinlich sei, daß freie Intelligenz – es kann sich dabei ja nur um den Menschen handeln – und Instinkt, welcher als eine ererbte Modifikation
des Gehirns zu betrachten sei, sich in ihrer Entwicklung
stören und dass das Gehirn sich unter Einfluss dieser
„freien Intelligenz“ anders und höher entwickelt habe als
beim Tier. Deutlicher noch stimmt Darwin der Tatsache
des Instinktverlustes beim Menschen zu, wenn er darauf
hinweist, dass dieser seine Kunstfertigkeit – z. B. die Verfertigung eines Steinbeiles – durch Übung erst lernen
muss, dagegen z. B. ein Biber, der zum ersten Male seine Dämme und Kanäle errichtet, ein Vogel, der sein erstes Nest baut, eine Spinne, die zum ersten Male ihr
kunstvolles Nest spinnt, dass sie alle ebenso vollkommen und gut arbeiteten, als wenn sie alt und erfahren
wären.
Mit der besonderen Lernfähigkeit des Menschen unmittelbar verbunden ist im Gegensatz zum Tier seine Perfektibilität, seine fortschreitende Vervollkommnung. Während das Tier schon bei der Geburt alle Eigenschaften
und Fähigkeiten seiner Art nahezu vollkommen ausgebildet hat, kann der Mensch diese sein Leben lang weiter
entwickeln.
An diesem Punkt ist Darwin nun besonders empfindlich,
denn mit der Frage der Entwicklungsfähigkeit des Tieres
oder seiner organischen und instinktmäßigen Determinierung steht oder fällt ja seine Grundidee von der Entstehung der Arten! Hierzu bemerkt er das Folgende: Die auf
keinen direkten Beweis gestützte Behauptung, daß kein
31
Tier im Laufe der Zeiten seine Intelligenz oder anderen
geistigen Fähigkeiten weiter entwickelt hätte, heißt die
Frage nach der Entwicklung der Arten überhaupt verneinen.
Wir berühren dabei das Grundproblem der Darwinschen
Entwicklungslehre:
Es ist die von ihm behauptete, gemeinsame, ausschließlich natürliche Abstammung der Tiere und des Menschen
von einem ursprünglich einfachen Naturwesen, bzw. deren Entwicklung im Laufe von Äonen allein durch Mutation und Selektion („Zuchtwahl“). Eine mögliche oder gar
notwendige Folge dieser ausschließlich natürlichen Abstammungslehre ist dann auch der Glaube, man könne
den „edlen“ Menschen resp. eine ganze Klasse hervorragender Menschen erschaffen, wenn man dafür sorgt,
dass sich nur die Tüchtigsten fortpflanzen.
Dass dieser Gedanke auch Darwin nahe liegt, der sich
schon früh für die Züchtung von Pflanzen und Tieren begeisterte, erscheint einleuchtend. Es ist bemerkenswert,
wie er diese Frage in seinem Abstammungsbuch behandelt. Zunächst schildert er, scheinbar neutral, was in einer zivilisierten Gesellschaft alles getan wird, um die
schwachen Individuen zu erhalten:
Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir
erlassen Armengestze und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange
als möglich zu erhalten. Wir können wohl annehmen,
dass durch Impfung Tausende geschützt werden, die
sonst wegen ihrer schwachen Widerstandskraft den Blattern zum Opfer fallen würden. Infolgedessen können
auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker
ihre Art fortpflanzen.
Bis hier her erscheint alles als „reine“ Tatsachenschilderung; doch dann erfolgt der unvermittelte Sprung in der
32
Darstellung vom Menschen zum Tier, denn der nächste
Satz lautet: Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren (!) kennt, wird daran zweifeln, daß dies [die Erhaltung der Schwachen] äußerst nachteilig für die Rasse ist.
Darwins Gedanken konsequent zu Ende gedacht, führen
also – immer unter der falschen Voraussetzung einer nur
natürlichen Abstammung des Menschen – notwendigerweise zu dem Ziel einer Rassenzucht, bei der nur die
stärksten Individuen sich fortpflanzen. (Wir kennen die
Konsequenzen solcher Gedanken aus unserer deutschen Geschichte nur zu gut. Die Unwissenheit vom
geistigen Ursprung des Menschen ist dabei die eigentliche Ursache der Katastrophe)
Darwin selbst scheut sich, solche Konsequenzen zu ziehen. Aber das Argument, das er ihnen entgegen zu setzen vermag, steht auf tönernen Füßen: Die Hilfe, die wir
den Hilflosen schuldig zu sein glauben, entspringt hauptsächlich dem Instinkt der Sympathie... Kein Instinkt –
auch nicht der Sympathie – würde jemals verhindern
können, dass der Mensch auf die Tierstufe absinkt und
dem Abgrund verfällt. Hier kann nur helfen, wenn wir in
jedem Menschen den freien Geist suchen und in ihm bewusst den Menschenbruder anerkennen, wie dies z. B.
durch die „Anthropologie“ I. H. Fichtes (1860) oder durch
die „Philosophie der Freiheit“ R. Steiners (1894) veranlagt ist.
Dass der Darwinismus bzw. seine Vertreter zu besonderen Angriffspunkten für das Einwirken von geistigen Gegenmächten werden können, mag folgende, von Darwin
in Mein Leben erwähnte Begegnung mit dem Lord Stanhope1 belegen:
1
Der alte Lord Stanhope gilt als Drahtzieher bei der Ermordung von Caspar
Hauser (1833)
33
Der alte Earl war ein seltsamer Mann... Eines Tages sagte er zu mir: <Warum hängen Sie Ihre Wischi Waschi
Geologie und Zoologie nicht an den Nagel und befassen
sich mit den okkulten Wissenschaften?> (!)
Eine geistige Abstammung oder gar „Bestimmung des
Menschen“ – man denke an das gleichnamige Buch von
J. G. Fichte – kennt Darwin also nicht.
Während Fichte diese „Bestimmung des Menschen“ ganz
aus dessen innerstem geistigen Wesenskern, seinem
Ich, hervorgehen sieht, taucht dieses Wort bei Darwin in
solchem Sinne gar nicht auf. Er spricht zwar von Selbstbewusstsein beim Menschen, vermag dieses aber nicht
wesentlich vom Selbstgefühl der Tiere zu unterscheiden.
Auf der anderen Seite sind es besonders die Lebenserscheinungen, die zumindest in der Jugend Darwin zum
Staunen brachten und ihm die Möglichkeit einer geistgemäßen Natur- und Menschenkenntnis hätten eröffnen
können.
So schildert er z. B. von seiner Begegnung mit den wilden Feuerländern, welche zu den tiefstehenden Barbaren gehören, und die am Anfang nicht die geringste Abstraktionsfähigkeit besessen hätten, dass sie später,
nachdem sie einige Zeit in England lebten, Englisch sprechen lernten und uns in ihren Anlagen und den meisten
geistigen Fähigkeiten ähnelten.
Oder es erregt sein Staunen, dass sein 11 Monate altes
Kind, das bis dahin noch kein Wort sprechen konnte,
plötzlich anfängt, mit großer Schnelligkeit alle Arten von
Gegenständen mit Lauten zu assoziieren.
In beiden Fällen ist es also die besondere Lernfähigkeit,
die Perfektibilität des menschlichen Wesens, an der Darwin erwacht. Gerade die höheren, nur ihm zukommenden
Fähigkeiten, wie besonders das sich Aufrichten, Spre34
chen und Denken, hat der Mensch nicht von Natur aus,
rühren nicht von seiner natürlichen Abstammung her,
sondern sind Fähigkeiten, die sich die aus dem Geistigen
kommende menschliche Individualität bei jeder Inkarnation an und mit seinem Leib und den äußeren Lebensbedingungen neu erringen muss.
Nur eine Tatsache ist es, die Darwin zunächst unumwunden den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und
Tier anerkennen lässt: Das moralische Gefühl oder das
Gewissen, die Fähigkeit, Gutes und Böses voneinander
zu unterscheiden und schließlich auch die Reue, die den
Menschen zum Ausgleich einer schlechten Tat antreibt.
Als Herkunft der Gewissensbildung nennt Darwin allerdings vor allem natürliche Gründe. So habe sich das sogenannte moralische Gefühl ursprünglich von den sozialen Instinkten der Tiere abgezweigt. Auch führt er die Gewissensbildung zurück auf eine Einwirkung von außen,
auf das Urteil der Gefährten, auf die große Empfänglichkeit des Menschen für die gute Meinung seiner Mitmenschen.
Nicht aber ist ihm Gewissen wie z. B. für J. G. Fichte
oder Novalis der unmittelbare Ausdruck innerster
menschlicher Verbundenheit mit einer göttlich-geistigen
Welt.
So also sucht Darwin, – selbst für die höchsten menschlichen Gefühle wie das Gewissen – überall nur nach natürlichen Erklärungen, da er eben nicht an eine geistige
sondern nur an eine natürliche Abstammung des Menschen glaubt.
35
Mein Leben 1876
Im Hinblick auf das zuletzt Ausgeführte müssen einen die
folgenden Worte besonders erstaunen, die Darwin seiner
Autobiographie „Mein Leben“ voranstellt:
Erinnerungen an meinen geistigen und charakterlichen
Werdegang. Hier also ist sowohl die Tatsache (s)eines
freien Menschengeistes, als auch dessen Entwicklungsmöglichkeit vorausgesetzt! Ja er selbst – Darwin – erhebt
sich sozusagen von einem nicht mehr den natürlichen
Kräften unterliegenden zu einem höheren geistigen
Standpunkt, wenn er gleich zu Anfang des Buches sagt:
Die nun folgende Selbstdarstellung habe ich so zu
schreiben versucht, als sei ich schon tot, schon in einer
anderen Welt, und schaute zurück auf mein verflossenes
Leben.
Wie lässt sich dieser erhöhte Standpunkt von jenseits der
„Schwelle“ vereinbaren mit dem Darwin, der im gleichen
Buch von sich sagt, dass ihm zwar früher – z. B. während
seiner Weltreise – noch gewiß war, dass zum Menschen
mehr gehört als nur sein atmender Körper, dass ihn aber
jetzt – als er das Buch schreibt – kein Anblick mehr, und
sei er noch so überwältigend, seinen Sinn zu solchen
Gewißheiten und Empfindungen bewegen würde?
Darwin steht also im höchsten Widerspruch zu sich
selbst, zu seinem eigenen höheren Wesen!
Besonders stark erlebt er diesen Widerspruch in seinem
Inneren nun durch das Auftreten des Gewissens. Es
scheinen sich ihm in seinem Leben vor allem solche Taten ins Gedächtnis eingeprägt zu haben, bei denen sich
seine moralischen Bedenken meldeten. So, als er als
Kind gegenüber einem Freund davon sprach, daß er Primeln und Schlüsselblumen mit bestimmten Flüssigkeiten
einfärben könne, einer Art künstlicher Erzeugung pflanzli36
cher Variabilität. Oder als er nur aus Lust an seiner
Macht ein Hundejunges schlug. Das dabei auftretende
Gewissen machte ihn so wach, dass er noch heute –
mehr als 60 Jahre später – den Tatort wiedererkennen
würde.
In den Kindheitsjahren erscheint ihm sein Vater, den er
als den weisesten Mann bezeichnet, den er je gekannt
habe, als die Personifikation seines Gewissens. So fühlt
er sich im tiefsten Inneren getroffen, als der Vater gegen
Ende der Schulzeit den Charakter seines Sohnes mit den
Worten in Frage stellt: Außer Schießen, Hunden und
Rattenfangen hast du nichts im Kopf, du wirst noch zur
Schande für dich und deine ganze Familie. Im Rückblick
auf sein Leben kann Darwin die Wirkung dieser Worte,
an dessen Andenken mein ganzes Herz hängt, relativieren, weil er weiß, dass sie aus dem Zorn heraus gesprochen wurden und ungerecht waren.
Die Betrachtung seines Lebens unter dem wesentlichen
Gesichtspunkt der Moralität verleiht Darwins Buch über
weite Strecken den Charakter eines Bekenntnisses.
An seinem Ende blickt der Autor noch einmal auf jene
Zeit zurück, in der sich – für ihn selbst deutlich spürbar –
eine entscheidende Wandlung vollzog. Es war etwa im
Alter von 30 Jahren, als er sich bald nach seiner Heirat
aufs Land zurückzog. Von dieser Zeit an – so konstatiert
er – habe er keine Veränderung seiner geistigen Einstellung mehr wahrgenommen; von da ab spürte er nicht
mehr die Kraft zu innerer Entwicklung, sondern nur einen
generellen Verfall. Während er früher mit Begeisterung
Musik hörte und englische Lyrik las, kann er davon nun
keine Zeile mehr ertragen.
Sein Geist – so sagt er – sei wie eine Maschine geworden, wie gemacht dafür, allgemeine Gesetze knirschend
aus großen Tatsachensammlungen auszumahlen... wie
37
ein einmal angestoßenes Rad, das sich mit Notwendigkeit immer in die gleiche Richtung weiter drehen muss.
Darwin selbst vermutet als Ursache all dieser seelischgeistigen Verfallserscheinungen eine Atrophie eines Teils
in seinem Gehirn.
Doch dann nimmt er wieder seinen höheren Standpunkt
ein und wendet den Blick weg von der Vergangenheit
und der Krankheit nach vorn auf die Zukunft, auf eine
mögliche Heilung: Und wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, dann würde ich es mir zur Regel machen, mindestens einmal in der Woche ein wenig Lyrik
zu lesen und etwas Musik zu hören.
Darwin weiß etwas von der urheilenden Kraft jeder wahren künstlerischen Betätigung. „Die Kunst ist das Götterkind, das die Menschen bewahrt vor dem Versinken in
die Lüge“, und damit in die Krankheit. (R. Steiner)
So also vermag Darwin mit einem erhöhten geistig-moralischen Blick sowohl sein vergangenes Leben anzuschauen als auch eine heilende Zukunft voraus zu ahnen.
Charles Darwin hatte keine Furcht vor dem Tode. Vielleicht auch deshalb nicht, weil er schon als Kind bei einem Absturz einmal an seiner Schwelle gestanden hatte
(s. o.). Jedenfalls ist er bereit, die Abnahme seiner geistigen Kräfte mit Gleichmut als Folge der natürlichen Absterbeprozesse zu ertragen.
Seine letzte wissenschaftliche Arbeit hat Darwin – interessanterweise wie seine erste – den Regenwürmern und
der Ackererde gewidmet. Schon damals machte er darauf aufmerksam, daß jedes Körnchen Erde, welches die
Erdschicht bildet... durch den Darmkanal der Regenwürmer hindurch gegangen ist... und daß die Regenwürmer
in der Geschichte der Erde eine bedeutungsvollere Rolle
38
gespielt haben, als die meisten auf den ersten Blick annehmen dürften. Eine Tatsache, auf die ja auch R. Steiner später als eine ganz wesentliche für eine gesunde
Bodenentwicklung hingewiesen hat.
Gerade durch den lang anhaltenden, schleichenden
Krankheitsprozess, durch die immer wiederkehrenden
Schwächeanfälle, die seine intensiven Schaffensperioden unterbrachen und seine ganze zweite Lebenshälfte
überschatteten, hatte Darwin gelernt, bewusst auf den
Tod zuzugehen.
Als ihm nach mehreren Ohnmachtsanfällen und Herzattacken das nahende Ende deutlich vor Augen stand,
konnte er es in aller Ruhe aussprechen: Ich habe nicht
die geringste Furcht zu sterben. Er befand sich im Einklang mit seinem Schicksal. So verstarb er am 19. April
1882 auf seinem Landsitz in Down.
Seine sterblichen Hülle wurde auf Grund eines Gesuchs
von 20 Mitgliedern des englischen Parlaments an Englands zentraler Stätte, in Westminster Abbey, in Anwesenheit sowohl bedeutender Wissenschaftler aus dem Inund Ausland als auch seiner Freunde und der Familie
beigesetzt.
Die Denkweise Darwins ist auch heute – mehr als 120
Jahre nach seinem Tod – in weiten Kreisen noch die bestimmende. Noch immer wird von der herkömmlichen
Wissenschaft – einer materialistischen Grundeinstellung
entsprechend – versucht, die Entwicklung des Menschen
allein auf natürliche Weise durch die Gesetze von Mutation und Selektion zu erklären.
Demgegenüber hatte schon Darwins ehemaliger geistiger Weggenosse Wallace, der etwa zu gleicher Zeit wie
Darwin auf die Idee vom Kampf ums Dasein gestoßen
war, in einem Rückblick zu Anfang des 20. Jahrhunderts
die folgenden Bedenken angemeldet:
39
„So finden wir denn, daß der Darwinismus, selbst wenn
er bis zu seinen letzten logischen Folgerungen fortgeführt
wird, dem Glauben an eine spirituelle Seite der Natur des
Menschen nicht widerstreitet, sondern ihm vielmehr eine
entschiedene Stütze bietet. Er zeigt uns, wie der
menschliche Körper sich aus vielen Formen nach dem
Gesetz der natürlichen Zuchtwahl entwickelt haben kann;
aber er lehrt uns auch, daß wir intellektuelle und moralische Anlagen besitzen, welche auf solchem Wege sich
nicht hätten entwickeln können, sondern einen anderen
Ursprung gehabt haben müssen, - und für diesen Ursprung können wir eine Ursache nur in der unsichtbaren
geistigen Welt finden.“
So gesehen wäre der Weg zu einer geisteswisswissenschaftlichen Anschauung des Menschen trotz oder gerade wegen Darwins Forschungsergebnissen offen...
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Schlussbetrachtung
„Eine Persönlichkeit können wir nicht verstehen, wenn
wir sie nicht so auffassen, wie sie sich darstellt mit dem
Ergebnis früherer Erdenleben“
Diese Worte Rudolf Steiners können sich mit Blick auf
das Darwinsche Schicksal durch die folgenden Betrachtung noch verdeutlichen. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass das Einzelschicksal eines Menschen immer im Zusammenhang und in Wechselwirkung mit dem
Menschheitsschicksal gesehen werden muss. Im Rahmen seiner Ausführungen „Karmischer Zusammenhänge“ wird diese Tatsache von Rudolf Steiner wiederholt
dargestellt:
So weist er hin auf die große religiöse Strömung des
Christentums die aber unter ihrer Oberfläche „weniger
bemerkt“ durchsetzt ist von einer anderen, mächtigen
Strömung, der des Mohammedanismus. Das Wesen dieses Mohammedanismus ist gekennzeichnet durch den
Glauben an einen umfassenden, „einheitlichen Gott“, der
aber keinen Sohn hat; es handelt sich um einen „starren
Monotheismus“ und das „Schicksal des Menschen“ gilt in
ihm als „von vornherein bestimmt“.
Im Zusammenhang mit dieser Strömung wirkten in historischer Zeit (8. und 9. nachchristl. Jahrhundert) bedeutende Persönlichkeiten. Einerseits schufen sie im vorderasiatischen Raum ein reiches Kulturleben mit großen, vor
allem naturwissenschaftlichen und medizinischen Einrichtungen.
Es
entstand
die
„Akademie
von
Gondishapur“. Ihre Führer waren vor allem „Harun al Raschid“ und sein „weiser Ratgeber“. (R. Steiner)
Diese mohammedanistisch-arabistische Kulturströmung
fand andererseits und zu gleicher Zeit auch auf kriegerischem Weg ihre Ausbreitung. Vor allem drang sie über
41
Nordafrika nach Westen vor. Einer ihrer großen Heerführer war Tarik, der im Jahre 711 bei dem nach ihm benannten Gibraltar (Gebel al Tarik) nach Spanien übersetzte und in einer Schlacht gegen das christliche Abendland siegte. Später wurden die Araber wiederum von Karl
Martell geschlagen und aus Spanien allmählich zurückgedrängt. Geistig besteht die arabistische Strömung aber
weiter, und die Individualitäten der o. g. Persönlichkeiten
bleiben auch über den Tod hinaus mit ihr verbunden.
In einem nächsten Leben setzten sie ihr Wirken in diesem Sinne aus „der selben Grundseelenstimmung“ heraus fort.
Vor allem Baco von Verulam (Francis Bacon, 1561 –
1626) – der wiederverkörperte Harun al Raschid – wurde
gewissermaßen zum Begründer der modernen – materialistischen – Naturwissenschaft. Er setzte wesentliche Impulse, die aber einer christlichen Wissenschaft geradezu
entgegengesetzt sind. (R. Steiner) Darwin nimmt in seiner Biographie auf ihn Bezug, ja er beruft sich geradezu
auf ihn, wenn er sagt, dass er bei seinen Untersuchungen streng nach den Prinzipien Bacons vorging und
ohne jede Theorie möglichst umfassende Tatsachen zusammentrug (ohne „Theorie“ heißt wörtlich: ohne das
Göttliche – griech. theòs – zu berücksichtigen). Auch
Darwin ist ein Repräsentant dieser arabistischen Strömung. Nach Hinweisen von R. Steiner ist er selbst der
wiederverkörperte Tarik (s.o.). Er „prägt den Arabismus
in moderner Form aus.“ Das durch den mohammedanischen Einschlag gegebene „fatalistische“ Element taucht
bei ihm als deterministische Entwicklungslehre wieder
auf. In seinem Denksystem hat die geistige Freiheit des
Menschen eigentlich keinen Platz. Alle Organismen, einschließlich des Menschen, sind nach seiner Auffassung
entweder von den äußeren Lebensbedingungen oder von
42
ursprünglich unbekannten inneren Gesetzen bestimmt,
die dann auch vererbt werden. Es besteht nun die merkwürdige Tatsache, dass R. Steiner eine solche Naturauffassung wie die darwinsche als “unchristlich“ bezeichnet.
(6. Karmaband S. 210)
Wovon hängt es denn ab, ob das, was ein Mensch z. B.
über die Entstehung der Tiere und des Menschen denkt,
wie R. Steiner sagt, christlich oder unchristlich ist?
Diese Frage entscheidet sich ganz allein und wesentlich
an der Wahrheit; denn nur wer in der Wahrheit lebt, der
lebt auch in Christus. Die Wahrheit aber in Bezug auf
Tier und Mensch liegt gerade darin, ihren Wesensunterschied in dem oben ausgeführten Sinne zu erkennen.
Tier und Mensch haben eben nicht – wie Darwin meint –
„denselben Typus“.
Das eigentlich Menschliche ist im Gegensatz zum Tier in
der Möglichkeit zur ständigen Vervollkommnung gegeben. Nur wenn geistige Kräfte unmittelbar im Menschen
wirken, kann er sich im Zusammenwirken mit ihnen im
Laufe des Lebens zu dem machen, was er werden soll.
Der Mensch ist wie kein anderes Wesen auf der Erde
lern- und entwicklungsfähig. Dieses Lernen beginnt bei
ihm schon in der Kindheit mit dem allmählichen Erwerb
des sich Aufrichtens (Gehens), des Sprechens und des
Denkens (s. o.). Er lernt sich mit der Erdenschwere auseinanderzusetzen und erreicht die Aufrechte, er hört das
gesprochene Wort, durch das der Mensch mit dem Menschen in Verbindung tritt, und vermag selber zu sprechen, schließlich beginnt er die Welt bewusst zu verstehen, er lernt zu denken.
Diese drei Errungenschaften wären für den Menschen
ohne das Zusammenwirken mit dem Christus nicht möglich. Denn ER ist es, der – nach den Angaben R. Steiners
– durch seine Opferkraft in urferner Erdenvergangenheit
43
diese menschlichen Entwicklungsschritte veranlagte. ER
selbst ist das höhere ICH des Mensch, das beständig in
und am Mensch zu seiner Vervollkommnung mitwirkt. ER
ist der Weg, der das Gehen erst ermöglicht, ER die
Wahrheit indem er uns das rechte Wort aussprechen
lässt, und ER das Leben, indem er durch das reine, wiederum der Wahrheit entsprechende Denken, Lebenskräfte in uns erweckt.
Im Laufe seiner Entwicklung können diese Christuskräfte
dann in verwandelter Form im Menschen weiterwirken:
Denn „alles“, so sagt R. Steiner in „die geistige Führung
des Menschen und der Menschheit“, „alles, was der
Mensch hervorbringen kann an Idealen, an künstlerischem Schaffen... an naturgemäßen Heilkräften im eigenen Leibe... alles das kommt nicht von dem gewöhnlichen Verstande sondern von den tieferen Kräften, die
auch in den ersten Lebensjahren arbeiten an unserer Orientierung im Raum, an der Prägung des Kehlkopfes und
am Gehirn.“
Nur wenn der Mensch sich an diese – Christus – Kräfte
wendet, kann er sein eigentliches Entwicklungsziel erreichen. Dies sollte im Laufe des Lebens in immer bewussterer Weise geschehen; denn nur etwa bis zum 30. Lebensjahr wirkt der mit den Natur- und Vererbungskräften
zusammenhängende Vatergott. (s. R. Steiner Karmische
Zusammenhänge, Band VI, S. 43)
Gerade der Mohammedanismus und die arabistische
Strömung stellen aber dieses Vatergottprinzip in den Vordergrund. Dem entspricht, dass auch Darwin das patriarschalische Prinzip in besonderer Weise hervorhebt: Sein
Vater galt für ihn als der weiseste Mann, den er je gekannt hat. Der Vater hat einen entscheidenden Einfluss
auf sein Schicksal, während die Mutter früh verstarb...
Damit das Leben aber nach dem 30. Jahr noch einen
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geistigen Aufschwung nehmen kann, bedarf es neuer
Schöpferkräfte, die mit dem Christus verbunden sind,
und die die Seele frei machen können von den bloßen
Naturkräften.
IHN konnte Darwin in bewusster Weise noch nicht in sich
aufnehmen. Sein Denken blieb den Prinzipien der reinen
Naturwirkungen verhaftet.
Auch konnte er noch nicht den inneren Weg zu dem
Christus finden, und suchte stattdessen nach äußeren
Beweisen für dessen Existenz. Allenfalls, so sagte er
sich, wenn sich bei späteren Ausgrabungen z. B. in Pompeji oder anderswo... Manuskripte fänden, die einen
schlagenden Beweis für die Richtigkeit aller Angaben der
Evangelien erbrächten, wäre er bereit, an den Christus
zu glauben. In diesem Unvermögen, sich IHM anzunähern, liegt eine tiefe Tragik in Darwins Leben. Keine neuen Ideale sind es, die ihn von seiner Lebensmitte an erheben würden, sondern es ist der immerwährende und
gleiche Gedanke der über 21 Jahre hinweg in ihm rumort, der Gedanke von der natürlichen Entstehung der
Arten. Es ist so, als ob Darwin wie gebannt in den
dunklen und unbestimmbaren Grund der Vergangenheit
starren würde, nicht bemerkend, was die eigentlichen –
geistigen – Zeichen eines zukünftigen Zeitalters sind, das
von einem durch Michael geleiteten neuen Christusimpuls ausgeht.
Statt eines, von geistigen Idealen sich nährenden, inneren Wachstums empfindet er nur Stillstand und einen generellen Verfall in seiner Seele. Ich habe, so sagt er
1876, während der letzten dreißig Jahre keine Veränderung meiner geistigen Einstellung wahrgenommen... Was
für ein Ausdruck seelischer Erstarrung!
In dem Vortrag: „Wie finde ich den Christus“, spricht Rudolf Steiner von dem „Unglück“ des Menschen, der den
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Christus ableugnet und, dass dies eine „Schicksalsfrage“
sei. Schicksal aber bedeutet in Hinblick auf die Vergangenheit: Ich habe die Folgen meiner Taten aus (einem)
vorigen Leben zu tragen. Insofern also wäre Darwins
Krankheit die mögliche Folge der Bekämpfung des Christentums in seinem früheren Leben. Aber Schicksal oder
Karma bedeutet ja nicht nur logisches Fortwirken von
Vergangenem sondern ganz wesentlich und vor allem
auch Möglichkeit zur Sinnesänderung und Verwandlung.
Der Christus, als Herr des Schicksals, will ja, dass alle
Menschen geheilt werden. Wie aber kann sich eine solche Heilung vollziehen? Diese Frage kann nur zusammen mit der bereits oben gestellten anderen beantwortet
werden, nämlich: „Wie finde ich den Christus?“, denn geheilt werden und den Christus finden bedeuten ja dasselbe. Was also ist zunächst notwendig, um diesen Weg zu
betreten? R. Steiner spricht es in seinem Vortrag deutlich
aus:
Zunächst, am Anfang dieses Weges, sei es erforderlich,
die Ohnmacht in seiner Seele zu erleben, die Ohnmacht,
sich zu dem zu erheben, was man eigentlich in seinem
Innersten anstrebt; und dieses Erleben der Ohnmacht sei
zugleich das der Krankheit, die jeder Mensch (seit dem
Sündenfall) in sich trägt. Dieses Empfinden von Krankheit oder Ohnmacht aber ist ein gesundes!; denn nur
durch den damit verbundenen Schmerz, findet der
Mensch in sich selbst die Kraft zur Wandlung.
Darwin selbst hat diese Seelenohnmacht ganz stark in
sich wahrgenommen. Einerseits war er sich klar, dass er,
der er doch so vieles von der Welt gesehen hatte, noch
unendlich weit vom wahren Verständnis der eigentlichen
Lebensbeziehungen der Organismen entfernt war. Zum
anderen empfand er eben auch die Krankheit in sich, den
Verfall z. B. seines aesthetischen Erlebens.
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Dann, so sagt R. Steiner, wenn man die Seelenohnmacht
stark genug empfindet, kommt der Umschlag, dann können wir – wenn wir uns nun nicht mehr dem überlassen,
was an unseren Leib gebunden ist, sondern uns hingeben an den Geist – dann können wir innerlich auferstehen.
Das leise Vorgefühl einer solchen inneren Auferstehung
hatte auch Darwin; denn er wusste, was das Leben aus
dem Geist heraus heilen kann: zum einen ist es die
Kunst (wenn er, wie er sagt, sein Leben noch einmal zu
leben hätte, so würde er einen Teil davon der Lyrik und
der Musik widmen) zum anderen ist es die Kraft der Liebe, die Darwin in so reichem Maße vor allem an seine
Kinder verströmte (s. o.), und von der er gerne noch
mehr gegeben hätte (ich habe sehr oft bedauert, daß ich
meinen Mitgeschöpfen nicht mehr direkt Gutes getan
habe).
So sehen wir, wie Darwin im ganzen ein Schicksal – aus
der Zukunft herein? – zuteil geworden ist, das ihm doch
ermöglichte, die zentrale Christus-Kraft der Liebe zu entfalten. Diese Möglichkeit entstand besonders dadurch,
dass ihm zur rechten Zeit – kurz vor Beginn der zweiten
Lebenshälfte, als die Verfallskräfte so stark zu wirken begannen, - in seiner Frau der Mensch begegnete, der ihm
den Mangel an spiritueller Kraft so wundervoll auszugleichen half. (Einen Brief von ihr, in dem sie als Gegengewicht gegen seine „Gewohnheit, in der Wissenschaft
nichts zu glauben“ die Kraft des „Betens“ stellte und ihm
ihre Sorge um sein innerstes Seelenheil mitteilte, hat er
zeitlebens als kostbares Kleinod aufbewahrt und auf ihm
vermerkt: Wenn ich tot bin, so sollst Du wissen, daß ich
manchesmal diese Worte küßte und darüber weinte.)
Auch was Darwin durch den schmerzvollen Verlust seines früh verstorbenen Kindes (s. o.) an Seelenwärme
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und an Seelenlicht hinzugewann, gehört zu diesem Bereich des Christuswesens und lässt eine neue, zunächst
noch gemüthafte Nähe Darwins zu IHM erkennen.
Er ist wie Parcival auf dem Wege, aus der Kraft des „Mitleids“ ein „Wissender“ zu werden.
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Zeittafel
1809, 12. Feb.
Charles Darwin in Shrewsbury, Westengland, als 4. von 5 Kindern geboren.
1817 Tod der Mutter, Eintritt in die Unitarierschule.
1825 – 27
Medizinstudium in Edinburgh
1828 – 31
Theologiestudium in Cambridge
1831 – 36
Weltreise mit der “Beagle”; 2 Jahre in Südamerika. Wegweisende Forschungen
auf den Galapagosinseln. (etwa 2 Monate)
1837 Übersiedlung nach London
1838 Darwin Generalsekretär der geologischen Gesellschaft
1839 D. heiratet seine Cousine Emma Wedgwood. Ihnen werden in den darauffolgenden Jahren 10 Kinder geboren.
1839 Erscheinung seines ersten Buches: Reise eines
Naturforschers um die Welt
1841 Umzug der Familie auf den Landsitz in Down, in
der Nähe von London.
1842 – 46
Drei weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen als Forschungsergebnisse
seiner Weltreisen.
1848 Darwins Vater stirbt.
1848 – 49
Schwere Erkrankung Darwins, Wasserkur
1854 Monographie über die Rankenfüßler (1100 Seiten)
49
1859 Die Entstehung der Arten
1862 – 68
Weitere wissenschaftliche Arbeiten, u.a.
über die Orchideen, die Lebensweise
der kletternden Pflanzen und über das
Variieren der Tiere und Pflanzen unter
Domestikation.
1871 Die Abstammung des Menschen
1872 – 80
Weitere Arbeiten, u. a. über insekten-fressende Pflanzen, und über den Ausdruck
der Gemütsbewegungen bei Menschen
und Tieren.
1876 entsteht der Hauptteil zur Autobiographie: Mein
Leben
1881 Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der
Regenwürmer
1882 am 19. April Tod Darwins auf seinem Landsitz in
Down. Beisetzung in Westminster Abbey.
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