Marseille

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Marseille
THEMA
KULTURHAUPTSTADT 2013
Blick vom Hafen
auf die Basilika
Notre-Dame de
la Garde
Marseille
Eine Stadt der Gegensätze
Von der griechischen Siedlung bis
zur heutigen Metropole durchlebte
die Hafenstadt stürmische Zeiten.
Pater Christian Tauchner SVD entdeckte
die Faszination und die Gegensätzlichkeit der Grande Dame des
Mittelmeers.
Ein Relief über einem Hauseingang
erzählt die Gründungsgeschichte.
Ort der Begegnung
Marseille verdankt sich den Migranten, von Anfang
an. Die Gründungslegende erzählt, dass Protos und
Simos aus dem kleinasiatischen Phokaia (bei Izmir,
heute Foça) im 7. Jahrhundert vor Christus mit ein,
zwei Booten neue Lebensmöglichkeiten suchten.
Sie fuhren über das Mittelmeer und kamen mit ihren
Mannen im Rhône-Delta an. „Zufällig“ war da gerade
eine Feier von ligurischen Galliern, bei der die
Königstochter Gyptis sich ihren Mann aussuchen
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sollte. Und da hat sie sich doch vor allen versammelten gallischen Adligen den netten griechischen
Ankömmling erwählt und voilà, Marseille war
gegründet. In einer griechischen Version der Geschichte wird Protis umgetauft auf Euxenos, der
„gute Fremde“, Gyptis wird gar zu Aristoxene,
der „allerbeste Fremde“.
Die Legende spiegelt die Wirklichkeit: Bis heute
nimmt die Hafenstadt immer wieder Fremde auf
und bildet einen Schmelztiegel der Nationen.
Allerdings, auch seit Anfang an, deutet der Name
„Marseille“ auf eine Geschichte von Gewalt und
Kämpfen (Marseille = Opferstätte, von massa =
Opfer).
Wegen der hervorragenden Lage zwischen dem
Festland und dem offenen Meer war Marseille
immer eine wichtige Handelsstadt. Gleichzeitig
entwickelte sich dadurch die eigene Mentalität ihrer
Bewohner: Von deren Unabhängigkeitswillen zeugen
der Widerstand gegen Cäsar genauso wie die Teilnahme an der Französischen Revolution; gut 500
Freiwillige aus Marseille marschierten 1792 nach
Paris und spielten eine wichtige Rolle im Tuileriensturm. Bis heute versucht Marseille eine eigene
Politik zu machen, vielleicht etwas konfus, aber
zielsicher gegen „Paris“ gerichtet.
Unter dem Schutz
unserer Lieben Frau
Es gibt kaum ein Gebäude, über das die Marseiller
so liebevoll reden wie über ihre „Bonne Mère“(liebe
Mutter), genauer gesagt die Basilika Notre-Dame de
la Garde. Zu den Legenden Marseilles gehört, dass
sogar Lazarus und Maria Magdalena dorthin gekommen seien – alte christliche Wurzeln also.
Die Abtei Saint-Victor nahe dem Alten Hafen erlaubte 1214 einem „Meister Pierre“, auf einem dahinterliegenden Wachhügel (daher „de la Garde“) eine
Kapelle zu bauen, die dieser der Jungfrau widmete.
Unter Bischof Mazenod wurde 1853 der Grundstein für die neue Basilika gelegt, allerdings gab es
von militärischer Seite die Auflage, große Flächen
um die Kirche „für die Kanonen“ zu belassen und
eine Garnison zu errichten. Den Auftrag erhielt ein
junger protestantischer Architekt, Jacques-Henri
Espérandieu. Elf Jahre später wurde die imposante
Basilika im byzantinischen Stil eingeweiht. Als
„Höhepunkt“ krönt eine elf Meter hohe und fast
10.000 Kilogramm schwere vergoldete Statue der
heiligen Jungfrau die Spitze des Kirchturms. Wird
sie in der Dunkelheit angestrahlt, gleißt ihr Metallschimmer weit übers Meer hinaus. Aber auch bei
Tag kann man das Wahrzeichen von Marseille von
überall aus sehen.
Innen ist die Basilika mit reichen Mosaiken
verziert, die das Leben Mariens erläutern. Die Apsis
wird von der silbernen Marienstatue „Chanuel“
beherrscht, nach dem Künstler genannt, der sie in
sechs Jahren Arbeit hergestellt hat. Wo man hinschaut, hängen Votivbilder und kleine Gemälde, die
von Dankbarkeit für die Rettung aus der Not zeugen.
Tipp: Von der Bastei aus genießt man einen
fantastischen Rundumblick auf ganz Marseille.
Die prächtige
Apsis der
Basilika
Notre-Dame
de la Garde
Fotos: Christian Tauchner SVD
JULI . AUGUST
AUGUS
S T 2013
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THEMA
KULTURHAUPTSTADT 2013
Die „13 Ecken“ im Panier-Viertel
Wenn Ex-Polizist Fabio Montale wissen will, wer in
Marseille gerade in welche Geschäfte verwickelt ist,
kann es schon sein, dass er in der Bar „13 Ecken“
im Panier-Viertel seine Freunde vom Polizeirevier
und der Mafia trifft – wenigstens in den Romanen
Jean-Claude Izzos, in denen die Stimmung Marseilles in den 90er-Jahren gut beschrieben wird.
Nördlich des Vieux Port (des Alten Hafens)
erstreckt sich auf den Resten der antiken griechischen Stadt Massalia das Panier-Viertel, die Altstadt
und Seele Marseilles. Der Name soll auf eine
Herberge „Le Logis du Panier“ zurückgehen. Einst
Quartier der Seeleute und Fischer, lebt heute hier
ein buntes Gemisch aus Franzosen, Italienern,
Nordafrikanern und Menschen aus der Karibik.
Obwohl das Viertel seit Jahrhunderten verbessert,
saniert und umgestaltet wird, gibt es immer noch
die typischen malerischen Gässchen mit den
schmalen farbenfrohen Häusern. In dem Labyrinth
von auf- und absteigenden Sträßchen, Gängen und
Stiegen haben sich viele Künstler mit ihren Ateliers
und Galerien niedergelassen.
Der besondere Charme des Panier-Viertels täuscht
allerdings nicht über die Armut vieler seiner Bewohner hinweg. Mit dem Projekt der Kulturhauptstadt
fand eine neuerliche „Bereinigung“ des Quartiers
statt und wieder wurden viele ärmere Familien aus
dieser Gegend vertrieben oder abgedrängt.
Bar der 13 Ecken: ein Treffpunkt im Panier-Viertel
Den Petersfisch
gibt es frisch
am Markt.
Bouillabaisse
Um die Herkunft der wohl bekanntesten Fischsuppe
der Welt ranken sich die unglaublichsten Geschichten. Sicher ist nur, dass die Bouillabaisse, die ursprünglich ein einfacher Eintopf aus Fischresten war
(bouillir = kochen und abaisser = von der Feuerstelle
nehmen), von den Marseiller Speisekarten nicht
mehr wegzudenken ist. Beim Verzehr gilt es einer
bestimmten Dramaturgie zu folgen: Der Fisch wird
getrennt vom Sud serviert, die diversen Beilagen
werden immer in der gleichen Abfolge gelöffelt. Unabdingbare Voraussetzung für eine richtige Bouillabaisse ist fangfrischer Fisch. Vier Sorten müssen es
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mindestens sein, u. a. Drachenkopf, Petersfisch und
Wolfsbarsch. Fündig wird man am Fischmarkt beim
Alten Hafen. Ob Dorade, Muscheln oder Tintenfisch,
hier prüfen Hausfrauen neben Küchenchefs von
Gourmetrestaurants die Ware und erstehen die besten Exemplare. Noch, denn es steht schlecht um den
Fischmarkt im Alten Hafen: Es gibt immer weniger
Fische und die Fischindustrie macht den kleinen Fischern das Leben schwer. Mit der Neugestaltung der
Fußgängerzone gewinnt der Alte Hafen zwar an touristischer Attraktivität, für den Fischmarkt bedeutet
es aber mehr Schaulustige als wirkliche Kunden.
Fotos: Christian Tauchner SVD
Place des Moulins und
Place de Lenche
Ein malerischer
Platz im PanierViertel
Rue de la République
Für den Bau dieser Prachtstraße, die die direkte Verbindung zwischen dem Vieux Port und der modernen Hafenanlage La Joilette darstellt, sparte man
schon 1862 weder Kosten noch Mühen. In einem
einmaligen Kraftakt wurden große Hügel abgetragen, Straßenzüge zerstört, Häuser abgerissen und
16.000 Menschen umgesiedelt. Die Architektur hatte sich wie in Paris strengen Regeln zu unterwerfen.
Es entstanden lange Häuserinseln mit immer gleichen Geschoßhöhen und fortlaufenden Balkonen.
Trotz des Aufwandes lehnten die Marseiller die
Straße, die sie zu sehr an die Pariser Boulevards
erinnerte, ab. Als dann noch die Mieten drastisch
erhöht wurden, war der wirtschaftliche Untergang
vorprogrammiert. Armut breitete sich aus, die einstige Vorzeigestraße vegetierte vor sich hin. Mitte der
1990er-Jahre nahm sich die Euroméditerranée der
Sache an, sanierte die Häuser, suchte solvente
Mieter und versuchte die Rue zur Konsum- und Einkaufsmeile hochzustilisieren. Die verarmten Bewohner passten nicht ins Konzept und mussten in andere Viertel weichen. Bleibt abzuwarten, ob die Stadtregierung diesmal ihr Ziel erreicht.
Zum höchsten Punkt des Panier-Viertels gelangt
man über schmale Gassen. Auf der Place des Moulins standen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts
15 Windmühlen; die Müller nutzten den starken
Wind der umliegenden Berge, um feines Mehl zu
mahlen, das dann von den Bäckern des Viertels zu
Croissants und Baguettes verarbeitet wurde. Heute
gibt es nur noch wenige Überreste der historischen
Mühlen. Jetzt stehen hier gepflegte provenzalische
Bürgerhäuser in erdigen Farben. Über den ganzen
Platz ragen Platanen und spenden Schatten.
Der älteste Ort von Marseille ist die Place de
Lenche, der alte griechische Marktplatz, um den
sich das damalige Massalia zur Stadt entwickelt hat.
Der malerische Platz mit seiner sehr wechselhaften,
oft blutigen Vergangenheit wird heute gern als
Kulisse für Film- und Fernsehproduktionen genutzt.
In den gemütlichen Cafés kann man nicht nur sein
pain au chocolat, sondern auch den freien Blick auf
den Vieux Port und die Basilika Notre-Dame de la
Garde genießen.
Typisches Haus
in der Rue de la
République
Kritische Stimmen gegen die
Einkaufsmeile
JULI
JUL
L I . AUGUST
AUG
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