Leistungsverfall in der Rechtschreibung - Julim

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Leistungsverfall in der Rechtschreibung - Julim
Leistungsverfall in der Rechtschreibung?
Empirische Befunde aus verschiedenen Phasen zwischen 1949 und 2012
Der angebliche Sprachverfall ist ein altes Thema der Kulturkritik (vgl. u.a. Ingenkamp 1967 und das Zitat
aus babylonischen Zeiten). Aktuell sind es die Rechtschreibleistungen, deren Verschlechterung u.a. in der
ZEIT und im SPIEGEL dramatisiert wird (von Bredow/ Hackenbroch 2013; Lüpke-Narberhaus 2013).
Dabei sind die empirischen Belege nicht leicht auf einen Nenner zu bringen, wie die folgende Übersicht
zeigt – und sehr unterschiedliche Erklärungen für beobachtete Veränderungen möglich (vgl. die Fragen im
Kommentar am Ende).
Untersuchung
Jahr 1950
Form
Steinig u.a.(2009; 2014)
Aufsatz
Aufsatz
Brügelmann (2003) „Schreibvergleich“ 
„NRW-Kids“ 4.Kl.
Brügelmann (2004) „IEA-Lesestudie“  „NRWKids“ 8. Kl.
Ingenkamp (1968) Berlin
Vogel (1988) Hessen landesweit
Boyer (1992) Schulpsychol. Bremer Bezirk
Kiepe (1998) BASF (Hauptschule)
Kiepe (1998) BASF (Realschule)
Freytag (1998) IHK-Kassel (Testform A)
Freytag (1998) IHK-Kassel (Testform B)
Kühn (1995) RST8+ Neueichung
Zerahn-Hartung/ Pfüller (1998): Bsch, GY, Uni
Roßbach/ Wellenreuther (2001) versch.
Neueichungen von Schultest
Schneider/ Stefanek (2007): 17-/23-Jährige
Bos u. a. (2007) „IGLU“
May (2013): HSP-Normierung 2012, Klasse 1/2
May (2013): HSP-Normierung 2012, Klasse 3-10
= Verschlechterung
60
Aufsatz
Diktat
Diktat
Diktat
Diktat
Diktat
Diktat
Diktat
Test
Test
Test
Test
Test
Test
Test
= Konstanz
= Verbesserung
70
80
Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben,
sie ist böse, gottlos und faul.
Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher,
und es wird ihr niemals gelingen,
unsere Kultur zu erhalten.
(Inschrift auf babylonischer Tafel vor 3.000 Jahren)
90
2000
10
Die Abbildung zeigt schon auf den ersten Blick: Unabhängig vom Zeitraum, von der Zeitspanne und der Erfassungsform sind die Befunde nicht eindeutig.
Zudem stehen folgende forschungsmethodische wie inhaltliche Fragen im Raum, die bedacht werden müssen, will man die Befunde zutreffend einschätzen:

Werden in den Aufgaben überhaupt bedeutsame Aspekte der Rechtschreibkompetenz erfasst (z. B. Diktat vs. „Sechs tragfähige Grundlagen“, d. h. ist es
im Sinne einer Rechtschreibfähigkeit bedeutsam diktierte Fremdtexte korrekt schreiben zu können oder sind die Fähigkeiten verständlich schreiben,
richtig abschreiben, selbstständig mit Lernwörtern üben, Wörter nachschlagen, Texte kontrollieren und korrigieren, mit Regelungen umgehen zu können
wichtiger?)

Sind die berichteten Entwicklungen wirklich linear – oder schwanken sie zwischendurch?

Sind die Stichproben repräsentativ für ihre Zeit (z. B. Regionen oder freiwillige Meldungen)?

Sind dieselben Schulformen bzw. ihre Populationen vergleichbar (z. B. Hauptschule 1975 und 1995)?

Haben dieselben Aufgaben noch dieselbe Bedeutung (z. B. „Aufsatz“ 1972 und 2012)?

Sind dieselben Wörter zu verschiedenen Zeitpunkten gleich bedeutungsvoll/ gleich schwierig (z. B. Diktat 1970 und 2000)?

Können neben dem Unterricht auch andere Bedingungen ursächlich für Verbesserungen/ Verschlechterungen sein (z. B. Veränderung gesellschaftlicher
Erwartungen und Modelle)
Die einzige längerfristig aussagekräftige Repräsentativuntersuchung ist die vom BMBF geförderte leo.-Studie von Grotlüschen/ Riekmann (2012, 26), die nur
geringe Schwankungen zeigt – dazu noch in beide Richtungen, aber(erstaunlich geringen Unterschieden:
Anteile alle Niveau
18-29 J.* 30-39 J. 40-49 J. 50-64 J.#
25,9 % gebräuchliche Wörter
26,6 % 25,6 % 23,7 %
27,4 %
fehlerhaft geschrieben
*Grundschule
# Grundschule
1987-1998
1952-1966
Interessant ist die parallele Entwicklung beim Lesen: von den Geburtsjahrgängen 1929 bis 1996 lesen die jüngeren Erwachsenen besser als die älteren (vgl. OECD
1995; Rammstedt 2013). Welche Anteile dieses Kompetenzzuwachs der Schule zuzurechnen sind und welche einem späteren Lernen „on the job“ (oder
Vergessen nach der Schule), kann anhand der vorliegenden Daten nicht entschieden werden. Auf keinen Fall aber stützen sie die verbreitetenKLagen über einen
„Leistungsverfall“ in der Schriftsprache.
Hans Brügelmann, 10.10./ 17.6.2013
Nachweis der Quellen, in denen die Studien referiert werden:
Bos, W., u. a. (2010): IGLU 2006 – die Grundschule auf dem Prüfstand. Vertiefende Analysen zu Rahmenbedingungen schulischen Lernens. Waxmann: Münster, 35 ff.
Bredow, v. R./ Hackenbroch, V. (2013): Die Rechtschreipkaterstrofe. Warum unsere Kinder nicht mehr richtig schreiben lernen.In: Der SPIEGEL Nr. 25 v. 17.6.2013.
Brügelmann, H. (1999):Was leisten unsere Schulen? Erhard-Friedrich-Verlag: Seelze, 10 ff.
Brügelmann, H. (2003): Rechtschreibung in freien Texten am Ende der Grundschule. Teilauswertung der NRW-KIDS-Studie 2001, Anm. 5. Download: http://www2.agprim.unisiegen.de/noten/nrwkids/nrw-kidsrechtschreibungfreietexte2003.pdf
Brügelmann, H. (2004): Textmenge und Rechtschreibfehler in freien Texten (Klasse 4 bis 12). Eine Sekundärauswertung der Studie NRW-KIDS. FB 2 der Universität: Siegen. Download:
http://www2.agprim.uni-siegen.de/noten/nrwkids/sonstiges/nrw_4_13%5B1%5D.brue-size.sort.means_jahrgang__x_schuform.pdf
Brügelmann, H. (Hrsg.) (2005): Schule verstehen und gestalten – Perspektiven der Forschung auf Probleme von Erziehung und Unterricht. Libelle: CH-Lengwil, 247 ff.
Grotlüschen, A./ Riekmann, W. (2012) (Hrsg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie, Münster, Waxmann
IDS (Hrsg.) (2014): Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation. Jahrbuch 2013. Institut für Deutsche Sprache: Berlin (im Druck).
Ingenkamp, K. (1967): Schulleistungen – damals und heute. Beltz: Weinheim.
Lüpke-Narberhaus, F. (2013): Rechtschreibung bei Schülern: "Ich fant den Film gemein". Download: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/rechtschreibung-schueler-machen-mehr-fehlerschreiben-aber-kreativer-a-891202.html 28.3.2013
OECD & Statistics Canada (ed.) (1995): Grundqualifikationen, Wirtschaft und Gesellschaft. Ergebnisse der ersten internationalen Untersuchung von Grundqualifikationen Erwachsener. Paris/
Ottawa (engl. 1995).
Rammstedt, B. (Hrsg.) (2013): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012. Waxmann: Münster u.a.
Schneider, W./ Stefanek, J. (2007): Entwicklung der Rechtschreibleistung vom frühen Schul- bis zum frühen Erwachsenenalter. Längsschnittliche Befunde der Münchner LOGIK-Studie. In:
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21. Jg., H 1, 77–82.
Steinig, W., u. a. (2009): Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002. Waxmann: Münster u. a.
Steinig, W./ Betzel, D. (2014): Schreiben Grundschüler heute schlechter als vor 40 Jahren? Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972, 2002 und 2012. In: IDS (2014, im Druck).

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