Unter Verdacht Unter Verdacht

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Unter Verdacht Unter Verdacht
Unter Verdacht
Sieben Kriminalgeschichten
mit bayerischen Tieren und Pflanzen
Liebe Leserin, Lieber Leser
Sie glauben, es ist sowieso immer der Gärtner? Dann werden Sie
unsere Kurzkrimis überraschen! In jeder Geschichte sind ausgewählte Tiere und Pflanzen in die Fälle und ihre Lösung verwickelt. Das ist
das eigentlich Besondere an den sieben Kurzkrimis.
Mit diesem Büchlein möchten wir zeigen, dass Tiere und
Pflanzen aus unserer unmittelbaren Umgebung auch Stoff für
spannende Literatur liefern. Wir freuen uns, Ihnen die bayerischen
UrEinwohner auf diese Weise näher bringen zu können.
Bayerns UrEinwohner sind heimische Tiere und Pflanzen, die
selten, geschützt und regionaltypisch sind. 55 Landschaftspflegeverbände setzen sich in Bayern für die Pflege und den Erhalt artenreicher Landschaften ein. Sie wissen, wie die Arten und ihre Lebensräume gepflegt werden müssen.
Mit der Kampagne „Bayerns UrEinwohner“ wollen die Landschaftspflegeverbände die Faszination und Einzigartigkeit unserer
heimischen Natur vermitteln.
Wir bedanken uns herzlich beim Bayerischen Staatsministerium
für Umwelt und Gesundheit für die Förderung, bei Dirk Kruse für
seine Unterstützung und den Autorinnen und Autoren für ihre
spannenden Geschichten.
Viel Spannung und Freude beim Lesen wünschen
Josef Göppel (MdB)
Vorsitzender
des Deutschen Verbands
für Landschaftspflege (DVL)
Klaus Blümlhuber
Landessprecher
der bayerischen
Landschaftspflegeverbände
Inhalt:
Der Schmetterling
Peter Freudenberger
Unterfranken
7
Fünf Leichen zuviel
Thomas Kastura
Oberfranken
17
25 Sand-Tragant
Dirk Kruse
Mittelfranken
31
Die Lavendelmaus
Hildegunde Artmeier
Oberpfalz
39
Zeig mir deinen
Schmetterling
Richard Dübell
Niederbayern
53
Der Krätta-Mann
Nicola Förg
Schwaben
61
Die Grillen und
das Ende eines Dorffestes
Angela Eßer
Oberbayern
Peter Freudenberger
Der Schmetterling
Wenn Strobel die Augen schloss, schwirrte ihm der Kopf von Toten. Die
eigenen, Familie und verstorbene Freunde, glichen Schmetterlingen. Sie umflatterten ihn zutraulich, als wäre er eine Blume, doch wenn er nach ihnen griff,
entglitten sie ihm mit wenigen Schlägen ihrer leichten Flügel. Die fremden
Toten brausten durch sein Hirn wie Krähen, die sich am Herbsthimmel sammelten. Bei jeder Windung seiner Gedanken kehrte der schwarze Schwarm
ebenfalls um wie auf ein geheimes Zeichen. Die fremden Toten, das waren die,
deren Schicksal Strobel zu klären hatte. Es waren die Opfer, deren Mörder er
verfolgte.
Felix Petri war einer der fremden Toten. Dennoch erschien er Strobel wie
einer der Schmetterlinge. Oft hatte er sich im Laufe der Ermittlungen gefragt,
woran das liegen mochte. Er hatte eine Reihe von Gründen gefunden – und
darüber auch Petris möglichen Mörder.
Strobel öffnete die Augen und betrachtete durch die Glasscheibe den Mann
im Nachbarzimmer. Er selbst blieb unsichtbar, die Scheibe war auf der anderen
Seite verspiegelt. Der Mann hatte seinen Anwalt neben sich. Claudia Junk, die
das Verhör führte, saß ihnen gegenüber, Strobel sah nur ihren Rücken.
Der Anwalt klappte seinen Aktenkoffer zu und stellte ihn unter den Tisch.
„Wenn Sie nichts weiter vorzubringen haben, fordere ich Sie auf, meinen
Mandanten gehen zu lassen“, sagte er mit geschäftsmäßiger Selbstsicherheit.
„Das entscheidet Hauptkommissar Strobel.“
„Dann holen Sie diesen Strobel!“ Der Anwalt lehnte sich gebieterisch
nach vorne.
„Er wird bereits informiert.“
Strobel schloss die Augen wieder und suchte nach dem Toten.
War das Leben dieses Felix Petri nicht das eines Schmetterlings gewesen?
Unscheinbar wie eine Raupe hatte er seine Kindheit verbracht, die Schule,
die Ausbildung zum Bankkaufmann. Ein Einzelgänger, der sich ein Hobby
zugelegt hatte, das ihn von den anderen noch weiter entfernte.
Petri beobachtete Schmetterlinge und fotografierte sie. Eine Leidenschaft,
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in die er sich seit seiner Pubertät völlig eingeschlossen hatte wie die Raupe,
die sich verpuppt. Erst in der letzten Phase seines Lebens war er aus dem
Kokon ausgebrochen, im Sterben hatte er Aufmerksamkeit geweckt. Die
bescheidene Aufmerksamkeit eines Mörders und einer Sonderkommission,
deren Besetzung weit unter der sonst üblichen Teamstärke blieb.
Strobel hatte die SoKo „Falter“ getauft. Das lag an der Fotografie, die ihm den
wichtigsten Grund geliefert hatte, sich den Toten als Schmetterling zu denken.
Die Leiche war am Autobahnrastplatz oberhalb von Aschaffenburg gefunden
worden, eingeschlagen in eine Plastikplane. Sie trug nichts bei sich, woran sich
ihre Identität hätte feststellen lassen, keine Papiere, persönlichen Gegenstände
oder Schlüssel. Für die Kripo nichts Neues. Der Rastplatz galt als beliebter
Ablageort für die Opfer von Händeln im Frankfurter Milieu. Eine halbe
Stunde hin, eine halbe Stunde über die nächste Ausfahrt wieder zurück. Der
Einsatzleiter hätte den Fall gerne an die Hessen abgeschoben, aber es kam anders.
Der Mann war erschlagen worden und nicht, wie in der Szene üblich,
erschossen oder mit dem Messer kalt gemacht. Wer da zugeschlagen hatte, war
alles andere als ein Profi. Mit einem stumpfen Gegenstand hatte er wahllos auf
sein Opfer eingedroschen und die Schädelbasis eher zufällig zerschmettert, da
war sich der Rechtsmediziner sicher. Die Tatzeit lag am Vorabend kurz nach
Einbruch der Dunkelheit, der Tatort blieb unbekannt.
Einen Tag später kam die Vermisstenanzeige der Eltern. Da wussten sie,
mit wem sie es zu tun hatten: Felix Petri, 29 Jahre alt, ledig, wohnhaft in
Aschaffenburg-Schweinheim.
Die kleine Eigentumswohnung im neuen Rosenseeviertel knöpften sie sich
als erstes vor. Doch jemand war schneller gewesen, hatte die Wohnung auf
den Kopf gestellt, die Schränke und Schubladen durchwühlt. Der PC war
ebenso verschwunden wie sämtliche Speichermedien. Außerdem fehlten die
Fotoalben, die Petri sich nach Auskunft der Eltern von seinen Schmetterlingen angelegt hatte. Es gab nur ein einziges Foto, das die SpuSi unter dem Fußabstreifer im Wohnungsflur aufgestöbert hatte. Ein Digitalfoto, ausgedruckt
auf billigen Papier.
Im Mittelpunkt des Bildes, gestochen scharf: ein Falter. Wegen der länglich
geformten Flügel hatte Strobel nicht sofort an einen Schmetterling gedacht.
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Er war Großwildjäger, kein Lepidopterologe. Die Flügel waren schwarz mit
auffälligen roten Flecken. Zum Kopf hin wirkte das Muster wie ein roter
Kragen, was dem Falter etwas Majestätisches verlieh. Der Schmetterling saß
auf einer Pflanze mit gelben Blüten. Sie wuchs am Rand eines Wegs, von dem
das Bild im Vordergrund, unscharf, einen kleinen Ausschnitt zeigte. Dahinter
erstreckte sich eine Wiese, weit im Hintergrund waren, sehr verschwommen,
ein paar Häuser auszumachen, eher zu erahnen.
Zweierlei war sicher: Petri war nicht in seiner Wohnung erschlagen
worden. Und der Einbrecher hatte die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Petris
Schlüssel? Daraus ließ sich die Vermutung ableiten, dass es sich bei dem Einbrecher auch um den Mörder handelte. Was hatte er hier gesucht? Dieses
Bild, das Petri so wichtig war, dass er es unter dem Fußabstreifer versteckt
hatte? Strobel verbiss sich in den Schmetterling, der nach und nach mit Petri
verschmolz.
Pia Haas-Waldleben warf einen kurzen Blick auf die Fotografie und sah
Strobel dann über den Rand ihrer Brille hinweg erstaunt an. „Das ist ein
Glückswidderchen. Wo ist das aufgenommen worden?“
„Ein Widderchen?“, fragte Strobel zurück.
Das Erstaunen wandelte sich in Nachsicht. Pia Haas-Waldleben war
lange genug als Naturschutzfachkraft im städtischen Umweltamt tätig, um
zu wissen: Die meisten Menschen hatten keine Ahnung, was um sie herum
kreuchte und fleuchte, „Glückswidderchen. Der Schmetterling ist äußerst
selten. Vom Aussterben bedroht, genau gesagt. Wo ...“
Strobel unterbrach sie. „Wir wissen es nicht. Wo könnte es denn aufgenommen worden sein? Sehen Sie die Häuser im Hintergrund?“
Die Nachsicht machte Neugier Platz. Sie musterte das Bild, schüttelte den
Kopf. „Jedenfalls nicht hier. Nicht bei Aschaffenburg.“
„Sind Sie sicher? Warum nicht hier?“
Wieder wandte sie ihm den Kopf zu und betrachtete ihn beleidigt. Bloß
weil jemand keine Ahnung hatte, musste er nicht ihr Fachwissen in Frage stellen. „Das ist unmöglich. Die Raupen des Glückswidderchens brauchen ganz
bestimmte Pflanzen, Kronwicken, und nur da legt der Schmetterling auch
seine Eier ab. Kronwicken kommen aber nur auf kalkigen Böden vor. Und wir
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haben hier keinen Kalk.“
„Ich verstehe nicht ...“
„Was gibt es da zu verstehen?“ Jetzt klang sie verärgert. Der Mann war
Bulle. Sollte ein Kripobeamter nicht zumindest einfacher Kombinationen
fähig sein? „Kein Kalk, keine Kronwicken. Keine Kronwicken keine Raupen.
Keine Raupen, kein Schmetterling. Klar?“
„Kein Kalk“, wiederholte Strobel. Dann tippte er auf das Bild. „Und das
hier?“
Zum dritten Mal sah sie erst auf das Bild, dann zu Strobel. Der Ärger wich
Erstaunen. Gar nicht schlecht für einen Bullen.
„Gibt’s daran was auszusetzen?“, polterte Markus Schwind und erhob sich
drohend von seinem Stuhl.
Strobel zuckte zusammen. Wieder jemand, der ihn von oben herab
behandelte, diesmal schon körperlich. Schwind, der Leiter des städtischen
Forstamts, war ein Hüne von Mann, ein Wandschrank von zwei Meter Länge
und ähnlicher Spannweite, wenn er seine Arme von den breiten Schultern
abspreizte. Ein kantiger Naturbursche, in grünes Loden gekleidet, die Uniform
der politischen und behördlichen Obrigkeit im Freistaat, die einem Beamten
selbst im nördlichsten Bayern noch Respekt einflößte.
„Nein“, brachte er schließlich heraus. „Ich wollte nur wissen, ob es sich hier
um Kalk handelt.“
„Was soll das sonst sein?“ Schwind kniff die Augen zusammen. „Wollen Sie
mir vielleicht unterstellen, dass wir vom städtischen Forstamt diesen arsenhaltigen Schotter benutzen, hinter dem die Grünen ständig herschnüffeln?
Wer schickt Sie?“
„Also ist das Kalk?“
„Natürlich. Natürlicher Kalk. Damit schottern wir seit fünfzig Jahren die
städtischen Wald- und Wiesenwege. Und bisher hat keiner was dran auszusetzen gehabt.“
„Warum nehmen Sie kein heimisches Gestein?“
Schwind schien vor Empörung noch zu wachsen. „Ach, so einer sind Sie.
Verschwendung von Steuergeldern, was? Ich kann Ihnen nur sagen: Den
Kalkschotter kriegen wir in Würzburg nachgeschmissen, da kommt hier
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keines von den Hartsteinwerken mit. Außerdem zahlt sich das langfristig aus.
Der Kalkstaub wird in die Wegraine geweht. Das ist wie Dünger.“ Schwind
fuchtelte mit der Fotografie vor Strobel herum, als wolle er ihn wie eine lästige
Fliege vertreiben. „Schau’n Sie sich das Bild doch mal an. Sehen Sie, wie’s da
wächst am Weg? Die Wiese dahinter, völlig mager. Wir sollten uns das Kalkschottern patentieren lassen.“
„Kennen Sie die Stelle denn?“
„Ob ich die Stelle kenne? Und ob ich sie kenne! Die Häuser da – das ist der
Schweinheimer Ortsrand. Der Weg führt über den Südhang vom Sternberg.
Die Wiese dazwischen, das wird jetzt alles Baugebiet.“
„Auch wenn es da geschützte Tierarten gibt?“
„Das haben die doch alles geprüft. Die Pia Haas-Waldleben ist da wochenlang rumgekrochen, und die Spezialisten vom Verband für Landschaftspflege
gleich hinterher. Da gibt’s nix. Der Ameisenbläuling tummelt sich weiter
westlich im Tal, wo’s feuchter ist. Die Zauneidechse haust im Osten bei den
Granitfelsen. Und der Steinkauz wohnt weiter oben im Streuobst.“
Strobel schnappte sich das Foto und drehte es zu Schwind um. „Der Falter
da soll ein Glückswidderchen sein.“
„Blödsinn. Das Glückswidderchen braucht die Kronwicke. Und die Kronwicke braucht ...“ Schwind hielt inne und setzte sich abrupt. „... Kalk“, ächzte
er mit dem Stuhl um die Wette.
Die Tür ging auf, Strobel öffnete die Augen. Bühler trat ein, der Chef der
Spurensicherung. Er nickte ernst und überreichte Strobel drei winzige Beutel
aus durchsichtigem Plastik. Strobel studierte die Aufkleber, schweigend, als
könne er auf der anderen Seite der Scheibe gehört werden, wenn er etwas
sagte. Schließlich klopfte er Bühler auf die Schulter, griff nach der Fotografie
und verließ den Raum.
Bühler sah zu, wie er auf der anderen Seite wieder auftauchte, den
Verdächtigen und den Anwalt begrüßte, die sich höflich erhoben. Die beiden
wollten sich verabschieden, doch Strobel bedeutete ihnen, sich wieder zu
setzen, während er sich neben Claudia niederließ und das Gespräch eröffnete.
„Sie haben Felix Petri völlig sinnlos getötet, Herr Krüppner“, sagte Strobel.
„Wir müssen uns das nicht anhören“, warf der Anwalt ein.
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Strobel ließ sich nicht unterbrechen. „Sie haben in Petris Wohnung gründliche Arbeit geleistet, aber doch etwas Entscheidendes übersehen.“ Er legte das
Foto vor Krüppner auf den Tisch. „Dieses Bild. Es zeigt die Stelle, an der Petri
erschlagen wurde. Genau hier ... “, er tippte auf die Pflanze mit dem Schmetterling, „ ... hat sich das abgespielt. Da lag der Tote, bevor Sie ihn weggebracht
haben.“
„Was soll das?“, brauste der Anwalt auf.
„Das Ergebnis der Spurensicherung ist eindeutig“, fuhr Strobel fort. „Es sind
übrigens Bergkronwicken. Die gibt es sonst nirgends mehr rings um Aschaffenburg. Ich habe das aufwendig überprüfen lassen. Sie kennen die Stelle?“
Krüppner betrachtete die Fotografie. „Nicht, dass ich wüsste ...“
„Die Wiese da.“ Wieder tippte Strobel auf das Bild. „Das ist Ihr Baugrund.
Sie planen dort eine Siedlungserweiterung. Nennt sich Tänzrain, richtig?“
„Hören Sie“, Krüppner gab sich entrüstet, „ich bin Bauinvestor. Ich hab
ein Dutzend Projekte am Laufen. Da kann ich doch nicht jeden Krautacker
persönlich kennen.“
„Diesen schon“, sagte Strobel. „Sie waren erst vor drei Wochen dort, Mitte
August, als Sie Petri erschlagen haben.“
Krüppner schüttelte den Kopf. „Das ist Blödsinn. Es ist ewig her, dass ich
dort war. Im Februar oder März vielleicht. Fragen Sie mein Büro, ich hab alle
Ortstermine im Kalender.“
Strobel nahm eines der Plastikbeutelchen und schob es Krüppner zu.
„Wissen Sie, was da drin ist?“
„Sie werden es uns sagen“, schaltete sich der Anwalt ironisch ein.
„Das sind Eier des Glückswidderchens. Eines Schmetterlings. Dieses
Schmetterlings.“ Strobel hob das Bild an. „Er legt sie an den Blättern dieser
Pflanze ab, und zwar reichlich. Die Eier hier sind an Petris Kleidern hängen
geblieben, als er da lag.“
„Was hat das mit mir zu tun“, fragte Krüppner ungeduldig.
„Das da“, Strobel schob das zweite Beutelchen über den Tisch, „sind ebenfalls Eier des Glückswidderchens. Sie stammen aus ihrem Auto.“
Der Anwalt hob abwehrend die Hand. „Nach den Ermittlungsakten war
Petri in einer Plastikfolie transportiert worden.“
„Eben“, erwiderte Strobel. „Der Kofferraum war sauber. Wir haben sie am
Fahrersitz gefunden.“
„Das beweist gar nichts“, rief der Anwalt, während Krüppner schwieg.
„Die Möglichkeiten der Kriminaltechnik werden oft unterschätzt“, lächelte
Strobel. „Es beweist, dass Sie zur Tatzeit am Tatort waren, Herr Krüppner.
Diese Eier ... “, seine Hand wies von einem Beutelchen zum anderen, „ ... sind
aus der selben Familie, wenn ich das so laienhaft sagen darf, und im selben
Entwicklungsstadium. Sie haben sie aufgelesen, als Sie Petri erschlagen und
eingepackt haben, und dann am Fahrersitz abgestreift. Ihre Kleider knöpfen
wir uns noch vor.“
Krüppner senkte den Blick.
Strobel war das nicht entgangen. „Warum hat sich Petri dort mit Ihnen
getroffen? Wollte er Geld von Ihnen?“
Krüppner schnaubte höhnisch. „Geld, wenn’s nur das gewesen wäre. Als
ob’s bei so einem Projekt auf ein paar Tausend rauf oder runter ankäme. All die
geschützten Viecher, liebe Güte, da könnte man heute nirgends mehr bauen.“
„Aber Petri war anders?“
„Dem war’s ernst. Wollte an die Behörden gehen, wenn ich das Baugebiet
nicht von allein aufgebe.“ Wieder das höhnische Schnauben. „Aufgeben!
Wissen Sie, was ich da schon alles reingesteckt habe, in Boden, Pläne und
Marketing? Und plötzlich wäre das ein Biotop geworden. Unverkäuflich. Das
hätte mich ruiniert.“
Der Anwalt legte ihm die Hand auf den Arm. „Sie müssen nichts sagen.“
„Ich hab nicht vorgehabt, ihn umzubringen“, wehrte Krüppner ab. „Er hat
mich abends dorthin bestellt, weil die Viecher in der Dämmerung nicht mehr
herumfliegen, sondern in Gruppen auf den Blüten sitzen würden. Und wie der
Spinner dann so rumgenölt hat ... Da bin ich einfach ausgerastet und hab mir
die Stablampe geschnappt, mit der er dauernd rumgefuchtelt hat.“
Strobel erhob sich. „Nimm du das auf “, sagte er zu Claudia.
An der Tür drehte er sich noch einmal um. Petri hatte mit seinem Leben
dafür bezahlt, aber letztlich das Glückswidderchen gerettet. Und im Gegenzug? Er betrachtete Krüppner. Ein großes Tier, eines, von denen es viele gab,
ein Baulöwe, der es gewohnt war, anderen das Genick zu brechen. Dennoch
war es ein kleines, seltenes und harmloses Insekt, das ihn zur Strecke gebracht
hatte. Sein Schmetterling.
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Glückswidderchen
Bild: Bernhard Reiser
(Zygena fausta)
Das Glückswidderchen heißt auch
Bergkronwicken-Widderchen und ist ein besonders
farbiger Kleinschmetterling. Er ist selten und vom
Aussterben bedroht (Rote Liste Bayern 1), denn
er ist auf eine ganz bestimmte Pflanze angewiesen:
Für Eiablage und Nahrung der Raupe benötigt er
die Bergkronwicke. Diese Pflanze wächst nur auf
kalkhaltigen Böden. Das Vorkommen des Glückswidderchens ist auf die Wuchsorte der Wicke beschränkt.
Bild: Victoria Schilde
Peter Freudenberger
Peter Freudenberger, Jahrgang 1960,
ist fest in der Main-Spessart-Region verwurzelt. Der
gebürtige Aschaffenburger schlug nach dem Abitur
den Weg in den Journalismus ein. Er arbeitete für
Zeitungen in Würzburg und Miltenberg, heute ist
er Leitender Redakteur beim Main-Echo in seiner
Heimatstadt Aschaffenburg. Der Autor hat bisher
drei Kriminalromane veröffentlicht, in denen der
Aschaffenburger Journalist Paul Stiller auf verschiedene kriminelle Machenschaften stößt. Vier
Kurzkrimis sind im fränkischen Verlag Ars Vivendi
erschienen. Freudenberger ist verheiratet und hat
drei Kinder.
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Thomas Kastura
Fünf Leichen zu viel
„Wie schrecklich“, meinte Staatsanwalt Brandeisen. „Möchten Sie so sterben?“
„Dann schon lieber Gift“, sagte Kommissar Küps.
„Ich fürchte, die sanfte Tour liegt unserem Mörder nicht.“
Zum wiederholten Mal binnen weniger Tage nahm das Ermittlerduo eine
Tatortbesichtigung vor. Sie standen im Garten von Günter Schnaid und
betrachteten dessen Leiche: Jemand hatte ihm einen Laubbläser in den Rachen
gerammt. Das Rohr steckte so fest im Schlund des armen Mannes, dass der
Rechtsmediziner seine liebe Mühe hatte, es überhaupt herauszuziehen. „Tod
durch Ersticken“ lautete die Diagnose.
Küps schlug sein Notizbuch auf. „Nummer Fünf.“
„Halbzeit gewissermaßen.“ Auch Brandeisen konnte zählen. „Da kommt
noch Einiges auf uns zu.“
Seine Besorgnis war nicht unbegründet. Denn eine grausame Mordserie
erschütterte Bamberg, Stadt der Gärtner und Häcker, wo seit dem
Spätmittelalter zahlreiche Nutzpflanzen angebaut und kultiviert wurden. An
und für sich war das eine schöne Tradition, doch nun zeigte sie sich von einer
hässlichen Seite.
„Fassen wir zusammen“, seufzte der Kommissar. „Das erste Opfer wurde
von seinem eigenen Aufsitzrasenmäher überrollt.“
„Ein Profigerät mit Allradantrieb und Servolenkung.“
„Dann kam das Stephansberger Kettensägenmassaker. Fall zwei, eine
Riesensauerei! Heutzutage schauen Serientäter zu viele schlechte Filme.“
„Der dritte Mann geriet in seinen Häcksler“, fuhr der Staatsanwalt fort.
„Nachdem er bewusstlos geschlagen wurde.“
Küps nickte bitter. „Puzzlearbeit für die Spurensicherung.“
„Die nächste Exekution war nicht weniger unschön. Mit einem Heckenschwert gevierteilt! Dagegen verlief diese Laubbläseraktion noch erstaunlich
unblutig.“
Den beiden Kriminalern war das Muster klar, das den Gräueltaten zugrunde
lag. Alle Mordopfer wurden mit geräuschintensiven Gartengeräten unter die
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Erde gebracht, mit Lärmschleudern, die so manch ruhebedürftigen Nachbarn
zur Weißglut treiben. „Das habt ihr nun davon!“, mochte der Täter im Stillen
denken. Wahrscheinlich lehnte er jede Form von mechanischem Geknatter
und Gedröhn ab, ein Fanatiker.
Darüber hinaus hatten alle Toten eines gemeinsam: Sie waren Finalisten
der sogenannten Bamberger Gartenmeisterschaft. Einmal im Jahr wurden
nämlich die schönsten Gärten der Region prämiert. Als erster Preis winkte
nichts Geringeres als der „Goldene Handgrubber“, ein dreizinkiges Werkzeug
zur Lockerung und Krümelung des Bodens sowie zur Unkrautbekämpfung
und Einarbeitung humoser Materialien, mit 24 Karat vergoldet und einer
Ehrenplakette auf dem Griff.
Opfer eins bis fünf hatten es in die Endrunde geschafft. Vor seinem
tragischen Ableben war Günter Schnaid sogar als heißer Kandidat für
den Titel gehandelt worden. Im Finale traten sich die zehn besten Gärtner
gegenüber. Davon war die Hälfte bereits tot, deshalb hatte Brandeisen von
„Halbzeit“ gesprochen.
Es lag also nahe, den Täter unter der Bamberger Gärtner-Top-Ten zu vermuten.
Er wollte seine Konkurrenten mit allen Mitteln aus dem Weg räumen. Doch
die Zeit drängte: Bis zur Verkündung des Siegers blieben nur noch fünf Tage.
„Was macht Schnaids Garten eigentlich so besonders?“, fragte Brandeisen
und schritt zwischen den Anpflanzungen umher.
Küps, selbst leidenschaftlicher Botaniker, erkannte schnell, warum die
Jury Schnaid in die engere Wahl gezogen hatte. Er deutete auf bestimmte
Pflanzen. „Schwanenblume, Sandgrasnelke, Sommer-Adonisröschen. Oder
hier, Kleines Flohkraut. Steht auf der Roten Liste der gefährdeten Arten.“
„Und das Grünzeug, in dem die Leiche liegt? Ist das auch vom Aussterben
bedroht?“
Der Kommissar untersuchte das Gewächs. Es besaß dreieckige, spießförmige Blätter und war einen halben Meter hoch. „Wilder Spinat, auch Guter
Heinrich genannt. Da können Sie Salat und Gemüse draus machen. Oder Sie
dünsten die frischen Triebe wie Spargel. War früher weit verbreitet.“
„Heinrich, mir graut vor dir“, sagte Brandeisen. „In deinem Beet liegt ein
Toter.“
„Schnaid hat sich auf Pflanzen spezialisiert, die heute nicht mehr so häufig
zu finden sind. Schade, dass er dran glauben musste.“
„Wie gehen wir weiter vor?“
„Fünf Finalisten der Gartenmeisterschaft leben noch. Endlich hat man
uns genug Leute zugeteilt, um sie auf Schritt und Tritt zu überwachen.“ Küps
dachte nach. „Ich hab sie alle überprüft. Und ich weiß auch schon, bei wem
wir uns auf die Lauer legen.“
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Noch am gleichen Abend begann die Observation des Hauptverdächtigen.
Das Gartengrundstück von Helmut Nagengast lag unterhalb der Altenburg
in der Nähe des Sauersbergs. Es war von einem verfallenen alten Holzzaun
und einer unregelmäßigen Hecke umgeben, mit Ziersträuchern wie Buddleja,
Felsenbirne, Ginster. Offenbar wollte der Besitzer den Anschein spießiger
Strenge vermeiden.
Brandeisen und Küps machten es sich in ihrem Versteck gemütlich. Er sah
aus wie ein Tarnzelt für Kinder und befand sich am Rande eines angrenzenden Wäldchens. Ein paar junge Polizisten hatten das Ding in Nagengasts
Abwesenheit errichtet. Der Mann besaß einen gutgehenden Naturkostladen
und kam immer erst nach Feierabend in seine grüne Oase.
So auch jetzt. Nagengast schob sein Fahrrad durch die Gartenpforte. Dann
verschwand er in einem Schwedenhäuschen, das den Mittelpunkt der Parzelle
bildete.
Die Ermittler stellten ihre Feldstecher scharf.
„Fällt Ihnen was auf ?“, flüsterte Küps.
„Sieht aus wie ein Biogarten“, meinte Brandeisen. „Geordneter Wildwuchs.
Keine mit der Schnur gezogenen Rabatten.“
„Naturnah nennt man das. Der Gartenschlauch besteht aus Gummi und
nicht aus PVC. Es gibt jede Menge Regentonnen, Zinkgießkannen, sogar einen
Handrasenmäher. Das ist ökologisch superkorrekt.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Nagengast hat alle elektrischen Geräte aus seinem Garten verbannt“, sagte
der Kommissar. „Vermutlich hasst er sie regelrecht.“
„Geht vielleicht auf ein Hörtrauma zurück.“
„Stehen Sie auf der Leitung oder was?“ Küps verlor die Geduld. „Wir suchen
einen Psychopathen, der mit Geräten tötet, die für ihn Folterwerkzeuge und
wahre Mordwaffen sind. Bitte, da haben Sie ihn!“
Plötzlich öffnete sich die Hintertür des Schwedenhäuschens. Nagengast
trat ins Freie. Er ging zu einem kleinen Schuppen und kramte darin herum. Als
er wieder auftauchte, trug er eine schwarze Latzhose, schwere Stiefel, Bauhelm,
Schutzbrille und Lederhandschuhe. Er war kaum wiederzuerkennen.
„Was hat der vor?“, fragte Brandeisen.
„In dieser Verkleidung stattet er bestimmt seinen Opfern einen Besuch ab.
Damit fällt er in Gärtnerkreisen gar nicht auf.“
„Wir müssen ihn stoppen. Fünf Leichen sind selbst für Bamberg zu viel.“
Während der Staatsanwalt sprach, hörte er das Knacken zerbrechender Zweige.
„Worauf warten wir dann noch“, zischte Küps. „Zugriff !“ Er stürmte los.
Den Zaun zu überwinden und sich durch die Hecke zu zwängen, war leicht.
Nagengast wandte den Kriminalern den Rücken zu, seine Aufmerksamkeit
war offenbar abgelenkt.
Dann geschah Vieles gleichzeitig.
Der Boden gab unter dem Kommissar nach, er landete in einer Art Fallgrube.
Brandeisen blieb an einer verborgenen Schlinge hängen und löste ein Fangnetz aus, das sich wie eine Zwangsjacke um ihn schlang. Doch nicht genug.
An der Innenseite des Netzes waren Brennnesseln befestigt. Der Staatsanwalt
bedeckte sein Gesicht – zu spät.
In der Fallgrube wiederum befand sich ein Wespennest, Küps hatte es unfreiwillig zerstört. Den Insekten schien das gar nicht zu gefallen.
Und über allem lag der Klang eines wütend aufheulenden Motors. Ohne
Zweifel stammte er von elektrischem Gartengerät.
Kräftige Arme hievten den Kommissar aus der Grube. Eine Dosis Haarspray –
alter Anti-Wespentrick – vertrieb die ungnädigen Kerbtiere. Das Fangnetz lockerte sich und gab den Staatsanwalt nach einem längeren Entpackungsprozess frei.
Küps sah aus wie ein Streuselkuchen. Und Brandeisen hatte eine überaus
gesunde Gesichtsfarbe. Die Köpfe der beiden waren auf Medizinballgröße
angeschwollen, ihre Haut brannte wie Feuer.
Nagengast legte seine martialische Ausrüstung ab. Zum Schneiden der
Hecke würde er an diesem Abend nicht mehr kommen. „Hätten Sie doch ein
Wort gesagt!“
Aber nach Reden war den Ermittlern derzeit nicht zumute. Sie kühlten ihre
malträtierten Schädel in je einer Regentonne. Als der Notarzt mit Cortisonspritzen eintraf, ging es allmählich wieder.
Der Doktor kümmerte sich auch um den Mann, der nach einem Schlag mit
Nagengasts Drainagespaten die Engel singen hörte. Neben dem Besinnungslosen lag eine Motorsense. Es handelte sich um Wilfried Popp, einen stadtbekannten Rosenzüchter.
Inzwischen wimmelte das Grundstück von uniformierten Polizisten.
Nagengast verteilte an alle Stamperl mit Bio-Zwetschger aus eigener
Herstellung. Das hob die Moral.
Was war passiert?
Brandeisen und Küps waren in Fallen getappt, die Nagengast aufgrund der
Morde an seinen Rivalen ausgelegt hatte, zum Schutz gegen Eindringlinge.
Zur gleichen Zeit war der mutmaßliche Serienmörder in Aktion getreten, um
Nummer Sechs zu beseitigen. Anschleichen, abwarten, zuschlagen. Mit einer
Motorsense hatte sich Popp Nagengast genähert – und die zahlreichen Nacktschnecken auf dem biergetränkten Rasen übersehen. Er war ausgerutscht,
dann hatte ihn der Spaten getroffen.
Wie sich herausstellte, war Popp in der Vorrunde der Bamberger Gartenmeisterschaft ausgeschieden. Er setzte zu viel Technik ein: Zeitschaltuhren
zur Bewässerung, automatisch gesteuerte Beschattungssegel, RasenmäherRoboter. Dass ihn die anderen übertrumpft hatten, konnte er nicht ertragen.
Er wollte sich rächen.
Nach einer Weile kam er wieder zu sich. War es Trotz, Überheblichkeit
oder akute Hirnerweichung, die ihn zu einem kompletten Geständnis veranlassten? Popp gab sämtliche Morde ohne Umschweife zu. „Die restlichen vier
hätt’ ich auch noch erwischt“, spie er dem Kommissar am Ende seiner Suada
entgegen.
„Und welche Mordwaffen hätten Sie dafür benutzt?“, fragte Brandeisen.
„Sind Sie mit Ihren Männerspielzeugen nicht langsam durch?“
„Ich hab’ alles genau geplant. Für den nächsten hätt’ ich einen Hochdruckreiniger genommen, dann einen elektrischen Astschneider und einen Zementmischer.“
„Einen Zementmischer?“, wunderte sich Küps.
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„Sie wissen gar nicht, was es in einem Garten alles zu betonieren gibt. Und
beim zehnten wär ich mit einem kleinen Bagger angerückt.“
„Warum dieser Aufwand?“
„Um ein Zeichen zu setzen!“, ereiferte sich Popp. „Für Ordnung und Sauberkeit. Damit der Ökoterror endlich aufhört. Gegen diesen Energiesparwahn
hat ein gestandener Gärtner ja keine Chance.“
Inzwischen waren die Schutzpolizisten und der Notarzt wieder abgezogen.
Nagengast wässerte seine Flaschentomaten.
Popp lullte Brandeisen und Küps mit seinen seltsamen Ansichten ein.
Geschwächt wie die beiden waren, ließ ihre Wachsamkeit nach. In einem
unbeobachteten Augenblick sah er eine Gelegenheit zur Flucht. Er sprang auf
und rannte zu einer auffällig lichten Stelle der Sträucherhecke. Schon bog er
die Zweige zur Seite ...
„Obacht!“, warnte Nagengast.
Popp hatte es fast geschafft, als das erste Fangeisen zuschnappte. Er schlug
hin – weitere Marderfallen wurden ausgelöst. Binnen kurzem konnte er sich
nicht mehr rühren. Seine Gliedmaßen befanden sich in einem festen und äußerst schmerzhaften Klammergriff. Er schrie Zeter und Mordio.
Der Kommissar und der Staatsanwalt schauten dem Schauspiel mit fachmännischem Interesse zu.
Dann bemerkte Küps eine Pflanze, die Popp platt getreten hatte. „Schauen
Sie mal, Nagengast. Guter Heinrich. Wächst hier einfach so neben dem Borretsch.“
Nagengast eilte herbei. „Sie haben Recht, Chenopodium bonus-henricus.“
Er freute sich wie ein Kind. „Den päppel ich wieder auf.“
„Das bringt Pluspunkte für die Gartenmeisterschaft“, sagte Brandeisen.
Popps Flüche gingen in kleinlaute Bitten über. Schon besser.
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Guter Heinrich
Chenopodium bonus-henricus
Der „Gute Heinrich“ wird auch „Wilder Spinat“ genannt und war noch bis in die siebziger
Jahre eine wohlschmeckende Zutat im frühsommerlichen Salat oder wurde als Spinatgemüse zubereitet.
Dabei musste der Gute Heinrich nicht extra angebaut werden, er wuchs in den „Unkraut“-Beständen
vor allem im Umkreis bäuerlicher Siedlungen, an
Straßen, Wegen, Zäunen und Dungstätten. Früher
sehr häufig, steht er heute, in Zeiten zunehmender
Versiegelung, auf der Roten Liste der gefährdeten
Arten.
Thomas Kastura
geboren 1966, Germanist, lebt in
Bamberg und arbeitet seit 1996 als Autor für den
Bayerischen Rundfunk. Er veröffentlichte zahlreiche
Erzählungen, Jugendbücher und Kriminalromane,
u. a. Der vierte Mörder (Platz 1 auf der KrimiWeltBestenliste). Zuletzt erschien 2010 Das geheime
Kind, der dritte Band in der Reihe um Kommissar
Klemens Raupach. Neu im Herbst 2012: Drei
Morde zu wenig. Brandeisen & Küps ermitteln.
www.thomaskastura.de
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Dirk Kruse
Sand-Tragant
Die beiden schwarzgekleideten Mitarbeiter der Messe-Security trugen schwer
an dem Werkzeugkasten und der Reisetasche. Mit eiligen Schritten verließen
sie den Verbindungsgang, durchquerten die leerstehende Halle H und traten
aus dem Notausgang ins Freie. Dort parkte in der Dunkelheit der Sommernacht ein grauer Kastenwagen des privaten Sicherheitsdienstes, der das
Messezentrum überwachte. Der Kleinere der beiden öffnete die Heckklappe,
während der große Hagere die schweren Lasten ins Fahrzeug hievte. Zügig
bestiegen die beiden Sicherheitsleute das Fahrzeug. Der Kleinere startete den
Motor und steuerte den Wagen in gemäßigtem Tempo hinter der Frankenhalle entlang. Der Größere nahm die Kappe ab und wischte sich den Schweiß
von der Stirn. Als unvermittelt laute Sirenen über das Messegelände heulten,
gab der Fahrer Gas, durchbrach eine Schranke und fuhr direkt auf die Münchener Straße Richtung Innenstadt. Drei Minuten später rollten sie gerade
auf den dunklen Parkplatz vor der kleinen Meistersingerhalle, als mehrere
Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern zur Messe rasten.
„Das läuft ja optimal nach Plan“, grinste der Fahrer.
„Noch sind wir nicht außer Gefahr. Beeil’ dich.“
Im Nu schälten sich die beiden Männer aus ihren Uniformen, verstauten
Kleiderbündel, Werkzeugkasten und Reisetasche im Kofferraum eines dort
abgestellten Renaults und fuhren damit weiter stadteinwärts. Über Nebenwege erreichten sie nach kurzer Fahrt die abgelegene Gleishammerstraße und
parkten den Wagen in einer müllübersäten, dunklen Ecke beim Rangierbahnhof. Im aufgesperrten Kofferraum öffneten sie Reisetasche und Werkzeugkasten und blickten einen Moment lang beinahe andächtig auf schimmernde
Goldbarren, Silbermünzen und Platinschmuck. Dann packten sie die viele
Kilos schwere Beute in zwei handliche Stahlkästen um und verstauten diese
in zwei Rucksäcken, die sie sogleich schulterten. Der Größere reichte seinem
Kumpan einen Spaten, packte selbst einen Seitenschneider und schloss die
Heckklappe. Ein Güterzug rumpelte über die nahe gelegenen Gleise. Hinter
einem Busch durchtrennte der Hagere so viele Maschen des Drahtzaunes, bis
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sie bequem durchschlüpfen konnten. In der Finsternis passierten die beiden
Männer mehrere Bahntrassen, bis sie auf ein rund 3000 Quadratmeter großes
Gleisdreieck gelangten. Der sandige Boden war mit trockenem Gras und
knöchelhohen Grünpflanzen bewachsen. Weit und breit war kein Mensch zu
sehen. Genau zehn Meter östlich von einem auffälligen Mast entfernt begann
der Kleinere ein Loch zu graben, während der andere ihm dabei zusah und auf
einem Grashalm kaute.
„Warum verstecken wir die Beute ausgerechnet hier?“, keuchte der Mann
mit dem Spaten.
„Weil hier außer ein paar Bahnmitarbeitern kein Mensch Zutritt hat. Wo
sonst gibt es mitten in der Stadt ein abgeschiedeneres Plätzchen?“
Als das Loch tief genug war, hoben sie die schweren Metallkisten hinein.
„Sollen wir uns nicht wenigstens ein paar Goldmünzen mitnehmen? Ich
bin gerade echt knapp bei Kasse.“
„Spinnst du, Schorsch? Du weißt doch, dass dieser Kommissar Blümlein
uns auf dem Kieker hat. Mein Ruf als Mister Goldfinger ist längst bis zur
Polizei durchgedrungen. Das lassen wir hier schön ein paar Monate liegen bis
Gras über die Sache gewachsen ist – im wahrsten Sinne des Wortes.“
Er lachte leise, zupfte sich ein kleines Zweiglein mit unscheinbaren lilafarbenen Blüten vom Boden und steckte es in das Knopfloch seiner Jeansjacke,
während der Kleinere die Grube mit dem Schatz wieder zuschaufelte.
Unterwegs auf der Ostendstraße entsorgten sie bei einem kurzen Halt Uniformen, Reisetasche und Werkzeugkasten in einen Müllcontainer und fuhren
über den Wöhrder See nach St. Jobst hinüber. Schließlich hielt der Renault im
Innenhof eines Einfamilienhauses.
„Kommst du noch mit rein auf einen Siegestrunk?“, fragte Goldfinger.
Doch noch ehe der andere antworten konnte, waren sie von einem halben
Dutzend Polizisten umstellt und blickten in die Läufe der auf sie gerichteten
Handfeuerwaffen.
„Hände in den Nacken!“, ertönte ein Befehl. „Und jetzt ganz langsam rauskommen.“
Als die beiden Komplizen ausgestiegen, durchsucht und mit Handschellen
gefesselt worden waren, trat ein kleiner untersetzter Mann mit einem grauen
Haarkranz auf sie zu.
„Sieh an, Kommissar Blümlein. So spät noch auf?“ Der Hagere lächelte überlegen.
„Ihre Scherze werden Ihnen noch vergehen. Sie beide sind festgenommen.“
Er wandte sich an seinen Assistenten: „Klären Sie die Kerle über ihre Rechte auf.“
„Was werfen Sie uns denn vor? Ist es nicht mehr erlaubt, in einer lauen
Sommernacht ein wenig herumzufahren?“
„Es besteht dringender Tatverdacht, dass Sie vor einer guten Stunde die
GoldandSilver-Messe beraubt und mehrere Kilogramm Edelmetall gestohlen
haben.“
„Blümlein, Blümlein, Sie verrennen sich da in etwas und verleumden unschuldige Bürger“, entgegnete Goldfinger ironisch.
„Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras in der Messe, die Ihnen
verdammt ähnlich sehen sollen, Leinleiter.“
„Da werde ich wohl einen Doppelgänger haben.“
Einer der Polizisten trat mit einem Seitenschneider und einem Spaten zum
Kommissar. „Das ist alles, was wir im Fahrzeug gefunden haben.“
Blümleins Blick verriet Verärgerung. „Wo ist das Gold?“, wandte er sich
wieder an den Hageren. „Reden Sie endlich! Dieser ganze Raub trägt doch
eindeutig Ihre Handschrift.“
„Selbst wenn ich es genommen hätte, glaubst du wirklich, ich würde es
Dir verraten? Träum weiter, Benjamin Blümchen.“ Er schürzte höhnisch die
Lippen zu einem Kuss.
Zornig schoss der Kommissar vor, packte den Gefangenen am Revers,
schüttelte ihn und schrie: „Ich bring dich so lange hinter Gitter, bis du da
drinnen vermoderst. Pack endlich aus!“ Bei diesem Übergriff verlor der Gefesselte das Gleichgewicht und fiel so unglücklich nach hinten, dass er sich
eine blutende Platzwunde am Kopf und eine Gehirnerschütterung zuzog.
Zwar wurden Harry Leinleiter alias Mister Goldfinger und sein Komplize
Georg Müller auch ohne Geständnisse in einem Indizienprozess zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, doch auch der Kommissar musste sich
einem Disziplinarverfahren stellen, was ihn dermaßen erboste, dass er seinen
Dienst quittierte und sich ins Privatleben zurückzog.
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Dreieinhalb Jahre später erwachte Blümlein, sich wohlig in den Laken seines
Wasserbettes räkelnd, als sein Butler das Schlafzimmer betrat, und die Vor-
Horst Blümlein faltete die Zeitung zusammen und blickte auf das glitzernde
Meer hinaus. Als Polizeibeamter hatte er es mit seinem Namen immer schwer
gehabt, sich bei Verbrechern und Kollegen Respekt zu verschaffen. Dass er
sich darüber hinaus tatsächlich für Botanik interessierte und ein großes
Herbarium besaß, hatte zusätzlich für Spott gesorgt. Als dann auch noch das
Disziplinarverfahren gegen ihn verhängt wurde, hatte er die Nase endgültig voll
gehabt. Blümlein lächelte. Dabei zahlte es sich aus, botanisches Fachwissen zu
besitzen. Die unscheinbare Blume, die er Goldfinger im Eifer des Gefechts vom
Revers gerissen hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Astragalus
arenarius, auch Sand-Tragant genannt. Der zarte Schmetterlingsblütler aus der
Familie der Hülsenfrüchtler mit seinen violetten Blüten war östlich der Elbe
beheimatet. In ganz Süddeutschland wuchs er nur an einer einzigen Stelle:
einem Gleisdreieck in der Tullnau, mitten in Nürnberg.
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Sand-Tragant
Bild: Landschaftspflegeverband Nürnberg
Astragalus arenarius
Die violetten Blüten des Sand-Traganten
ähneln Schmetterlingen, deswegen gehört die
zierliche Pflanze auch zu den Schmetterlingsblütlern.
Weil sie auf heiße Lebensräume mit viel Sonnenbestrahlung angepasst ist, hat sie schmale, lanzettliche
Blätter, die sie vor Austrocknung schützen. Der
Verbreitungsschwerpunkt des Sand-Traganten ist im
mittleren Russland, Polen und Litauen. Vermutlich
ist er über das Schienennetz ins mittelfränkische
Becken gelangt. Außer in Nürnberg gibt es keine
weiteren bekannten Vorkommen in Süddeutschland.
Dirk Kruse
Bild: Ylvi Lünenschloss
hänge zurückzog, um den Blick aufs azurblaue Mittelmeer freizumachen. Wie
üblich servierte er ihm das Frühstück auf einem Silbertablett: Milchkaffee,
Hörnchen, Ei, die aktuelle BILD und eine frische Blüte in einem Väschen.
Genüsslich schlürfte er seinen Kaffee und blätterte desinteressiert die Zeitung
durch, bis er an der Schlagzeile „Ganovenmord im Gleisdreieck“ hängen blieb.
Der Artikel berichtete in reißerischen Worten darüber, wie sich im Nürnberger Stadtteil Tullnau zwei wegen guter Führung vorzeitig entlassene Räuber auf dem Gelände des Rangierbahnhofes gegenseitig umgebracht hatten.
Die Obduktion hatte ergeben, dass Georg M. aufgrund einer Schädelfraktur
durch den Hieb mit einem Spaten hingerafft wurde, während Harry L. – in
Ganovenkreisen auch als Mister Goldfinger bekannt – durch einen Schuss in
die Brust verschied, der von seinem sterbenden Ex-Komplizen auf ihn abgegeben worden war. Die beiden vor zwei Tagen aus der Justizvollzugsanstalt
Straubing entlassenen Männer waren für den spektakulären Raub auf der
GoldandSilver-Messe in Nürnberg verurteilt worden, bei dem Edelmetall im
Wert von über drei Millionen Euro gestohlen worden war. Die Beute war
seitdem spurlos verschwunden. Über die Motive des gegenseitigen Mordes
konnte die Kriminalpolizei noch keine Angaben machen.
Geboren 1964 in Geesthacht,
Schleswig-Holstein. Nach einer Krankenpflegeausbildung in Hamburg studierte er in Erlangen
Politologie, Theaterwissenschaft und Germanistik.
Seit 1995 ist er für den Bayerischen Rundfunk in
Nürnberg als Literatur- und Musikkritiker, Nachrichtenreporter und Moderator bei BR Klassik
tätig. Daneben lehrt Dirk Kruse an der Hochschule
Ansbach Literatur, moderiert Lesungen und Diskussionen, ist künstlerischer Leiter des Fränkischen
Krimifestivals in Weißenburg, gibt Bücher heraus
und schreibt Romane und Erzählungen. Bekannt
wurde er durch seine Krimis um den fränkischen
Gentlemandetektiv Frank Beaufort. 2012 erschien
mit Tod im Botanischen Garten der dritte Band der
erfolgreichen Reihe vor. www.dirkkruse.com
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Hildegunde Artmeier
Die Lavendelmaus
Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
Im Eichenwald meiner Kindheit gab es immer noch die fruchtigsten Brombeeren und schmackhaftesten Haselnüsse weit und breit. Nach den Abgasen
in der Großstadt roch die Luft verwirrend frisch nach Erde und feuchtem
Moos. Und das Laub, das meine Großmutter schon jetzt, Anfang September,
in das Erdloch für den Winter schaffte, raschelte so wie früher und kitzelte
vertraut zwischen den Schnurrhaaren.
Kurzum: Alles war so, wie es sein sollte. Und wie ich es mir so oft erträumt
hatte.
Bis ich die erste Leiche fand.
Lillis Kopf lag neben ihrem Körper. Oder das, was davon übrig war. Spitze,
scharfe Zähne hatten das edel geformte Köpfchen mit den großen schwarzen
Knopfaugen, die immer ein wenig frech geguckt hatten, bis zur Unkenntlichkeit zermalmt. Aber ich erkannte Lillis golden glänzendes Fell. Unter den
Haselmäusen im Eichenwald, deren Färbung von Gelb bis Rotbraun variierte,
war es einzigartig.
Blutrote Sprenkel bedeckten die noch grünen Eichenblätter, auf denen ich
Lillis Überreste in der Abenddämmerung entdeckt hatte. Mein Nackenfell
sträubte sich, mein Herz vergaß zu schlagen. Zumindest fühlte ich mich so,
während sich meine Hinterpfoten wie von selbst nach rückwärts bewegten, in
den tiefen, noch ganz frischen Furchen, die die großen Gefährte der Menschen
im Waldboden hinterlassen hatten.
Der Rotfuchs, schoss mir durch den Kopf. Schon bei meiner Ankunft vor
zwei Tagen hatte Großvater mich vor seinen langen, spitzen Zähnen gewarnt.
Ob das Raubtier immer noch in der Nähe war, auf sein nächstes Opfer lauerte?
Noch drei Schritte rückwärts ...
Aber dann trippelte ich wieder nach vorne. Ebenso vorsichtig wie neugierig
schnüffelte ich an dem Bündel, das Lilli von der Schulter gerutscht war. Schnell
sah ich mich nach allen Seiten um, öffnete mit bebenden Pfoten das mit einem
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Grashalm zusammengerollte, riesige Ahornblatt. Die dicksten Haselnüsse, die
ich je gesehen hatte, kullerten mir entgegen, ganze sieben Stück. Dazwischen
lag das Lavendelsträußchen, das ich ihr gestern Nacht geschenkt hatte. Drei
davon hatte ich mitgebracht, als Gruß aus Regensburg, meiner neuen Heimat:
Eins für meine beste und treueste Freundin Lilli, das zweite für ihre kleine
Schwester Mia und das dritte für meine Großmutter.
Etwas raschelte im Gebüsch.
Im selben Moment sprang ich in den nächsten Schlehenstrauch, kletterte
schnell die Äste empor, hangelte mich mithilfe meines buschigen Schwanzes
zum benachbarten Baum und jagte nach Hause.
Großmutter sah mir sofort an, dass etwas Schreckliches geschehen war. Schützend schloss sie mich in die Arme, rümpfte aber dann das Näschen und ließ
ihre kleine Lavendelmaus, wie sie mich liebevoll nannte, wieder los. Meinen
Lavendelduft hatte sie von Anfang an nicht vertragen.
„Wie kannst du nur so etwas Widerliches essen?“, brummte Großvater aus
seiner Ecke, aus der er seit meiner Ankunft noch nie hervorgekrochen war.
Dann wurde er böse: „Aber schon deine Mutter war ja ganz verrückt nach
diesem ekligen Zeug. Wie eine gemeine Feldmaus hat sie sich aufgeführt,
dabei sind wir mit denen nicht im Entferntesten verwandt, sondern mit den
Siebenschläfern. Doch das war ihr egal, und besucht hat sie uns auch kaum
mehr, nachdem sie uns alleine gelassen hat.“ Er schnaubte aufgebracht. „Aber
die tolle Großstadt an der Donau, von der sie immer so geschwärmt hat, ist ihr
nicht gut bekommen.“
Nachdem meine Mutter vor zwei Jahren in einer Regensburger Gasse
von einer Katze ermordet worden war, hatte er sich in einen alten Grantler
verwandelt. Und seit auch ich in die Pfoten meiner Mutter getreten war und
unseren Eichenwald gegen die mit Lavendel bewachsenen Hinterhöfe eingetauscht hatte, war nichts mehr mit ihm anzufangen.
Ich wischte meine Tränen fort. „Lilli ist tot“, platzte es dann aus mir heraus.
In wenigen abgehackten Sätzen berichtete ich von meinem grausigen Fund
am Rande des Eichenwaldes. Nur von Lillis Schwur erwähnte ich nichts.
Sie hatte genug gehabt von der Langeweile. Vergangene Nacht hatte sie mir
mit leuchtenden Augen versprochen, das nächste Mal würde sie mich nach
Regensburg begleiten.
„Aber warum hat der Rotfuchs sie nicht ganz aufgefressen?“, schloss ich
meine Erzählung.
„Vielleicht wurde er gestört“, überlegte Großmutter mit seltsamem Unterton in der Stimme. Dann schob sie das längliche Holzkästchen, in dem sie
hantiert hatte, zur Seite und legte eine kleine Schaufel mit scharfen Kanten
daneben. „Von den Menschen mit den gefährlichen Maschinen, die unsere
Bäume absägen.“
„Im Waldboden waren Furchen“, erinnerte ich mich.
„Oder es war der verrückte Marder, der frisst immer nur den Kopf “, tönte
es missmutig aus der Ecke. „Er ist so schwachsinnig, dass er so gut wie keine
Beute mehr macht. Andrerseits, wenn man immer nur die Schläuche von diesen widerlich stinkenden und ohrenbetäubend lauten Fahrzeugen frisst, muss
man ja durchdrehen.“
„Lillis Kopf lag aber noch da“, warf ich ein.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Großmutter eine Lage von Eichenblättern über das rätselhafte Kästchen breitete. Unauffällig kam ich näher und
versuchte, einen Blick unter das Laub zu werfen. Aber sie zog mich fort und
bat mich, ihr beim Aufräumen zu helfen. Erst jetzt sah ich, dass ihre rechte
Vorderpfote verbunden war. Sie musste sich bei der Arbeit mit der Schaufel
verletzt haben. Gemeinsam stopften wir die Getreidehalme, die ich eben vor
Aufregung aus unserem Schlafkobel gerissen hatte, zurück an ihren Platz.
„Dieser nette junge Mann hat übrigens nach dir gefragt“, sagte sie, als wir
fertig waren.
„Jack?“
Sie nickte. „Er verehrt dich immer noch.“ Verschwörerisch zwinkerte sie
mir zu. „Zu schade, dass du seinen Antrag nicht angenommen hast.“
In so manch einsamer Nacht war mir derselbe Gedanke gekommen. Schon
seit langem lockte mich der Duft der großen weiten Welt, von der meine Mutter mir schon vor langer Zeit erzählt hatte, nicht mehr so wie damals, als Jack
mit angespanntem Blick auf meine Antwort gewartet hatte.
„Dieser Nichtsnutz!“, hörte ich Großvater schimpfen. „Seit du fort bist,
treibt er sich ständig mit diesen zwei aufgetakelten Schwestern herum. Aber
zumindest die eine hat ja jetzt der Rotfuchs geholt.“
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Noch bevor ich etwas sagen konnte, raunte Großmutter mir zu, Jack sei in
Richtung Brombeerhecke davongesprungen.
„Sei bloß vorsichtig!“, rief Großvater mir nach, als ich aus dem Kobel
sprang. „Dort ist es gefährlich.“
Inzwischen war es Nacht geworden, die Zeit zum Futtersuchen. Und zum Jagen.
Jack kniete beim größten Brombeerbusch. Im Gestrüpp vor ihm lag die zweite
Leiche. Wieder fehlte nur der Kopf, und wie bei Lilli war der Körper unversehrt.
„Mia“, sagte ich tonlos.
Ich hatte sie sofort erkannt. Ihr Fell war zwar nicht ganz so golden wie
das von Lilli, aber unverwechselbar. Nur den Kopf konnte ich dieses Mal
nirgendwo entdecken. Doch wieder sah ich ein Bündel, dieses Mal aus einem
eingerollten Buchenblatt, im dem fünf große Haselnüsse steckten. Und mein
Lavendelsträußchen.
„Du hast ihnen Flausen in den Kopf gesetzt.“ Jacks Stimme klang vorwurfsvoll. „Mia und Lilli wollten sich am Rande des Eichenwalds treffen, ihrem
Lieblingsplatz. Dabei ist Mia wohl dem Marder über den Weg gelaufen.“ Und
noch eine Spur bitterer: „Die beiden wollten fort, in die Stadt. So wie du damals.“
Jetzt endlich verstand ich, was der Haselnussvorrat bei beiden Leichen zu
bedeuten hatte: Mias und Lillis Reiseproviant für den weiten Weg. Und dann
wurde mir klar, dass Lilli mich betrogen hatte – sie wollte ohne mich weg.
„Dabei hatten Mia und ich schon den Hochzeitstermin, im Frühling, nach
dem Winterschlaf “, sagte Jack leise. „Als du weg warst, haben sie und Lilli
mir schöne Augen gemacht. Und für irgendeine musste ich mich ja schließlich
entscheiden.“
Er war ganz nah, und plötzlich schlug mein Herz viel zu laut. „Dabei wollte
ich immer nur dich“, hörte ich ihn noch flüstern. Aber da rannte ich schon in
die Richtung, aus der ich gekommen war.
Großmutter an seiner Stelle. „Als du das letzte Mal fortgegangen bist, ist er
dir nach – zurückhalten wollte er dich, damit dir nicht dasselbe zustößt wie
deiner Mutter. Dabei hat er sich im Brombeergestrüpp verfangen. Wenn nicht
zufällig der Marder aufgetaucht wäre, hätte der Rotfuchs deinen Großvater
ganz aufgefressen.“
Sie richte sich auf und funkelte mich an. „Nein, ich habe dem Marder vom
Lieblingsplatz der beiden Früchtchen erzählt. Und ich würde lügen, wenn ich
behaupten würde, es wäre nur aus Dankbarkeit gewesen. Der verrückte Kerl
war so ausgehungert, dass er mir sofort den Kopf abbeißen wollte. Aber er
hat mich nur an der Pfote erwischt, und die Aussicht auf zwei zarte, junge
Leckerbissen hat ihn zum Glück mehr gelockt als mein altes, verdorrtes
Fleisch.“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht fuhr sie sich über den Verband, durch
den jetzt Blut sickerte. Ich verschwieg ihr, dass sie ihre Vorderpfote umsonst
geopfert hatte. Meine Wut zerstob in Nichts.
Plötzlich fiel alle Verzweiflung von ihr ab, und sie klang so aufgeregt wie ein
Teenie: „Was ist jetzt mit dir und Jack, meine kleine Lavendelmaus?“
Wieder ist Spätsommer. Der Lavendelstrauch, den Großmutter im Frühling
aus dem Holzkästchen mit Erde ausgegraben und in den Waldboden gepflanzt
hat, ist zwar noch nicht so riesig, wie sie mir versprochen hatte. Aber immerhin so groß, dass unsere fünf Kleinen schon die Halme emporklettern können.
Manchmal sind sie so wild, dass Jack einschreiten muss. Sie alle lieben meinen
Lavendel. Sehr zum Missfallen von Großvater, der manchmal zwar wieder so
lacht wie früher, dennoch aber der Meinung ist, eine richtige Haselmaus esse
nun mal Haselnüsse und nichts Anderes.
Doch die Welt ändert sich, auch in unserem Eichenwald.
„Hast du dem verrückten Marder den Tipp gegeben?“, fauchte ich Großvater
an, zurück in unserem Kobel am Haselstrauch. „Wo er Mia und Lilli am besten
erwischt?“
„Wie hätte er das anstellen sollen, mit nur einem Hinterfuß?“, entgegnete
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Haselmaus
Bild: Heinz Spath
(Muscardinus avellanarius)
Die Haselmaus ist so groß wie ein
Daumen und lebt sehr heimlich in Mischwäldern
und Hecken. Weil sie scheu und nachtaktiv ist,
wissen wir nur wenig über ihre Verbreitung und
Häufigkeit. Tagsüber schläft sie in einem faustgroßen
Nest aus Zweigen, Blättern und Moos in Büschen
und Bäumen. Von Ende März bis Oktober streift sie
nachts umher und frisst Knospen, Samen, Beeren,
Insekten und Haselnüsse. Sie ist ein hervorragender
Kletterer, der sich auch auf den dünnsten Zweigen
bewegen kann und die meiste Zeit in Bäumen und
Sträuchern lebt.
Bild: Christine Olma
Hildegunde Artmeier
Hildegunde
Artmeier,
geboren
1964, Diplom-Biologin und Fremdsprachenkorrespondentin, lebt mit ihrer Familie im Raum
Regensburg. Seit 2000 arbeitet sie als Autorin.
Seitdem erschienen mehrere Kurzgeschichten und
sechs Kriminalromane, zuletzt der zweisprachige
Lernkrimi Missing Laura – Laura vermisst und der
Kriminalroman Die Tote im Regen. Zurzeit arbeitet
sie an einer Fortsetzung ihrer Reihe um die Privatermittlerin Anna di Santosa.
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Richard Dübell
Zeig mir deinen Schmetterling
„Die Sammlung ist ungeheuer wertvoll“, sagte mein neuer Klient und fügte
hinzu: „Ich erwarte nicht, dass Sie davon eine Ahnung haben.“
„Das ist gut“, erwiderte ich. „Ich stelle an mich selbst auch keine hohen
Erwartungen.“
Er starrte mich an. Ich lächelte mein bestes Kundenlächeln zurück. Ich habe
es vor Jahren einem Bankberater abgeschaut, der mir ein absolutes Pleitepapier
als sichere Geldanlage verkauft hatte. Ich hätte damals schwören können, dass
der Mann nur mein Bestes im Sinn hatte.
Mein Klient griff nach meiner Karte und studierte sie, als habe sich seit
unserer Begrüßung der Text verändert. Ich setzte ich mich anders zurecht. Es
nützte nichts. Das Hemd hatte mir schon nach wenigen Minuten unter den
Achseln zu kleben begonnen. Wir saßen in einer Art Wintergarten, wenn man
achtzig Quadratmeter Dschungel hinter Glas als Wintergarten bezeichnen
will. Vermutlich waren hier irgendwo Japaner versteckt, die noch nicht mitgekriegt hatten, dass der Zweite Weltkrieg vorüber war. Die Sommersonne hatte
den Raum unerträglich aufgeheizt. Zudem blies durch mehrere Lüftungsschlitze heiße, feuchte Luft herein. Die Temperaturen mussten vergleichbar
sein mit denen auf der Venus. Russische Raumsonden wären beim Eintritt in
den Wintergarten verglüht.
„Peter Bernward, Privatermittlungen aller Art“, las er. „Irgendwie hört sich
das schmierig an.“
„Oh, ich habe mit der Industriespionage für den Jemen aufgehört, wenn Sie
das beruhigt“, sagte ich. „Der Preis für Kamelmilch war zu unberechenbar.“
„Kamelmilch?“
„Ich wurde immer in Gallonen bezahlt, verstehen Sie?“
Er starrte mich so lange schweigend an, dass ich zu glauben begann, den
Flügelschlag der Tausende von Schmetterlingen zu hören, die im Wintergarten herumflogen.
„Ich mag Ihre Art nicht“, erklärte er schließlich.
Ich stand auf, was einen Schweißausbruch hervorrief. „Tja“, sagte ich.
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„Meine Karte lasse ich Ihnen trotzdem da, vielleicht können Sie sie als Teeuntersetzer verwenden.“
„Setzen Sie sich wieder hin, junger Mann“, grollte er. „Sie sind zu voreilig.“
Ich setzte mich wieder hin. Seyfried Ressier, mein neuer Klient, war ein
großer, ungeschlachter Mann, der mich mindestens um einen Kopf überragte.
Was von seinen Haaren noch übrig war, war von einem grau gewordenen
Blond, seine Augen verschwanden fast hinter Schlupflidern und dicken
Tränensäcken, seine Wangen hingen herab wie die eines Bernhardiners. Er war
weit über Achtzig (ich hatte ihn gegoogelt, bevor ich hierhergekommen war).
Laut Wikipedia war er in seiner aktiven Zeit der bedeutendste Insektenforscher
Deutschlands gewesen. Die meiste Zeit hatte er sich den Ruhm mit seinem
Bruder Dankred geteilt, doch der Kerl mit der Sense und der schwarzen Kutte
hatte vor ein paar Jahren dafür gesorgt, dass Seyfried den Titel jetzt alleine
halten konnte.
Ein kleiner Schmetterling flatterte auf den Tisch. Er sah wenig spektakulär
aus, bis er die Flügel aufklappte. Die Unterseiten waren rostbraun mit
schwarzen Punkten, die Oberseiten von einem intensiven Schwarzblau.
„Hoppla“, sagte ich.
Ressier musterte mich. „Meistens überraschen sie einen“, sagte er beinahe
sanft. „Das ist ein Bläuling – Maculinea nausithous. Ein Dunkler WiesenknopfAmeisenbläuling, um genau zu sein. Ein Ureinwohner. Es gibt ihn schon seit
Ewigkeiten und wird ihn wohl noch geben, wenn alle anderen Arten ausgerottet sind. Er ist gefährdet, aber er hat sich Jahrmillionen lang durchgesetzt. Was
wissen sie über Lepidoptera, junger Mann?“
Ich war versucht zu fragen, ob das eine Krankheit war, aber ich wusste, wovon er sprach: Schmetterlinge. „Ich fand den Dokumentarfilm gut, der letztes
Jahr den Deutschen Filmpreis gewonnen hat.“
Sein Gesicht hellte sich auf. „Ein Meisterwerk. Den Kameramann hätte ich
gerne kennengelernt. Solche Bildkraft!“
Ich wechselte das Thema, weil ich längere Passagen des Films versäumt hatte.
Auf dem Sofa im Wohnzimmer neben mir hatte damals eine atemberaubende Frau
gesessen, die sehr viel für mich übrig gehabt hatte. „Am besten erzählen Sie mir
das, was mir Ihre Sekretärin am Telefon nicht erzählen wollte, Herr Ressier“, sagte
ich. „Ist das Mädchen, das Ihre Käfer füttert, mit dem Gärtner durchgebrannt?“
„Es war meine Nichte, die mit Ihnen gesprochen hat, nicht meine Sekretärin“, sagte er, wieder so kalt wie am Anfang. „Und es heißt ‚Herr Professor
Ressier’.“
„Ich schätze, mit dem Rest meiner Vermutung habe ich mich auch geirrt, oder?“
„Mein Bruder und ich haben ein Projekt begonnen, als wir noch Jungspunde
waren“, sagte Professor Ressier. „Wir haben jedes Jahr über die Sommermonate
hinweg in einem bestimmten Gebiet alle Lepidoptera eingefangen und
konserviert. Jedes Jahr, junger Mann! Und wir waren sehr gründlich, das
kann ich Ihnen versichern. Unsere Sammlung ist eine Zeugin der Zeit, der
Evolution, des Niedergangs der Natur, des Aussterbens der Schönheit und des
Vordringens der Beliebigkeit! Sechzig Jahre, junger Mann! Die Sammlung ist
unermesslich wertvoll!“
Ich stellte mir vor, wie zwei immer älter werdende Herren jedes Jahr
über eine Wiese tobten und Hunderte von Schmetterlingen einfingen,
umbrachten, auf Stecknadeln spießten und in Schaukästen mumifizierten, um
ein Tagebuch des Aussterbens der Schönheit zu erschaffen, während graziös
gekrümmte Fühler vertrockneten, schimmernde Facettenaugen blind wurden
und fantastisch schillernde Farbschuppen von ausgespannten Flügeln auf das
Mottenpapier auf dem Boden der Sammelkästen rieselten und Staub und
Moder sich über all die sinnlosen Tode legten. Ich weiß schon, warum ich es
nie zum Professor gebracht habe.
„Wir sprechen also von sechzig Kästen?“, fragte ich.
„Die Arbeit von zwei ganzen Leben“, sagte er leise.
„Wann ist Ihnen der Verlust aufgefallen?“
„Ich war das letzte Mal am Wochenende im Archiv“, erklärte er. Er wies auf
seine Beine. Ich verstand, dass er sich nicht mehr viel in seinem Haus herumbewegte, wenn es nicht sein musste. „Jede Luftveränderung schadet außerdem
einer solchen Sammlung. Man lässt sie am besten in Ruhe.“
„Ist sonst noch was gestohlen worden?“
Er grunzte. Es sollte wohl bedeuten, dass das einzig Wertvolle die Schmetterlingssammlung gewesen war und der Dieb zumindest schlau genug, es zu erkennen.
„Haben Sie einen Verdacht?“
Er nickte grimmig. „Am Wochenende haben Handwerker die Klimaanlage
des Wintergartens repariert. Es war ein Notfall – sie versagte plötzlich. Es
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waren drei Männer, der Meister war ein Pole.“
Oh Gott, dachte ich, jetzt geht das los!
„Ein grundanständiger Mann“, sagte Professor Ressier. „Aber seine Mitarbeiter – deutsches Prekariat, junger Mann! Tätowierungen und Piercings!“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Handwerker aus dem deutschen
Prekariat um den Wert einer Schmetterlingssammlung wusste!“
„Das war natürlich nur ein Auftragsdiebstahl!“, polterte er. „Und mir ist
auch klar, weshalb – weil vor wenigen Tagen das einzig bedeutende Buch
der letzten sechzig Jahre über die Schmetterlinge veröffentlicht worden ist.
Es stützt sich auf meine Sammlung und hat ihren Wert in der ganzen Welt
bekannt gemacht.“
Ich brauchte nicht zu fragen, welcher Name auf dem Cover stand. Ich
seufzte innerlich. „Wenn Sie die Handwerker verdächtigen, warum erstatten
Sie dann keine Anzeige?“
„Weil der Name Ressier nicht mit einem Skandal in Verbindung gebracht
werden darf. Was glauben Sie, wie sich alle Medien des Landes darauf stürzen
würden?“
Ich bezweifelte, dass selbst die Zeitung meiner Heimatstadt, die sich sonst
jedem Kaninchenzuchtvereinstreffen widmet, darauf aufmerksam geworden
wäre, aber ich schwieg. Jeder Mensch steht im Zentrum seines eigenen Lebens
und hält es für das allerwichtigste. Außerdem konnte ich einen Auftrag gut
gebrauchen.
„Lassen Sie sich die Adresse der Handwerkerfirma von Tristan geben“, sagte
Ressier. „Beschatten Sie die Kerle und verhindern Sie, dass der Sammlung
Schaden zugefügt wird oder dass sie in irgendeinem Tresor verschwindet.“
„Wer ist Tristan?“
„Mein Adoptivsohn“, sagte er ohne große Wärme.
„Wenn ich tatsächlich einen Diebstahl entdecke, müssen Sie die Polizei
einschalten, um weitere Schritte zu unternehmen.“
„Lassen Sie das meine Sorge sein, junger Mann. Und sagen Sie meiner
Nichte, sie soll Ihnen mein Schmetterlingsbuch geben. Zum Lesen, meine ich.
Wenn Sie es behalten wollen, kaufen Sie es in einem Buchladen. Ich signiere
es Ihnen kostenlos.“
Der kühle, weiträumige Flur des Hauses wirkte nach dem Dschungelbesuch
wie vom Nordpol hierher verfrachtet. Ich machte Anstalten, meine Hose
aus dem Schritt zu zupfen, da ließ mich ein höfliches Räuspern innehalten.
Ein nicht mehr ganz junger Mann mit dunklem Anzug beobachtete mich
lächelnd. Er trug ein Tablett und darauf ein großes Wasserglas, dessen eisgekühlter Inhalt die Außenwand des Glases beschlagen ließ. Ich starrte das Glas
an wie ein Sünder den Schlüssel zur Himmelspforte.
„Ich habe Sie hoffentlich nicht erschreckt“, sagte er. „Aber ich dachte, ich
mache mich bemerkbar, bevor ich Sie noch in Verlegenheit bringe.“ Er schaffte
es, nicht dorthin zu blicken, wo ich meine zwickende nassgeschwitzte Hose
hatte herauszupfen wollen. „Es gehört sich nicht, die Leute zu überraschen.“
„Wenn Sie mal kurz wegschauen, kann ich dafür sorgen, dass ich nicht beim
nächsten Schritt irreparable Schäden anrichte.“
Er lächelte und blickte betont zur Decke, während ich zugange war. „Wir
haben schon Besucher dort raustragen müssen“, sagte er.
„Mich werden Sie reintragen müssen, wenn ich jemals wieder einen Fuß
in diesen Urwald setzen soll.“ Ich trank das Glas aus und gab es ihm zurück.
„Herr Professor Ressier leistet sich also einen Butler.“
„Heutzutage sagt man dazu ‚persönlicher Assistent‘.“
„Lohnt es sich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Meine Cousine macht die
Buchhaltung. Der Butler hat derzeit Urlaub. Ich bin Tristan Ressier. Oh, jetzt
habe ich Sie doch in Verlegenheit gebracht.“
Wir schüttelten uns die Hände. Ich verbiss mir die Frage, auf welchen
Namen ich mich bei der Nichte des Professors gefasst machen musste.
Kriemhild?
„Sie können mir die Adresse der verdächtigen Handwerker geben, oder?“
Er zog einen zweimal gefalteten Zettel aus der Sakkotasche. Die Adresse
war die einer kleinen Elektrofirma auf dem Land. Ich steckte sie ein. „Und?“,
fragte ich. „Waren’s die Handwerker?“
„Mein Vater möchte es gerne glauben, seit er die Gesellen gesehen hat. Hat
er Ihnen sein Buch ans Herz gelegt?“
„Das Buch über die Schmetterlinge?“
„Lepidoptera Invenite‘“, sagte Tristan. „Er bestand auf dem lateinischen
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Titel. Und dem Imperativ. Wenn Sie es kaufen, wird der Buchhändler Sie für
verrückt halten.“
Ich deutete auf den Pin, den er im Revers trug. „Ihr Vater trägt auch so
einen. Ein Familienlogo?“
„Besser als ein Brandzeichen, finden Sie nicht? Außerdem irren Sie sich;
mein Vater trägt nicht so einen. Er trägt einen Apollofalter.“
Ich ging näher heran. „Stimmt. Sein Pin sieht anders aus.“
„Der Apollofalter ist Deutschlands größter und seltenster und daher
kostbarster Schmetterling“, sagte Tristan. „Jeder, der für den Professor
arbeitet, bekommt so einen Pin angefertigt. Die Schmetterlingsart kann
man sich aussuchen. Mein Vater lebt nach dem Grundsatz ‚Zeig mir deinen
Schmetterling, und ich sage dir, wer du bist‘. Und bezahlen darf man auch
selber.“
„Sieht täuschend echt aus. Und ganz neu.“
„Gold und Emaille und ein schweineteurer Juwelier“, erklärte Tristan. „Ich
habe den alten Pin verloren. Verdammte Schande. Sagte ich schon, dass man das
Ding selber bezahlen muss?“ Er wies auf meine Sakkotasche, wo ich die Handwerkeradresse verstaut hatte. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was rausgefunden haben. Und vergessen Sie nicht, bei meiner Cousine vorbeizuschauen.“
„Wegen des Buchs?“
„Nein, wegen Ihrer Rechnung. Wenn Sie Ihre Daten nicht vorab aufgenommen hat, können Sie auf die Bezahlung warten, bis Sie schwarz sind. Was das
Buch angeht – lesen Sie es nicht. Es sei denn, Sie hätten Einschlafprobleme.“
Ressiers Nichte hieß nicht Kriemhild, sondern Vanessa. In jeder Familie gibt
es einen, der irgendwie nicht ins Schema passt und der sich umso mehr bemüht, sich anzupassen. Um Vanessa Ressiers Lippen herum waren die kleinen
Falten eingegraben, die von fehlender körperlicher und seelischer Befriedigung künden. Abgesehen davon war sie auf leicht verblasste Weise hübsch
und deutlich jünger als ihr Cousin. Dankred Ressier musste ein sehr spätes
Vaterglück erlebt haben.
Ich deutete auf den Schmetterlings-Pin an ihrem Rollkragen. „Lassen Sie
mich raten: ein Admiral?“, fragte ich.
Ihre Mund war ein Strich in ihrem Gesicht. „Ein Trauermantel“, sagte sie eisig.
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Ich räusperte mich und gab ihr meine Karte. Sie nahm sie mit spitzen Fingern. „Für meine Lieferantendaten“, erklärte ich.
„Steuernummer?“
„Keine Ahnung.“ Entgegen aller Instinkte versuchte ich noch einen Scherz.
„Ich kann mir nur die Telefonnummern schöner Frauen merken. Wie lautet
Ihre?“
Sie starrte mich ohne zu blinzeln an. „Steuernummer?“, wiederholte sie.
Ich gab es auf. „Ich sende sie Ihnen zu.“
„Bevor Sie die Rechnung ausstellen, bitte.“ Sie zog ein schwarz eingebundenes Buch unter ihrem Schreibtisch hervor, mit dem man einen Elefanten hätte
erschlagen können. „Der Professor sagte, Sie möchten sein Werk studieren.“
Wie sie an diese Information gekommen war, war mir ein Rätsel. Ihr
Büro war gleich hinter der Haustür; wenn Ressier aus seinem Wintergarten
gekommen und es ihr gesagt hätte, hätte ich es sehen müssen. Aber er
konnte natürlich eine hausinterne Telefonanlage benutzt haben. Oder seine
Schmetterlinge transportierten Botschaften.
Ich blätterte es auf. „Es hat ja keine Bilder“, sagte ich unwillkürlich.
„Natürlich nicht. Der Professor hat für jede Art ausreichende textliche
Beschreibungen geliefert.“
„Ich leg es mir auf den Nachttisch.“
„Dieses Buch darf das Haus nicht verlassen“, schnarrte sie.
„Dann suche ich mir wohl besser ein ruhiges Klo, um es zu lesen.“
Ihr Mund wurde noch dünner. „Ich muss sie missverstanden haben“, sagte
sie mit einer Stimme, die einen Vulkan hätte vereisen können.
„Mit Sicherheit“, sagte ich. „Es gibt so viele Missverständnisse in der Welt.“
Ich zog ab, bevor sie auf den Gedanken kam, mich vor Benutzung des Buchs
zu desinfizieren. Draußen angekommen sah ich, dass ich tatsächlich Fingerspuren auf dem glänzend schwarzen Schutzumschlag hinterlassen hatte. Als
ich sie mit dem Hemdsärmel wegpolieren wollte, fiel mir auf, dass die Abdrücke schillerten. Als hätte ich Tausende mikroskopisch kleiner Flitterteilchen
angefasst, die nun in allen Regenbogenfarben oszillierten.
Tristan Ressier war in einer Garage, die größer war als das Einfamilienhaus, in
dem ich aufgewachsen bin. Er trug noch immer seinen schwarzen Anzug und
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polierte am Chrom eines Motorrads herum, das mir den Atem nahm. Als er
mich sah, lächelte er und legte den Lappen weg.
„Eine Hollister Classic“, sagte er. „Jedes Staubkorn darauf ist eine Sünde.“
„Ihre?“
Er nickte.
„Kann man damit auf der Straße fahren, ohne an der Ampel überfallen zu
werden?“
„Ich fahre nicht damit. Ich habe keinen Motorradführerschein.“
Diesmal nickte ich. So idiotisch ich es finde, ein Motorrad zu besitzen, für
dessen Preis man einen ganz netten Wagen der Oberklasse bekommt, ohne es
fahren zu können, so sehr konnte ich ihn dennoch verstehen. Die Maschine
war eine Schönheit. Sie war, wenn man so wollte, ein Apollofalter mit zwei
Rädern und der Eleganz eines Haifischs – groß, selten und überaus kostbar.
Ich trat heran und fuhr mit einem Finger über den glänzenden Tank. „Hier
ist noch was“, sagte ich.
„Oh“, sagte er und zückte seinen Lappen.
„Warten Sie!“ Ich blies auf meine Fingerspitze. Kurz schillerte es im Licht
in allen Regenbogenfarben auf. Ich packte sein Handgelenk und drehte seine
Hand um.
„Na hören Sie mal …“
Ich deutete auf seine Handfläche. „Sie gehen leicht ab“, erklärte ich. „Sie
sind so schön wie kaum etwas anderes, das die Natur geschaffen hat, der
Schmetterling braucht sie zum Fliegen, und sie lassen sich so leicht abreiben
wie der Kuss einer verflossenen Liebe.“
„Sie hätten das Buch meines Vaters lektorieren sollen.“
„Wo sind die Kästen?“, fragte ich ihn.
Er musterte mich lange und ohne eine Spur von Nervosität. Ich musste
seine Chuzpe bewundern. Schließlich wandte er sich ab und zog eine Plane
von etwas, das im Halbdunkel im hinteren Teil der Garage wie ein niedriger
zugedeckter Stapel Holz ausgesehen hatte. Es waren die Schmetterlingskästen.
Ich trat neben ihn. Er hatte sie fein säuberlich neben- und übereinander
aufgeschlichtet. Ich war nicht überrascht zu sehen, dass sie leer waren. Nur in
einem Kasten lag, einen Flügel abgerissen, ein einziger mumifizierter Falter.
Mittlerweile kannte ich ihn. Ein Apollofalter.
„Wo sind die anderen?“, fragte ich.
Zur Antwort öffnete er den Kasten, holte den toten Falter mit spitzen
Fingern heraus, legte ihn auf seine Handfläche – und zerquetschte ihn. Staubtrockenes Chitin und Millionen von schillernden Regenbogenschuppen rieselten aus seiner Faust. Als er die Hand wieder öffnete, hatte sich bunter Staub
auf seiner Haut verteilt. Er blies darauf, und eine Wolke aus Farbglitzer schimmerte auf. In seinen Hautfalten waren immer noch Tausende von den kleinen
Wunderwerken. „Den“, sagte er, „hab ich mir bis zum Schluss aufgehoben.“
„Warum?“, fragte ich.
„Zuerst sind Sie dran“, entgegnete er. „Wie?“
„Wie ich draufgekommen bin? Da waren zum einen die Flügelschuppen, die
ich an meiner Hand hatte, nachdem ich die ihre geschüttelt hatte. Ich konnte
sie nur von ihnen haben, denn ihrem Vater und ihrer Cousine habe ich die
Hand nicht gegeben, und von den Viechern, die im Wintergarten herumflattern, habe ich keines angefasst. Ich habe mal gelernt, dass die Schmetterlinge
nicht mehr fliegen können, wenn sie ihre Schuppen verlieren.“
„Mein Vater würde jetzt sagen: ein verbreiteter Irrglaube. In seinem Buch
gibt es ein ganzes Kapitel darüber.“
„Ich weiß“, sagte ich.
Er legte den Kopf schief und musterte mich nun zum ersten Mal nicht
amüsiert, sondern mit wahrem Interesse. „Ich hab mich selber verraten, oder?“
Ich pflückte den Pin von seinem Revers. Er wehrte sich nicht dagegen.
„Sie überraschen die Leute nicht gerne“, sagte ich. „Maculinea nausithous.
Ein Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling. Den haben Sie für Ihren Pin
gewählt. Sehr geschickt. Ihr Vater denkt, es ist nur eine trotzige Geste, und an
der Oberfläche sieht es auch so aus – der Ureinwohner, den es schon immer
gab, den es noch geben wird, wenn alle anderen Falter ausgestorben sind, und
der Apollofalter erst recht… Aber in Wahrheit symbolisiert Ihr Pin etwas ganz
anderes. Die Raupe des Bläulings lässt sich von Ameisen in ihr Nest tragen.
Sie wird nicht gefressen, weil sie den Nestgeruch der Ameisen imitieren kann.
Deshalb nehmen die Ameisen sie als ihre eigene Brut an. Und die Raupe frisst
derweil die Eier und Larven der Ameisen. Wenn man sich mal drauf eingelassen hat, gibt es in dem Buch Ihres Vaters durchaus spannende Passagen.“
„Wer hätte gedacht, dass einer wie Sie das Buch wirklich liest?“
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„Ich überrasche mich manchmal selbst.“
„Sie können mir gar nichts anhaben“, erklärte er. „Mehr als Sachbeschädigung ist das nicht, was ich getan habe. Und mein Vater wird mich nie anzeigen,
damit es keinen Skandal gibt.“
„Warum?“, fragte ich zum zweiten Mal. „Warum erst jetzt?“
„Wegen des Buchs“, sagte er. „Er hat darin ausschließlich die Schmetterlinge beschrieben, die in der Sammlung waren. Außer der Sammlung gab es für
ihn nichts auf der Welt. Das Buch ist sein Schwanengesang, seine gedruckte
Glorifizierung …“, er wies mit einer so angewiderten Geste auf die Kästen,
dass er beinahe einen heruntergestoßen hätte, „ … hiervon! Ich wollte, dass er
sich, wann immer er das Buch aufschlug oder darüber geredet würde, daran
erinnerte, dass er den eigentlichen Kern seines Werks, die Sammlung, verloren
hatte. Ich wollte, dass er sich so an den Verlust erinnert wie ich an den Verlust
der Kindheit, die ich nie hatte, weil mein Vater nur für seine toten Lepidoptera lebte und mich erst akzeptierte, als ich mit Chloroform, Stecknadeln
und einem Bestimmungsbuch umgehen konnte. Wozu hat er mich adoptiert,
wenn er nichts von mir wollte? Die Veröffentlichung des Buchs gab mir die
Idee ein …“
„Weil Ihnen die Demütigung Ihres Vaters, dass sein Buch niemals jemand
kaufen wird, noch nicht genug ist. Und die Demütigung, dass das Buch, mit
dem er sein Lebenswerk beschreiben wollte, so grottenschlecht wie nur irgendwas ist. Ihr Vater mag ein beschissener Autor sein, aber er ist als Forscher
gut genug, um zu wissen, dass er das einzige Buch, das er jemals geschrieben
haben wird, versaut hat. Er hat Ihnen die Kindheit genommen? Sie haben ihm
alles genommen!“
„Ich …“, begann Tristan.
„Genau“, sagte ich „Ich“. Damit fangen in dieser Familie alle Denkvorgänge
an.“ Ich trat aus der Garage hinaus. Um einen Sommerfliederstrauch neben
dem Hauseingang flatterten Dutzende von Schmetterlingen herum. Auf einmal war es mir zuwider, ihnen zuzusehen.
„Tristan?“, fragte Professor Ressier.
„Er ist nicht der erste dieses Namens, der die Erwartungen enttäuscht, die
in ihn gesetzt wurden.“
„Dagegen haben Sie mehr als meine Erwartungen erfüllt.“
Ich schnippte einen Schmetterling von meinem Ärmel. Ich fühlte mich
müde. Und keineswegs überrascht. „Wo sind die echten Kästen?“, fragte ich.
„Mein Sohn hat die echten Kästen. Nur der Inhalt wurde vertauscht. Gegen
eine wertlose Sammlung, die ich vor einiger Zeit erstanden habe.“
„Die angeblichen Klimatechniker?“
„Richtig. Der Defekt war nur vorgeschoben. Absolute Profis im Übrigen,
trotz ihres Aussehens. Merken Sie sich das, junger Mann: beurteilen Sie die
Menschen nie nach ihrem Äußeren!“
„Ich wiederhole mich, aber was soll’s: Warum?“
„Hat Tristan versucht, sie zu verkaufen?“
„Er hat sie alle vernichtet.“
Daran kaute er ein bisschen. „Tristan sollte mein Vermächtnis übernehmen.
Ich bin nicht mehr lange auf dieser Welt. Da Sie den Wert der echten Sammlung kennen, werden Sie verstehen, dass ich ihn auf die Probe stellen musste.“
„Sie hätten ihm einfach vertrauen können.“
„Sie sehen ja, dass er mein Vertrauen nicht wert war. Wie sind Sie ihm auf
die Schliche gekommen?“
Ich warf den Pin auf den Tisch. „Er hat seine Absichten angekündigt.“
Ressier musterte den Schmetterling. „Ich verstehe nicht.“
„Maculinea nausithous. Seine Raupen lassen sich …“
„Das ist nicht der Ameisenbläuling. Der Juwelier, der die Pins für mich
macht, arbeitet extrem genau. Das ist der Eichenzipfelfalter.“
„Ich will verdammt sein“, sagte ich. Von draußen drang das Geknatter eines
schweren Motorrads herein, das jemand ohne viel Sachverstand zum Tor hinaus zu fahren versucht. Der Motor starb dauernd ab.
„Die Arten werde gerne verwechselt“, erklärte der Professor. „Man kann
von einem Laien wie Ihnen nicht mehr erwarten.“
Das Motorrad heulte plötzlich auf, als es mehrere Sekunden lang mit Vollgas vorangetrieben wurde. Das Kreischen einer Notbremsung ertönte von der
Straße außerhalb des Zufahrtstores, dann der dumpfe splitternde Knall eines
Zusammenstoßes.
Ressier starrte mich an. Seine Augen waren plötzlich große runde Löcher
in seinem fahlen Gesicht.
„Rufen Sie den Rettungsdienst“, sagte ich und rannte hinaus.
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Dunkler WiesenknopfAmeisenbläuling
Bild: Manfred Rauh
(Maculinea nausithous)
Der Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling ist ein hochspezialisierter Bewohner von
Feuchtwiesen. Er ist auf den Wiesenknopf als
Futterpflanze der Raupen und auf die Knotenameise
als „Gastgeber“ für die Überwinterung der Raupe
angewiesen. Im Ameisenbau tarnt er sich, indem
er ein zuckerhaltiges Sekret abgibt. Er ernährt
sich jedoch von den Ameiseneiern. Noch im Bau
verpuppt er sich und muss nach dem Schlüpfen
schnell das Ameisennest verlassen. Denn als
Schmetterling ist er nicht mehr getarnt und die
Ameisen erkennen ihn als Feind und Beute.
Bild: Uwe Zuccki
Richard Dübell
Geboren 1962, Industriefachwirt,
lebt in Ergolding bei Landshut und ist seit 1997
Buchautor. Seine erste Romanveröffentlichung Der
Tuchhändler ist bereits in 14 Sprachen übersetzt
und über eine Million Mal verkauft. Zahlreiche Romane folgten, darunter die Teufelsbibel-Trilogie und
historische Erzählungen wie Die Pforten der Ewigkeit. Er ist Kulturpreisträger der Stadt Landshut und
nicht nur Autor, sondern auch Dozent, Stadtführer
und Drehbuchdoktor. Neu erschienen ist sein Jugendroman Löwenherz – im Auftrag des Königs. Als
Amateurfotograf war sein meistverkauftes Bild ein
Bläuling mit geöffneten Flügeln in einem goldgelben Getreidefeld.
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Nicola Förg
Der Krätta-Mann
Seine erste Assoziation war Hannibal Lecter. Lecter, der einen Helm aus Stahlstreben trug. Der hier trug allerdings einen Weidenkorb über dem Schädel.
„A Ma mit Krätta isch gfunda“, hatte der Kollege Bäuerle gesagt. Lars
Oeding war nun schon seit einem halben Jahr in Günzburg ansässig und
sprachlich hatte er schon einige Waterloos erlebt. Die hier konnten wirklich
alles außer Hochdeutsch, und sein Sohn Björn sagte auch schon „i“ und „isch“.
Als die Nachbarin ihn erstmals mit Björnle ansprach, war Lars nahe dran
gewesen vom Glauben abzufallen. Was im Falle eines Elmshorners natürlich
der protestantische war. Und doch, die Familie hatte sich gut eingerichtet hier,
Margit, Björn und er. Sie radelten viel und häufig durchs weite Donaumoos,
ins bucklige Südbayern wäre er nie gegangen. Hier wogten wenigstens
Getreidefelder, hier schlängelten sich Altwasserarme, manchmal fischelte
etwas im brackigen Wasser. Grad Heimatgefühle hätt´ man kriegen können.
Jedenfalls knieten sie nun neben dem Mann, der mit einem seltsamen
Kopfgitter auf dem Radweg entlang der Kopfweiden lag; und sie lauschten
den verquasten Ausführungen eines kleinen Männleins, das einfach nur
das sein konnte, was es auch war: Biologie- und Erdkundelehrer a. D. und
Insektenforscher. Im Mulm hatte er den Toten gefunden, im Mulm, jawoll,
das hatte er angegeben und den etwas sparsam dreinblickenden Kollegen auch
gleich aufgeklärt.
„Wenn Holz sich zersetzt, setzt die Humifizierung ein und dann spricht
man nicht mehr von Holz, sondern Mulm, der aus Holzspänen und dem Kot
der Totholzinsekten besteht.“ So, der Tote hier lag also mit einem merkwürdigen Krätta auf dem Kopf in Insektenscheiße! Lars hätte sich einen schöneren
Tod vorstellen können.
Der a. D. hatte sich heute in morgendlicher Nebelfrühe aufgemacht, ein paar
Mulmhöhlen zu inspizieren. „Ein seltenes Habitat für Xylobionten“ quietschte
er. Und weil wieder alle so unschlau aussahen, erklärte er, dass diese Lebewesen
ausschließlich von Holz leben könnten. „Ein Juchtenkäferlein, der Eremit, ist
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mein Begehr. Und flugs hätt ich es aufgespießt für meine Sammlung.“ Seine
Piepsstimme machte das Ganze auch nicht besser, als Lehrer war der mit
Sicherheit eine ganz arme Sau gewesen.
Dem Mulmfan wurde es dann auch etwas mulmig, als er realisierte, dass er
verdächtig war. Ortskundig, als Erster am Tatort … Er beteuerte, den Mann
doch gar nicht zu kennen, er verwies auf sein Pazifistentum. Das war ja wohl ein
Witz, dachte Lars. Einer, der Lehrer gewesen war und zudem Tiere aufspießte,
war niemals ein Pazifist! Sie entließen ihn am Ende, noch immer waberten
die Nebel und aus den Schwaden spitzten die Kopfweiden wie Struwwelpeter.
Irgendwie gruselig, fand Lars. Baumhaarige Schädel, Fratzen, mulmig eben.
Der Tote war ein ordentlicher Mensch gewesen, er hatte ein Portemonnaie
dabei und seine ganze Identität: Ausweis, Führerschein, Krankenkassenkarte,
Mitgliedsausweis vom Kleintierzuchtverband. Noch ein Insektenforscher?
Die Kollegen sicherten Spuren, der Arzt konnte außer dem seltsamen Kopfschmuck nichts feststellen, der Tote entschwand schließlich im Zinksarg in
Richtung Ulm im Nebel. Lars und Bäuerle machten sich auf zur Adresse des
Toten, die sich als kleines Häuschen im Eternitgewand entpuppte. Als sie das
Gartentor aufstießen, rollte eine Armee auf sie zu. Rollte nein, sie hoppelte.
Lars glaubte, noch nie so riesige Hasen gesehen zu haben. Als der Eine dann
auch noch Männchen machte, konnte er ihm fast in die Augen sehen. Kleintierzuchtverband war gut, das hier waren Hasen groß wie Ponys! Bis auf die
insgesamt 22 Riesennager lebte der Mann anscheinend allein.
„Und wo isch er jetzt, suchet Sie ihn?“, fragte die Frau.
Da der Todesfall in der Zeitung stehen würde und sie schließlich mal Bewegung in den Krätta-Mann bringen mussten, vermeldeten sie seinen Tod. Ohne
Details natürlich. Bloß dass er heute früh am Radweg gefunden worden war.
Der Frau stand der Mund offen, auch die Nasenflügel irgendwie, und dann
stieß sie aus: „Dann hot sie ihn verhext, de Hex. Der arme gute Erwin.“
Einige Nachfragen später war klar: Die hier war die gute Nachbarin, die auf
der anderen Seite war die Böse. Die war die Hex. In der Siedlung bekannt für
ihr Tun.
„So eine hätten´s früher verbrennt.“
Sie bedankten sich, wollten sich schon umdrehen, als die Dame ihnen den
Besen vor die Beine knallte. Der war so ein Reisigbesen, sah auch aus wie aus
Kopfweidenzweiglein gemacht und schmerzte auf dem Schienbein. Na, wer
war denn hier die Hex?
„Halt! Und wer füttert die Hasen vom Erwin und bringt die in den Stall?“
„Sie?“ sagte Lars vorsichtig.
„Gwies it“ rief sie und drehte ab, indem sie sich wie beim Stangentanz um
den Besen wand.
„Ich ruf nachher das Veterinäramt an, sollen die sich was ausdenken“,
grummelte Bäuerle. „Gehen wir zur Hex.“
Kaum hatten sie sich etwas ratlos umgesehen, trat eine Dame auf den Plan,
die vorgab, den Gehweg zu kehren. Ja, die schwäbische Kehrwoch´ sowie die
schwäbische Neugier hatten viel Schönes. Die auskunftsfreudige Dame wusste
zu berichten, dass ihr Nachbar in der Dämmerung gegangen wäre, weil sie ja
auch früh aufstehe. Der frühe Vogel, sie kicherte albern. Sie erfuhren, dass
der Nachbar, der Herr Erwin, verwitwet sei. Alles in allem sei er an sich ein
guter Mann und Nachbar. Nur die Hoppler gruben sich ab und an mal durch.
Der Rentner hätte einen kleinen Nebenjob, machmal fuhr er den Kleinbus der
Behindertenwerkstätte, früher hat er nämlich den großen Bus der Stadtwerke
gefahren.
Die Hex wohnte im letzten der Häuschen, ihres grenzte an Wiesen an, und
am Horizont ragten schon wieder diese Büschel, allmählich begann Lars diese
Kopfweiden zu hassen. Irgendwie hatten sie ein Deja-vu, denn die Monsterhasenmutanten kamen ihnen auch hier entgegen und mit ihnen eine zierliche
Frau mit sehr roten lockigen Haaren, die um die fünfzig war. Ein zotteliger
Hund folgte ihr, keine schwarze Katze. Einen Hexenbesen hatte sie aber auch,
der war fast identisch mit dem, den sie vor die Schienbeine bekommen hatten.
Sie war Lars Blick gefolgt.
„Ja, ja, ich bin die Hex, das ist mein Besen. Was kann ich für Sie tun?“ Sie
beäugte Bäuerle. „Sie haben Probleme mit ihren Gelenken und Sie“, sie sah
Lars an „könnten auch was für ihre Leber tun. Nicht, dass Sie der Typ für
Alkoholabusus wären, aber Sie hatten mal Hepatitis, oder?“
Lars war platt. „Sind Sie Hellseherin? Oder Ärztin?“
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„Nein, Heilpraktikerin, und gegen so manches ist ein Kräutlein gewachsen
oder ein Baum.“ Sie wies in Richtung der Wuschelköpfe. „Weidenrinde. Bereits
bei Hippokrates war ihre Wirkung gegen Schmerzen und Fieber bekannt,
schon Hildegard von Bingen empfahl im 12. Jahrhundert Weidenrindentee
gegen Fieber, Gicht und Gelenk-Rheumatismus. Die Weiderinde enthält
Salicin, das nach der Magen-Darm-Passage im Blut und in der Leber nach und
nach ohne Nebenwirkung in die wirksame Salicylsäure umgewandelt wird.
1899 gelang die synthetische Herstellung der Salicylsäure, es kam Aspirin. Ich
nehm immer noch lieber die natürliche Variante, Weiderindenextrakt. Und
das ist keine Hexerei.“ Sie lachte.
„Sie sind also oft bei den Weiden?“, fragte Lars.
„Fast täglich. Salix alba, die Silberweide ist ein zauberhafter Zeuge unserer
Kultur. Man hat diese Weiden Jahrhunderte lang geschnitten, um die Weideruten zu erhalten. Damit hat man früher Körbe geflochten, Besen gebunden
und Zäune geflochten. Das mit den Zäunen versuch‘ ich heute noch, aber die
Nager zerlegen sie.“
„Das sind die Hasen ihres Nachbarn?“
„Ja, die untergraben jede Autorität profaner Grenzen. Und Hasen! Das
sind keine profanen Hasen. Das sind Deutsche Riesen, das sind Bundessieger!
Da versteht er keinen Spaß, der Herr Nachbar!“
„Um den Nachbarn geht es. Kripo“, Bäuerle zücke die Marke und berichtete
vom Tod des Mannes. Die Reaktion dieser Besenbesitzerin war ganz anders.
„Es gibt noch Gerechtigkeit! Das Aas ist tot!“
„Sie mochten ihn weniger?“
„Er war ein Faschist.“
„Harte Worte.“
„Wussten Sie, dass er von den Werkstätten im Moos die Busse gefahren hat?“
„Das wurde uns gesagt.“
„Er hat diese Menschen als Behindis, Spastis und Deppenpack beschimpft.
Sie hatten Angst vor ihm. Er hat Vollbremsungen gemacht, damit sie nach
vorne fliegen, und Nazimärsche im Bus gespielt.“
„Woher wissen Sie das?“
„Meine Freundin Karlotta arbeitet dort als Pflegerin. Die Werkstätten
nutzen die Kopfweiden. Sie binden zum Beispiel Besen. Erwin, das Aas, hat
sie dorthin gefahren, wo die Zweige geschnitten werden. Ich war mehrfach
Zeugin seiner Attacken. Mich hat er auch bedroht.“
„Und deshalb haben Sie ihn umgebracht?“
„Ich lebe seit 15 Jahren neben diesem Unmenschen, warum sollte ich ihn
gerade jetzt umbringen?“
„Der berühmte Tropfen, der das Fass …, Sie wissen schon.“ Bäuerle knurrte.
„Wo waren Sie heute früh?“
„Sehr früh im Moos, später hier.“
„Allein?“
„Ja.“
„Was gesehen?“
„Nein.“
„Was gehört?“
„Den Schrei des Käuzchens.“
„Wìe bitte?“
„Steinkäuzchen leben in den Kopfweiden. Steinkäuzchen sind wie alle
Eulenartigen Hexenvögel!“ Sie lachte hell.
Lars mischte sich nun ein. „So witzig ist das nicht. Sie waren am Tatort. Sie
mochten den Mann nicht.“
„Den mochten viele nicht.“
Das ging eine Weile so hin und her, bis die beiden Kommissare unverrichteter Dinge abzogen. Bäuerle drehte sich noch kurz um. „Füttern Sie die Hasen?“
„Klar, die Viecher können ja nichts dafür.“
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So weit, so unerfreulich. Die Spurensicherung hatte auch nichts finden
können, das war eine beliebte Wander- und Radlstrecke, da gab es Hunderte
von Spuren. Am späten Nachmittag kam aus der Rechtsmedizin ein Anruf,
dass der Mann an einem Herzinfarkt gestorben sei. Kein Wunder bei seinem
schlechten Herzen. Trotz des komischen Kopfschmucks, auf den Lars immer
wieder hinwies, beschlossen Staatsanwaltschaft und Bäuerle, den Fall ad acta
zu legen. Ein fader Einstieg in seine Tätigkeit in Schwaben, fand Lars.
Warum merkten die nix? Die sagten hier doch sonst so oft in einem verschwörerischen Ton: „Des hot so a Gschmäckle.“
Das hier hatte ein Gschmäckle, aber man wandte sich anderem zu, verwen-
dete seine Geschmacksknospen auf Grillabenden und Spätsommerfesten, auf
Trollinger und Lemberger.
Verhexen war heutzutage Mumpiz, Information war das Gebot der Stunde.
Und so lauschte die Hex mit Hund Willi, der heute keinen Diättag hatte
und zweien der Riesen, die partout nicht heim wollten, auf der Couch dem
prasselnden Feuer. Herrlich!
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(Silberweide, Salix alba)
Bild: ARGE Donaumoos
Am Abend, als die Nebel wieder aufzogen, ging die Hex, die Haare unter
der Wollmütze verborgen, zu den Kopfweiden. Erkletterte eine Bank, reckte
sich und zog aus der Mulmhöhle ein kleines Abspielgerät. Gottlob, das hatte
die Polizei nicht gefunden. Dann griff sie zum Handy. „Karlotta, alles klar. Ich
verbrenn die Utensilien mal lieber.“
Zuhause holte sie zwei hölzerne Fratzenmasken mit zu Berge stehenden
Zweigen aus dem Schuppen. Zwei Gewänder mit aufgenähten Blättern, die raschelten und zuckten, holte sie auch. Gut, dass ihr Kachelofen eine große Schür
hatte. Bevor sie die kleine Kassette dazu warf, wollte sie das noch einmal hören.
Das Käuzchen rief. Er rief ganz kläglich. Dann heulte etwas wie aus dem
Orkus. Nun sprach die Stimme aus dem Jenseits. „Sie werden dich kriegen. Sie
werden dich finden. Du quälst andere. Das mögen sie nicht. Die Dämonen der
Finsternis haben dich längst.“ Und es heulte wieder, diesmal wie der Hund aus
Baskerville. Es war wirklich jedes Mal schauerlich, wenn Willi so heulte, bloß
weil er einen Diättag hatte. Notwenig in seinem Alter und bei dem Übergewicht, hatte der Tierarzt gesagt. Sie hatte das mal aufgenommen. Sie und
Karlotta hatten den bösen Busfahrer bloß mal erschrecken wollen. Wegen der
Leutchen von Karlotta. Dass er dann so dumm in seinen Krätta, wo er immer
Löwenzahn für seine Riesen sammelte, gefallen war, war ungeplant gewesen.
Nun ja, Karlotta hatte schlechte Nerven, hatte gewimmert, dass sie das doch
nicht gewollt hatte. Die Hex hatte ihr einen beruhigenden Tee verpasst, sie
heimgeschickt und ihr ewiges Schweigen abverlangt. Karlotta war allemal
unschuldig. Sie hingegen hatte schon gewusst, dass der Mann ein schlechtes
Herz hatte. Ein sehr schlechtes. Von seinem Hausarzt wusste sie das. Der kam
oft wegen seiner Migräne im Schutze der Nacht zu ihr, aber das durfte er als
Schulmediziner ja nicht an die große Glocke hängen.
Kopfweide
Die Kopfweide prägt das Landschaftsbild im Schwäbischen Donautal. Silberweiden wurden früher häufig zur Gewinnung von Weideruten
genutzt. Die Kopfform entsteht durch das regelmäßige Schneiden der Zweige bis fast zum Stamm. Die
Silberweide ist sehr schnellwüchsig und erreicht einen jährlichen Längenzuwachs von bis zu 2 Metern.
Das innere Stammholz verwittert jedoch rasch.
Dadurch entstehen Höhlungen, die als Lebensraum
für viele Insekten sind. Eine Kopfweide kann zum
Beispiel über 100 Käferarten beherbergen. Die Weideruten werden seit Jahrhunderten als Werkstoff
zum Flechten verwendet.
Nicola Förg
Nicola Förg, geboren 1962, lebt in
Prem und ist Reise- und Skijournalistin und Autorin von mittlerweile 12 Kriminalromanen. Ihre
Krimi-Serien spielen vorwiegend in ihrer Allgäuer
Heimat im Voralpenland und an alpinen Tatorten.
Nicola Förg ist die Erfinderin des Allgäu Krimis,
Schussfahrt begründetet den Ruf als kriminell gute
Region. „Dort, wo die Natur opulent ist und wo die
Menschen von ganz spezieller Schlag sind, gibt es
hinter der Geranienpracht viele Gründe (zumindest
literarisch) zu morden“, sagt Förg. Das aktuelle Buch
Mordsviecher wurde vom Tierschutzbund Bayern
mit einem Tierschutzpreis ausgezeichnet.
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Angela Eßer
Die Grillen und das
Ende eines Dorffestes
Vielleicht wäre ja alles ganz anders gekommen, wenn der Huber dem Jockl
einfach das Huhn für ein paar Euro verkauft hätte. Und die alte Grießmayr
die Milch. Oft genug hatten sie für den Jockl ein Auge zugedrückt. Immer und
immer wieder, obwohl im Dorf eigentlich nichts gegen Bares gekauft oder verkauft wurde. Das wusste auch der Jockl. Es war nun mal das Dorfgesetz. Seit
dem großen Streit vor über hundert Jahren. Worum es damals bei dem Streit
zwischen dem Ober- und dem Unterdorf genau gegangen war, wusste keiner
mehr so genau, aber irgendwann hatten sich die beiden kleinen Gemeinden
geeinigt und einfach Tauschscheine eingeführt. Ein Huhn gegen drei Fenster
putzen, Holzhacken oder vier Halbe im Gasthaus. Und seitdem hatte sich vieles verändert. Mittlerweile hatte das Dorf sogar eine eigene Währung, heimste
eine Auszeichnung nach der anderen ein, und viele Dinge waren auf den Weg
gebracht worden, von denen andere Gemeinden nur träumen konnten. Da gab
es jetzt die neue Turnhalle, den Kräutergarten, den Skulpturenpfad und vieles
mehr. Alle waren mit Herzblut bei der Sache. Nur der Jockl hielt sich ums
Verrecken nicht an die Abmachung. Seit Jahren nicht. Immer wieder machten
alle bei ihm zähneknirschend eine Ausnahme, aber der alte Huber und die
Grießmayr hatten jetzt die Nase voll. Der Huber, weil er den Jockl noch nie
hat so richtig gut leiden können, schon seit der Schulzeit nicht, denn da hatte
der auch immer nur herumgestänkert und alle geärgert. Und die Grießmayr
hatte die Sache mit den Lollies noch nicht verwunden. Beim letzten Lagerfeuer mit zwei Schulklassen hatte sie Geschichten über die heimischen Tiere
erzählt. Über Füchse, Eichhörnchen, Grillen und Heuschrecken. So, wie sie
das immer im Sommer machte. Aber dann war auf einmal der Jockl, der sich
sonst für nichts interessierte, was im Dorf passierte und veranstaltet wurde,
aufgetaucht und hatte sich dazugesetzt.
„Über die Heuschrecken kann ich euch jede Menge erzählen“, so hatte er
gesagt, „und wenn ihr wollt, dann singe ich euch auch das Heuschrecken-Lied.“
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Ein vielstimmiges Ja war die Antwort. So holte er seine Gitarre hervor, fing
an zu singen und zeigte den Kindern noch den Heuschrecken-Tanz. Ein wildes
Gefuchtel mit den Armen und Beinen, bei dem die Kinder einen Riesenspaß
hatten und selbst die Grießmayr staunen musste.
„Und weil ihr alle so super mitgemacht habt“, lobte der Jockl die Kinder,
„bekommt jetzt jeder eine kleine Überraschung.“
Eine kleine bunte Tüte zauberte er aus seinem Rucksack und hielt sie den
Kindern hin. Jeder durfte sich daraus einen Lolli nehmen, und dann war der
Jockl auf einmal verschwunden. Alle anderen saßen weiter am Lagerfeuer
und lutschen kichernd ihre Lollies, bis ein Mädchen plötzlich kreischend
aufsprang.
„Ihhhhh,“ schrie sie und spuckte mehrmals angeekelt aus, „da is ja a Viech
drin!“
Wie sich am nächsten Morgen herausstellte, hatte der Jockl im Internet
Lollies mit Heuschrecken bestellt und an dem Abend an die Kinder verteilt.
Die wutentbrannten Mütter hatten ihn zum Bürgermeister geschleppt, hätten
ihn wohl aber am liebsten auf der Stelle mit Haut und Haaren gefressen.
„In anderen Ländern“, erklärte der Jockl seelenruhig, „sind Heuschrecken
eine wichtige Eiweißquelle, … sind eine Delikatesse, und auch das müssen die
Kinder doch schließlich wissen.“
Man beließ es nach endlosen Diskussion bei einer Ermahnung, doch seit
dem Tag bekam der Jockl im Dorf nichts mehr gegen Geld, auch eben beim
Huber und der Grießmayr nicht, und im Gasthaus saß er allein am Tisch.
stand der Jockl auf einmal auf und stellte sich vor den Rost.
„Grillfest nennt Ihr das hier? Jetzt zeige ich Euch mal, was ein richtiges
Grillfest ist. Das einzig wahre Grillfest!“, rief er und lachte lauthals. „Keine
Ahnung habt Ihr alle. Wollt zurück zur Natur, haut hier glückliche Schweineund Rinderhintern auf den Grill und wisst noch nicht einmal wo das Wort
Grillen herkommt.“ Er holte eine Tüte hervor und warf etwas auf den Rost.
Und noch etwas. Immer wieder.
„Grillen grillen!“, rief er. „Versteht ihr? Grillen grillen! Denn dafür sind sie
ja wohl da, diese Viecher, die einem im Sommer mit ihrem elendigen Gezirpe
nicht schlafen lassen. Deshalb wird auch immer nur im Sommer gegrillt. Und
warum? Damit endlich Ruhe ist. Also, auf geht’s: Grillt die Grillen!“
Selbst der Huber hätte nicht sagen können, was passiert wäre, wenn nicht
plötzlich der Platzregen eingesetzt hätte. Auf jeden Fall war der Jockl seitdem
verschwunden. Und aus welchen Gründen auch immer hatte die Presse von
der Geschichte erfahren.
Und dann kam das Dorffest. Überall wurden die Wege geschmückt, die Straßen gekehrt und der Dorfplatz mit einem großen Grill für alle hergerichtet.
Die Dorfbewohner freuten sich auf das alljährliche Ereignis. Schließlich gab
es Freibier für alle, Musik für Jung und Alt die ganze Nacht.
Und die Geschichte mit den Heuschrecken war vergessen. Fast. Denn als
der Jockl auftauchte, sank die Stimmung schlagartig, und niemand wollte ihn
an seinem Tisch Platz nehmen lassen. Der Bürgermeister nahm die Sache in
die Hand, ermahnte mit seinen Blicken die Dorfgemeinde und gab dem Dirigent ein Zeichen. Hektisch spielte die Kapelle auf und nach ein paar Minuten
ging alles wieder seinen Gang. Doch als der große Grill angefeuert wurde,
Jede Menge Reporter waren jetzt im Dorf und witterten die Sensation. Das
kleine bayerische Vorzeigedorf, das wahrscheinlich einen seiner Bewohner
gelyncht hatte. Selbstjustiz mitten in Bayern und im 21. Jahrhundert. Unglaublich. Die einen glaubten an hinterhältigen Mord und meinten, irgendwo
Blutflecke gesehen zu haben. Und die anderen vermuteten, dass der Jockl in
einen unbekannten Kellerverschlag verschleppt, eingesperrt und gefoltert
wurde. Überall stöberten sie herum, doch sie fanden nichts. Gar nichts. Und
die Dorfbewohner schwiegen. Der Bürgermeister wiegelte alles ab, erzählte,
dass der Jockl immer mal wieder für ein paar Tage verschwand und dass das
nichts Besonderes sei. Versuchte, der Journaille von der Einzigartigkeit des
Dorfes, das sich unabhängig vom Euro machen wollte, zu berichten. Doch
die Presse winkte gelangweilt ab. Wer wollte schon gute Nachrichten hören?
Nur schlechte Nachrichten seien schließ- und endlich gute Nachrichten, dass
sei Pressegesetz.
Und so wurde mit großem Medieninteresse über das Grillen-Spektakel
beim Dorffest berichtet:
Massenmord erschüttert Dorfbewohner. Kinder traumatisiert.
Die Grillen wurden auf dem Friedhof begraben und die Dorfbewohner
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setzen ihnen ein Denkmal, erklärten den Tag des Dorffestes zum Tag der
Grille und zur Erinnerung gravierten sie auf den grauen Stein ein Gedicht.
An die Grille
Erdfarbenes Wesen, kleine Grille,
Lass immer tönen dein Geschrille,
Sing deine Erdenmelodie!
Verströmt das Lied der Nachtigallen,
So muss uns bald auch sie gefallen;
Es stillen Herbst und Grab auch sie.
Karl Mayer (1832)
In den folgenden Tagen wanderten Busladungen von Schaulustigen durchs
Dorf und fotografierten den Grabstein von allen Seiten. Das Gasthaus war
voll und machte einen Umsatz wie seit Jahren nicht mehr. Die Polizei verhörte
Jede und Jeden im Dorf, setzte Unmengen von Suchhunden ein, hängte
Plakate auf, aber der Jockl blieb verschwunden.
Vorher sind sie ja nicht gekommen. Aber so kennt unser Dorf jetzt die ganze
Republik. Fünf umliegende Dörfer machen bei unserer Währung jetzt schon
mit. Der Bürgermeister verhandelt noch mit zwei anderen.“ Sie machte eine
kurze Pause. „Siehst, der Jockl ist doch für was gut.“
„Wo d´ recht hast, hast recht. Trotzdem, Strafe muss sein“, antwortete der
Huber.
Ein Windstoß fuhr durch ihrer beiden Haare und wirbelte auch herumliegende Blätter auf. Sie wandten sich ab und verließen den Friedhof. Hinter
ihnen wirbelte weiter Laub durch die Luft und dazu mischen sich plötzlich
weiße Papierfetzen. Weiße Blätter, wie aus einem kleinen Schulheft.
Die Schrift darauf war deutlich zu erkennen.
Ich darf keine Grillen grillen.
Ich darf keine Grillen grillen.
Ich darf keine Grillen grillen.
Ich …
Nach ein paar Wochen kehrte im Dorf langsam wieder Ruhe ein und wie
jeden Abend im Sommer saß der Huber auf der Bank vor seinem Haus und
rauchte eine Pfeife. Neben ihm hockte die alte Grießmayr und strickte Socken.
Nein, sie vermissten den Jockl nicht. Wahrscheinlich niemand im Dorf. Aber
irgendwie fehlte ihnen allen doch was. Seit der Jockl wieder mal weg war, war
es ruhig im Dorf. Vielleicht zu ruhig, denn es gab jetzt nicht wirklich etwas,
über das sie sich hätten aufregen können. Dafür war ja immer der Jockl da.
Richtig fad war’s fast. Der Huber und die Grießmayr seufzten.
„Gehst noch eine Runde mit?“, fragte der Huber.
Die Grießmayr nickte, und kurze Zeit später standen sie vor dem GrillenGrab.
„Der ist selber schuld“, sagte die Grießmayr.
Der Huber brummte.
„Wobei das mit den Grillen schon arg heftig war.“
Vom Huber kam nur ein weiteres Brummen.
„Na“, sagte die Grießmayr, „immerhin hat das mit der Presse geklappt.
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Feldgrille
Bild: Jiri Bohdal
(Gryllus campestris)
Die Feldgrille gehört zu den Heuschrecken. Im Gegensatz zu vielen der 80 heimischen Heuschreckenarten kann sie nicht fliegen, ist
dafür aber ein flinker Läufer. Die Tiere graben 10
bis 20 cm tiefe und zirka 2 cm breite Röhren in die
Erde. Nur die geschlechtsreifen Männchen sind zu
Lautäußerungen fähig und zirpen von Mai bis Juli.
Die Feldgrille liebt warme, sonnige und trockene
Hänge, Rasen und Felder, Kiesgruben und Heiden.
Bild: Erol Gurian
Angela Esser
wurde in Krefeld geboren, studierte
Theaterwissenschaft und war als pädagogische Mitarbeiterin an der Münchner Volkshochschule und
am Theater tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in der
Nähe von Augsburg. Selbst Autorin diverser Kurzkrimis und Herausgeberin von Krimi-Anthologien,
organisiert sie auch Krimifestivals und gibt KrimiKochseminare. Sie ist Initiatorin von Bloody Cover
und Mitglied im Syndikat e.V. Mit ihrer Kurzgeschichte 6 Uhr 23 – Guten Morgen, München (in:
München blutrot) war sie für den renommierten
Friedrich-Glauser-Preis nominiert.
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www.bayerns-ureinwohner.de
Deutscher Verband für Landschaftspflege e.V. (DVL)
Feuchtwanger Str. 38
91522 Ansbach
Tel.: 0981/4653-3540
Fax: 0981/4653-3550
E-Mail: [email protected]
Landschaftspflegeverbände
in Bayern
Bayerns UrEinwohner ist eine Kampagne der
bayerischen Landschaftspflegeverbände und des Bayerischen
Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit.

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