Ansprache Ronald Leopold, allgemeiner Direktor Anne Frank Haus

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Ansprache Ronald Leopold, allgemeiner Direktor Anne Frank Haus
Ansprache Ronald Leopold, allgemeiner Direktor Anne Frank Haus.
Peter van Pels & KZ-Gedenkstätte Mauthausen, 6. November 2015
Sehr geehrte Damen und Herren,
am 10. August 1958 bekommt Otto Frank, der Vater von Anne Frank, einen Brief aus den
USA. Geschrieben hat ihn Greta Goldschmidt-Röttgen, eine Tante von Peter van Pels (eine
ältere Schwester seiner Mutter). Zu dieser Zeit macht das Tagebuch der Anne Frank und das
gleichnamige Theaterstück in Amerika große Furore. Greta schreibt:
„Zweck dieser Zeilen ist, werter Herr Frank, bei Ihnen die Idee anzuregen, ob es nicht auch
was Gutes darstellte, wenn man für den ‚braven Peter‘ auch mal einen ‚Kleinen Hinweis‘
herausbringen würde.
Und einem 15jährigen Jungen, der sich so im KZ bewährt hat, wie Sie mir zur Zeit selbst
erzählt haben, der sich für andere so eingesetzt hat usw. usw., auch einen kleinen
Ehrenplatz einzuräumen.
Sicherlich, die fabelhafte, intelligente Anne verdient ‚all the limelight‘ – aber der kleine Bub
war doch so verbunden mit ihr und hat ihr sicherlich auch vieles erleichtert – warum nicht
auch mal ein kleines Lob für ihn!!
(…) ich denke zu oft an all die ‚Helden‘, die nicht das Glück hatten, ein ‚Tagebuch‘ zu
schreiben.“
Greta Goldschmidt, die ihre Tochter in Auschwitz verliert, überlebt mit ihrem Mann und ihrem
Sohn den Krieg und baut sich in den USA eine neue Existenz auf. Der Brief ist ein
begreiflicher Herzenserguss einer Frau, die wie so viele andere damals mit dem unfassbaren
Verlust ihrer Liebsten in der unermesslichen Zahl von Opfern des Holocaust fertig werden
muss.
Niemand ist nur einer von den vielen, jeder ist eine Persönlichkeit mit einem Namen und
einem Gesicht. Auch Peter van Pels, der hier in Mauthausen starb, einsam und allein, fern
von zu Hause und seiner Familie. Auch durch Anne Franks Tagebuch können wir hier seine
Geschichte erzählen.
Peter van Pels wird am 8. November 1926 in Osnabrück als einziges Kind von Hermann van
Pels und Auguste van Pels-Röttgen geboren. Seine Familie väterlicherseits kommt
ursprünglich aus den Niederlanden. Deshalb haben Peter und seine Eltern die
niederländische Staatsangehörigkeit. Vater Hermann ist als Vertreter im Familienbetrieb
tätig, einem Großhandel für Fleischereibedarf.
Peter van Pels ist sechs Jahre alt, als Hitler 1933 an die Macht kommt. Er besucht die
Israelitische Elementarschule, die neben der Synagoge van Osnabrück steht. Kinder
verschiedener Altersgruppen lernen dort in einem einzigen Klassenzimmer. Ein Freund von
damals erzählt, dass Peter ein großer, schüchterner Junge war und ein guter Fußballspieler.
Auf dem kleinen Platz hinter der Schule wurde gebolzt, die Mauer der Synagoge diente als
Tor. Die Schule ist ein sicherer Hafen für die jüdischen Kinder in Osnabrück. Aber auf dem
Schulweg werden sie manchmal von Hitlerjungen beschimpft und verfolgt. Die Klasse leert
sich zusehends, viele Familien verlassen Deutschland. Wegen der zunehmenden
Auswanderung wird modernes Hebräisch gelehrt, und für Erwachsene gibt es Abendkurse in
Englisch.
Der Betrieb der Familie van Pels kann sich unter dem Druck des NS-Regimes nicht halten.
Im Frühjahr 1937 geben sie das Geschäft notgedrungen auf. Peters Vater Hermann hat
keine Existenzgrundlage mehr. In Sommer jenes Jahres emigriert die Familie van Pels in die
Niederlande und lässt sich in Amsterdam nieder. Peter ist zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt.
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Fast alle Verwandten väter- und mütterlicherseits verlassen in dieser Zeit Deutschland und
gehen nach Amsterdam, so auch Greta Goldschmidt-Röttgen und ihre Familie.
In dem Amsterdamer Viertel, in dem Peter nun wohnt, leben viele deutsch-jüdische
Emigranten. Bevor Peter in die Grundschule eingegliedert wird, besucht er wie viele
Emigrantenkinder eine spezielle Klasse, um die niederländische Sprache zu lernen. 1939
fängt sein Vater als Fachmann für Gewürzmischungen bei Pectacon an, einer Firma von
Otto Frank. Hermann van Pels fühlt sich auch in den Niederlanden nicht sicher vor der
Bedrohung durch den Nationalsozialismus. 1939 bemüht er sich – erfolglos – mit seiner
Familie in die USA zu emigrieren.
Im Mai 1940 werden die Niederlande von Deutschland besetzt. Die Deutschen führen auch
hier antijüdische Gesetze ein, und Peter muss seine Schule verlassen. Er beginnt eine
Ausbildung als Möbelpolsterer in einer jüdischen Fachschule. Auf dem letzten Foto, das von
Peter bekannt ist, arbeitet er an der Federung eines Stuhls und trägt einen Overall mit dem
„Gelben Stern“.
Im Juli 1942, eine Woche später als die Familie Frank, tauchen Peter und seine Eltern unter
und verstecken sich im Hinterhaus der Firma an der Prinsengracht in Amsterdam. Die
fünfundzwanzig Monate, die die beiden Familien und der Zahnarzt Fritz Pfeffer im geheimen
Unterschlupf verbringen, hat Anne Frank in ihrem Tagebuch beschrieben. Durch die Augen
einer Heranwachsenden ist zu lesen, wie die acht Untergetauchten in diesen beklemmenden
Umständen gute und schlechte Zeiten miteinander verleben. Am Anfang findet Anne, dass
Peter ein „ziemlich langweiliger und schüchterner Lulatsch“ ist, später aber blüht eine kurze
Verliebtheit zwischen ihnen auf. Am 3. März 1944 schreibt Anne ins Tagebuch: Ich setzte
mich auf die Treppe, und wir fingen an zu reden. Peter sprach mit keinem Wort mehr über
seine Eltern, wir redeten nur über Bücher und über früher. Was hat dieser Junge für einen
warmen Blick! Es fehlt, glaube ich, nicht mehr viel, und ich verliebe mich in ihn. Wenn der
Krieg vorbei ist, möchte Peter als Erstes ins Kino gehen, schreibt Anne. Später will er auf
einer Plantage in Niederländisch-Indien leben. Aber es kommt ganz anders.
Der Aufenthalt im Hinterhaus endet tragisch am 4. August 1944, als die acht Versteckten
verhaftet werden. Über das niederländische Durchgangslager Westerbork wird Peter nach
Auschwitz gebracht, wo er Anfang September 1944 ankommt. Dort muss er Anfang Oktober
miterleben, wie sein Vater nach einer „Selektion“ in die Gaskammer gebracht wird. Otto
Frank, der einzige Überlebende der acht Menschen aus dem Hinterhaus, berichtet später,
dass Peter für ihn eine große Stütze in Auschwitz war. Durch seine Arbeit in der Poststelle
des Lagers hat Peter mehr Bewegungsfreiheit und kommt an zusätzliche Nahrung. Als die
Rote Armee näher rückt und die Nazis Auschwitz räumen, muss Peter mit auf einen der
sogenannten „Todesmärsche“. Laut Otto Frank, der in der Krankenbaracke zurückbleibt, war
Peter damals in relativ guter körperlicher Verfassung, und Otto Frank war davon überzeugt,
dass er es schaffen würde.
Am 25. Januar 1945 kommt Peter van Pels in Mauthausen an, und am 29. Januar wird er
weitergeschickt in das Nebenlager Melk, wo er für das Projekt Quarz Zwangsarbeit bei der
Anlage einer unterirdischen Fabrik leisten muss. Die Lebens- und Arbeitsumstände sind
unmenschlich, die Sterblichkeit ist hoch. Am 11. April 1945 wird Peter van Pels in das
Sanitätslager von Mauthausen zurückgeschickt. Die kranken Häftlinge erhalten dort keinerlei
Versorgung, eigentlich ist es nur ein Platz zum Sterben. Peter van Pels stirbt am 10. Mai
1945, fünf Tage nach der Befreiung des Lagers durch amerikanische Soldaten. Er wurde nur
18 Jahre alt.
Heute, im Vorfeld seines 89. Geburtstages, 70 Jahre nach seinem Tod und 57 Jahre nach
dem Brief seiner Tante, ist es nun so weit, dass wir uns hier in der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen zusammengefunden haben, um Peter van Pels‘ zu gedenken und eine Plakette
zur Erinnerung an ihn zu enthüllen.
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Ich möchte gern all jenen meinen großen Dank und meine Wertschätzung aussprechen, die
dazu beigetragen haben: Frau Dr. Barbara Glück (Leiterin der Abteilung IV/7 des
Innenministeriums und verantwortlich für die Gedenkstätte Mauthausen), Herrn Harald
Hutterberger (Verwaltungsleiter der Gedenkstätte Mauthausen), Herrn Christopher Posch
(Veranstaltungs- und Kommunikationsmanager der Gedenkstätte Mauthausen), Herrn Dr.
Wolfgang M. Paul (Alt-Botschafter und Sonderbeauftragter für die Gedenkstätte
Mauthausen), Herrn Marco Hennis (Niederländischer Botschafter in Österreich) sowie allen
anderen, die an der Vorbereitung und Organisation dieser Veranstaltung mitgewirkt haben.
Der italienische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat einmal
geschrieben: „Eine Einzelperson wie Anne Frank erweckt mehr Anteilnahme als die
Ungezählten, die wie sie gelitten haben, deren Bilder aber im Dunkeln geblieben sind.
Vielleicht muss es so sein; müssten oder könnten wir die Leiden aller erleiden, könnten wir
nicht leben.“ Peter van Pels war einer dieser Menschen, der wie sie gelitten hat und dessen
Bild immer im Dunkeln blieb. Die Träume und Ideale seiner Freundin Anne haben die Welt
erobert, aber von ihm wissen wir nicht viel mehr als das, was sie über ihn geschrieben hat,
und wir kennen sein tragisches Schicksal im KZ Mauthausen. Heute tritt er dank dieser
Plakette aus dem Schatten. Zichrono livracha, möge sein Gedenken ein Segen werden.
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