Krieg, Militär - Institut für Osteuropäische Geschichte

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Krieg, Militär
Das Militärwesen hat in Russland stets die besondere Aufmerksamkeit der Regierenden
auf sich gezogen und die )'Gesellschaft geprägt. Kriege im lnneren und gegen die Nach­
bam begleiteten den russischen )'Staat durch die Jahrhunderte und drückten dem russi­
schen Geschichtsbild ihren Stempel auf. Militärische Stärke war in der Rus' der Schlüssel
zur Macht, sie war notwendig zum Schutz der fließenden Grenzen und im 19. und 20.
Jahrhundert grundlegend fur die russische bzw. sowjetische Großmachtrolle. Nach innen
war die Armee stets Stütze des Staats und multinationale Schule in Orthodoxie und Patri­
otismus. Erst die Sowjetmacht suchte die extensive Nutzung des Menschenpotentials mit
einem erhöhten Prestige des einzelnen Soldaten zu kompensieren.
Kern des altostslavischen Heeres - und prägend fur die Tradition des Fürsten- und Za­
rendienstes _ war die *Gefolgschaft (druiina). Mit ihr verfugte der Fürst über einen durch
Eid verbundenen Kreis von Gefolgsleuten, der ihm zugleich Verwaltungs- und Regie­
rungsinstrument war. Nicht jeder Adlige diente in ihr, nicht alle Mitglieder waren Adelige.
auch war das Treueverhältnis zum Fürsten aufkündbar. Seit Ende des 11. Jahrhunderts bil­
dete sich eine "große" dntiina von Adligen mit eigenem Grundbesitz heraus, die sich VOll
der Versorgung durch den Fürsten emanzipierte, jedoch seine administrative und konsultll­
tive Stütze blieb. Die druiina war ursprünglich von erheblicher Mobilität, sie bestritt die
Fürstenfehden und fiihrte die jährlichen *Tributerhebungen (poljudie) durch. Im Falle äuße­
rer Bedrohung wurde sie ergänzt durch andere Gefolgschaften, Söldnerheere und Truppea
tributärer Völker, die jedoch zunehmend von *Aufgeboten (opolcenie) aus den Städten ver­
drängt wurden. Diese nur im Kriegsfall mobilisierten freien Stadtbewohner wurden
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einem *Wojewoden (voevoda) bzw. seit dem 12. Jahrhundert auch vom *Tausendschafis.
führer (tysjackij) geleitet. Das Volk konnte jederzeit zu physischer Arbeit
werden, trat jedoch selten im Kampf in Erscheinung.
In Reaktion auf die regelmäßigen Überfälle der berittenen Steppennomaden
die Rus' deren Taktik und Bewaffnung. Die Tataren konnten jedoch auch durch ein
meinsames Aufgebot mit den polovcern an der Kalka 1223 nicht aufgehalten
Während die übrige Rus' durch die *Goldene Horde 1236--1240 unterworfen wurde,
hauptete sich Novgorod gegen die Schweden an der Neva (1240) und gegen
"Deutschen Orden auf dem Peipussee (1242). Zwar kOlU1ten die Tataren 1380 vom M
kauer Großfürsten Dmitrij lvanovic (Donskoj) auf dem Kulikovo pole erstmals
gen werden. Bis ins 16. Jahrhundert hinein blieben sie jedoch neben den sich in die
russischen Machtkämpfe einmischenden Litauern emsthafte Gegner für das ~llf~tr"henIII
Moskau. Dessen Aufstieg basierte nicht zuletzt auf einem geschickten Werben um die Elite der Rus'. Seit den 1330er Jahren erfolgte ein Zuzug von Bojaren-Gefolgschaften
Moskau. Deren Erwartung materieller Besserstellung durch den Erhalt von *kormlenie­
Gebieten konnte das kleine Fürstentum nur durch territoriale Expansion befriedigen. In
Zusammenhang mit dem Aufkommen des *Dienstguts (pomest'e) steht die Verdrängung
des opolcenie durch das Adelsaufgebot, d. h. einer von den *Bojaren gestellten Truppe.
Die unter lvan III. abgeschlossene "Sammlung russischen Landes" mit dem Höhepunkt
der militärischen Unterwerfung von Novgorod (1478) und Tver' (1485) war nur durch die
Dienstverpflichtung und Belohnung des niederen Adels möglich, der die Masse der Ar­
mee stellte. Aufgrund dieser Konstellation bewahrte der Adel seine Position im /'Mos­
kauer Reich sowohl im militärischen Bereich als auch in der Verwaltung.
lvan IV. bemühte sich um eine Professionalisierung des Militärwesens. Er setzte die
*Rangplatzordnung (mestnicestvo) mit ihren langwierigen Rangstreitigkeiten (?Bürokra­
tie) in diesem Bereich außer Kraft und formulierte Normen für den Wehrdienst des Adels.
Trotzdem erwies sich die vom Adel gestellte Armee während des *Livländischen Kriegs
als schwerfällig, schlecht ausgerüstet und anfällig für Desertionen. Mit den *Strelizen
(strel'cy) schuf Ivan IV. eine Art Berufsheer, das zunächst als Elitetruppe fungierte und
bei der Eroberung von Kazan' 1552 erstmals eingesetzt wurde. Es rekrutierte sich aus steu­
erpflichtigen Städtern und Bauern, deren Nachkommen ebenfalls dienstverpflichtet wurden.
Um der Staatskasse nicht ZUr Last zu fallen, wurde den Strelizen in Moskau gestattet,
Kleinhandel und Handwerk zu betreiben (bis 1667); die Strelizenkolonien in den Grenzge­
bieten lebten von der Landwirtschaft. Eine vergleichbare Kaste bildeten - neben den /'Ko­
saken - die *Artilleristen (puskari), die sich aus städtischen Handwerkern rekrutierten.
Wenngleich die soziale (Ein-)Ordnung der neuen Berufsarmee als spezifisch russisch be­
zeichnet werden muss, so ist doch: nicht zu übersehen, dass hier die *military revolution des
Westens, d. h. die Einführung stehender, aus gemeinen Soldaten gebildeter, mit Geweh­
ren bewaffneter und von Artillerie unterstützter Infanterieverbände nachvollzogen wurde.
Nach den *Wirren (Smuta) verloren die Strelizen ihre militärische Bedeutung (s. u.),
obgleich ihre Zahl auf 55.000 Mann in den 1680er Jahren anstieg. In der Hauptstadt spiel­
ten sie nur noch eine zeremonielle Rolle, in der Provinz mussten sie polizeiliche Aufga­
ben übemehmen. Gerade hier galten sie zunehmend als potentieller Unruheherd: Tatsäch­
lich waren sie auf bei den Seiten der Revolte Stepan Razins zu finden und nutzten den
Thronwechsel 1682 rur einen eigenen Aufstand. Peter 1. schließlich schlug weitere Erhe­
bUngen 1696 und 1698 blutig nieder.
Die Ursache für den Bedeutungsverlust der Strelizen lag in den *Truppen neuer Ord­
nung (polki novogo stroja). Für den *Smolensker Krieg waren 1631 ausländische Söldner
und Spezialisten angeworben worden, mit deren Hilfe aus der Strelizen-Infanterie und der
Adelskavallerie ca. 17.000 Mann zusanunengezogen wurden. Nach ihrer Demobilisierung
entstanden diese Regimenter in den 1640er Jahren neu. Während sich zunächst landlose Ad­
tge auf Grundlage eines lebenslangen Dienstes verpflichteten, trugen zunehmend unterpri­
il,.O';prte Soldaten die militärischen Lasten, nachdem während des *Dreizehnjährigen
ein neues Rekrutierungssystem eingeführt worden war. Jede Gemeinde hatte von
an Soldaten zu stellen. Damit verfügte Russland lange vor anderen Ländern über ein
~ndes, aber kostspieliges Heer. 1679/80 flossen knapp 60 % der Staatsausgaben in
Militär, woraufhin seine Größe (1681 ca. 190.000 Mann) drastisch verringert wurde.
verbliebene Rest diente als Nukleus der regulären Armee Peters 1.
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Peters Regierungszeit war eine Ane inanderreihung von expansiven Kriegen gegen die
Türken, Perser und Schweden. Er schuf eine integrierte Armee aus den Elementen des
alten Militärs, flihite einen auf Hierarchie beruhenden Disziplinarkodex ein, ließ eine
Kriegsflotte bauen und bestückte jedes Regiment mit eigener Artillerie. Er begründete
Militärschulen und ersetzte das alte dezentrale *prikaz-System durch das Petersburger
Kriegskollegium. Er hinterließ jedoch ein erschöpftes Land, dessen Bevölkerung mehr als
zuvor dem Staat zu dienen hatte. Bis 1725 wurden knapp 200.000 Rekruten aus dem
Kreis der Steuerpflichtigen zu den Fahnen gerufen, die auf Lebenszeit der Familie und
der Landwirtschaft entrissen waren. Der Entscheid Katharinas H. von 1793, die Dienstzeit
auf 25 Jahre zu reduzieren, änderte hieran wenig. Die juristische Emanzipation dank des
Soldatenstatus ' hatte flir die Bauern geringe Bedeutung, da sie, wenn sie den Dienst über­
lebten, zu Hause erneut in die Leibeigenschaft gezwungen wurden. Die zwangsläufig hohe
Desertionsrate begründete harte Gegenmaßnahmen seitens des Staates. Flucht oder Selbst­
verstümmelung der Rekruten waren bei der meist jährlich stattfindenden Aushebung ebenso
gang und gäbe wie Manipulationen der flir ihre Auswahl zuständigen Gutsbesitzer und
Gemeinden, die sich bei dieser Gelegenheit Krimineller oder Arbeitsunwilliger zu entle­
digen suchten. Seit der Einruhrung der Seelensteuer 1724 war die Versorgung der Arme.:
zwar prinzipiell Sache des Staats, doch ernährte sie sich weiterhin aus dem Land und
trieb die ihr zustehenden Steuern selbst ein.
Die von Peter I. eingeruhrte Dienstverpflichtung des Adels wurde 1762 wieder abge­
schafft. Ohnehin gab es kaum Anzeichen einer Professionalisierung der militärischea
Führung. Die Bedeutung des 1731 begründeten ersten Kadettenkorps hielt sich in
zen, da mehr Wert auf Etikette und eine eklektizistiscbe Allgemeinbildung gelegt
als auf militärische Fähigkeiten. Garderegimenter und Kadettenschulen dienten vor
als Sprungbrett in die Staatsverwaltung. Nur in speziellen Militärschulen wurden
Spezialisten rur die verschiedenen Waffengattungen herangebildet, denen sich hporpn~
Aufstiegschancen boten.
Nach dem Sieg über Napoleon im "Vaterländischen Krieg" von 1812 wurde
mit einer Armee von 800.000 Mann zur dominierenden Macht in Europa. Nach
der *Zaren verlangte dies die Verwundbarkeit der Grenzen. Die Aufstellung einer
ren Reserve verhindeJie nicht nur die ungenügende Infrastruktur, sondern auch die
eigenschaft. Der Ansatz Alexanders I., Militärkolonien zu gründen, die sich selbst
sorgen und Wehrbauern fUr den Kriegsfall bereitstellen sollten, war gescheitert.
einer Reihe von Revolten aufgrund ihres repressiven Systems sowie
Schwierigkeiten wurden sie später abgeschafft. Nikolaus r. stand trotz siegreicher
gegen Persien (1826-28) und das Osmanische Reicb (1828/29) vor dem Problem,
sparen und gleichzeitig die Effizienz von Armee und korrupter Militärbürokratie
zu müssen. Hatte das Kriegsministerium seit 1812 nur noch die Versorgung der Arme.:
lenken, während die Stäbe die militärische Führung übernahmen, wurden jetzt alle
J1mgsfunktionen beim Ministerium konzentrieJi, was als entscheidende Voraussetzung
die Reformen seit den I 860er Jahren angesehen werden muss. Schließlich gründete
laus 1831 eine Generalstabsakademie, die auf lange Sicht eine deutliche ProfessionallSllll
rung des Führungskorps bewirkte. Die Armee blieb Instrument der autokratischen
Zwangseinberufungen stellten weiterhin ein Mittel zur Disziplinierung dar.
Zahlreiche medizinische oder prOfessionsbedingte Ausnahmeregelungen reduzierten den
Kreis der potentiellen Rekruten zunehmend. Die Belastung rur das Volk wurde dadurch
jedoch nicht geringer, da der Schnitt der jährlich Einberufenen von 80.000 Mann (1800­
1825) auf 151.000 Mann (1840--1852) anstieg.
Die Niederlage im *Krirnkrieg zeigte die Schwächen des Massenheeres (1856: ca.
2,1 Mio.). Erneut stand der Staat vor dem finanziellen Kollaps. Die unter Alexander II.
und seinem Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin durchgeruhrten Reformen führten zu einer
administrativen Straffung und Dezentralisierung des Militärwesens (Einruhrung der Mili­
tärkreise 1862). Schon 1859 wurde die Dienstzeit auf generell 15 Jahre reduz.iert. Nach
der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 konnte die Regelung, nach dem aktiven Dienst
fünf Jahre in die Reserve zu gehen, auf die gesamte Armee angewandt werden. Bereits in
den 1870er Jahren war es daher möglich, die Armee allein durch Aktivieren der Reserve auf
Kriegsstärke zu bringen. Endlich wurde auch das Aushebungsverfahren hwnaner gestaltet,
die Körperstrafe abgeschafft und durch die Refornl der MilitäJjustiz ein Minimum an
Rechtssicherheit fiir die Soldaten geschaffen. Das Kernstück der Reformen war jedoch die
1874 eingeführte allgemeine Wehrpflicht bei einer grundSätzlichen Dienstzeit von sechs
Jahren, die je nach Bildlli1gsgrad des Rekruten auf wenige Monate reduziert werden konnte.
Ob diese strukturell modernisierte Armee auch den ZiviJisierungsprozess der Bauern­
Soldaten forderte, bleibt umstritten. Trotz der Kasernierung in zumeist urbanen Gebieten,
lrotz der in der Armee vermittelten Elementarbildung blieben die Soldaten "Bauern in
Uniform" (Bushnell, -27). Ohnehin waren nur die ersten Monate militärischem Training
gewidmet, ansonsten funktionierte das Regiment wie eine Gutswirtschaft mit dem Kom­
mandeur als Gutsherren. Die Diskrepanz zwischen zentraler Regulation und lokaler Will­
kür blieb zudem eine prägende Erfahrung in der Almee. Dieser potentielle Zündstoff entlud
sich in den Jahren 1904/05, als Russlands Militär nicht nur im Osten die äußeren Grenzen
gegen Japan verteidigen und die Revolution im Inneren niederhalten musste, sondern
auch erstmals durch zahlreiche Unruhen und Meutereien erschüttert wurde. Hier vergrö­
Berten sich die Diskrepanz zwischen den unteren Rängen und ihren Vorgesetzten und
gleichzeitig die Skepsis bei der gegenüber der Autokratie. Das Selbstverständnis des mitt­
weile professionalisierten Offizierskorps konzentrierte sich auf den Krieg gegen äußere . de, was es mit seiner vom Zar eingeforderten traditionellen Polizistel1rolle in Kon­ brachte.
Der Eintritt Russlands in den Ersten Weltkrieg, der mit Erfolgen in Ostpreußen und
lizip.n begann, ftlhrte zu einer völligen Überforderung der Ressourcen. Zudem waren
die politische noch die militärische Spitze in der Lage, sich auf einen modernen
einzustellen. Munitionsmangel und hohe Verluste (ca. 5,5 Mio. Tote und Verwun­
ließen die Moral unter den ohnehin vom "Krieg der Herren" wenig begeisterten
~lOa[en dramatisch sinken. Als Personalersatz stiegen jüngere Offiziere in die Befehls­
au( die nicllt mehr als Verteidiger der Autokratie anzusehen waren. Die Februarre­
fand ihren Widerhall an der Front gerade unter diesen Offizieren, die Soldaten­
Inmitpes organisierten und dadurch die alte Kommandostruktur lähmten. Die bäuerliche
der Armee erhoffte sich von der ?Revolution Frieden und eigenes Land.
Die *Bolschewiki begannen nach ihrem Machtantritt sofort mit der Demontage der al­
Armee, die sie durch eine revolutionäre Volksarmee (TerritorialmiJiz) zu ersetzen ge­
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dachten. Jedoch waren die ersten, nach dem Beispiel der Arbeitermilizen (Rote Garden)
aufgestellten Freiwilligenverbände der "Roten Arbeiter- und Bauernarmee" den deut­
schen Truppen derart unterlegen, dass die Milizidee und mit ihr der freiwillige Dienst
aufgegeben wurden. Kriegskommissar Lev D. Trockij begann daher noch im Fruhjahr
1918 mit dem Aufbau einer streng disziplinierten und hierarchisierten regulären Armee.
an deren Spitze "Militärspezialisten" genannte Exoffiziere der Zaren armee traten, deren
Handlungen von "Militärkommissaren" überwacht wurden. Trotz aller Kontrolle blieb die
Desertionsrate während des gesamten Bürgerkriegs gegen die "weißen Armeen hoch.
auch wenn erst 1919 im verstärkten Maße auf die kriegsmüden und ideologisch als unzu­
verlässig angesehenen Bauern zuruckgegriffen wurde. Hier schuf erst die Privilegierung
der Soldatenfamilien Abhilfe, die eine Art "Sozialvertrag" mit den als notwendige Ver­
bündete eingestuften "Mittelbauern" markierte.
Von 1918 bis Ende 1920 wuchs die Armee von knapp 200.000 auf gut 5 Mio. Mann
an; nach Ende des Bürgerkriegs wurde sie auf 560.000 Mann reduziert. Die MiJitärrefor­
men von 1924/25 trugen diesem Umstand auch organisatorisch durch die Einfuhrung des
"Territorialprinzips" Rechnung. Die Infanterieeinheiten wurden personell stark verklei­
nert, um im Ernstfall durch die in kurzen Übungen ausgebildeten Reservisten aufge.fiilh
zu werden. Der einfache Soldat hatte in der sowjetischen Gesellschaft erstmals in der rus­
sischen Geschichte einen hohen Stellenwert und nach dem Dienst gute Aufstiegschancen
in Partei und Administration, galt doch die Annee als " Schule des Sozialismus". Dies
band die Armeefilhrung eng an die Regierung, deren Fürsorge filr die Streitkräfte niebt
nur außenpolitisch motiviert war. Der Truppeneinsatz während der Kollektivierung stieß
zwar auf die Kritik der Militärs, die um die Moral der Soldaten furchteten, erfüllte jedoch
seinen Zweck, indem er den Widerstand der Bauern brach. Immerhin verhalf die rils­
tungsorientielte Industrialisierung des Landes der Armee zu modernem Gerät. Mit dem.
Verzicht auf die Militärkommissare noch in den 1920er Jahren, der Auflösung der Terri­
torialmilizen, dem sukzessiv auf alle Nationalitäten und ohne Rücksicht auf die klasse~
mäßige Herkunft ausgedehnten Wehrdienst sowie der Wiedereinfilhrung der Generals­
ränge 1940 kehrte die Rote Armee die revolutionären Prinzipien ihrer Gründung um.
Die *Säuberungen Stalins (J'Gewalt, J'Stalinismus) schwächten vor allem die Armee­
filhrung: Ca. 35.000 Offiziere wurden entlassen, zahlreiche Generäle erschossen. Die
allem seit Kriegsbeginn 1939 forcierte Vergrößerung der Arnlee auf über 4 Mio. Maua
Ende 1940 bedingte zudem einen Mangel an Führungskadern, der jedoch rasch ausge~
chen wurde. Allerdings machte die blamable Vorstellung der Armee im *Winterkrieg
gen Finnland die fehlende Erfahrung der Kommandeure deutlich. Die Niederlagen .
Sommer 1941 sind jedoch auch darauf zuruckzufilhren, dass zu diesem Zeitpunkt
groß angelegte Umbau der Streitkräfte noch nicht abgeschlossen war und Hitlers
macht unterschätzt wurde. Widersinnige Angriffsbefehle und ein Rückzugsverbot
verlustreiche Einkesselungen zur Folge. Trotzdem bewährte sich im ,.Großen VaterländiO
sehen Krieg" schließlich eine jüngere Generation von Frontoffizieren. Der spätestens
der Jahreswende 1942/43 abzusehende Sieg wurde getragen von der Mobilisierung
Ressourcen des Landes. Er begrundete die WeltmachtsteIlung der UdSSR und verschafll!
der Staatsführung eine Legitimation, die bis in die 1980er Jahre hinein hielt, und
sich die Führung im "neuen Russland" wieder demonstrativ stützt.
Die Armee blieb in den Staat eingebunden und tastete den Führungsanspruch der Par­
tei nicht an. Sie diente weiterhin als Instrument der nationalen Integration unter slavischer
Führung: Anneespitze und Offizierskorps wurden von Russen und Ukrainern dominiert.
.oer Wehrdienst, der 1967 von drei auf zwei Jahre verkürzt wurde, war filr die Rekruten
aller Republiken eine ausschließlich russischsprachige Erfahrung mit politischer Schu­
lung im Geiste der Doktrin der "Verschmelzung der Völker" (slijanie narodov) _ in der
Praxis waren Soldaten nichtslavischer Herkunft trotzdem Diskriminierungen ausgesetzt.
Alle Rekruten litten zudem unter Übergriffen ihrer älteren Kameraden (dedovsCina). Der
Krieg in Afghanistan seit 1979 zeigte nicht nur die militärischen Schwächen der Streitkräfte
auf, sondern schuf zudem die sozialen Probleme der Kriegsinvaliden und des Drogenkon­
sums. Vor allem in den Städten wuchs schon vor der J'Perestrojka die Zahl derjenigen,
die sich dem Dienst an der Waffe zu entziehen suchten . Die Diskrepanz zwischen der
staatlichen Wertschätzung der Armee und ihrem Ansehen in der Bevölkerung machte
deutlich, wie sehr das System mittlerweile an Legitimation verloren hatte. Während sich
in ideologischer Hinsicht der Weltmachtanspruch der Staatsfuhrung in der ÜbeflÜstung
der Streitkräfte manifestierte, trug diese maßgeblich zum ökonomischen Zusammenbruch
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Karsten Brüggemalln
Wie in jedem anderen Land haben geographische, politische, ökonomische, religiöse und
kulturelle Einflüsse die russische und sowjetische Außenpolitik in unterschiedlicher Aus­
prägung mitgeforrnt. In erster Linie richtet die Forschung den Blick auf die staatlichen
Strukturen: Regierung, Minister, Apparate und öffentliche Meinung. Erst in den le~en
Jahren wendet man sich verstärkt auch den "weichen" Faktoren der Beziehungen mit dem
Ausland, d. h. mentalitätsgeschichtlichen Aspekten oder gesellschaftlichen Wahrnehmun­
gen (Stereotypen, Feindbildern) zu. Neben dem inuner wieder angefuluien, aber zumeist
sehr verschieden deftnierten "nationalen Interesse" sind demnach auch psychologische As­
pekte, von außen herangetragene Erwartungen, bürokratische Abläufe, Gruppendynamik
und Rollenverhalten zu berücksichtigen. Außenpolitische Motivationen werden vor allem
dann kontrovers diskutiert, wenn es um den Einfluss kultureller Prägungen geht.
Die Herausgeber der jüngsten funtbändigen "Geschichte der Außenpolitik Russlands"
als bestimmende Faktoren auf: die ideologischen, politischen und sozial-ökonomi­
schen Grundlagen der Politik, die geographische und demographische Situation (J'Histo­
Geographie, )'Demographie, BeVÖlkerungsverteilung), das industrielle und militä­
Potential, das Kulturniveau und das nationale Selbstbewusstsein, die )'Mentalität
Eliten und der Bevölkerung sowie historische Besonderheiten und Traditionen im
i .... "'gang mit der Außenwelt.
Bis Anfang der 1990er Jahre waren ganze Epochen und Bereiche fur die westliche und
ische Forschung völlig gesperrt. Die Quellenvcröffentlichungen zu sowjetischer Zeit
amtlichen Charakter, was dazu fuhrte, dass unangenehme Dokumente ausgelassen
verstümmelt wurden. Klassisches Beispiel fur diese Praxis war der Text des gehei­
Zusatzprotokolls zum *Hitler-Stalin-Pakt 1939, dessen Existenz Moskau erst kurz
dem Zusammenbruch der UdSSR zugab.
zur Außenwelt und territoriale Ausdehnung Russlands
der internationalen Bühne nahm und nimmt Russland als Staat auf zwei Kontinenten
seinem ambivalenten Erbe aus Europa und Asien stets einen besonderen Platz ein.
Christianisierung (J'Religionen, Kirchen) stellte das Land in einen gesamteuropäi­
Kontext, der durch die mongolische Eroberung aufgehalten, aber nicht rückgängig
wurde. Die von italienischen Meistem geschaffenen Bauwerke des Kremls ste­
stellvertretend fur den fruchtbaren Wissenstransfer und die engen Bindungen zwi­
den dynastischen und kaufmännischen Eliten Europas. Die *Ausländervorstadt
s wurde zum Schauplatz fur die Begegnung mit den Fremden. Seit dem 17. Jahr­
musste die russische Führung Konflikte auf mehreren Schauplätzen gleichzeitig
Außenpolitik
139
138
einkalkulieren, was im Zuge der Expansion nach Süden (Schwarzes Meer, l'Kaukasien
und l'Mittelasien noch zunahm. Seit Peter 1. sollte die wahrgenommene innere Rückstän­
digkeit durch Reformen im Sinne einer l' "Europäisierung" überwunden werden. Dies
postulierte den engen Kontakt zu den europäischen Höfen, Handelshäusern und Manufak­
turen zur Modemisierung von Annee (?Krieg, Militär) und l'Bürokratie. Die allmähliche
Expansion nach l'Sibirien, an die Ostsee, den Kaukasus und Mittelasien verdrängte die ein­
heimischen Völker und wurde erst durch die Schwächung der einst mächtigeren Kontrahenten.
der ?Mongolen, Osmanen, l'polen und Schweden ennöglicht. Das allmähliche Vor­
schieben der Grenzen schuf ein quasi-koloniales Imperium und verwandelte Russland ..
einen Vielvölkerstaat. Symbolisiert wurde die Entwicklung vom Randstaat in Europasi
Osten zur Hegemonialmacht durch die Gründung der neuen Hauptstadt St. Petersbura.
en
Die *Nordischen Kriege, die Gewinnung des Baltikums, die *Teilung Polens sowie
Engagement am Balkan rund um die *Orientaliscbe Frage führten trotz mancher schläge zu einem enormen Machtzuwacbs des russischen Staates, der von der über die regionale Ebene zu einem globalen Akteur aufstieg. Die St. Petersburger Bürokratie suchte die dynastischen und nationalen Interessen
Landes zu sichern und den Einfluss zu mehren. Eine Besonderheit der russischen
matie war die Rekrutierung nicht-russischer, insbesondere deutschbaltischer A
(l'Deutsche). Das konkrete Gewicht im Mächtekonzert hing von der Stabilität der'
Lage ab, die sich auf das Potential und die Handlungsfreiheit der Regierung
Ob "Koloss auf tönernen Füßen" oder "russische Dampfwalze" - das schwer einzuset.­
zende Ungleichgewicht zwischen zahlerunäßiger und territorialer Größe und
Fähigkeiten war ein ständiger Begleiter der russischen Außenpolitik.
Konservative Reaktion und radikale Revolution als Faktoren
der Außenpolitik
Für das Gewicht Russlands entscheidend war seine Armee, die seit dem 17. JahrhunGal
die zahlenmäßig größte Streitmacht des Kontinents war. So waren es in erster Linie
tärische Entscheidungen, die die Stellung Russlands in der Welt bestimmten: Der nur
russischer Hilfe enungene Sieg über die napoleonische Streitmacht und die Konflikte
europäischen Mächte untereinander ermöglichten den *Zaren im 19. Jahrhundert als
freier" (Alexander 1.) oder "Gendarm" (Nikolaus 1.) Europas aufzutreten. Die
gen im *Krimkrieg 1855 und gegen Japan 1905, als Demütigung empfunden,
nigten sowohl innere Reformbestrebungen als auch revolutionäre Umtriebe.
Zahlreiche Widersprüche kennzeichneten den politischen Kurs in St. Petersburg.
"petrinische Erbe" zwang die Zaren zu einer aktiven Rolle in der europäischen Mächltlli
litik. Wechselnde Allianzen mit Frankreich und Preußen dienten einmal kurzfristigen
ritoriaJen Arrondierungswünschen, ein anderes Mal dynastischen Soli
Die "russische Gefahr" wurde vor allem von den Liberalen und Sozialdemokraten
tisiert. In den Schriften von Marx und vor allem Engels wird die russische AußenpolIlI!
in schärfster Form angeprangert, weil sie in der *Autokratie (samoderiavie) das
der europäischen Reaktion sahen, wie es in der Niederschlagung der polnischen
de und der ungarischen Freiheitsbewegung zum Ausdruck kam.
Die Außenpolitik des Russischen Reiches war vennutlich nicht von großangelegten
Planungen bestimmt, sondern zeichnete sich durch große Flexibilität aus (Jelavich, --+ 31).
Im Hinblick auf die Ausdehnung nach Westen profitierte SI. Petersburg immer von den
Meinungsverschiedenheiten der anderen Großmächte. Es gab kaum Gelegenheiten, bei
denen die europäischen Mächte untereinander einig gegen den "potentiellen Hegemon"
Russland waren. Die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte zu ei­
nem guten Teil auf der Furcht vor der als expansiv wahrgenommenen UdSSR.
Russische Politik in Asien
Neben der europäischen rückte zunehmend auch die asiatische Blickrichtung in den Vor­
dergrund. Seit langem war auch China ein Objekt des Interesses, und Russland bemühte
sich, an der Dominanz der anderen Kolonialmächte über das schwache Reich der Mitte
teilzuhaben. Mit Hilfe der *ungleichen Verträge, die mit Hilfe von Drohungen gegen
China abgeschlossen wurden, gewarm das Zarenreich gewaltige Gebiete im Femen Osten
und Stützpunkte am Gelben Meer. Die russischen Forts in Alaska und KaIifornien brach­
ten das Zarenreich in (lange Zeit sehr freundschaftliche) Beziehung zu den aufstrebenden
USA. Standen im Kaukasus das Osmanische Reich und die einheimischen "Bergvölker"
einer raschen Expansion im Wege, bildete das britische Empire in Zentralasien den Ge­
genspieler im sogenarUlten Great Game um die Vorherrschaft in der Region.
" Außenpolitik und alte Reflexe nach 1 91 7
Erste Weltkrieg demonstrierte die innere Schwäche des autokratischen Staates und
eine Phase radikaler Umwälzungen ein, die im Ausscheiden des Landes aus der
koalition nach dem Oktoberumsturz 1917 gipfelten. In Fonn und Inhalt wollte sich
Sowjetmacht von dem herkömmlichen diplomatischen Umgang absetzen. Auslands­
penulden des alten Regimes wurden nicht anerkannt, Botschafter wurden nunmehr als
htigte Vertreter" bezeichnet, der Außenminister hieß nun "Volkskommissar"
1946). Außenpolitik war in den Augen der Revolutionäre überflüssig, weil es ohnehin
eine Weltregierung unter sozialistischem Vorzeichen geben werde. Lenins Sowjetruss­
sah das intemationale Recht im marxistischen Geiste als schändliches Ergebnis kapi­
Verhältnisse an und verkündete stattdesseo die Theorie des "sozialistischen"
~ölkerrechts.
Seit 1917 existierte die Ambivalenz zwischen dem nie offiziell fallengelassenen ideo­
Anspruch auf Weltrevolution und dem staatlichen Interesse, politische und
Kontakte zur "kapitalistischen" Außenwelt zu unterhalten. Schon die Be­
"Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (UdSSR) wies die Besonderheit
keine nationale Begrenzung zu besitzen (? Staat, Herrschaft, Institutionen). Jedes Land
potentiell beitreten (oder dazu gezwungen werden). Der Dualismus Sowjetstaat!
'ntem förderte im Ausland das Misstrauen gegenüber Moskau. Neben der klassischen
unterhielt die UdSSR mit hohen Kosten ein - nur in Bruchstücken erforschtes ­
von Frontorganisationen auf der ganzen Welt, die durch vielfaltige kulturelle und
Aktivitäten die öffentliche Meinung im Ausland zu steuern versuchten.
140 Grundlagen
Außenpolit ik
141
Revolutionäre Vorstellungen, nach dem Oktoberumsturz auf die als "imperialistisch"
abqualifizierte Außenpolitik ganz verzichten zu können , wurden rasch revidiert. In der
Tat machten die Revolutionäre einige Anleihen bei der vorrevolutionären Außenpolitik.
Dabei war die Mitgliedschaft im Völkerbund nur ei ne kurze Episode. Die von Stalin be­
triebene Politik wies eine deutlich revisionistische Stoßrichtung gegen die Ordnung VOD
Versailles auf: Um die nach der Revolution verlorenen baltischen, finnischen und polni­
sc hen Territorien wiederzugewinnen, schloss der sowjetische Diktator 1939 sogar einet!
Pakt mit Hitler, dessen Überfall im Juni 1941 die fatalen Illusionen der Füluung de­
monstrierte . Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg leitete eine Phase der Rück­
besinnung auf patriotische Ideale ein, denn der in Anlehnung an napoleonische
proklamierte "Große Vaterländische Krieg" brachte die UdSSR in eine zeitlich
Allianz mit den westlichen Mächten.
Sowjetische Leitlinien im Kalten Krieg
Das Verhalten der UdSSR im Kalten Krieg blieb von der Mischung aus großem
heitsbedürfnis, revo lutionären Orientierungen und Großmachtstreben bestimmt.
dem Zweiten Weltkrieg diente die sowjetische Auslegung des internationalen Rechts
zu, die bewaffneten Interventionen u. a. in der DDR, Ungarn, der Tschechoslowakei
Afghanistan zu rechtfertigen. Den verbündeten "Bruderländern" wurde nur eine
schränkte Souveränität (*Breznev-Doktrin) zugebilligt. Große Summen wurden ausgege­
ben, um in aller Welt vermeintliche "Freiheitskämpfer" fur Terroranschläge auszubildc!li
Im Verhältnis zur anderen Supermacht USA betonte Moskau gleichzeitig das Interesse
einer friedlichen Koexistenz, wie es in den Krisen um Berlin oder Kuba deutlich
als die Welt am Abgrund der nuklearen Vernichtung stand. Damit bildete die AmblvClICII
zwischen Sendungsbewusstsein und Sicherheitsinteressen auch im Zeitalter der
Welt ein konstitutives Element der sowjetischen Außenpolitik.
Forschungskontroversen
Die Geschichte der Außenpolitik bietet vor allem fur die sowjetische Zeit, bedingt
die nach wie vor schlechte Quellenlage, Raum fur offene Fragen und Kontroversen.
tig umstritten ist die Frage, inwieweit es eine Kontinuität russischer und sowjetischer
ßenpolitik gibt. Eine geographisch orientierte Richtung spricht von einern Drang
"warmen Meer", der jahrhundertelang nachzuweisen sei (?Historische Geograplli
Demnach sei die Erlangung eisfreier Häfen ein konstantes Ziel der russischen
tischen Außenpolitik gewesen. Andere Meinungen schwanken zwischen der
der Prophezeiung vom *Dritten Rom, die man als geistigen Nährboden der von
dominierten kommunistischen Weltbewegung betrachtet hat, und dem Verständnis
russische Einkreisungsphobien und Pufferzonen.
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