Homer goes to Hollywood
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Homer goes to Hollywood
1 Irene Polke Homer goes to Hollywood Zur Beurteilung von Wolfgang Petersens Troia-Film (I) Gliederung 1. 2. Petersens Troia-Film – ein Meisterwerk oder ein Machwerk? Petersens Troia-Film – eine eigenwillige Adaption von Homers Ilias ......... S. 2 ......... S. 3 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... Das Geschehen aus mythologischer Sicht Die Kulissen und Kostüme aus archäologischer Sicht Die Hintergrundmusik und die akustischen Spezialeffekte Die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte Die Leistungen einzelner Hauptdarsteller Die Charakterzeichnung Die Dialoggestaltung Die Handlungsführung Die Weltanschauung S. S. S. S. S. S. S. S. S. 3 14 19 22 25 28 # # # 3. Petersens Troia-Film – eine Chance für den Griechischunterricht ......... S. # 4. Literaturverzeichnis ......... S. I Vorbemerkungen Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich am 6. November 2004 anläßlich des 4. Hessischen Altphilologentags an der PhilippsUniversität Marburg gehalten habe. Die Abschnitte 1. – 2.6. und eine vorläufige Version von Abschnitt 4. werden zum gegenwärtigen, die Abschnitte 2.7. – 3. und die endgültige Version von Abschnitt 4. zu einem späteren Zeitpunkt (bis Ende 2005) publiziert. Aus stilistischen Gründen habe ich 1. die Schreibweisen „Troja“ und „Troia“ sowohl im Text als auch im Literaturverzeichnis zu „Troia“ vereinheitlicht, 2. bei allen Maskulina auf den Zusatz der entsprechenden Feminina („Kunden und Kundinnen“, „Rezensenten und Rezensentinnen“ usw.) verzichtet. 2 1. Petersens Troia-Film – ein Meisterwerk oder ein Machwerk? Für die einen: „ein sensationeller“, „ein großartiger“, „ein wunderbarer Film“, „einfach klasse“, „einfach super“, „einfach spitze“, „absolut fantastisch“, „absolut mitreißend“, „atemberaubend“, „schlichtweg genial“, „der beste Film des Jahres“ und ganz sicher „einer der besten Filme, die ich je gesehen habe“ – „ein Meisterwerk“.1 Für die anderen: „Müll“, „Schrott“, eine „Katastrophe“, ein „Riesenflop“, ein „Komplettdesaster“, ein „totaler Reinfall“, ein „absoluter Fehlgriff“, ein „Griff ins Klo“, ein „schlechter Scherz“, einer „der schlechtesten Filme der heutigen Zeit“, zumindest aber „der schlechteste Film [...], den ich je gesehen habe“ – ein „Machwerk“.2 Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den über zweihundertfünfzig Kundenrezensionen, die der Internet-Buchhändler Amazon von Mai bis Oktober 2004 zu Wolfgang Petersens Troia-Film ins Netz gestellt hat3 – eine allerdings charakteristische Auswahl, da der Film seine Zuschauer offenbar polarisiert: Den zahlreichen Verehrern, die sich „total beeindruckt“ und „total begeistert“ zeigen, stehen mindestens ebenso viele Verächter gegenüber, die sich „bitter“, „unsäglich“ und „aufs übelste enttäuscht“ fühlen, deren „Riesenenttäuschung“ sogar in erbitterte Wut umschlägt: „Selten habe ich mich über einen Film so geärgert!“4 Die Lektüre dessen, was Verehrer und Verächter bei Amazon zu Protokoll geben, ist für Griechischlehrer zwar desillusionierend.5 1 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 18. 5. 04 aus Ingolstadt; vom 22. 5. 04 aus Fürth; vom 16. 5. 04 aus Rösrath; vom 13. 9. 04 aus Zürich; vom 11. 10. 04 aus Rheinland-Pfalz; vom 4. 8. 04 aus Neustadt-Glewe; vom 21. 5. 04 aus Österreich; vom 12. 10. 04 aus Konstanz; vom 18. 5. 04 aus Ingolstadt; vom 15. 5. 04 aus Ehingen; vom 23. 9. 04 aus [?]; vom 15. 5. 04 aus Bayern; vom 20. 5. 04 aus Remscheid. 2 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 21. 9. 04 aus Köln; vom 8. 10. 04 aus München; vom 4. 7. 04 aus [?]; vom 2. 6. 04 aus Bayern; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 8. 10. 04 aus [?]; vom 6. 7. 04 aus Pforzheim; vom 26. 5. 04 aus Bochum; vom 29. 8. 04 aus Seevetal; vom 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 28. 9. 04 aus Reutlingen. 3 www.amazon.de. Die Bezeichnung der Kundenaussagen als ‚Rezensionen‘ habe ich von dort übernommen. 4 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 14. 5. 04 aus Legden; vom 30. 9. 04 aus Eisenach; vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom 24. 5. 04 aus Deutschland; vom 5. 8. 04 aus Bayern; vom 19. 9. 04 aus Wuppertal. 5 Orthographie und Interpunktion folgen grundsätzlich weder dem alten noch dem neuen Duden (allein die zahlreichen Schreibweisen für die Wörter Ilias und Achilles hätte man so nicht für möglich gehalten). Auch die Regeln der Grammatik und Stilistik werden notorisch gebrochen (die meisten Aussagen sind umgangs- bzw. jugendsprachlich formuliert). Fachkenntnisse über die Ilias sind nur vereinzelt vorhanden und fehlen oft sogar da, wo die Verfasser sich fest in ihrem Besitz glauben (vgl. unten Anm. 6). – Trotzdem werde ich die Amazon-Kunden in diesem Aufsatz ausführlich zu Wort kommen lassen (vgl. die folgende Begründung). Eindeutige Fehler habe ich stillschweigend korrigiert. 3 Trotzdem ist sie aus meiner Sicht lohnend. Denn der Standpunkt, von dem aus die Amazon-Kunden den Film betrachten – es ist der des nicht unbedingt informierten, aber doch jedenfalls interessierten Laien – dürfte von dem der Griechischschüler nicht allzu weit entfernt sein. Wenn der Lehrer also den Standpunkt der Schüler zur Kenntnis nehmen und einnehmen will, um den Film und von dort aus die Ilias zu erschließen, kann es für ihn sehr hilfreich sein, dem Publikum zuzuhören, das sich bei Amazon vielstimmig und authentisch artikuliert: Worauf richtet dieses Publikum sein Augenmerk? Was interessiert es an dem Film? Wonach beurteilt es den Film? Nach meinem Eindruck, der sich auf die Analyse von etwa zweihundert Amazon-Rezensionen stützt, kann man neun Interessenschwerpunkte unterscheiden: Die Zuschauer diskutieren vor allem darüber, wie authentisch das Geschehen (1.) und die Kulissen (2.), wie angemessen die Musik (3.), wie raffiniert die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte (4.), wie ausdrucksstark die Darstellung (5.), wie vielschichtig die Charaktere (6.), wie differenziert die Sprache (7.), wie komplex die Handlung (8.) und wie tragfähig die durch den Film vermittelten Werte (9.) seien. Diesen Interessenschwerpunkten widme ich im folgenden je einen Abschnitt (2.1. – 2.9.). Jeder Abschnitt enthält einen gedanklichen Dreischritt von den Zuschauern über Petersen zu Homer. Dadurch dient er zunächst der Beantwortung der Frage: Werden die Zuschauer Petersens Troia und wird Petersen Homers Ilias wirklich gerecht? 2. Petersens Troia-Film – eine eigenwillige Adaption von Homers Ilias 2.1. Das Geschehen aus mythologischer Sicht Zahlreiche Zuschauer werfen Petersen vor, daß sein Film den Mythos und die Wirklichkeit, die sie aus der Ilias kennten, ‚falsch‘ darstelle. Empört prangern sie eine Fülle vermeintlicher6 oder tatsächlicher ‚Fehler‘ an: So monieren sie z.B., daß der Troianische Krieg im Film nicht zehn Jahre „wie in der Ilias“, sondern (wahlweise) nur 21, 16, 15, 14, 12 oder gar 4 6 In einigen Fällen wird kritisiert, was überhaupt nicht kritikwürdig ist. So bemängelt etwa ein Rezensent, daß Petersen Troia ‚eigenmächtig‘ ans Meer verlegt habe (Rezension vom 26. 5. 04 aus Bochum). Ein anderer belehrt seine Leser, daß man bisher ja noch gar „keinen Beweis für die Existenz Troias gefunden“ habe (Rezension vom 9. 7. 04 aus Bad Wörishofen). Ein dritter beschwert sich, daß „die zentrale Figur der Ilias, nämlich Kassandra, völlig fehlt“ (Rezension vom 8. 10. 04 aus München). Und ein vierter beklagt, daß „das Troianische Pferd, das [doch] eigentlich das wichtigste ist bei dem Untergang von Troia, absolute Nebensache ist“ (Rezension vom 22. 5. 04 aus Fürth): „Leider wurde ich bitter enttäuscht. Der eigentliche Höhepunkt, meiner Meinung nach wäre das [...] die List mit dem Troianischen Pferd gewesen, dauert dann mal ganze 5 Minuten in diesem nicht enden wollenden 150-Minuten-Epos!“ (Rez. vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen). 4 Tage lang dauere.7 Dagegen kann man zwar einwenden, daß auch die Ilias lediglich 51 und von diesen lediglich 4 Tage eingehend schildere. Damit kann man aber den Vorwurf nicht entkräften, „daß bei einem Krieg, der zehn Jahre dauerte, das Kind von Hektor anfangs ein Baby war und komischerweise am Schluß auch.“8 In der Tat ist Astyanax ein Baby, als Hektor aus Sparta zurückkommt, ein Baby, als Hektor vor dem Zweikampf mit Achill in seine Wiege schaut, und immer noch ein Baby, als Andromache mit ihm durch den Geheimgang aus Troia entkommt. Daraus muß man entnehmen, daß die im Film gezeigten Ereignisse nicht als ein Teil des Gesamtgeschehens, sondern als dieses Gesamtgeschehen selbst gelten sollen – womit sich dann wirklich ein starker Kontrast zur Ilias ergibt (vgl. unten Abschnitt 2.8.). Götter (allgemein) Auch sonst erlaubt sich der Film nicht wenige Freiheiten. Im nächsten Kapitel werde ich die klarsten Abweichungen von der archäologisch nachweisbaren Wirklichkeit benennen. In diesem möchte ich dagegen die deutlichsten Unterschiede zum traditionell geprägten Mythos auflisten, und zwar – um dem Leser entgegenzukommen – mit Hilfe einer Tabelle.9 7 Film Mythos Im Film fehlen nahezu sämtliche Götter, die aus der Ilias bekannt sind.10 Im Mythos sind diese Personen unverzichtbare Handlungsträger. Weder Zeus, Athene und Apollon, die zu den Hauptakteuren der Ilias gehören, noch Aphrodite, Ares und Artemis, Hades, Hera, Hermes und Hephaistos, Poseidon und viele andere, die in die Ilias-Handlung eingreifen, treten im Film in Erscheinung – mit Ausnahme von Achills Mutter Thetis, die aber auch nur kurz zu sehen und für Laien kaum als Göttin zu erkennen ist. In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 27. 5. 04 aus Deutschland; vom 19. 5. 04 aus Obernburg 2; vom 29. 6. 04 aus Bombay; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom 18. 5. 04 aus Hessen; vom 24. 5. 04 aus Calden. 8 Rezension vom 5. 7. 04 aus Wien. 9 Dabei verzichte ich auf unmittelbare Zitate aus den Rezensionen, um einerseits Doppelungen vermeiden und andererseits Lücken schließen zu können, die sonst dem Sachverständnis und der Lesbarkeit Abbruch täten. Außerdem unterscheide ich nicht zwischen Mythen, die (auch) in der Ilias, und solchen, die (nur) in anderen Schriften dokumentiert sind. Für genauere Quellenangaben verweise ich auf Tripp (2001). 10 Vgl. Fritz Graf: Zum Figurenbestand der Ilias: Götter. In: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Prolegomena, S. 115 – 132. – Vgl. außerdem Magdalene Stoevesandt: FigurenIndex. Ebd., S. 173 – 207. 5 Boagrios Menschen (allgemein) Im Film fehlen zahlreiche Menschen, die in der Ilias erwähnt werden.11 11 (Wie oben.) Bei den Troianern fehlen u.a. Hekabe und Deiphobos, die Mutter und der Lieblingsbruder Hektors. Es fehlen Pandaros, der skrupellose Pfeilschütze, Pulydamas, der besonnene Ratgeber, sowie Laokoon und Kassandra, die erfolglosen Warner. Es fehlen Chryseis, die attraktive Kriegsgefangene, und Chryses, ihr ehrwürdiger Vater, der mit der Bitte um ihre Freigabe die Ilias-Handlung überhaupt erst in Gang setzt. Bei den Griechen fehlt u.a. Iphigeneia, die unschuldige Tochter Agamemnons, die der Vater einst der Artemis geopfert hat, um mit der Flotte nach Troia in See stechen zu können. Es fehlen Aias, der Sohn des Oileus, Diomedes, der Sohn des Tydeus, und Idomeneus, der Sohn des Deukalion, die in der Ilias zum engsten Führungszirkel der Griechen gehören. Es fehlen Kalchas, der Seher, Machaon, der Arzt, Talthybios, der Herold, Thersites, der Revolutionär, und Phoinix, der Erzieher Achills, die in der Ilias wichtige Sonderrollen spielen. Im Film tritt ein hünenhafter Thessaler namens Boagrios auf, der von Achill zur Erleichterung aller Griechen überwunden wird. Im Mythos gibt es Boagrios nicht. Vgl. Magdalene Stoevesandt: Zum Figurenbestand der Ilias: Menschen. In: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Prolegomena, S. 133 – 143. – Vgl. außerdem dies.: FigurenIndex. Ebd., S. 173 – 207. Aineias Helena Menelaos Agamemnon 6 12 13 14 15 16 17 Im Film schickt Agamemnon die Griechen aus persönlicher Skrupellosigkeit zu dicht an die Mauern und damit unmittelbar in den Pfeilregen der Troianer hinein, wo sie hohe Verluste erleiden. Im Mythos wird Agamemnon durch Zeus zu der für die Griechen verhängnisvollen Entscheidung verführt.12 Im Film wird Agamemnon von Briseis erdolcht, als er mit brutaler Lüsternheit über die scheinbar wehrlose Priesterin herfällt, um sie erst zu entjungfern und anschließend nach Mykene zu verschleppen. Im Mythos kehrt Agamemnon mit Kassandra als Lustsklavin nach Mykene zurück und wird dort entweder von seiner Frau Klytaimnestra beim Baden (Tragödiendichter) oder von deren Liebhaber Aigisthos beim Essen (Homer)13 erschlagen. So büßt er für die Opferung seiner Tochter Iphigeneia, die im Film, wie gesagt, nirgends vorkommt. Im Film wird Menelaos von Hektor getötet, als er beim Duell gegen Paris haßerfüllt auf den schon kampfunfähigen Gegner eindringt, um diesem, der sich unter den Schutz Hektors geflüchtet hat, den Todesstoß zu versetzen. Im Mythos wird Menelaos von dem Troianischen Pfeilschützen Pandaros außer Gefecht gesetzt.14 Trotzdem überlebt er letztendlich den Krieg.15 Im Film flieht Helena nach dem Untergang Troias mit Aineias in Richtung Rom. Im Mythos kehrt Helena nach dem Untergang Troias mit Menelaos ins heimische Sparta zurück.16 Im Film ist Aineias ein etwa achtzehnjähriger Jüngling, der erst aus der Versenkung auftaucht, als Troia bereits untergeht, und von Paris nach seinem Namen gefragt wird. Im Mythos ist Aineias der Ehemann einer Schwester des Paris (Kreusa) und seit zehn Jahren der erfolgreichste Verteidiger Troias nach Hektor.17 Hom. Hom. Hom. Hom. Hom. Hom. Il. 2, 1 – 86. Od. 4, 519 – 537; 11, 385 – 439. Il. 4, 122 – 147. 183 – 187. Od. 4, 1 – 624; 15, 1 – 182. Od. 4, 1 – 624; 15, 1 – 182. Il. 5. 13. 16. 17. 20 u.ö. Priamos Hektor, Andromache, Astyanax Paris 7 18 19 20 21 Im Film segelt Paris mit Hektor nach Sparta. Im Mythos reist Paris alleine nach Sparta. Im Film wird Paris nach seiner Niederlage gegen Menelaos durch Hektor gerettet. Im Mythos wird der besiegte Paris durch Aphrodite mit einer Wolke umhüllt und vom Schlachtfeld in Helenas Schlafgemach entrückt.18 Im Film ist Paris bei der Eroberung Troias noch am Leben. Im Mythos ist Paris schon vor der Eroberung Troias durch die Pfeile des Philoktet gefallen. Im Film stirbt Hektor direkt vor den Augen Andromaches. Im Mythos stirbt Hektor in Abwesenheit von Andromache.19 Im Film kann Andromache sich mit Astyanax aus dem untergehenden Troia retten, nachdem Hektor ihr prophezeit hat, daß die Griechen die Frauen der Troianer versklaven und die Babies von den Mauern schleudern werden. Im Mythos schleudert Neoptolemos das Baby Astyanax von der Mauer und nimmt Andromache als Sklavin mit nach Hause.20 Dort muß sie mit ihm – dem Mörder ihres Sohnes und dem Sohn des Mörders ihres Mannes, ihrer sieben Brüder und ihres Vaters – das nächtliche Lager teilen. Im Film hat Priamos überhaupt keine Lebenspartnerin. Im Mythos hat Priamos außer seiner Hauptfrau Hekabe noch mindestens 2 – 3 Nebenfrauen (Laothoe, Kastianeira, ...). Im Film hat Priamos nicht mehr als 2 Söhne. Im Mythos hat Priamos 50 Söhne (Helenos, Troilos, Deiphobos ...) und 12 Töchter (Laodikeia, Polyxene, Kassandra, Kreusa ...).21 Im Film wird Priamos von Agamemnon getötet. Im Mythos wird Priamos von Neoptolemos getötet. Hom. Il. Hom. Il. Hom. Il. Vgl. den 3, 369 – 382. 22, 438 – 445. 6, 450 – 465. Stammbaum der Dardaniden im Anhang von Autenrieth / Kaegi (1999). Achill Peleus 8 22 23 24 25 26 27 Im Film ist klar, daß Achills Vater Peleus schon tot ist, weil Priamos sagt, daß Peleus nicht habe erleben müssen, wie Achill starb, er selbst hingegen, wie Hektor starb. Im Mythos ist das Schicksal des Peleus zum Zeitpunkt der Handlung noch unklar. Es klärt sich jedoch dahingehend, daß auch Peleus seinen Sohn überlebt.22 Im Film befehligt Achill nur 1 Schiff mit 50 Myrmidonen. Im Mythos befehligt Achill 50 Schiffe mit 2500 Myrmidonen.23 Im Film wird das Gesamtkontingent der Griechen von Odysseus auf 1000 Schiffe und von Hektor auf 50000 Soldaten beziffert. Im Mythos verfügen die Griechen über eine Streitmacht von 1186 Schiffen und 59300 Soldaten.24 Es werden also etwas größere und exaktere Zahlen als im Film genannt. Im Film verweigert Achill Agamemnon von Anfang an den Gehorsam (beim Angriff auf die Thessaler bleibt er im Bett zurück, beim Angriff auf die Troianer fährt er per Schiff voraus). Im Mythos hat Achill offenbar stets loyal zu Agamemnon gestanden, bis sich die beiden im zehnten Kriegsjahr „zum ersten Mal im Streit entzweiten“.25 Im Film begegnet Achill sogar den Göttern ohne Respekt: Er enthauptet ihre Statuen, ermordet ihre Priester, plündert ihre Tempel und prangert danach ihre Ohnmacht an, derartige Frevel zu verhindern. Im Mythos respektiert Achill die Götter.26 Im Film legt Achill beim Wiedereintritt in den Kampf seine alte Rüstung an. Im Mythos hat Hektor dem Patroklos, als er gefallen war, die alte Rüstung Achills, die er zur Täuschung trug, entrissen, und Achill erhält von Thetis eine neue, die der Schmiedegott Hephaistos für ihn angefertigt hat.27 Hom. Hom. Hom. Hom. Hom. Hom. Il. Il. Il. Il. Il. Il. 16, 14 – 16. 16, 168 – 172. 2, 484 – 760. 1, 6. 1, 215 – 218; 24, 157 f. 186 f. 17, 183 – 208; 18, 428 – 19, 23. Patroklos 9 28 Im Film schickt Achill vor der Eroberung Troias die Myrmidonen nach Hause. Er selbst gelangt im Bauch des Troianischen Pferdes in die Stadt, sucht, während diese in Flammen steht, nach Briseis, findet sie in den Klauen des Agamemnon, den sie soeben erdolcht hat, und will sie in Sicherheit bringen. Auf dem Weg aber wird er von Paris an der Ferse verwundet und stirbt, nachdem er in wahrhaft herzzerreißender Weise von der Geliebten Abschied genommen hat. Im Mythos wird Achill schon vor der Eroberung Troias von Paris getötet. Daß ihn Paris genau in die Ferse trifft, ist dabei der Fügung Apolls zu verdanken28 und nicht etwa dem Umstand, daß Paris wochenlang mit einer Strohpuppe Pfeilschießen geübt hat, wie der Film es darstellt. (Andere Version des Mythos: Achill wird von Paris und Deiphobos hinterrücks ermordet, als er um die Hand der Polyxene anhalten will). Im Film ist Patroklos Achills jüngerer Vetter, ein Jugendlicher voller soldatischer Ideale, der von Achill das Kriegshandwerk lernt. Seine Leistungen auf diesem Gebiet beurteilt Achill mit den Worten: „Du bist ein guter Schüler, aber du bist noch kein Myrmidone!“ Im Mythos ist Patroklos Achills älterer Ziehbruder29 und Wagenlenker30 – ein erfahrener Mann, dem Achill auch im Blick auf die Kampfkraft vertraut. Zwischen beiden besteht wahrscheinlich ein päderastisches Verhältnis, das der Film aber deswegen ausspart, weil er die BriseisGeschichte in den Mittelpunkt rücken will – Kommentar eines Rezensenten: „O Gott, bloß keine Homosexualität!“31 Im Film möchte Achill Patroklos wegen seiner jugendlichen Unerfahrenheit nicht mitkämpfen lassen. Daher muß Patroklos, der sich unbedingt als erwachsener Krieger und Retter der Griechen bewähren will, Achills Rüstung heimlich entwenden, um an der Schlacht teilnehmen zu können. Im Mythos legt Patroklos Achills Rüstung mit dessen Einwilligung an, um zugunsten der Griechen in den Kampf einzugreifen und deren totalen Untergang zu verhindern.32 Hom. Il. 22, 358 – 360. Hom. Il. 11, 786; 23, 89 f. 30 Hom. Il. 16, 145 – 154; 17, 75 – 78. 475 – 477. 31 Rezension vom 8. 10. 04 aus München. – Ein päderastisches Verhältnis zwischen Achill und Patroklos konstatiert bereits Plat. Symp. 179 d 7 – 180 b 5. 32 Hom. Il. 16, 2 – 101. 29 Briseis 10 33 Im Film ist Briseis eine Hauptfigur, die handelnd und redend Profil gewinnt. Die Liebe zwischen ihr und Achill wird breit ausgemalt. Im Mythos ist Briseis kaum mehr als der Auslöser der Handlung.33 Die Liebe zwischen ihr und Achill wird knapp angedeutet.34 Im Film ist Briseis eine Cousine von Paris und Hektor. Sie stammt unmittelbar aus der Stadt Troia. Als keusche Apollonpriesterin sucht sie, während diese erobert wird, Schutz am Altar ihres Gottes, wo sich jedoch Agamemnon in der Rolle eines widerlichen Lustgreises über sie hermacht, bis sie ihn schließlich aus Notwehr ersticht. Im Mythos hat Briseis keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Troianischen Königshaus. Sie stammt aus der Stadt Lyrnessos in der Umgebung Troias. Bei der Eroberung dieser Stadt hat Achill nicht allein ihre Eltern und Brüder, sondern auch ihren Ehemann umgebracht. Eine zölibatäre Priesterin war Briseis nie.35 Hom. Il. 1. „Briseis, die schönhaarige“ (Hom. Il. 2, 689), „Briseis, die schönwangige“ (Hom. Il. 1, 184. 323. 346; 19, 246; 24, 676), die durch „den zarten Hals und das schöne Antlitz“ (Hom. Il. 19, 285) die Blicke der Männer auf sich zieht, ist nicht nur allgemein „Göttinnen ähnlich“ (Hom. Il. 19, 286), sondern „gleichend der goldenen Aphrodite“ (Hom. Il. 19, 282). Achill wählt sie deshalb als Beutefrau aus, nachdem er ihre Heimatstadt zerstört und ihre Verwandten getötet hat (Hom. Il. 2, 688 – 694; 19, 60. 282 – 302). In ihrem Kummer wird sie von Patroklos freundlich aufgenommen (ebd.), und auch Achill faßt mit der Zeit wohl echte Zuneigung zu ihr: „Lieben allein denn ihre Gattinnen von den sterblichen Menschen die Atreus-Söhne? Wo doch jeder gute und verständige Mann die Seine lieb hat und für sie sorgt, so wie auch ich diese von Herzen lieb hatte, war sie auch eine Speergefangene“ (Hom. Il. 9, 340 – 343). Da sie diese Zuneigung vermutlich auch erwidert, läßt sich Briseis nicht gern an Agamemnon überstellen (Hom. Il. 1, 348), der immerhin so anständig ist, sie nicht anzurühren (Hom. Il. 9, 128 – 134; 19, 261 – 263) und zuletzt auch zurückzugeben (Hom. Il. 19, 245 f.). Danach trauert sie mit Achill um Patroklos (Hom. Il. 19, 282 – 302) und schläft so lange nicht mit ihm (Hom. Il. 24, 128 – 132), bis er seinen Seelenfrieden wiedergefunden hat (Hom. Il. 24, 675 f.). 35 Hom. Il. 2, 688 – 694; 19, 282 – 302. 34 11 Kassandra Eine engstens (nämlich als Schwester) mit Paris und Hektor verwandte, aus Troia selbst stammende, ehelose Apollonpriesterin, die beim Untergang Troias, obwohl sie am Altar der Athene Zuflucht gesucht hat, schändlich mißbraucht wird, ist hingegen Kassandra. Kassandra und ihr Vergewaltiger Aias kommen im Film allerdings nicht vor (der Film zeigt nur Aias, den Sohn des Telamon, während es hier um Aias, den Sohn des Oileus, geht). Anscheinend hat Petersen ihre Gestalten mit denen des Agamemnon und der Briseis verschmolzen. Im Mythos stirbt Achill vor Aias, und Aias trägt den Leichnam des Freundes vom Schlachtfeld, während Odysseus die Feinde, die dies zu verhindern suchen, in Schach hält. Der anschließende Streit zwischen Aias und Odysseus um die Waffen Achills wird von den anderen Heerführern zugunsten des Odysseus entschieden, woraufhin Aias dem Wahnsinn verfällt und eine Schafherde niedermetzelt in der Meinung, dies seien die Personen, die ihm Unrecht angetan hätten.36 Im Film wird der telamonische Aias von Hektor im Zweikampf getötet. Im Mythos begeht Aias Selbstmord – als er wieder zur Besinnung kommt, stürzt er sich aus Scham über seine Verblendung in ein Schwert, das ihm Hektor nach einem dramatischen Zweikampf, in dem keiner von beiden den Sieg erlangt hatte, geschenkt hat.37 Aias Im Film stirbt Aias (der Sohn des Telamon) vor Achill. 36 37 Hom. Od. 11, 541 – 567. Hom. Il. 7, 17 – 312, bes. 206 – 312 (Duell), 303 f. (Schwertübergabe). Das Troianische Pferd 12 Im Film steht das Troianische Pferd am Strand neben den Leichen mehrerer Griechen, die von den Troianern aufgrund ihrer schwarzen Hautflecken als Pesttote identifiziert werden. Woher die Pest auf einmal kam, wie sie sich unter den Griechen ausbreitete und bekämpft wurde und vor allem: welche psychologischen Folgen sie ggf. hatte, bleibt im Dunkeln. Im Mythos finden die Troianer beim Pferd38 nur den gänzlich gesunden Griechen Sinon vor, der sie mit einem Lügenmärchen dazu veranlaßt, das Pferd in die Stadt zu ziehen. Die Pest39 hat mit dem Pferd auch nicht das mindeste zu tun. Durch sie bestraft vielmehr Apollon die Griechen, weil Agamemnon [!] seinen (im Film gar nicht auftretenden) Priester Chryses entehrt hat. Im Film deutet der Troianische Oberpriester die Pest als Rache Apolls für die Schändung seines Tempels durch Achill [!] und schlägt vor, das Pferd in den Tempel des Poseidon [!] zu bringen. Paris warnt dagegen vergeblich: „Vater, verbrenne es!“ Im Mythos warnt gerade der Priester Laokoon vor der Aufnahme des Pferdes in die Stadt, und das Pferd wird von den Troianern der Athene [!] geweiht. Derartige Beobachtungen lassen sich zu dem Befund zusammenfassen: „Nein, nein und nochmals nein – an diesem Film ist einfach alles falsch!“40 Die Mehrheit der Rezensenten reagiert auf diesen Befund mit heftigen Emotionen. Bei ihr findet sich die ganze Skala negativer Gefühle von der Enttäuschung bis zur Empörung: „Der Film ist echt enttäuschend, da er sich von der Ilias zu sehr entfernt hat.“ – „Glaubt denn Herr Petersen, keiner hat Homers Ilias gelesen? Wenn das, was er den Zuschauern präsentiert, unter künstlerische Freiheit fällt, möchte ich keine Verfilmung eines geschichtlichen Epos mehr sehen.“ – „Ich frage mich, wo ist die Geschichte geblieben? Haben Petersen und sein Drehbuchautor die Ilias überhaupt gelesen?“ – „Ich frage mich, was Wolfgang Petersen gelesen hat, bestimmt nicht die Ilias. Dieser Film ist ein wüstes Durcheinander von Namen aus der Ilias, hat aber [im Grunde] mit dem Epos von Homer nichts gemein. Der Film ist vielleicht ein Highlight für Actionfans, für Kenner der griechischen Mythologie ist er eine Zumutung!“ – „Alle Freunde der griechischen Mythologie [...] müssen bei diesem Film die Hände über dem Kopf zusammenschlagen!“ – „Homer würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüßte, was Hollywood aus der Ilias gemacht hat!“41 38 Hom. Od. 4, 271 – 289; 8, 492 – 520. Hom. Il. 1, 8 – 101. 40 Rezension vom 29. 6. 04 aus Bombay. 41 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 8. 10. 04 aus [?]; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 19. 5. 04 aus München; vom 19. 5. 04 aus Obernburg 2; vom 19. 9. 04 aus Wuppertal. 39 13 Sogar ein etwas zurückhaltenderer Kritiker kommt nicht umhin festzustellen: „[Troia ist] ein guter, aber gemessen an der historischen Vorlage [...] kein sehr guter Film, der [...] nur teilweise an die Originallegende von Troia in Homers Ilias heranreicht. Das ist einer der Klassiker schlechthin, an dem man sich leicht die Finger verbrennen kann. Wolfgang Petersen hat einen sehenswerten Film produziert, aber konnte nicht vermeiden, sich dabei einige unangenehme Brandblasen zu holen. Er wird weder dem Mythos selbst noch dem historischen Kern vollständig gerecht.“42 Diese Kritik erscheint nun allerdings den Verehrern Petersens beckmesserisch. Sie nehmen seinen Film mit vier Argumenten in Schutz: Erstens sei die Ilias in unverfälschter Form heute keinem mehr zuzumuten: „Natürlich wird nicht die Originalgeschichte von Homer dargestellt [...]. Da Homer einen Kampf der Götter beschreibt, bei dem die Menschen nur als tragische und machtlose Marionetten erscheinen,43 wäre das auch sicher keine gute Idee für ein großes Publikum. Für mich ist der Film ein gelungener Versuch, darüber zu spekulieren, was die Menschen damals wirklich motiviert haben könnte, vor Troia zu kämpfen. Über die starke Verfremdung der Sage (die heutigen Zuschauern kaum zuzumuten gewesen wäre) [...] habe ich gerne hinweggesehen.“44 Zweitens dürfe man den Film nicht an einem Anspruch messen, den er sich gar nicht gestellt habe: „Es wird Regisseur Wolfgang Petersen vorgeworfen, sich nicht eng genug an die Ilias gehalten zu haben. Das ist Unsinn, denn der Streifen hatte nie den Anspruch, Homers Werk exakt wiederzugeben.“45 Dieses Argument kann sich auf den Abspann des Films berufen, in dem es heißt: „Inspiriert [!] von Homers Ilias.“ Drittens müsse man den Gattungsunterschied zwischen einem Abenteuerfilm und einem Dokumentarfilm beachten: „Ich kann dieses allgemeine Schlechtmachen dieses Films nicht verstehen. Man sollte nicht vergessen, daß man es hier mit einem Spielfilm und nicht mit einer Dokumentation zu tun hat.“ – „Historisch gesehen gibt es auch Fehler, jedoch spielen diese hier nur eine untergeordnete Rolle, da dies ein Abenteuerfilm ist und keine realistische Dokumentation.“ – „Ich kann nicht verstehen, wie verschiedene Leute die historische Authentizität als fast ausschließlichen Maßstab zur Bewertung dieses Filmes anlegen. Denen sei hier gesagt, es gibt ‚Die Legende von Troia‘ von National Geographic, dort seid ihr vermutlich besser aufgehoben. Wenn ich einen guten Abenteuerfilm sehen will, dann interessieren mich Spannung, Action, eine gute Geschichte (egal, ob 100% wahr oder nicht), Emotionen und gute schauspielerische Leistungen. All dies ist in Troia en masse vorhanden, und deshalb ist und bleibt es ein absolut empfehlenswerter Film.“ – „Wer sich jedoch an jeder kleinen Ungereimtheit stört und im Kino nicht den Film schaut, sondern nur darauf 42 43 44 45 Rezension vom 24. 5. 04 aus Calden. Diese leider immer noch populäre Meinung widerlegt überzeugend Schmitt (1990). Rezension vom 16. 10. 04 aus Holzgerlingen. Rezension vom 18. 10. 04 aus Anklam. 14 erpicht ist, logische Fehler aufzudecken [...], der sollte sich fortan mit dem Dokumentationsprogramm von Arte oder Phoenix zufrieden geben und dem Kino auf ewig fern bleiben, denn diese Personen haben gute Unterhaltung auch nicht verdient!“46 Und viertens solle man nicht immer nur denken, sondern einfach auch einmal fühlen: „Man sollte sich nicht hinsetzen und erwarten, daß alles wahrheitsgetreu dargestellt ist. Nein, man sollte sich hinsetzen und den Film auf sich wirken lassen, fern von irgendwelchen Urteilen.“47 In einer Hinsicht wird man diese ‚Kritik der Kritik‘ auch ihrerseits kritisch bewerten. Vorauszusetzen, daß die künstlerische Freiheit eines Regisseurs bei einer Literaturverfilmung grenzenlos sei, ist zumindest problematisch. Und anzunehmen, daß bei einer genaueren Adaption der Ilias ein langweiliger Dokumentarfilm entstanden wäre, heißt, die Ilias gründlich zu verkennen. In anderer Hinsicht scheinen Petersens Verteidiger mir aber Recht zu haben: Wir Gräzisten sollten seinen Film nicht einfach deshalb verwerfen, weil er in diesem oder jenem positiven Faktum von der bekannten TroiaGeschichte abweicht. Denn erstens verfielen wir damit dem puren Positivismus und der fanatischen Faktenhuberei. Zweitens verschafften wir uns zum Schaden unseres Faches den Ruf von erbsenzählenden Besserwissern. Drittens müssen ja gerade wir uns dessen bewußt sein, daß die antiken Schriftsteller selbst die traditionellen Stoffe immer neu variiert, immer neu für die jeweils eigene Zeit zum Sprechen gebracht haben. Und viertens gibt es noch sehr viel wichtigere, genuin künstlerische Kriterien, nach denen sich der Wert eines Filmes bemißt, als die rein äußerliche Übereinstimmung mit seinem literarischen Vorbild. Es kann sogar künstlerisch sinnvoll sein, sich nicht sklavisch genau an das Vorbild zu halten, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden wird. 2.2. Die Kulissen und Kostüme aus archäologischer Sicht Auch die Frage nach der Übereinstimmung des Films mit den archäologischen Fakten wird, wie mir scheint, nicht ganz selten gestellt. Sie betrifft sowohl die Kulissen als auch die Kostüme. Hinsichtlich der Kulissen fällt das Urteil der Rezensenten eindeutig positiv aus. Nur eine kleine Minderheit gibt zu Protokoll: „Die Kulissen sind nichts Besonderes, wenn auch sicherlich viel Aufwand notwendig war.“ Eine gro- 46 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 12. 10. 04 aus Konstanz; vom 19. 5. 04 aus Duisburg; vom 1. 10. 04 aus Stuttgart; vom 20. 9. 04 aus Niedersachsen. 47 Rezension vom [?] aus [?]. 15 ße Mehrheit beurteilt die Kulissen hingegen als „toll“; man empfindet sie nicht nur als ‚schön‘, sondern auch als ‚authentisch‘.48 Authentisch wären sie allerdings nur dann, wenn sie der Wirklichkeit derjenigen Zeit entsprächen, in die nach den neuesten Erkenntnissen der von Homer beschriebene Untergang Troias datiert werden muß.49 Das ist die Zeit um 1190 / 1180 v. Chr., in der die Troianische Hochkultur der Späten Bronzezeit, das so genannte Troia VI a – i50 (ca. 1740 – 1190 / 1180 v. Chr.51), sehr wahrscheinlich durch einen Krieg dem Erdboden gleichgemacht wurde.52 Von der Wirklichkeit dieser Zeit kann sich dank zahlreicher Publikationen auch der Laie ein anschauliches Bild machen.53 48 In dieser Reihenfolge: Rezension vom 17. 5. 04 aus Wiesbaden; Rezensionen vom 21. 5. 04 aus Königswinter; vom 28. 5. 04 aus Klagenfurt; vom 22. 5. 04 aus Mühlheim. 49 Daß die Ilias einen historischen Kern hat, wird von dem Althistoriker Frank Kolb, dem Klassischen Archäologen Dieter Hertel und dem Gräzisten Wolfgang Kullmann zwar heftig bestritten. Diese Forscher vertreten jedoch nur eine Minderheitsmeinung. Die communis opinio folgt dem Homerspezialisten Joachim Latacz, der auch mich überzeugende Gründe dafür vorgetragen hat – v.a. in Latacz (2001) und Latacz (2003 b) –, daß es ‚den‘ Troianischen Krieg, in dem die Troianer durch mykenische Achaier besiegt wurden, tatsächlich gab (um 1190 / 1180 v. Chr.) und daß die Erinnerung an ihn so lange durch mündliche Heldendichtung bewahrt wurde, bis Homer sie in der Ilias in schriftliche Form goß (um 730 v. Chr.). Manfred Korfmann, der Spezialist für die Archäologie der Frühen Bronzezeit, der seit 17 Jahren die Grabung in Troia leitet, will sich in philologischen Fragen nicht eindeutig festlegen. Seiner Meinung nach sprechen die archäologischen Befunde aber zumindest nicht gegen Latacz; vgl. Korfmann (2004) S. 13: „Diese Homerforscher waren offenbar mehrheitlich von einem ‚historischen Kern‘ überzeugt. Eine solche Möglichkeit halte ich selbstverständlich offen.“ 50 Nach der überzeugenden Argumentation von Korfmann (2003) S. 31 sollte die von Schliemann irrtümlich Troia VII a genannte Siedlungsschicht korrekt als Troia VI i bezeichnet werden. Zur Erläuterung: Auf dem Burgberg von Troia liegen insgesamt zehn kulturell unterscheidbare Städte (durch römische Ziffern bezeichnet) mit insgesamt über fünfzig Bauphasen (durch Minuskeln bezeichnet) wie die Schichten einer Torte übereinander; vgl. Korfmann (2001 a) S. 347. Über die kulturellen Unterschiede der zehn Städte informieren ausführlich Brandau / Schickert / Jablonka (2004); zusammenfassend Siebler (1990) S. 220 – 237 und Korfmann (2001 a). 51 Die Chronologie der fünfzig Siedlungsschichten ist inzwischen auch durch naturwissenschaftliche Methoden so weit gesichert, daß keine gravierenden Änderungen mehr zu erwarten sind; vgl. Korfmann (2003) S. 19. Die Daten für Troia VI entnehme ich dem Chronologieschema vom November 2003; vgl. ebd., S. 33. 52 Nach Korfmann (2003) S. 33 wurde Troia VI h um 1300 v. Chr. durch eine Brandkatastrophe oder ein Erdbeben, Troia VI i um 1190 / 1180 v. Chr. durch eine Brandkatastrophe oder einen verlorenen Krieg zerstört; vgl. ebd. S. 36 f.: „Alles das endet um 1190 / 1180 v.u.Z. in einer Katastrophe mit Bränden und Toten. Es gibt in der Tat Anzeichen dafür, daß es ein kriegerisches Ereignis war, und zwar ein verlorener Krieg. Dafür sprechen nicht nur der Brand und die Skelettfunde und die flüchtige Bestattung einer Toten, sondern auch die Haufen von Schleudergeschossen, die man achtlos hat liegen lassen. So verhält sich nur ein Sieger, den in einer eroberten Stadt andere Dinge als Schleudersteine interessieren. Wäre Troia oder Wilusa erfolgreich verteidigt worden, hätte man derartige Haufen schon kurz nach der Katastrophe abgetragen.“ 53 Vgl. z.B. Korfmann / Mannsperger (1998) S. 38 – 41; Knossos und Troia; Troia – 130 Jahre nach Grabungsbeginn; Troia – 3000 Jahre Geschichte im Modell; Luce (2000); Korfmann (2001 a) S. 348 – 352; Korfmann (2001 c); Korfmann (2003) S. 29 – 38; Brandau / Schickert / Jablonka (2004) S. 50 – 111; Das antike Troia. 16 Petersen – bzw. sein Szenenbildner Nigel Phelps – setzt aber vielfach eine ganz andere Realität ins Bild. Er tut dies nicht, weil die archäologisch verbürgten Tatsachen ihm egal gewesen wären. Ganz im Gegenteil: Es war dem Regisseur „wichtig, daß der Film authentisch war, so authentisch wie nur möglich.“54 So trägt er z.B. der Tatsache Rechnung, daß es in Troia VI eine 5 m dicke und mindestens 8 m hohe, geböschte Steinmauer mit sägezahnartigen Rücksprüngen und einem senkrechten, ebenfalls mehrere Meter hohen Lehmziegelaufbau gab55 – auch im Film sieht man solch eine hohe, geböschte Mauer.56 Doch im Film umschließt diese Mauer das ganze Stadtgebiet. In Troia VI dagegen grenzte sie die Burg mit den Palästen von der umliegenden, etwa fünfmal so großen Unterstadt ab, die ihrerseits durch einen palisadengesäumten Verteidigungsgraben geschützt war.57 Im allgemeinen orientiert er sich also durchaus an der historischen Wirklichkeit, nur im einzelnen weicht er ganz offenbar von ihr ab.58 Warum er das tut, läßt sich zeigen, indem man drei weitere Beispiele analysiert: Erstens: Im Film sieht man etwa am Marktplatz von Troia kegelstumpfartige Steinsäulen.59 Deren Schaft besteht aus vier glatten, runden, sich nach unten verjüngenden Trommeln, die hellbeige getönt sind, so daß sich die Basis und das Kapitell, ein ebenfalls glatter, runder Wulst unter einer quadratischen Deckplatte, mit ihrer braunen, schwarzen und weißen Fassung sehr schön davon abheben. Solche Säulen sind jedoch nicht aus troianischen, sondern aus minoischen Palästen bekannt, und zwar besonders aus dem Palast von Knossos auf Kreta.60 Auch die berühmte Reliefdarstellung einer derartigen Säule am Löwentor von Mykene ist minoisch 54 Aussage von Nigel Phelps auf der Ergänzungs-DVD zu Troia. Petersen selbst ergänzt ebd.: „Sie recherchierten in allen möglichen Büchern und Forschungsmaterialien des Britischen Museums. Es war faszinierend, was sie da entdeckten.“ 55 So Korfmann (2001 a) S. 348 f.; Korfmann (2003) S. 29. – Vgl. auch die Abbildungen bei Korfmann / Mannsperger (1998) S. 34. 45; Korfmann (2001 a) S. 350; Korfmann (2001 c) S. 395. 397; Brandau / Schickert / Jablonka (2004) S. 66 f. 56 Diese Mauer wurde kurz vor Ende der Dreharbeiten durch einen Hurrikan zerstört. Man kam nicht umhin, sie in wochenlanger Arbeit wieder aufzubauen, da vor ihr der Zweikampf zwischen Achill und Hektor stattfinden mußte – als Höhepunkt des Films die einzige Szene, die bis dahin noch nicht gedreht worden war. 57 Vgl. Korfmann (2001 a) S. 348 f. und – diese früheren Angaben z.T. revidierend – Korfmann (2003) S. 29. In der Debatte um die Existenz der troianischen Unterstadt, die hier nicht dokumentiert werden kann, hat Korfmann m.E. alle Argumente für sich. 58 Vgl. die Aussage des Drehbuchautors David Benioff auf der Ergänzungs-DVD zu Troia: „Das meiste haben sich die Designer ausgedacht. Sie mußten das Überlieferte mit Phantasie verbinden.“ Nigel Phelps bestätigt ebd.: „Wir mußten unsere eigene Sprache für die Kunst der Stadt erfinden.“ Phelps nennt als wichtigste Abweichung von der historischen Wirklichkeit die Vergrößerung der Maßstäbe, für die er sich an ägyptischen Bauwerken orientiert habe, denn: „Um so einen epischen Film zu machen, braucht man epische Proportionen.“ 59 Nigel Phelps erklärt auf der Ergänzungs-DVD zu Troia: „Wir hatten über 115 Säulen, wohl an die 20 verschiedene Typen.“ Von diesen 20 vertreten die Säulen am Markt nur einen Typ. 60 Abbildungen in: Marinatos (1986) Abb. 35 – 39. 17 beeinflußt.61 In Troia scheint es dagegen überhaupt keine Steinsäulen gegeben zu haben. Stattdessen benutzte man vermutlich Baumstämme, die bündig auf Steinbasen aufgesetzt wurden.62 Den troianischen Säulentyp können sich nun freilich die wenigsten Zuschauer vorstellen. Eine kretische Säule haben hingegen die meisten schon einmal gesehen (z.B. im Urlaub). Säulen, die denen von Kreta ähneln, werden also die meisten sofort mit den ‚alten Griechen‘ verbinden. Zweitens: Im Film sieht man innerhalb Troias außer den Bauwerken auch viele Bildwerke. Vielerorts erblickt man z.B. Statuen, die dem Typ eines Kuros63 entsprechen. Ein Kuros steht aufrecht in Schrittstellung, ohne sein Gewicht auf den vorderen Fuß zu verlagern; seine Arme liegen seitlich am Körper an, so daß die Fäuste die Oberschenkel berühren; die Muskeln, Haare und Gesichtszüge wirken stark stilisiert, jene letzteren insbesondere durch das bekannte ‚archaische Lächeln‘. Zu datieren sind solche Kuroi denn auch in die Hoch- bzw. Spätarchaik (ca. 600 – 490 v. Chr.). – Anderswo entdeckt man eine Skulptur des Apoll, die in ihrer knienden Haltung eindeutig an die Bogenschützen Paris64 und Herakles65 aus der Gruppe der Aigineten in der Münchener Glyptothek erinnert. Die berühmten Giebelfiguren vom Tempel der Aphaia auf Aigina, die schon ungleich mehr Dynamik als die Kuroi entfalten, gehören in die Frühklassik (ca. 480 v. Chr.). – Wiederum woanders erkennt man den sogenannten Zeus vom Kap Artemision.66 Diese weltberühmte Plastik, entstanden am Anfang der Klassik (ca. 460 v. Chr.), zeigt den Gott als ernsthaften, bärtigen Mann in der perfekt austarierten Bewegung eines kraftvollen Speerwerfers: Der athletische Körper vollzieht eine Vierteldrehung nach rechts. Der rechte Arm, dessen Hand den (verlorenen) Blitz umfaßte, holt nach hinten zu einem kraftvollen Wurf aus und ist dabei leicht angewinkelt, der linke Arm ist waagerecht nach vorn gestreckt, um das Ziel anzupeilen. Die kraftvollen Beine bilden ein harmonisches Gegengewicht zu den Armen, sofern das rechte in seitlicher Drehung gerade nach hinten gestreckt, das linke aber leicht angewinkelt nach vorne gerichtet ist. Die Replik dieser ungemein eleganten Statue sieht leider vergleichsweise dicklich aus; sie verbindet die dynamische Armhaltung des Zeus vom Kap Artemision mit der steifen Körperhaltung eines Kuros (die Beine stehen parallel nebeneinander, der Rumpf ist nicht gedreht); und zu allem Überfluß trägt sie nicht 61 Abbildungen in: Marinatos (1986) Abb. 163; Stierlin (2001) S. 24 f. Diese Vermutung von Manfred Korfmann trägt der Tatsache Rechnung, daß sich zwar behauene Steine fanden, die als Säulenbasen, aber keine, die als Säulentrommeln gedeutet werden konnten. 63 Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 11 – 13. 32 – 36. 53 – 57; Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 79 f. 83. 108 f. 117; Hampe / Simon (1980) Abb. 454 – 460. 465 – 469; Boardman (1997) Abb. 39 – 43; Hölscher (2002) S. 185. 64 Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 73 [mit problematischer Ergänzung der Mütze]; Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 150 [dito]; Brinkmann (2003) S. 17. 45. 65 Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 82 f.; Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 151; Boardman (1997) Abb. 38 A. 66 Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 128 – 131; Simon (1980) S. 86 – 88; Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 158 f. und Taf. XXVIII; Boardman (1997) Abb. 86. – Die Deutung der Statue als Poseidon ist inzwischen überholt. 62 18 nur zwei martialische Blitze in der Hand, sondern auch noch ein züchtiges Tüchlein vor der Scham. – Als Kulissen ein und desselben Handlungszusammenhangs benutzt Petersen also Bildwerke unterschiedlicher Epochen. Hinzu kommt, daß die handelnden Personen knapp 2000 Jahre vor diesen Epochen lebten und ganz andere kultische Gepflogenheiten hatten, als es die Bildwerke annehmen lassen. So verehrten die Bewohner von Troia VI als Verkörperungen des Gottes Apollon (Apaliunas) womöglich rechteckige Steinstelen aus Muschelkalk, die auf Märkten, an Toren und Kreuzungen aufgestellt wurden und dort z.T. heute noch stehen.67 Solche Steinstelen könnte nun aber kaum ein Kinobesucher als Kultgegenstände erkennen. Götterbilder im Stil der griechischen Archaik und Klassik kennt hingegen fast jeder (und sei es nur aus dem Schaufenster seines Optikers). Solche Götterbilder wird daher fast jeder mit der griechischen Antike assoziieren. Drittens: Im Film sieht man eine anonyme Troianerin, die einen kostbaren Kopfschmuck trägt. Er besteht aus unzähligen kleinen, durch Ringlein verbundenen Goldplättchen, die in der Form eines rechteckig ausgeschnittenen Ponys an einem Stirnband befestigt sind. Damit ähnelt er stark einem Kopfschmuck, den auf einem berühmten, um 1875 entstandenen Photo Sophia Schliemann zur Schau stellt68 – also einem der beiden Golddiademe69 aus dem faszinierenden Schatz, den Heinrich Schliemann 1873 in Troia gefunden, nach seinem damaligen Wissensstand auf etwa 1200 v. Chr. datiert und begeistert als ‚Schatz des Priamos‘ apostrophiert hatte. Dieser Schatz (zur Unterscheidung von über zwanzig in Troia gefundenen Schätzen70 wird er wissenschaftlich ‚Schatz A‘ genannt) wurde jedoch nach neueren Erkenntnissen nicht erst um 1200 v. Chr., sondern schon 1300 Jahre vorher an seinem späteren Fundort vergraben.71 Laut Manfred Korfmann, der nicht nur den Fundort, sondern auch die inzwischen in Moskau gehorteten72 Fundstücke analysiert hat, gehört er nicht ans Ende der Späten Bronzezeit (Troia VI), sondern in die Mitte der Frühen Bronzezeit 67 Photos, Rekonstruktionen und einführende Erläuterung in: Brandau / Schickert / Jablonka (2004) S. 58 – 60; wissenschaftliche Begründung in: Korfmann (1998). 68 Abbildungen in: Der Schatz aus Troia, S. 11; Troia – Traum und Wirklichkeit, S. 460. 69 Historische Photos in: Siebler (1990) Abb. 38 oben Mitte und Taf. 26; Korfmann / Mannsperger (1998) Abb. 93 oben Mitte. – Moderne Photos in: Korfmann (2001 b) S. 374 oben links; Der Schatz aus Troia, S. 24 oben links und S. 38 – 41. 70 Korfmann (2003) S. 25. 71 Der Schatz wurde vermutlich in der rechten (südlichen) Torwange der alten Toranlage FL gefunden, in die er eingebracht worden sein könnte, um ihn als Bauopfer darzubringen oder vor Diebstahl zu schützen: Korfmann (2001 b) S. 378 f. 72 Der Schatz gehört zu den Beständen des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, die 1941 zum Schutz vor Bombenangriffen in den Flakturm am Zoo gebracht wurden und 1945 auf mysteriöse Weise von dort verschwanden. Bis 1993 galt er als verschollen. Von den Versuchen, ihn wiederzufinden, erzählt überaus spannend der Film „Altes Gold und neue Mythen“ auf der DVD „Troia – Schlachtfeld der Mythen“, der offenbar kurz vor dem Zeitpunkt gedreht wurde, an dem das Moskauer Puschkin-Museum zugeben mußte, den Schatz seit fast 50 Jahren in einem Geheimraum versteckt zu haben. – Ebenfalls sehr fesselnd wird die Odyssee des Schatzes geschildert von Siebler (2001) S. 78 – 86. 19 (Troia II) und ist „wohl in die Zeit um 2500 v. Chr. oder auch etwas davor zu datieren.“73 Da er aber als ‚Schatz des Priamos‘ zu Weltruhm gekommen ist, werden wohl alle Kinobesucher, denen die Troianerin auffällt, deren Kopfputz mit dem homerischen Troia verbinden. Fazit: Daß die Kulissen auf diejenigen Kinobesucher, die keine archäologischen Spezialkenntnisse haben, authentisch wirken, ist eben deshalb kein Zufall, weil sie in ganz bestimmter Hinsicht nicht authentisch sind. Daraus schließe ich: Offenbar geht es Petersen erst in zweiter Linie um historische Authentizität. In erster Linie will er erreichen, daß sich möglichst viele Zuschauer in die griechische Antike zurückversetzen können. Deshalb zeigt er Bilder, die möglichst viele Zuschauer mit den ‚alten Griechen‘ assoziieren, wie die Säulen von Kreta, die Statuen von Aigina und den Schatz aus Troia II. In diesen Bildern konzentriert sich unsere Vorstellung vom antiken Griechenland, sie sind Teile unseres kollektiven Gedächtnisses, während die Kultur von Troia VI, die im übrigen ja auch nicht griechisch, sondern hethitisch beeinflußt war, erst allmählich in unser Bewußtsein dringt. Da Petersen, wie schon einmal erwähnt, keinen Dokumentarfilm, sondern einen ‚Straßenfeger‘ (‚Blockbuster‘) auszustatten hatte, erscheint mir dieses Vorgehen legitim. Wer Petersen dafür kritisiert, sollte vielleicht auch einen Hinweis bedenken, den Korfmann mir kürzlich gesprächsweise gab: Wenn man sich eine Tragödie des Euripides im Theater anschaue, stelle man sich doch auch nicht die Frage, ob es im antiken Athen bereits Plüschsessel gab. Warum aber solle man einem Filmregisseur nicht genauso viel künstlerische Freiheit einräumen wie einem Theaterregisseur? 2.3. Die Hintergrundmusik und die akustischen Spezialeffekte Im Bezug auf die Musik und die Geräuschkulisse, auf denen die akustische Wirkung von Troia beruht, hat die Frage nach der Authentizität von vornherein keinen Sinn. Denn es gab zwar zum Zeitpunkt der Handlung74 bereits Musik. Es gab professionelle Sänger (Aoiden), die an Königshöfen lebten und die Könige etwa nach Tisch unterhielten, indem sie zu einem von ihnen genannten Thema aus dem Stegreif ein hexametrisches, raffiniert mit Formeln durchsetztes Heldenlied (Epos) verfaßten und vortrugen, wobei sie sich selber auf einer viersaitigen Leier (Phorminx) begleiteten.75 Den Schlußstrich unter diese jahrhundertealte Tradition der Mündlichen Dichtung (Oral 73 74 75 Korfmann (2001 b) S. 380. Ca. 1190 / 1180 v. Chr.: Zerstörung Troias. Abbildung in: Siebler (1990) Abb. 22. 20 Poetry)76 zog erst Homer, der, kurz nachdem die Griechen von den Phöniziern das Alphabet übernommen hatten,77 seine Lieder erstmals schriftlich komponierte.78 Auch Homer aber läßt noch die frühere Praxis erkennen. Denn in der Odyssee lokalisiert er angesehene Aoiden an den Höfen der Könige Odysseus, Menelaos, Agamemnon und Alkinoos.79 Und in der Ilias schreibt er über den König Achilleus: „[Sie fanden ihn,] wie er seinen Sinn erfreute mit der hellstimmigen Leier, der schönen, kunstreichen, und ein silberner Steg war auf ihr. [...] Mit dieser erfreute er seinen Mut und sang die Rühme der Männer.“80 Dieser Song aber wäre kein Soundtrack für einen Sandalenfilm. (Wer sich nicht vorstellen kann, wie die Kinobesucher auf sorgfältig rekonstruierte antike Musik reagieren würden, möge einer Mittelstufenklasse die CD „Musique de la Grèce antique“81 vorspielen!) Als James Horner den Soundtrack zu Troia verfaßte, stand er also vor der Aufgabe, dem antiken Stoff mit modernen Mitteln gerecht zu werden. Wie hat er diese Aufgabe bewältigt? Die Hofgeismarer Musiklehrerin Barbara Menzel hat sein Werk auf meine Bitte hin analysiert.82 Sie schreibt: „Die Musik zum Film Troia erschließt sich nicht gleich beim ersten Hören. Erst bei genauerer Analyse erkennt man einige wiederkehrende Sequenzen, die man bestimmten Situationen oder Gedanken zuordnen kann. Diese Sequenzen möchte ich hier – obwohl sie im engeren Sinn keine Themen oder Motive sind – dennoch behelfsweise so nennen. Der Film beginnt mit einer von einer einzelnen Frauenstimme gesungenen Melodie, die eine klare rhythmische Struktur besitzt, sporadisch von kurzen Trommeleinwürfen begleitet wird und den Eindruck einer Improvisation erweckt. Da sie nicht in unser bestehendes mitteleuropäisches Tonsystem paßt, läßt sie sich nur schwer beschreiben. Sie erinnert an türkische oder asiatische Melodien mit Vierteltönen und einem geringen Tonumfang. Diese Melodie tritt im weiteren Verlauf des Films, besonders in der zweiten Hälfte, immer in Verbindung mit dem Todesgedanken auf. Daher möchte ich sie als das ‚Todesthema‘ bezeichnen. Der Film endet dagegen mit dem ‚Liebesthema’, einem Song, der jedesmal dann erklingt, wenn abstrakt von der Liebe geredet oder die Liebe zweier Personen konkret vor Augen geführt wird. 76 Vgl. die gelungene Darstellung dieser Tradition bei Schmitz (2002) S. 111 – 125. Ca. 800 v. Chr.: Übernahme des Alphabets durch die Griechen. 78 Ca. 730 v. Chr.: Entstehung der Ilias; ca. 700 v. Chr.: Entstehung der Odyssee. 79 Vgl. Hom. Od. 1, 150 – 155. 325 – 364; 17, 260 – 263; 22, 329 – 380 (der Sänger Phemios am Hof des Odysseus auf Ithaka); Hom. Od. 4, 15 – 19 (ein Sänger am Hof des Menelaos in Sparta); Hom. Od. 3, 267 f. (ein Sänger am Hof des Agamemnon in Mykene); Hom. Od. 8, 43 – 47. 62 – 82 (der Sänger Demodokos am Hof des Alkinoos auf Scheria). Weitere Belege verzeichnet Autenrieth / Kaegi (1999) s.v. aeido, aoide, aoidos. 80 Hom. Il. 9, 186 – 189. 81 Nähere Angaben im Literaturverzeichnis. 82 Frau Menzel sei hiermit nochmals herzlich gedankt! 77 21 Außer diesen beiden ‚Themen‘ gibt es noch mehrere kleinere ‚Motive‘, die entweder mit den ‚Themen‘ im Zusammenhang stehen oder von ihnen unabhängig sind: Ein langgezogener, tiefer Streicherton markiert eine Bedrohung. Trommelschläge ertönen im Vorfeld von Kämpfen. Sie kommen in zwei Varianten vor. Die erste Variante bilden gleichmäßig aufeinander folgende Schläge, die an das Pulsieren des Herzens erinnern. Durch die langsame Steigerung des Tempos wird dabei die Spannung vor der Schlacht dargestellt. Die zweite Variante bilden drei bis fünf kurze, schnell aufeinander folgende Schläge mit anschließender Pause. Sie erinnern an das Aufstampfen der Speere zum Zeichen der Kampfbereitschaft. Ein kurzes Trompetensignal begleitet sowohl das Anrücken und Aufstellen der Heere als auch die darauf folgenden Kampfhandlungen. Etwas länger und melodiöser ist ein anderes Blechbläsermotiv, das ähnlich wie eine Fanfare klingt und als ‚Siegesmotiv der Troianer‘ angesprochen werden könnte. Es ertönt zum ersten Mal, als Paris mit Helena in Troia einzieht, und zum zweiten Mal, als die Troianer aus der Schlacht, die auf den Zweikampf zwischen Paris und Menelaos folgt, siegreich hervorgehen. Insgesamt fällt auf, daß Musik im Film Troia allgegenwärtig ist, zwar meist im Hintergrund und nahezu verdeckt durch Dialoge, aber immer wieder hervortretend und durch stilistische Wechsel neue Szenen vorbereitend oder untermalend.“ Die Musik ist also, wie es scheint, durchaus durchdacht gemacht. Den Geschmack der meisten Zuhörer trifft sie dennoch nicht: Während eine Minderheit der Zuhörer von „mitreißender Musik“ schwärmt und den „tollen Soundtrack“ als „sehr gelungen“ beurteilt, da er „eine äußerst beklemmende Atmosphäre aufbauen konnte“, bewertet die Mehrheit den Soundtrack als „durchschnittlich bis schlecht“, als langweilig, als nervtötend, ja sogar als eine „Zumutung“. Ein besonders mißfälliger Kritiker charakterisiert das Werk von „James-ich-habe-schon-Besseres-komponiertHorner“ durch den Ausdruck „pseudo-griechische Jammergesänge.“ Ein zweiter räumt ein: „Eine authentische musikalische Untermalung ist hier sicherlich wichtig, allerdings kommt einem nach ungelogen sechs Minuten leiernden Gesanges die Freude an dieser Kunst abhanden.“ Und ein dritter gesteht: „Was habe ich mich im Kinosessel gewunden, als stundenlang dieses Frauengeheule aus den Boxen dröhnte, das war eine Qual!“83 83 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 15. 5. 04 aus Augsburg; vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen; vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 16. 5. 04 aus Berlin; vom 2. 6. 04 aus Bayern; vom 6. 7. 04 aus Pforzheim; vom 1. 9. 04 aus Rosenheim; vom [?] aus [?]; vom 4. 8. 04 aus Deutschland; vom 16. 5. 04 aus Berlin. 22 An der Geräuschkulisse, die ja ebenfalls zur akustischen Wirkung von Troia beiträgt, sind die Zuhörer schon gleich gar nicht interessiert – vermutlich, weil sie dem Irrtum erliegen, daß die Geräusche durch das Geschehen, das sie sehen, natürlich verursacht und nicht im Studio künstlich erzeugt worden seien. Vor diesem Hintergrund übergehe auch ich das Thema ‚Geräusche‘, verweise jedoch auf die Ergänzungs-DVD zu Troia, die diverse Bonus-Materialien zugänglich macht und so auch Aufschluß über die akustischen Spezialeffekte bietet. 2.4. Die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte Sehr interessiert sind die Zuschauer dagegen an den optischen Spezialeffekten. Diese betreffen vor allem die Simulation einer 1000 Schiffe starken Flotte und eines 70000 Mann starken Heeres mit Hilfe von Computerprogrammen. Die Fans des Films sparen auch hier nicht mit Superlativen wie „brillant“, „genial“, „gigantisch“, „grandios“ usw. Ein Kritiker urteilt dagegen: „Die tausend Schiffe, die die Ägäis in der Ansteuerung auf Troia durchkreuzen, sind von Petersen eindrucksvoll ins Bild gebracht. Doch man spürt die Leichtigkeit, mit der sie am Computer aus nur fünf Schiffsmodellen erstellt wurden – irgendwie eine Verhöhnung der akribischen Differenzierung der Ilias.“ Und zwei weitere Kritiker meinen: „Auch optisch bleibt der Film hinter den Erwartungen zurück – Schiffe, Soldaten etc. werden einfach bei jeder Gelegenheit digital hintereinander kopiert, so daß das Schlachtfeld bis an den Horizont gefüllt ist und damit mehr Mannen kämpfen, als damals vermutlich die Welt bevölkert haben.“ „Unter einem Monumentalfilm verstehe ich aber mehr als computeranimierte Heere.“84 So problemlos, wie sie scheint, war die Sache aber denn doch nicht. Nick Davis, der IT-Fachmann, der für die optischen Spezialeffekte verantwortlich war, beschreibt die Schwierigkeiten, die es zu bewältigen galt (ich zitiere die deutsche Fassung der Ergänzungs-DVD): „Eine der größten Herausforderungen war die Erschaffung einer Flotte. Wir mußten 1000 Schiffe bauen [...]. Wir nahmen die Pläne der Ausstattungsabteilung und bauten zwei von ihren Schiffen nach und dann fünf oder sechs Variationen davon. Wir erstellten sie am Computer. Computerarmeen haben gerudert, aber der Hintergrund war echt. Der Ozean ist immer echt [...]. Wir erarbeiteten ein Aufnahmesystem, bei dem wir schwimmende Bojen und verschiedene Boote auf dem Ozean treiben ließen, so daß wir sehen konnten, wie wir das drehen wollten. Eine bewegte Kamera auf einer bewegten Plattform auf einem bewegten Ozean ist ziemlich kompliziert. Aber wir [...] entwickelten Software, durch die wir tolle 84 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 19. 5. 04 aus Oer-Erkenschwick; vom 1. 6. 04 aus Augsburg; vom 16. 5. 04 aus Weimar; vom 13. 6. 04 aus Bad Nenndorf; vom 24. 5. 04 aus Wien; vom 25. 9. 04 aus Gemünden. 23 Aufnahmen hinbekamen. Und dann konnten wir 1000 Schiffe bauen und sie per Computer in diese Sequenz einfügen. Bei dieser Aufnahme hatten wir das Gefühl, daß da zu viele Boote waren. Alle sagten, daß es zu viele waren. Das stimmt nicht. Es sind weniger als 1000 Schiffe hier. Aber in der Realität [...] ist es einfach unmöglich, 1000 Schiffe aufzunehmen. Auch wenn es 1000 Schiffe gäbe, wären sie über den Ozean verstreut. Sie segeln zu nah beieinander. Sie nehmen sich gegenseitig den Wind. Also überzeugten wir Wolfgang [Petersen] davon, etwa 60% ’rauszunehmen. Jetzt sieht es besser aus. Selbst 300 oder 400 Schiffe sehen in so einer Aufnahme noch gewaltig aus.“ Noch aufwendiger sei die Generierung der beiden Heere gewesen. Um gleichzeitig 50000 Griechen und 20000 Troianer ins Bild zu setzen, sei wiederum eine spezielle Software entwickelt worden. Mit dieser Software „konnten wir Bewegungen aufnehmen, die von echten Stuntleuten stammten, die verschiedene Stunts machten, vom Gehen über das Rennen hin zum Kämpfen, Schwertkampf, Kampf mit Schutzschilden, [...] IneinanderKrachen [...]. Danach kann die Software dann all diese Bewegungsaufnahmen zusammenfügen, und das innerhalb von wenigen Bildern. [Die] 50000 [Soldaten] sind immer unterschiedlich, es gibt nie dieselben. [...] Wir gaben jedem Soldaten einen anderen aggressiven Ausdruck. So konnten wir [dem Computer z.B.] sagen, wer gewinnen und verlieren würde [gemeint: sollte]. Dann läßt man den Computer machen und erstellt [...] eine Simulation der Handlung. Der Computer wählt alle für ihn relevanten Bewegungsaufnahmen aus für den nächsten Schritt und die nächste Bewegung dieser Figur. Es ist wie virtuelles Schachspielen.“ Dabei versuchten die ‚Schachspieler‘ stets, nicht weniger Realität als möglich und nicht mehr Virtualität als nötig in den Film einzubringen: „Wir wollten so viel reale Action wie möglich im Film haben mit echten kämpfenden Menschen und echten Schiffen.“ Nur wo dies an die Grenzen des Machbaren stieß, griffen sie auf ihre Software zurück, wobei sie sich immerhin ernsthaft bemühten, unterscheidbare ‚Soldaten‘ zu erschaffen. Um nun freilich abzuschätzen, wie erfolgreich sie dabei waren, muß man von Troia aus – wenn auch nur kurz – auf die Ilias hinblicken.85 Was hier die optischen, sind dort die literarischen Spezialeffekte, durch die vor dem Auge des Publikums das Bild einer unermeßlichen Streitmacht entsteht. Zu Homers literarischer Technik gehört es, zahlreiche Nebenfiguren einzuführen, die man unter der Bezeichnung ‚Kleine Kämpfer‘ subsumiert.86 85 Leider würde ein umfassender Vergleich – der u.a. eine genaue Analyse des Flottenund des Troerkatalogs in der Ilias voraussetzen würde (Hom. Il. 2, 484 – 759. 786 – 877; vgl. die Erläuterungen von Edzard Visser in: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 2, Fasc. 2, S. 145 – 246. 263 – 288) – den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Ich beschränke mich daher auf einen, wie mir scheint: aufschlußreichen, Aspekt. 24 Homer berichtet vom Tod dieser Kämpfer oft schon drei Verse, nachdem er ihre Namen zum ersten Mal genannt hat. Aber das gerade ist der Punkt: Er nennt ihre Namen. Zusätzlich erwähnt er noch zwei oder drei Details aus ihrem Leben, durch die er mit wenigen Strichen ein absolut treffendes Bild von ihnen entwirft. So verhindert er, daß der Leser die Opfer des Krieges als bloße Masse betrachtet. Im Krieg wird kein abstraktes Menschenmaterial vernichtet, im Krieg werden konkrete Menschen getötet, Menschen mit Namen, Gesichtern, Biographien. Innerhalb von nur drei Versen gelingt es Homer, eine Beziehung des Lesers zu einem der ‚Kleinen Kämpfer‘ aufzubauen, die den Leser z.B. anschließend befähigt, die Trauer nachzuempfinden, die der Tod dieses mühsam großgezogenen, innig geliebten, einzigen Sohnes bei den alten Eltern auslösen muß.87 Es fragt sich, ob die Geschöpfe der Computerspezialisten, die keine individuellen Namen und keine individuellen Biographien haben und deren individuelle Gesichter das menschliche Auge wegen der rasanten Kameraführung letztendlich doch nur summarisch wahrnehmen kann, denselben Effekt auf ihr Publikum haben: Erregen auch sie bei den Zuschauern Mitleid? Die ‚Kleinen Kämpfer‘ jedenfalls tun dies. Denn daß ihr ruhmvolles Sterben im Grunde ein qualvolles Verrecken ist, führt Homer in seinen Worten immer anschaulich und oft sogar mit schonungsloser Drastik vor Augen – er wird konkret, er geht ins Detail, er benennt die konkreten Details ihrer tödlichen Wunden.88 Das mag und das soll zwar den Leser erschrecken. Und doch wird es ihm nicht den Eindruck vermitteln, daß sich der Dichter genußvoll im Schrecklichen suhlt: Homer zeigt den Krieg einfach ungeschönt, wie er ist. Petersen hat zwar dasselbe Ziel: „Unsere Schlachten“, so betont er, „sind nicht glorreich.“89 In gewissem Sinn aber sind sie es doch, denn die Zuschauer reagieren darauf fast einhellig begeistert: Nur ein Rezensent schreibt: „Die Kampfszenen [...] hätten nicht einmal in den 50er Jahren jemanden vom Hocker gehauen.“ Nahezu alle anderen finden sie „grandios“, „spektakulär und atemberaubend“: Die Massenschlachten wurden „perfekt in Szene gesetzt“ und „können vollauf überzeugen“; die Duelle „wurden perfekt einchoreographiert und überzeugen auf ganzer Linie“; „die Schlachtaufnahmen sind beeindruckend, [und] der Choreograph der Kampfszenen ist ein Genie.“90 86 Vgl. Strasburger (1954). Vgl. z.B. Hom. Il. 5, 152 – 158; 20, 407 – 418. 88 Vgl. z.B. Hom. Il. 5, 144 – 147. 290 – 293; 11, 145 – 147; 13, 506 – 508. 567 – 575. 614 – 618. 650 – 655; 20, 395 – 400; 21, 180 f. (Die Zahl der Belege ließe sich unschwer vermehren.) 89 Zitat von der Ergänzungs-DVD zu Troia. – Zur pazifistischen Tendenz des Films vgl. unten Abschnitt 2.9. 90 In dieser Reihenfolge: Rezensionen 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 10. 8. 04 aus Flawil; vom 17. 9. 04 aus Neumünster; vom 25. 5. 04 aus Fieberbrunn; vom 15. 5. 04 aus Ehingen; vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 23. 6. 04 aus Berlin. 87 25 Daß der Eindruck der Genialität durch harte Arbeit erzeugt ist, erfährt man wiederum erst auf der Ergänzungs-DVD. Ihr zufolge hat man sich die Genese der Massenschlachten wie folgt vorzustellen: Als ‚Military Technical Advisor‘ bereitet Richard Smedley drei Wochen lang 300 bulgarische und 500 mexikanische Statisten auf ihren Part als bronzezeitliche Krieger vor. Nicht nur das (nebenbei gesagt: anachronistische) Marschieren in Schlachtreihen, sondern auch die Bewegungsabläufe im Kampf werden ganz genau einstudiert, so spontan sie dann auch auf die Zuschauer wirken mögen. Eine Massenschlacht, so meint Smedley, sei wie ein gewaltiger Car-Crash, den man komplett unter Kontrolle halten müsse. Das sei bei so vielen Beteiligten unglaublich schwer. Kein geringeres Problem stellen die Zweikämpfe dar. Sie zu choreographieren, dauert Monate, zumal das Drehbuch dazu nur ungenaue Vorgaben macht. Simon Crane, seines Zeichens ‚Stunt Coordinator‘, beschäftigt sich mit verschiedenen Kampfsportarten, läßt sich von thailändischen Stuntmen und einem Speed-Skater inspirieren und muß am Ende doch etwas ganz Eigenes schaffen, angepaßt an die Gebrauchseigenschaften der Waffen und die Fähigkeiten und Sicherheitsbedürfnisse der Schauspieler (z.B. darf nie das Gesicht eines Schauspielers angegriffen werden, da es mit dessen Karriere sonst sehr schnell vorbei sein kann), gleichzeitig aber doch spektakulär in der Wirkung. Nachdem die Choreographie erstellt ist, müssen die Schauspieler ähnlich wie Tänzer jede Bewegung im Einzelnen und im Zusammenhang lernen und üben. Dieses Training ist für die Schauspieler extrem anstrengend. Denn gedreht wird im Sommer auf Malta und in Mexiko. Dort herrscht überall glühende Hitze, es gibt nirgendwo kühlenden Schatten, und die Schauspieler kämpfen in voller Montur unmittelbar in der sengenden, blendenden, zusätzlich noch von dem Sand und den Steinen zurückgeworfenen Sonne. So arbeiten sie über Monate hin sechs Tage pro Woche – und manchmal auch nachts, wobei sich als ungebetene Gäste Skorpione und Spinnen am Drehort versammeln. Joss Williams, der ‚Special Effects Supervisor‘, faßt sicher mit Recht zusammen: „Ein sehr harter Dreh.“ Der Regisseur reagiert auf den Einsatz der Schauspieler deshalb mit Stolz. Das Publikum schwankt, wie immer, zwischen Verehrung und Verachtung. 2.5. Die Leistungen einzelner Hauptdarsteller Bei den Fans beurteilt man die schauspielerischen Leistungen pauschal als „meisterhaft“, „fantastisch“ und „grandios“, man schwärmt von der „glänzenden“, der „exzellenten“, der „großartigen schauspielerischen Leistung 26 aller Darsteller“ und faßt als Ergebnis zusammen: „Jede Rolle wurde perfekt umgesetzt und scheint jedem auf den Leib geschneidert zu sein.“91 Nach Meinung der Kritiker „fehlen dem Film [dagegen] auch die schauspielerischen Glanzmomente“: „Was mich entsetzt hat, waren die z.T. unglaublich schlechten schauspielerischen, äh, Leistungen.“ „Die schauspielerische Darbietung gleicht einer Schulaufführung, in der Brad Pitt und Orlando Bloom eifrig um den ersten Platz als schlechtester Darsteller wettstreiten.“ Nur wenn jemand „auf hübsche Männer in kurzen Röcken und Sandalen steht und eine tiefe Abneigung gegen Schauspielerei hat“, nur wenn jemand „einen schönen, monumentalen Troia-Film sehen mag, mit schönen Männern und schönen Frauen in schönen Kostümen, die nur wenig Talent zum Schauspielen haben, in dem viel gekämpft und gelitten wird für die Ehre und den ganzen Kram – dann ist dieser Film [für ihn] der richtige.“92 Bevorzugte Zielscheibe der Kritik ist dabei das ehemalige Model Diane Kruger in der Rolle der Helena. Ich kann mich nicht entsinnen, eine Rezension gelesen zu haben, die ihre schauspielerische Leistung positiv hervorhob. Stattdessen häufen sich Aussagen wie: „Diane Kruger als Helena merkt man einfach an, daß sie eigentlich keine Schauspielerin ist.“ „Sie ist von etwas fader Schönheit, hat kaum Ausstrahlung“ und „synchronisiert sich selbst so langweilig und ausdruckslos, als ob sie einem die Tageszeitung vorlesen würde.“ Schon wegen ihrer Stimme ist sie vielen ein „Graus“. Darüber hinaus mißfällt manchen ihr „Durchschnittsgesicht“: „Schlimm die völlig talentfreie Helena mit ausdruckslosem Gesicht und dünnen Haaren.“ Mit der Haarfarbe steht das vernichtende Urteil für einen dann endgültig fest: „Von unserer deutschen Helena kann ich nur noch sagen: unglaublich bl...ond.“93 Eine genau entgegengesetzte, nämlich ausnahmslos positive Bewertung erfährt Eric Bana als Hektor: „Hektor, gespielt von Eric Bana, ist einsame Spitze!“ Eine Reihe von Rezensenten ist sich einig, daß Banas Darstellung des troianischen Thronfolgers „einen Oscar wert“ sei. Selbst ein Kritiker, der an den Schauspielern sonst überhaupt kein gutes Haar läßt, zollt Bana noch relativ viel Respekt: „Die einzigen, die wirklich gut waren, aber gegen eine Übermacht solch mieser Schauspieler auch nichts mehr tun konnten, waren Eric Bana und das Pferd! Pferd for Oscar!!!“94 91 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 16. 5. 04 aus Bayern; vom 9. 7. 04 aus Bad Wörishofen; vom 2. 10. 04 aus „Troya“; vom 27. 5. 04 aus Frankfurt; vom 14. 5. 04 aus Legden; vom 28. 9. 04 aus Cham; vom 18. 10. 04 aus Anklam. 92 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 18. 5. 04 aus Zürich; vom 25. 5. 04 aus Köln; vom 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 20. 5. 04 aus [?]; vom 3. 6. 04 aus Berlin. 93 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 23. 9. 04 aus Deutschland; vom 4. 7. 04 aus [?]; vom 17. 5. 04 aus Nauheim; vom 25. 5. 04 aus Köln; vom 23. 9. 04 aus [?]; vom 8. 10. 04 aus München; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen. 94 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 3. 6. 04 aus Berlin; vom 15. 5. 04 aus Mudersbach; vom 13. 8. 04 aus Landshut. 27 Leicht ambivalent fällt das Urteil über Orlando Bloom in der Rolle des Paris aus. Während die einen finden: „Orlando Bloom macht als Würstchen Paris ebenfalls eine sehr gute Figur“, urteilen die anderen: „Orlando Bloom stellt wieder einmal seine Fähigkeiten als schlechtester Schauspieler der Gegenwart unter Beweis.“ Denn er „schafft es mal wieder, einen ganzen langen Film über mit ein und demselben Gesichtsausdruck auszukommen.“ Daran sieht man, daß dieser Schauspieler „außer nett aussehen nix kann.“95 Als extrem ambivalent erweist sich das Urteil über Brad Pitt als Achill. Dieses Urteil hängt nicht wenig von der Antwort auf die Frage ab, wie „the sexiest man alive“ denn nun im Adamskostüm zu bewerten sei. Ist „Herr Pitt nur mit Minirock bekleidet [...] alleine schon 5 Sterne wert“? „Muß man [den Film] gesehen haben – [denn] ein halbnackter Brad ist das allemal wert“? Oder verliert „der nackte Brad Pitt (jedenfalls die Rückenansicht) [!] dann auch schnell seinen Reiz“? 96 Wir wollen das hier nicht entscheiden und die entsprechende Debatte nicht weiter dokumentieren. De gustibus, sagt der Lateiner, non est disputandum. Allerdings erscheint es uns sinnvoll, zum Vergleich einige Anmerkungen über das Äußere des homerischen Achill zu machen. Ein Zuschauer versucht nämlich, Homer gegen Petersen auszuspielen, indem er behauptet, Brad Pitt passe „auch schon allein vom Aussehen her gar nicht zu Achilles, mit diesen langen blonden Haaren, als ob ein Krieger wie Achilles so ein Schönling wäre.“97 Damit erliegt er jedoch einem Irrtum. Denn Homer beschreibt Achill als wahren Inbegriff kraftvoller Schönheit: Zum Zeitpunkt der Ilias-Handlung ist er kaum älter als fünfundzwanzig.98 Sein Gesicht ist derart anziehend, daß selbst Priamos, dessen Urteil ja ganz sicher nicht durch Sympathie verfälscht ist, ihn voll Staunen mit einem Gott vergleicht.99 Das Haupthaar trägt er lang und offenbar gut frisiert100 – es ist auf alle Fälle blond, was bei den Griechen nur selten vorkommt und deshalb als Schönheitsmerkmal [!] gilt.101 Die dichte Brustbehaarung kann man dagegen als Ausweis mannhafter Stärke verstehen.102 Als starker Kämpfer ist Achill von statt95 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 9. 7. 04 aus Bad Wörishofen; vom 26. 5. 04 aus Bochum; vom 23. 9. 04 aus Deutschland; vom 24. 5. 04 aus Deutschland. 96 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 14. 5. 04 aus Bielefeld; vom 17. 6. 04 aus [?]; vom 24. 5. 04 aus Deutschland; vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen. 97 Rezension vom 30. 5. 04 aus Flensburg. 98 1. Er war am Anfang des Troianischen Kriegs noch so jung, daß Peleus ihm Phoinix zum Schutz an die Seite stellte (Hom. Il. 9, 438 – 442). – 2. Er ist der Jüngere im Verhältnis zu seinem Erzieher Phoinix und seinem Freund Patroklos (Hom. Il. 11, 786). – 3. Er hat sich entschieden, lieber jung und ruhmreich als alt und ruhmlos zu sterben. Daher ist er auch zum Zeitpunkt der Handlung noch jung (Hom. Il. 1, 352. 505; 9, 410 – 416). – 4. Er ist „der junge Sohn der Thetis“ (Hom. Il. 4, 512; 16, 860). 99 Hom. Il. 18, 24; 24, 629 f. 100 Auch die archaischen Bildhauer stellen kraftvolle junge Männer stets mit langen und überaus kunstvoll geordneten Haaren dar; vgl. oben Anm. 63. 101 Hom. Il. 1, 197; 23, 46. 140 – 152; Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, 197 n. 102 Hom. Il. 1, 188 f.; Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, 189 n. 28 licher Körpergröße und athletischem Körperbau, muskulös wohl vor allem an Armen und Beinen, Händen und Füßen.103 Insgesamt ist er somit der Schönste und Stärkste: der „Beste aller Achaier.“104 Wer Herrn Pitt also schön findet, darf ihn durchaus als Achill akzeptieren. Nun möchten ihm freilich viele seiner Verehrer nicht nur körperliche, sondern auch darstellerische Qualitäten zuerkennen: „Die Rolle des Achilles spielt Pitt mit seinem perfekt ausdefinierten Körper exzellent. Eine Mischung aus Arroganz und Gelassenheit sowie Rachsucht und Haß bringt er mit seinem mitreißenden Mienenspiel perfekt rüber.“ „Getragen wird der Film von einem grandiosen Brad Pitt, den man wohl selten schöner und ausdrucksstärker gesehen hat. Er ist brillant in seiner Rolle als zweifelnder Kämpfer, seine Mimik und Körpersprache sind einzigartig, von seinem Sexappeal ganz zu schweigen.“ „Ich habe Brad Pitt noch nie besser schauspielern gesehen als in diesem Film“ – er „schafft [es], seiner Rolle [...] eine unglaubliche Tiefe zu verleihen.“105 Dem hält einer seiner Verächter entgegen: In Troia „sieht man [...] ständig einen halbnackten Schönling [...], der den wohl flachsten Charakter der Filmgeschichte spielt.“106 Damit stehen wir jedoch vor der Frage, wie komplex die Charaktere in Troia – und verglichen damit: in der Ilias – prinzipiell gestaltet sind. 2.6. 2.6.1. Die Charakterzeichnung Typen oder Individuen bei Petersen? Auch zu dieser Frage nehmen die Zuschauer dezidiert Stellung. Dabei können sich nur die wenigsten zu dem Lob verstehen, daß es in Troia „kaum reine Schwarz-Weiß-Charaktere“ gebe. Die meisten stimmen stattdessen der Kritik zu: „Klarer in die Minus-Ecke müssen sich [...] die Charaktere stellen.“ „Denn die Personen sind in dem Film keine Charaktere, sondern flache Typen.“ „[Sie sind] schablonenhaft skizziert und werden [...] sehr klischeehaft dargestellt.“ „Schade, daß der Regisseur [...] keine Möglichkeit fand, die Charaktere ein bißchen detaillierter einzufangen!“ Diese Kritik kulminiert in dem Urteil: „Die Charaktere des Films sind mit das Schlimmste seit John Travolta in Battlefield Earth!“107 103 Hom. Il. 18, 26; 24, 629 f. (Größe des Körpers); Hom. Il. 16, 140 – 144; 21, 169 – 204, bes. 169 – 179. 200 (Stärke der Arme und Hände); Hom. Il. 13, 321 – 325; 22, 21 – 24. 138 – 143 (Stärke der Beine und Füße). 104 Hom. Il. 17, 279 f.; 2, 673 f. (674 wird allerdings von West als interpoliert angesehen). 105 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 27. 5. 04 aus Frankfurt; vom 17. 5. 04 aus Gifhorn; vom 8. 7. 04 aus Meiningen. 106 Rezension vom 4. 8. 04 aus Deutschland. 107 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 14. 5. 04 aus Neusorg; vom 13. 6. 04 aus Berlin; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 21. 5. 04 aus der Schweiz; vom 26. 5. 04 aus Bochum. 29 Kritisiert wird der Film aber nicht nur, weil er die Hauptfiguren Agamemnon, Menelaos und Achill, Priamos, Hektor und Paris von vielschichtigen Individuen auf eindimensionale Typen reduziere. Kritisiert wird er auch, weil er die so gewonnenen Typen in einem weiteren Akt der Vereinfachung, und zwar diesmal der radikalen moralischen Vereinfachung, in ein quasi-manichäisches Weltbild einordne: „Die Griechen werden als böse und hinterlistig dargestellt, die Troianer als gut und ehrlich. Das ist zu einfach!“108 Beginnen wir mit der Prüfung dieser zweiten Kritik: 2.6.2. Troianer und Griechen Die These, daß der Film die Troianer als Gestalten des Lichts gegen die Griechen als Gestalten der Finsternis ausspiele, muß man dann nicht für abwegig halten, wenn man in Rechnung stellt, daß das Drehbuch zum Film nicht von Petersen stammt, sondern von David Benioff, einem gebürtigen Amerikaner. Dann nämlich kann man sich folgendes klarmachen: • • • Amerika sieht sich bis heute in der Nachfolge Roms.109 Rom aber sah sich seit jeher in der Nachfolge Troias. Damit verband es ein positives Bild der troianischen und ein negatives Bild der griechischen Teilnehmer am Troianischen Krieg. Zu durchschlagender Wirkung verhalf dieser Wertung der römische Dichterfürst Vergil. Denn, so schreibt Joachim Latacz: „In seinem Hohelied auf Rom, das – als Aeneis – den Troianerfürsten Aineias zum Titelhelden und Reichsgründer machte, erschienen die Troianer [...] durchweg als bedauernswerte Opfer und die Griechen als grausame Aggressoren [...]. Das war die Rache des kulturell besiegten Rom am kulturellen Sieger.“110 Kombiniert man nun beide Ideen, dann erhält man das Konzept, daß die Herrschaft von Troia auf Rom und von dort auf Amerika übergegangen sei (als Symbol für diese translatio imperii erscheint im Film das ‚Schwert Troias‘, welches Paris an Aineias übergibt). Die Troianer aber macht man dadurch letzten Endes zu Proto-Amerikanern. Mit der Idealisierung der Troianer durch einen amerikanischen Drehbuchautor kann man also grundsätzlich rechnen. Läßt sie sich aber in Troia auch wirklich belegen? Erste Hinweise finden sich in Einzelszenen wie der, in der Paris und Hektor Menelaos und Agamemnon zum Kampf entgegentreten: hier zwei gutaussehende, sympathische junge Männer, dort zwei häßliche, odiöse alte Böcke – für wen das Herz der Zuschauer(innen) in diesem Moment schlägt, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden! 108 109 110 Rezension vom 24. 5. 04 aus Calden. Belege bei Reis (2004) S. 4. Latacz (1997) S. 25. 30 Diese Hinweise verdichten sich, wenn man den Film umfassend analysiert, zu dem Nachweis, daß der Gegensatz von sympathischen Troianern und unsympathischen Griechen keine situationsbedingte Ausnahme, sondern eins der wichtigsten Strukturprinzipien ist. Sämtliche großen Heerführer der Troianer und der Griechen sind im Sinne von Modell und Gegenmodell aufeinander bezogen, wobei die ersteren den letzteren zwar leider nicht an Stärke, aber doch an Edelmut überlegen sind. Insbesondere sind als Antipoden angelegt: • • • Hektor und Achill – der schlackenlose und der gebrochene Held Priamos und Agamemnon – der gewissenhafte und der skrupellose Herrscher Paris und Menelaos – der hingebungsvolle und der selbstsüchtige (Ehe-)Mann. Wichtig ist dieses Strukturprinzip, weil es Benioffs Antwort auf die Kriegsschuldfrage glaubhaft macht – weil es, mit anderen Worten, als ein Mittel dient, die Hauptschuld am Troianischen Krieg den Griechen anzulasten. Weitere Mittel lassen sich unschwer entdecken: Zum einen wird das Unrecht, das Paris dem Menelaos durch die Entführung der Helena angetan hat, nur sehr halbherzig auch als solches qualifiziert. Denn dadurch, daß Menelaos den cholerischen Wüstling gibt, der an Helena mehr als Lustobjekt und Besitzstück denn als Mensch interessiert ist, erscheint der aufrichtig liebende Paris als rettender Ritter, der die bedauernswerte Helena von ihrem schrecklichen Ehejoch nicht nur befreien darf, sondern im Sinne einer höheren Moral sogar muß. Zum anderen wird wiederholt betont, daß im Unrecht des Paris nur der äußere Anlaß und nicht etwa auch der innere Grund für den Zug Agamemnons nach Troia zu sehen sei. Denn im Grunde gehe es dem Führer der Griechen um den schon lange geplanten Griff nach der Weltmacht. Schon seit Jahren habe er seine Interessensphäre in der Ägäis mit kriegerischen Mitteln ausgedehnt – z.B. durch den Krieg mit Thessalien –, während Priamos – z.B. durch den Frieden mit Sparta – einen friedlichen Interessenausgleich gesucht habe. So falle nun auch in diesem Krieg den Troianern die Rolle der legitimen, patriotischen Verteidiger, den Griechen hingegen die der illegitimen, imperialistischen Angreifer zu. Dazu paßt es, wenn so getan wird, als ob Agamemnon, Menelaos und Achill allein aus egoistischer Gier nach Macht, Rache und Ruhm, Priamos, Hektor und Paris aber aus reiner und selbstloser Liebe zu ihren Frauen bzw. ihrer Familie, ihrem Vaterland und ihrer Freiheit am Kampfgeschehen teilnähmen. Durch all diese Mittel gelingt es dem Film, die Griechen gegenüber den Troianern nicht nur politisch, sondern auch moralisch zu diskreditieren. Die zweite Kritik an ihm ist also berechtigt. 31 Wie aber steht es mit der ersten? Macht der Film aus Individuen flache Typen? Auch diese Annahme liegt nahe, da schon die Einteilung in böse Griechen und gute Troianer eine genauere Differenzierung der Charaktere auszuschließen scheint. Sehen wir uns die Filmfiguren aber im einzelnen an.111 2.6.3. Paris, Hektor, Priamos Wenn Paris, Hektor und Priamos sich, wie soeben erwähnt, für ihre Frauen bzw. ihre Familie, ihr Vaterland und ihre Freiheit einsetzen, so partizipieren sie damit an einem allen gemeinsamen ‚Nationalcharakter‘ der Troianer. Zusätzlich hat aber jeder der drei auch noch ein besonderes Merkmal, das ihm wenn nicht ausschließlich, so doch jedenfalls mehr als den anderen beiden zukommt: Paris, der junge Mann, handelt gemäß der Liebe, Hektor, der reife Mann, gemäß der Vernunft und Priamos, der alte Mann, gemäß dem Glauben. Die einzige Person, die dabei eine gewisse Entwicklung durchmacht, ist Paris. In ihm muß der troianische Nationalcharakter gleichsam erst zu sich selber kommen, ein Reifungsprozeß, der sich folgendermaßen vollzieht: Daß Paris zunächst nur die Liebe als Handlungsnorm anerkennt, zeigt allein schon die Tatsache, daß er mit Helena die Königin von Sparta entführt, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Folgen für Troia zu werfen. Hektor nimmt diese Folgen dagegen sofort ins Visier: Als er bemerkt, was Paris getan hat, wirft er ihm in heller Empörung vor, die jahrelangen Bemühungen des Priamos um einen Frieden mit Sparta schlagartig zunichte gemacht zu haben. Paris läßt sich auf diese politische Argumentationsebene aber gar nicht ein und verteidigt sich auf der Gefühlsebene mit dem einfachen Satz: „Ich liebe sie.“ Daraufhin begibt sich auch Hektor auf die Gefühlsebene und wirft seinem Bruder vor, er wisse doch überhaupt nicht, was Liebe sei: „Was ist mit der Liebe zu deinem Vater? Als du sie [sc. Helena] auf dieses Schiff brachtest, hast du darauf gespuckt! Was ist mit der Liebe zu deinem Land? Soll Troia verbrennen für diese Frau?!“ Paris schweigt nun zwar betreten, hält aber trotzdem unbeirrt an seiner Liebe zu Helena fest.112 111 Im folgenden werden nur die bereits erwähnten männlichen Hauptfiguren analysiert. Zu den weiblichen Hauptfiguren vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.). 112 Bei Homer herrscht Hektor Paris nicht auf der Heimfahrt von Sparta, sondern in einer Schlacht des zehnten Kriegsjahres an: „Unglücks-Paris! an Aussehen Bester! du weibertoller Verführer! Wärst du doch nie geboren oder unvermählt zugrunde gegangen! Das wollte ich wohl, und es wäre viel besser gewesen, als eine solche Schande zu sein und verachtet von anderen. Ja, da lachen wohl laut die am Haupte langgehaarten Achaier, die meinten, daß du der beste Vorkämpfer seist, weil du ein schönes Aussehen hast! Doch nicht ist Kraft im Innern und nichts von Stärke! Bist du wirklich, ein solcher Mann, auf meerdurchfahrenden Schiffen über das Meer gefahren, nachdem du geschätzte Gefährten gesammelt, und bist zu fremden Völkern gegangen und hast ein schönes Weib entführt aus einem fernen Land, die Schwagersfrau von Männern, Lanzenkämpfern? Deinem Vater zu großem Leid wie auch der Stadt und dem ganzen Volk, den Feinden aber zur Freude 32 Im weiteren Verlauf des Films erweist er sich allerdings als zunehmend bereit und fähig, auch die von Hektor geforderte Verantwortung für sein Land zu übernehmen. Als er sieht, daß die Troianer tatsächlich für seine Liebe zu Helena bluten, sinnt er auf Abhilfe. Zuerst macht er Helena den noch eher romantischen Vorschlag, mit ihm aus der Stadt in die Berge zu fliehen und dort ein einfaches Hirtenleben zu führen. Als Helena mit der Begründung ablehnt, daß Menelaos sie auch dort finden werde, verkündet er im Thronrat den Entschluß, allein gegen Menelaos um Helena kämpfen zu wollen, um einen weiteren Aderlaß der Troianer zu verhindern.113 So zeigt er nicht nur Gemeinsinn, sondern auch Mut, da jeder weiß, daß er als ehrlicher und unerfahrener Jüngling dem hinterlistigen Haudegen Menelaos im Schwertkampf hoffnungslos unterlegen ist.114 Erwartungsgemäß wird er denn auch schwer verletzt und kann nur durch Hektor, zu dessen Knien er sich flüchtet, vor einer regelrechten Exekution durch Menelaos bewahrt werden.115 Diese peinliche Niederlage, für die er sich auch vor Helena schämt, löst nun den sicher folgenschwersten Wandel in ihm aus: Er wählt statt des groben Schwertes eine feinere, ihm gemäßere Waffe, nämlich Pfeil und Bogen, und übt deren Gebrauch so lange, bis er sogar Achill genau in die Ferse treffen kann. Paris wächst also immer mehr in die Rolle des troianischen Prinzen hinein, und zuletzt scheint es beinahe schon möglich, daß Hektor in ihm einen würdigen Nachfolger findet. Bei Hektor ist eine vergleichbare Entwicklung nicht zu erkennen; er verkörpert von Anfang an den idealen Troianer. Ein Schlüssel zu seiner Persönlichkeit liegt in der Feldherrenrede, die er kurz vor dem Angriff der Griechen an seine Soldaten hält. Sie lautet: „Troianer! Mein ganzes Leben lebte ich nach einem Gesetz [...]: Ehre die Götter,116 liebe deine Frau,117 und verteidige dein Land!118 Troia ist unser aller Mutter. Kämpft für sie!“ und zur Beschämung für dich selber! Willst du jetzt nicht standhalten dem aresgeliebten Menelaos? Erkennen würdest du, was für eines Mannes blühende Gattin du hast! Nicht würde dir helfen die Leier und die Gaben der Aphrodite: die Mähne und das Aussehen, wenn du mit Staub vermengt bist! Aber sehr furchtsam sind die Troer! sonst bekleidete dich schon ein steinerner Rock für all das Schlimme, das du getan hast!“ (Hom. Il. 3, 39 – 57; vgl. 13, 769.) 113 Bei Homer reagiert Paris mit diesem Entschluß auf die in Anm. 116 zitierten Vorwürfe Hektors (Hom. Il. 3, 58 – 75). 114 Bei Homer hat Hektor die in Anm. 116 zitierten Vorwürfe gerade darum erhoben, weil Paris kreidebleich vor Menelaos davongelaufen ist (Hom. Il. 3, 15 – 37; vgl. 13, 776). 115 Bei Homer wird Paris durch Aphrodite entrückt, und Menelaos bleibt am Leben (vgl. oben S. 6 s.v. Menelaos; S. 7 s.v. Paris). 116 Auch in der Ilias ehrt Hektor Zeus; vgl. Hom. Il. 24, 66 – 70. 117 Auch in der Ilias liebt Hektor Andromache; vgl. Hom. Il. 6, 369 – 503, bes. 450 – 465. 118 Auch in der Ilias verteidigt Hektor Troia, aber ohne ein spezifisch patriotisches Pathos. 33 Hier beschreibt sich Hektor selbst als einen Menschen, der in seiner Lebenspraxis stets mit sich identisch bleibt, weil er sich nicht nach dem Lustprinzip richtet, das ihn mal dieses, mal jenes Ziel anstreben ließe, sondern dem immer gleichen moralischen Imperativ folgt – weil er, anders gesagt, nicht der Neigung, sondern der Pflicht gehorcht (die Stoiker, Kant und Schiller lassen grüßen!). Diese Pflicht sieht er darin, ungeachtet der Tatsache, daß er das Handeln des Paris mißbilligt, in dem Krieg, den es auslöst, für Frau und Familie, Freiheit und Vaterland einzustehen. Wie wichtig ihm Frau und Familie sind, verraten freilich nicht nur diese Worte, sondern auch die entsprechenden Taten. So zeigt Hektor, als er schon weiß, daß Achill ihn töten wird, seiner Frau noch einen verborgenen Gang, durch den sie sich selbst und Astyanax später retten können soll.119 Für Astyanax sorgt er auch sonst, wo er kann – er schnitzt auf der Heimfahrt von Sparta ein hölzernes Pferdchen für ihn, schaut nachts in die Wiege des Kleinen und sagt zu Andromache: „Du weißt, daß ich nicht kämpfen will, ich will meinen Sohn heranwachsen sehen!“120 Wie viel ihm an der Freiheit liegt,121 zeigt eine fast noch größere Zahl seiner Worte und Taten, bspw. seine Antwort an Agamemnon: „Kein Sohn Troias wird sich jemals einem fremden Herrscher unterwerfen!“ Wie sehr es ihm um das Vaterland zu tun ist,122 beweist nachgerade alles, was er sagt und tut: • • • Als Paris sich mit seiner Liebe zu Helena für deren Entführung entschuldigt, macht er ihm auch die Liebe zu seinem Vaterland zur Pflicht (siehe oben). Wenig später rät er seinem Vater, Helena wieder nach Sparta zurückzuschicken, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Als Motiv für diesen Ratschlag gibt er an: „Das ist mein Land, und das sind meine Landsleute, ich will sie nicht leiden sehen, nur damit mein Bruder seine Beute behalten kann!“ Als der Krieg dann doch ausbricht, weil Priamos meint, sich auf die Seite des Paris stellen zu sollen, hält er die zitierte Feldherrenrede, in der er sich zur Verteidigung seines Landes als persönlicher Handlungsnorm bekennt. Trotz der Liebe zu seinem Vaterland tritt Hektor den Feinden dieses Vaterlands aber sehr menschlich gegenüber. So erteilt er z.B. einem Unterfeldherrn nach einer gewonnenen Schlacht den Auftrag: „Unsere Männer sollen sich der Gefallenen annehmen!“ Zugleich erlaubt er, daß auch die Griechen ihre Toten bergen. Mit leiser Kritik erwidert der Unterfeldherr: „Würden sie das Gleiche für uns tun?“ Sicher nicht, ergänzt sich der 119 Im traditionellen Mythos gibt es für Hektors Familie dagegen kein Happy-End; vgl. oben S. 7 s.v. Hektor, Andromache, Astyanax. 120 Zum Thema Pazifismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.). 121 Zum Thema Liberalismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.). 122 Zum Thema Patriotismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.). 34 Zuschauer, weil die Film-Griechen ja, wie er weiß, grundsätzlich Böses im Schilde führen. Hektor vergilt dieses Böse aber trotzdem mit Gutem. Er ist fast schon ein richtiger Christ! Angesichts des Gesagten nimmt es jedenfalls nicht wunder, daß er permanent in Superlativen gelobt wird – Achill sagt zu Priamos: „Dein Sohn war der beste, gegen den ich je kämpfte“; Priamos sagt zu Hektor: „Kein Vater hatte je einen besseren Sohn“; und Paris sagt zu Hektor: „Es gibt keinen besseren Menschen als dich.“ Man fragt sich, wie lange es noch dauern kann, bis Hektor zur Ehre der Altäre erhoben wird. Auch Priamos hat, wie Hektor, viel Familiensinn. Oft steht er, umgeben von seinen Schwiegertöchtern, seiner Nichte und seinem Enkel, auf der Plattform seines Palastes, um dem Kampf zuzusehen, wobei seine ängstlichste Sorge seinen Söhnen gilt. Als Achill zu seinem Entsetzen Hektor abgeschlachtet hat, wagt er sich aus Vaterliebe sogar ins Lager der Griechen, um den Leichnam des Gefallenen auszulösen.123 Außerdem denkt er, wie Hektor, patriotisch. Nicht zu Unrecht sagt Paris einmal zu ihm: „Du bist ein großer König, weil du dein Land so sehr liebst.“ Wie dieses Land zu verteidigen sei, ist zwischen dem König und dem Thronfolger allerdings umstritten, weil das Prinzip der Vernunft, das Hektor verkörpert, mit dem Prinzip des Glaubens, für das Priamos steht, nicht selten in Konflikt gerät. Dazu einige Beispiele: • • • • 123 In dem bereits erwähnten Gespräch über die Frage, was mit Helena geschehen solle, äußert Hektor: „Vater, ich weiß, das ist das letzte, das wir brauchen.“ Priamos aber beruhigt ihn: „Es ist der Wille der Götter – alles liegt in ihren Händen.“ Etwas später folgert Hektor aus der Annahme, daß Menelaos Agamemnon aktivieren und ganz Griechenland gegen Troia führen werde: „Vater, diesen Krieg können wir nicht gewinnen!“ Priamos aber beruhigt ihn: „Apollon wacht über uns.“ Darauf fragt Hektor sarkastisch: „Und wie viele Bataillone befehligt unser Sonnengott?“ Priamos aber weist ihn zurecht: „Spotte nicht über die Götter!“ Als der Priester den Umstand, daß zwei Bauern einen Adler mit einer Schlange in den Krallen gesehen hätten, als ein günstiges Omen Apolls, des trojanischen Schutzgottes, interpretiert, entgegnet Hektor: „Vogelschau! Wollen wir wirklich unsere Strategie dem Flug der Vögel überlassen?“ Priamos aber weist ihn zurecht: „Hektor, zeige Respekt! Der Hohepriester ist ein Diener der Götter!“ Darauf antwortet Hektor: „Und ich bin ein Diener Troias!“ Priamos aber folgt dennoch dem Priester. Bei einer weiteren Zusammenkunft warnt Hektor davor, die Griechen zu unterschätzen: Man müsse damit rechnen, daß sie, wenn die MyrAngelehnt an Hom. Il. 24. 35 • midonen ihren ‚Streik‘ beendet hätten, nicht mehr so leicht zu besiegen sein würden. Priamos aber folgt dennoch dem Priester, der versichert, daß Apoll die Entweihung seines Tempels durch die Griechen nicht ungerächt lassen werde. Als stattdessen dann Hektor getötet und Troia zerstört worden ist, fügt Priamos sich in sein Schicksal mit den Worten: „Was geschehen ist, kann ich nicht ändern, es ist der Wille der Götter.“ Während Hektor also den Mut hat, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant), und in diesem Sinn auch seinen Vater und dessen Beraterstab aufklären will, verharrt Priamos in ängstlicher Abhängigkeit von dem Priester, der die Sphären des Religiösen und des Politisch-Militärischen, die Hektor endlich trennen möchte, permanent verquickt, indem er auf Fragen der Kriegsführung Antworten des Glaubens formuliert. Hätte Priamos nicht auf den Priester, sondern auf Hektor gehört, hätte Troia – den Eindruck gewinnt man – vielleicht noch gerettet werden können.124 In der Ilias würde ein Priamos, der derart folgenschwere Irrtümer beginge, vermutlich als ein Kindskopf bezeichnet, der nicht voraus- und zurückblicken könne.125 In Troia fällt hingegen nicht der Schatten eines Makels auf den König, da er ja immer nur Gutes gewollt habe. Ungeachtet seiner verhängnisvollen Fehler wird der Troianer durchgehend als edler Mensch charakterisiert – ganz im Gegensatz zu dem Griechen Agamemnon. 2.6.4. Agamemnon, Menelaos, Achill Agamemnon ist das Urbild eines megalomanen Tyrannen. Wie oben schon angedeutet, nimmt er den offiziellen Grund für den Troianischen Krieg, Menelaos’ Anspruch auf Helena, nur zum willkommenen Vorwand für eine Aktion, die in Wirklichkeit seinen Machtinteressen dient. Hektor bringt eben dieses zum Ausdruck, wenn er Helena tröstet: „Denkst du, Agamemnon ist hier, um seines Bruders Ehe zu retten? Hier geht es 124 Demgegenüber läßt sich in der Ilias gerade Hektor zu dem strategischen Fehler verblenden, der seinen eigenen Tod und damit den Untergang Troias zur Folge hat: Denn eigentlich weiß er zwar, daß er Achill an Kampfkraft unterlegen ist (Hom. Il. 22, 434), und wendet deshalb nun schon seit zehn Jahren erfolgreich die Taktik an, sich vor dem Ansturm Achills mit dem Heer in die Stadt zurückzuziehen. In der jetzigen Situation aber macht er sich dieses Wissen nicht zunutze. Denn jetzt, da Achill nicht mehr mitkämpft, hat er sowohl Patroklos getötet als auch die Griechen vernichtend geschlagen (Hom. Il. 17, 593 – 596). Und jetzt will er, obwohl ihn Pulydamas eindringlich warnt, daß Achill, um für Patroklos Rache zu nehmen, in den Kampf zurückkehren werde, und ihm nachdrücklich rät, wie immer den Schutz der Mauern zu suchen (Hom. Il. 18, 249 – 283), nicht auf den weisen Mann hören, sondern draußen bei den Schiffen kämpfen und Achill sogar zum Zweikampf provozieren (Hom. Il. 18, 284 – 309). Homer beurteilt ihn daher in einem seiner seltenen auktorialen Kommentare als töricht (Hom. Il. 18, 310 – 313). – Zur Interpretation dieser Szene (mit der Homer, wie man sieht, den Zweikampf zwischen Achill und Hektor ganz anders einführt als Benioff) vgl. Schmitt (1990) S. 91 – 99 passim. 125 Anders als z.B. Pulydamas (Hom. Il. 18, 249 f.) oder Odysseus. 36 um Macht, nicht um Liebe!“ Eine sinngleiche Formulierung wählt Agamemnon sogar selbst – als Menelaos wieder einmal wegen Helena jeimelt, zischt er ihn an: „Ich bin nicht wegen deiner hübschen Frau gekommen, ich bin hier wegen Troia!“ Daß ihn der Sieg über Troia letztendlich zur Weltherrschaft führen soll, zeigt die Warnung des thessalischen Königs: „Du kannst nicht die ganze Welt erobern, Agamemnon. Sie ist zu groß, selbst für dich.“126 Das Ziel der Weltherrschaft verfolgt Agamemnon ohne Einschränkung und ohne jeden Skrupel. Dies erkennt man u.a. an seinem Wutschrei: „Ich mache ihre Mauern dem Erdboden gleich, und wenn es mich 50000 Griechen [das ganze Heer also] kostet!“ In der Tat erleidet das Heer denn auch entsetzliche Verluste, weil Agamemnon es zu dicht an die Mauern und damit unmittelbar in den Pfeilregen der Troianer hinein geschickt hat,127 während er selbst, nach seiner Gepflogenheit, hinter den Linien blieb.128 Agamemnon benutzt die Soldaten, wie man heute sagen würde, als Kanonenfutter. Er geht ungerührt über Leichen. Menschenleben sind ihm gleichgültig, sie sind ein Preis, den er ohne mit der Wimper zu zucken zahlt, wenn er dadurch nur Macht gewinnen kann. Er giert jedoch nicht nur nach Macht, sondern auch nach Frauen. Besonders Achills Briseis hat es ihm angetan. „Heute“, so stellt er diesem, sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassend, in Aussicht, „heute abend wird sie mich baden“ (eine Vorstellung, die für einige meiner Schülerinnen fast das Schlimmste am ganzen Film war). Im brennenden Troia will er ihr später sogar Gewalt antun. Während er sie von hinten wie ein Krake umschließt, malt er ihr ihre Zukunft mit den Worten aus: „Du wirst meine Sklavin sein in Mykene, die auf den Knien meine Böden schrubbt, und in der Nacht –.“129 126 Dieses Motiv ist gegenüber der Ilias frei erfunden. Dieses Motiv ist gegenüber der Ilias stark verfremdet; vgl. oben S. 6 s.v. Agamemnon. 128 Hier verarbeitet Benioff Hom. Il. 9, 332, eine Stelle, an der Achill Agamemnon beschuldigt, „hinten bleibend bei den schnellen Schiffen“ die Kohlen stets von anderen aus dem Feuer holen zu lassen, und Hom. Il. 1, 225 – 228, eine Stelle, an der er ihn anfährt: „Weinbeschwerter! Mit den Augen eines Hundes und dem Herzen eines Hirsches! Weder zum Kampf dich zu rüsten zugleich mit dem Volk noch auf eine Lauer zu gehen mit den Besten der Achaier hast du jemals gewagt im Mut: das scheint dir der Tod zu sein!“ An diesen Stellen spricht Achill jedoch im Zorn (vgl. Hom. Il. 1, 224), und an anderen Stellen erscheint Agamemnon durchaus als tapferer Kämpfer; vgl. Hom. Il. 11, 14 – 180, bes. 91 f.: „Und Agamemnon sprang als erster hinein und faßte einen Mann.“ 129 Den Anlaß dafür, Agamemnon als lüstern darzustellen, hat Benioff vermutlich in Hom. Il. 1, 29 – 31 und Hom. Il. 1, 109 – 117 gefunden. Dabei hat er aber weder den Wortlaut noch den Kontext dieser Passagen genau beachtet: Beide Passagen beziehen sich nicht auf Briseis, sondern auf Chryseis. Mit der Ankündigung, diese mit nach Argos zu nehmen, wo sie „am Webstuhl einhergehend und mein Lager teilend“ Sklavendienste für ihn verrichten solle, beschreibt Agamemnon nicht mehr und nicht weniger als die seinerzeit übliche (aus heutiger Sicht allerdings inakzeptable) Praxis im Umgang mit weiblichen Kriegsgefangenen, und er tut dies, um dem Priester Chryses, der seine Tochter freikaufen will, zu versichern, daß er sein Besitzrecht an dem Mädchen bis in deren hohes Alter nicht aufgebe werde. Mit dem Hinweis, daß er Chryseis sogar seiner Frau Klytaimnestra vorziehe, da sie nicht geringer sei als diese, „nicht an Gestalt noch Wuchs, an Verstand oder 127 37 In diesem Punkt besteht offenbar eine Familienähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bruder. Denn auch Menelaos ist einerseits ein schmieriger Lustmolch. Mit der ehelichen Treue, die er von Helena fordert, nimmt er selbst es keineswegs genau. Dies zeigt sich besonders darin, daß er während der Orgie, die er für Hektor und Paris veranstaltet, fremde Frauen anfaßt, nachdem sich seine eigene in ihr Obergemach begeben hat (was zwar bei antiken Symposien genau so der Brauch war, auf heutige Kinobesucher aber doch widerlich wirken dürfte). Und er ist andererseits ein polternder Choleriker. Dies wird u.a. deutlich, als er entdeckt, daß Helena ihn verlassen hat: Wütend bedroht er mit dem Messer eine ahnungslose und völlig eingeschüchterte Sklavin, ihm Auskunft über den Verbleib seiner Frau zu geben („Wo ist sie? Ich schwör’ bei dem Vater aller Götter, ich schneid’ dir die Gedärme ’raus, wenn du’s mir nicht sagst!“). Die Sklavin wird nur dadurch in letzter Minute gerettet, daß ein ebenfalls angstschlotternder Fischer erscheint, der berichtet, Helena auf dem Schiff des Paris gesehen zu haben. Von nun an konzentriert der gehörnte Menelaos seine Wut ganz auf Paris. Ihn verfolgt er mit hemmungsloser Rachsucht so lange, bis er ihn im entscheidenden Zweikampf kampfunfähig geschlagen hat. Jetzt glaubt er seinen Rachedurst endlich stillen zu können. Höhnisch fragt er den wehrlosen Gegner: „Siehst du die Krähen? Sie haben noch nie Prinz gekostet!“ Wie Menelaos und Agamemnon fast nur zwei Eigenschaften haben, nämlich Geilheit und Rachgier bzw. Geilheit und Machtgier, so hat Achill fast nur einen Charakterzug: Ruhmgier. Daß Achill auf seinen Ehrgeiz reduziert wird, fällt nicht wenigen Zuschauern negativ auf. Achill, so schreibt einer von ihnen, ist „einfach nur ein super Rowdy [...], seine einzige Motivation unsterblicher Ruhm, und den Autoren fällt nichts anderes ein, als ihn tausendmal ‚Ich zieh nur für Ruhm in den Krieg‘ sagen zu lassen – auf diese Weise erspart man sich eine nähere Charakterisierung des Helden.“ Einem zweiten erscheint Achill als „selbstverliebte und arrogante männliche Diva, die um jeden Preis in die Geschichte eingehen will. Aus diesem Grund zieht er ein ums andere Mal für den verhaßten Agamemnon in den Krieg, da er sich durch dessen historische Taten den Weg in die Geschichtsbücher ebnen will.“ Und ein dritter ergänzt: „Arrogant und menschenverachtend versucht [Achill] im Kampf seinem Namen zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Erst am Ende begreift er, irgend an Werken“, will er dagegen den Griechen verdeutlichen, wie schwer ihm der dann auch von ihnen verlangte Verzicht auf Chryseis falle, um diesen als umso großherziger und staatsmännischer erscheinen zu lassen. In beiden Argumentationen spielt die sexuelle Begierde Agamemnons eine weitaus geringere Rolle als sein Geltungsdrang. Auch Briseis, die er, um sich für den Verzicht auf Chryseis schadlos zu halten, dem Achill wegnimmt, interessiert ihn viel weniger als Sexualobjekt denn als Ehrengeschenk, wie sich daran zeigt, daß er sie später unangetastet zurückgibt (Hom. Il. 9, 128 – 134; 19, 261 – 263). 38 was er dafür aufgegeben hat.“130 Auch hier wird die Ruhmsucht Achills als absolut maßlos eingeschätzt. Dafür, daß sie im Film auch wirklich kein Maß kennt, könnte man zahlreiche Beispiele nennen. Um nur das schon erwähnte zu erläutern: Tatsächlich will Achill alles andere lieber, als unter der Ägide Agamemnons, den er nicht leiden kann, gegen Troia zu kämpfen, das ihm nichts angetan hat.131 Doch Odysseus verspricht ihm: „Weder wird dieser Krieg je in Vergessenheit geraten noch die Helden, die in ihm kämpften.“ Und Thetis stellt ihn vor die Alternative: Entweder er bleibe in Larissa, um als glücklicher Ehemann und Familienvater alt, aber ruhmlos zu sterben, oder er ziehe nach Troia, um dort jung, aber ruhmreich zu fallen und zum Gegenstand eines unsterblichen Mythos zu werden.132 Auf dem nächsten Bild sieht man Achill in der Anfahrt auf Troia. Er hat sich also ganz offenbar für den Ruhm entschieden. Kurz vor Troia hält er denn auch eine Feldherrenrede, der genau wie der entsprechenden Rede Hektors für das Verständnis seines Charakters Schlüsselbedeutung zukommt: „Myrmidonen! [...] Könnt ihr euch vorstellen, was dort wartet? Die Unsterblichkeit! Holt sie euch!“ Das Ziel, seinen Namen unsterblich zu machen, ist bei Achill allen andern Zielen übergeordnet. Nur wenn er dadurch diesem Hauptziel näher kommt, unterstützt er die Interessen einer fremden Instanz. Das gilt nicht nur für Agamemnon, sondern auch und vor allem für Griechenland. Deshalb würde Agamemnon ihn auf seinem panhellenischen Feldzug am liebsten auch gar nicht mitnehmen. Er selbst habe Griechenland erstmals geeint, Achill dagegen gehöre in die Ära vor dieser nationalen Einigung: „Achilles ist die Vergangenheit – ein Mann, der für keine Flagge kämpft, ein Mann, der keinem Land zugetan ist.“ Als jemand, dem patriotische Motive völlig fremd seien, stelle er das Gegenbild von Hektor dar: „Hektor kämpft für sein Land, Achilles kämpft nur für sich!“ Als es später zum offenen Konflikt zwischen Achill und Agamemnon kommt und Achill sich aus dem Kampf zurückzieht, muß er sich auch von Patroklos den Vorwurf gefallen lassen: 130 In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 24. 5. 04 aus Wien; vom 9. 7. 04 aus Bad Wörishofen; vom 23. 6. 04 aus Berlin. 131 Damit bezieht sich Benioff auf die Rede Achills an Agamemnon in Hom. Il. 1, 149 – 171, bes. 152 – 157: „Kam ich doch nicht der Troer wegen hierher, der Lanzenstreiter, um mit ihnen zu kämpfen, denn sie haben mir nichts angetan. Nicht haben sie jemals meine Rinder hinweggetrieben oder Pferde, noch haben sie je in Phthia, der starkscholligen, männernährenden, die Frucht verwüstet, da doch sehr viel dazwischen liegt: schattige Berge und das Meer, das brausende [...].“ Doch auch diese Quelle deutet Benioff um: Denn bei Homer steht Achill vor dem Höhepunkt eines Konflikts, der sich daran entzündet hat, daß Agamemnon Achill seines rechtmäßigen Ehrengeschenkes berauben will. In heller Wut beschuldigt Achill Agamemnon der Undankbarkeit – sein unermüdlicher Einsatz für die Gemeinschaft der Griechen, den er aufopferungsvoll erbracht habe, obwohl die Troianer ihm doch gar nichts angetan hätten, werde von Agamemnon nicht gewürdigt. Aus diesem spontanen Affekt, der erst im zehnten Kriegsjahr entsteht und aufgrund seiner konkreten Veranlassung durchaus eine gewisse Berechtigung hat, wird bei Benioff eine feindselige Grundhaltung, die Achill schon vor dem Ausbruch des ganzen Krieges gehabt haben soll. – Diese Umdeutung ergibt sich beinahe zwingend aus der die Streichung der ChryseisEpisode; vgl. dazu unten den Abschnitt „Handlungsführung“ (2.8.). 132 Angelehnt an Hom. Il. 9, 410 – 416. 39 „Du verrätst Griechenland, nur weil du willst, daß Agamemnon verliert!“ Und tatsächlich nimmt Achill keine Rücksicht: nicht auf Könige, nicht auf Länder und noch nicht einmal auf Götter. So läßt er z.B. zu, daß seine Männer die unbewaffneten Priester des Gottes Apollon töten, dessen Standbild er vorher eigenhändig geköpft hat.133 Auch darin ist er der Antipode Hektors, der sich in seiner Feldherrenrede zur Ehrung der Götter bekannt hat. Um berühmt (oder vielmehr: berüchtigt) zu werden, muß Achill vor aller Augen töten, töten, töten. Agamemnon zufolge ist er „ein begnadeter Schlächter.“ Dieses Schicksal soll er sich nun allerdings nicht selbst ausgesucht haben, als ob es ihm nicht von Thetis zur freien Wahl gestellt worden sei. Vielmehr sagt Nestor über ihn: „Dieser Mann wurde geboren, um zu töten.“ Und auch er selbst sieht sich einem schicksalhaften Zwang ausgesetzt. Auf die Frage der Briseis, wieso er sich denn entschieden habe, ein großer Krieger zu werden, antwortet er: „Das war gar keine Entscheidung [!]. Ich wurde geboren und bin der, der ich bin.“ Achill muß also töten, und doch will er im Grunde nicht töten. Beispielsweise weint er über der Leiche Hektors. Und zu Patroklos sagt er: „Nachts sehe ich ihre Gesichter. All die Männer, die ich tötete. Da stehen sie am fernen Ufer des Styx. Sie warten auf mich. Sie sagen: Willkommen, Bruder! Wir Menschen sind elende Kreaturen.“ Deshalb monieren einige Rezensenten, daß der „Charakter des Achilles [...] unglaubwürdig und unschlüssig“ gestaltet sei: „Brad Pitt spielt die Rolle des Achilles zwar mit Bravour, aber irgendwie kriegt er die Kampfesmüdigkeit auf der einen und den unüberwindbaren Drang nach Ruhm und Unsterblichkeit auf der anderen Seite nicht ganz unter einen Hut.“ Er spiele „zwei verschiedene Personen in einer,“ ohne daß der Gegensatz zwischen beiden in irgendeiner Hinsicht aufgelöst werde.134 Den Versuch des Drehbuchautors, Achill mit einem differenzierten Charakter auszustatten, halten diese Rezensenten also offenbar für mißglückt. 2.6.5. Typen statt Individuen bei Petersen Ihrem Urteil wird man sich m.E. wohl anschließen müssen: Man kann Benioff zwar zugute halten, daß er sich überhaupt um Differenzierung bemüht, und zwar außer bei Achill auch bei Paris, den er erst ganz allmählich zum perfekten Troianer heranreifen läßt. Man kann aber nicht auf den Vorwurf verzichten, daß er das rechte Maß dabei verfehlt. Denn im Falle des Paris geht die Differenzierung nicht weit genug, im Falle Achills hingegen gleich so weit, daß über ihr die Einheit der Person in Gefahr gerät. 133 Zum Thema Religionskritik vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.). In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 25. 5. 04 aus München; vom 29. 6. 04 aus Reinheim; vom 4. 8. 04 aus Neustadt-Glewe. 134 40 In allen anderen Fällen fehlt sogar dieses Bemühen; die Differenzierung weicht vollständig der Simplifizierung. Das Urteil eines Zuschauers bringt die Sache auf den Punkt: „[Im Film] werden vielen Schlüsselfiguren archetypische Verhaltensmuster zugeordnet, z.B.: der machthungrige Agamemnon. Zu kritisieren ist nicht, daß er als machthungrig dargestellt wird. Fatal ist, daß er nichts, aber auch gar nichts anderes darstellt.“135 Es werden also statt fein gezeichneter Individuen holzschnittartige Typen auf die Leinwand gebracht, die ein äußerst begrenztes Spektrum von schätzensoder verabscheuenswerten Eigenschaften in der Weise verkörpern, daß das Kino zur moralischen Lehranstalt umfunktioniert wird. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Verfahrens lassen sich mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. In dieser Zeit entwickelten europäische Humanisten unter Berufung auf Horaz und einen durch die Brille des Horaz gelesenen Aristoteles136 eine überaus wirkmächtige Dichtungstheorie, zu deren zentralen Belegen der Rat des Horaz gehört: „Wenn du etwa den hochgestellten Achill neu auf die Bühne bringst, muß er rastlos, jähzornig, unerbittlich, schroff leugnen, daß es Normen für ihn gebe, darf er nichts sich nicht mit Waffengewalt ertrotzen. Medea sei wild und unbändig, tränenreich Ino, treubrüchig Ixion, Io gehetzt, finster Orestes.”137 Auch wenn Horaz hier möglicherweise nur gemeint hatte, daß der Dichter, der einen Mythos dramatisieren wolle, die daraus bekannten Charaktere nicht unbegrenzt ändern, also z.B. die Ino nicht plötzlich als Ausbund an Fröhlichkeit darstellen dürfe, wurde er nun eindeutig im Sinne der Forderung verstanden, homogene Typen zu erschaffen, die als Beispiele für jeweils eine positive oder negative Charaktereigenschaft anziehend oder abschreckend auf die Zuschauer wirken und so den Zweck des Dramas, moralisch zu belehren (prodesse), erfüllen könnten. Daß Benioff diese Forderung, wenn auch unbewußt, erfüllt, dürfte nach dem Gesagten außer Frage stehen. 2.6.6. Individuen statt Typen bei Homer In Frage steht hingegen, ob Homer auf entsprechende Weise verfährt. Liest man nicht immer wieder, Homer entwerfe das Idealbild einer Ver135 136 137 Rezension vom 22. 5. 04 aus Mühlheim. Vgl. dazu bes. Kappl (2001). Horaz, Ars poetica 120 – 124 (ed. Klingner): „[…] honoratum si forte reponis Achillem, inpiger, iracundus, inexorabilis, acer iura neget sibi nata, nihil non adroget armis. sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.“ 41 gangenheit, in der die Welt noch von lauter „göttlichen“, „strahlenden“ Helden bevölkert war?138 Homer präsentiert jedoch niemals schlackenlose Helden, auch wenn er ihren Namen noch so viele positive Epitheta beifügt. Im Gegenteil: Er zeigt in meisterhafter Weise die Gebrochenheit des Menschen. Er führt genial vor Augen, daß selbst Menschen mit hervorragenden Fähigkeiten an bestimmten charakterlichen Schwächen scheitern und sich selbst und ihre Gemeinschaft in großes Unglück stürzen können. Er bietet anders, als man es vielfach liest, gerade keine pauschale Verklärung einer heroischen Vergangenheit, sondern eine differenzierte Studie über die Fehlbarkeit des Menschen anhand von Menschen der Vergangenheit. Auf der anderen Seite setzt Homer aber auch keine Verbrecher in Szene.139 Sein Agamemnon ist ebenso wenig ein Hitler,140 wie sein Hektor ein Heiliger ist.141 Die Handlungsträger der Ilias sind vielmehr, aristotelisch gesprochen, ‚mittlere Charaktere‘, mit denen der Leser sich identifizieren und für die er ‚Furcht und Mitleid‘ empfinden kann.142 Dies betrifft die Troianer und die Griechen, es betrifft Menelaos, Agamemnon und Hektor, vor allem aber betrifft es Achill, an dem ich es beispielhaft darstellen will: 2.7.7. Achill Wenn ein Verteidiger Benioffs schreibt: „Daß man Achilleus [...] nicht als so ein Riesenarschloch hinstellen kann, wie er es in der Sage ist, [...] muß einem doch einleuchten!“143, dann erliegt er einem Fehlurteil. Dieses Fehlurteil bleibt ungeachtet dessen, daß es durch namhafte Autoren literarisch hoffähig gemacht worden ist, ein Fehlurteil. In Homers Ilias ist Achill nämlich nicht, wie in Vergils Aeneis, „ein wilder, saevus, grausamer, immitis, Massenschlächter,“144 und er ist schon gleich gar nicht, wie in Christa Wolfs Kassandra, „Achill das Vieh.“145 Nach der Lektüre von Ilias A habe ich Schülern einmal die Aufgabe gestellt, ein Charakterbild von Achill zu entwerfen. Dabei kamen sie zu dem folgenden Ergebnis: 138 Bezeichnenderweise wird diese These weniger in Untersuchungen zu Homer selbst als zu späteren Dichtern wie den Hellenisten vertreten, die sich durch die Betonung des Unheroischen von ihm emanzipiert haben sollen. 139 Das gilt zumindest für die eigentlichen Handlungsträger – Nebenfiguren wie Thersites und Pandaros wird mancher durchaus als Verbrecher ansehen. 140 Vgl. oben Anm. 126 – 129. 141 Vgl. oben Anm. 124. 142 Vgl. Aristot. Poet. 13, 1452 b 28 – 1453 a 12. 143 Rezension vom 30. 8. 04 aus Köln [sit venia verbo!]. 144 Latacz (1997) S. 25. – In der darauf bezogenen Anm. 63 stellt Latacz die wesentlichen Belege kommentierend zusammen: Verg. Aen. 1, 30; 2, 29; 3, 87; 5, 804 – 810. 145 Wolf (2001) S. 27. 29 u.ö. – Vgl. dazu Latacz (1997) S. 9 mit Anm. 1. 42 Die negative Seite Achills liege darin, daß er „leicht zu deprimieren“ und „schnell beleidigt (zickig)“ sei. Man erlebe ihn als „cholerisch“, „jähzornig“ und „rachsüchtig“, dazu im Verfolg seiner Rache als „starrsinnig“, „stur“ und „skrupellos“. Doch könne man ihn auch neutraler als „gefühlsgeleitet“ und „impulsiv“ bezeichnen. Auch daß er „auf seine Ehre bedacht“ sei, müsse man nicht von vornherein als Fehler bewerten. Positiv sei in jedem Fall zu beurteilen, daß er nicht einfach nur grundlos zürne, sondern auf die Zumutungen Agamemnons „begründet aggressiv“ reagiere. Durch seinen Widerstand gegen den Oberbefehlshaber erweise er sich außerdem als „selbstbewußt“ und „mutig“, ja sogar „heldenhaft“. Im Blick auf die anderen Griechen handle er „verantwortungsbewußt“, „aufopferungsvoll“ und „hilfsbereit“, er verhalte sich „aktiv loyal zu seinen Freunden“ und sei daher „ein wahrer Freund“. Da er überdies auch noch „die Götter verehre“, empfinde man ihn in vieler Hinsicht als „vorbildlich“. Zu Recht arbeiteten die Schüler mit diesen Begriffen heraus, daß der Homerische Achill alles andere als ein „Vieh“ ohne menschliche Züge ist. Er neigt zwar durchaus zum Jähzorn – eine Tendenz, die er selbst genau kennt146 und angesichts ihrer Folgen als verhängnisvoll einschätzt.147 Selbst dieser zweifellos furchtbare Jähzorn hat jedoch positive Aspekte: Denn erstens wird Achill durch ihn nicht vollkommen blind. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Wut über Agamemnon bleibt er vielmehr für eine gewisse Art von Vernunft, die ihm rät, den Beleidiger nicht zu erschlagen, offen148 und kann zwischen schuldig und unschuldig unterscheiden – so läßt er seinen Groll auf Agamemnon nicht auch an dessen Abgesandten aus, sondern empfängt sowohl die Herolde, die ihm Briseis entführen, als auch die Gefährten, die ihn zum Wiedereintritt in den Kampf bewegen sollen, mit ungespielter Höflichkeit und Freundlichkeit.149 Und zweitens läßt gerade seine Neigung zum Zorn auf ein überaus starkes Rechtsempfinden schließen. Man gerät nämlich, wie Aristoteles in seiner berühmten Definition des Zorns betont, dann und nur dann in Rage, wenn man meint, es sei einem selbst oder etwas zu einem selbst Gehörigem von seiten jemandes, dem dies nicht zustehe, eine Geringschätzung, also ein Unrecht, widerfahren.150 Und Achill hält es ganz explizit für ein schreiendes Unrecht, daß Agamemnon seinen rast- und selbstlosen Einsatz für die Gemeinschaft151 – den er auch wirklich objektiv erbracht hat – nicht durch entsprechende Wertschätzung honoriere, sondern ihm stattdessen auch noch Schimpf antue „so wie irgendeinem ehrlosen Zugewander146 Zu entnehmen aus Hom. Il. 24, 582 – 586. Zu entnehmen aus Hom. Il. 18, 107 – 111. 148 Hom. Il. 1, 188 – 222. 149 Hom. Il. 1, 327 – 336; 9, 192 – 204. 150 Aristot. Rhet. B 2, 1378 a 30 – b 10. 151 Hom. Il. 9, 323 – 327: „Und wie eine Vogelmutter den unflüggen Jungen hinträgt den Bissen, wenn sie ihn findet, und schlecht geht es ihr selber, so habe auch ich viele schlaflose Nächte hingebracht und Tage, blutige, durchgemacht im Kampfe, mit Männern kämpfend um der Frauen willen von denen!“ 147 43 ten!“152 Es ist also sein Rechtsempfinden, dessen Verletzung ihn in Zorn geraten läßt. Dieses Rechtsempfinden führt freilich auch dazu, daß er jede Art von Verstellung haßt und ehrliche, aufrechte Menschen bevorzugt, die das, was sie denken, auch ungeschminkt sagen,153 egal, ob es ihnen zum Vor- oder Nachteil gereicht. Und es veranlaßt ihn dazu, sich unter allen Umständen für das Recht einzusetzen, auch und gerade, wenn es das Recht des Schwächeren ist, und ungeachtet der Möglichkeit, sich dadurch den Unmut des Stärkeren zuzuziehen. Das erhellt aus der Tatsache, daß der Seher Kalchas, als er im Begriff ist, Agamemnon die Schuld an der Pest zuzusprechen, seine Bitte um Schutz vor dem Zorn eines Mächtigen ausgerechnet an Achill richtet und Achill ihm diesen Schutz auch auf der Stelle verspricht.154 Achills Bereitschaft, einen Schwächeren zu schützen, verweist auf einen weiteren Charakterzug, den er besitzt, nämlich auf die Fähigkeit zum Mitleid: Immer wieder läßt er sich von fremdem Leid anrühren, tröstet mit Worten und unterstützt durch Taten.155 So ist nicht zufällig er es, an den Hera sich wendet, um der Pest bei den Griechen Einhalt zu tun.156 Offenbar sieht Hera voraus, daß Achill für den Gedanken, den sie ihm eingeben möchte, nämlich eine Heeresversammlung einzuberufen und nach Auswegen aus der Lage zu suchen, aufgeschlossen sein werde. Offenbar liegt bei Achill eine psychische Disposition vor, die ihr den Erfolg gerade dieser Anregung an ihn garantiert, nämlich Mitgefühl mit den sterbenden Griechen.157 Auch später, als die Griechen von den Troianern beinahe aufgerieben werden, läßt ihn ihr Leiden nicht unberührt (obwohl er es durch seinen Rückzug aus dem Kampf selbst verursacht hat, um Agamemnon, von dem er sich beleidigt fühlt, in die Knie zu zwingen). Eben deshalb, weil er dieses Leiden nicht länger mit ansehen kann, aber noch nicht bereit ist, seinen Stolz gegenüber Agamemnon ganz aufzugeben, läßt er Patroklos statt seiner in den Kampf ziehen.158 152 Hom. Il. 9, 646 – 648. Hom. Il. 9, 312 f. 154 Hom. Il. 1, 68 – 100, bes. 88 – 91. 155 Vgl. z.B. Hom. Il. 23, 532 – 538. 156 Hom. Il. 1, 53 – 56. 157 Daß sich die Götter bei ihrer Beeinflussung der Menschen immer nach deren psychischen Dispositionen richten (gemäß der These des Hl. Thomas: „Operatur enim [Deus] in unoquoque secundum eius proprietatem“, S. Th. 1, qu. 83, a. 1, resp. ad 3), hat Arbogast Schmitt überzeugend gezeigt; vgl. Schmitt (1990) S. 72 – 114: “Gott und Mensch bei Homer”; bes. S. 76 – 81: Athene und Achill; S. 82 – 84: Athene und Pandaros; S. 84 – 89: Zeus und Agamemnon. 158 Hom. Il. 11, 599 – 615; 16, 1 – 101. – Vgl. dazu Schmitz (2001) S. 156: „Mit den bedrohlich zunehmenden Verlusten der Griechen wächst auch Achills Anteilnahme. Dies äußert sich vor allem darin, daß der zu Beginn des Grolls abseits verharrende Achill, als er im 11. Buch wieder in den Blick gerät, sich unterdessen schon rein äußerlich bewegt 153 44 Im Kampf hat er selbst seine Gegner schon häufig milde behandelt. Andromaches Vater Eёtion hat er ehrenvoll in seiner Rüstung bestattet,159 Andromaches Mutter gegen ein Lösegeld freigegeben.160 Auch das Beispiel des Priamos-Sohnes Lykaon, dessen Freikauf er akzeptiert hat,161 beweist die Richtigkeit seiner Selbstaussage: „Ja, bevor Patroklos dem Schicksalstag gefolgt ist, solange war mir lieber im Sinn, auch einmal zu schonen die Troer, und viele habe ich lebend gefangen und verkauft.“162 Allerdings enthält diese Selbstaussage bereits eine entscheidende Einschränkung: „bevor Patroklos dem Schicksalstag gefolgt ist.“ Nachdem Patroklos von Hektor getötet worden ist, verhält Achill sich nämlich diametral entgegengesetzt: Er metzelt eine solche Unzahl von Troianern nieder, daß der Fluß Skamander all die Leichen nicht mehr fassen kann und sich mit den anderen Flüssen gegen ihn empört.163 Hektors Halbbruder Lykaon, der, erneut in seine Gewalt geraten, auch um erneute Gnade fleht, schlachtet er regelrecht ab.164 Hektor selbst, der noch im Sterben darum bittet, seinen Eltern zur Bestattung übergeben zu werden, will er stattdessen unbestattet den Hunden überlassen165 und schleift ihn zuvor mit dem Streitwagen vor den Augen seiner Eltern um die Stadtmauern166 – eine hat: er befindet sich nämlich im Gegensatz zu dem in der Lagerhütte weilenden Patroklos bereits auf dem Heck eines Schiffes (V. 600), von wo aus er auf die in Not geratenen Griechen blickt [...] (V. 601). Von Abfahrt ist nicht mehr die Rede; vielmehr nimmt Achill am Leid der Griechen so großen Anteil, daß er Patroklos ausschickt, Nestor zu befragen, wen dieser verwundet aus dem Kampf führe (V. 611 f.). Trotz des Vorwurfs der Härte und Unbeweglichkeit, den Patroklos zu Beginn des 16. Buches gegenüber seinem Freund erhebt (vgl. insbes. V. 29 [...]), gibt Achill so weit nach, wie er es in dieser Situation kann. Zwar fühlt er sich selbst noch an seine eigenen Worte gebunden, daß er erst dann wieder in den Kampf eintrete, wenn die Troer zu seinen Schiffen gelangt seien (Π 61 – 63), immerhin gibt er aber Patroklos die Erlaubnis, in seinen Waffen mit den Myrmidonen auszuziehen. Diese Stellen zeigen, wie Achill aus Mitleid mit den Bedrängten [s]eine einmal eingenommene Haltung [bereits teilweise] aufgibt.“ 159 Das in der Ilias vielfach erwähnte ‚Normalverhalten‘ besteht hingegen darin, den getöteten Gegner seiner Rüstung zu berauben und ihn dann unter freiem Himmel einfach liegen zu lassen, so daß er von streunenden Hunden und Aasgeiern zerfleischt werden kann; vgl. Hom. Il. 1, 4 f. (viele weitere Stellen zählt ad locum auf: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, S. 18). – Abgesehen davon, daß sich ein solches Schicksal auch heute niemand wünschen würde, ist zu bedenken, daß der antike Mensch ohne Bestattung nicht glaubte ins Jenseits kommen zu können. Um zu ermessen, wie wichtig ihm daher ein Grabmal war, braucht man nur an Antigone zu denken. 160 Hom. Il. 6, 414 – 427. 161 Hom. Il. 21, 34 – 41. 162 Hom. Il. 21, 100 – 102. 163 Hom. Il. 21, 1 – 327, bes. 211 – 221. 164 Hom. Il. 21, 34 – 138. 165 Hom. Il. 22, 248 – 273. 330 – 354, bes. 345 – 348: „Nicht bei den Knien, Hund! bitte mich kniefällig, noch bei den Eltern! Könnte doch Ungestüm und Mut mich selber treiben, roh heruntergeschnitten dein Fleisch zu essen, für das, was du mir getan hast! So ist keiner, der dir die Hunde vom Haupte fernhält!“ 166 Hom. Il. 22, 395 – 515, bes. 395 – 405: „Sprach es, und dem göttlichen Hektor sann er schmachvolle Dinge: An beiden Füßen hinten durchbohrte er ihm die Sehnen von der Ferse bis zum Knöchel und knüpfte rindslederne Riemen daran, band ihn an seinen Wagen und ließ das Haupt nachschleifen. Und er stieg auf den Wagen und hob auf die berühmten Waffen, schwang die Geißel und trieb, und die flogen nicht unwillig dahin. Da war um den Geschleiften ein Schwall von Staub; seine blauschwarzen Haare fielen aus- 45 ebenso triumphale wie brutale Art der Leichenschändung, die er von nun an täglich am Grabmal des Patroklos wiederholt, bis sich am zwölften [!] Tag Apoll in der Götterversammlung darüber beklagt.167 Wo bleibt hier sein vielgepriesenes Mitleid? In der Tat kann von Mitleid hier nicht mehr die Rede sein. Die Frage ist aber, ob Achill in der gegebenen Situation so agiert, wie es seinem eigentlichen Charakter entspricht, ob er also gleichsam die Maske des Menschen fallen läßt und darunter die Fratze des Viehs als sein wahres Gesicht zum Vorschein kommt, oder ob er sich umgekehrt selbst vergißt. Meiner Meinung nach ist Letzteres der Fall: Achill ist nicht mehr bei sich, er ist außer sich. Er ist ausgerastet. Er steht unter Schock. Er hat ein Schocktrauma erlitten, als man ihm die Nachricht überbrachte, daß Patroklos getötet worden sei. Homer beschreibt diesen Vorgang wie folgt: „Indessen kam zu ihm heran der Sohn des erlauchten Nestor [= Antilochos], heiße Tränen vergießend, und sagte die schmerzliche Botschaft: ‚O mir, Sohn des Peleus, des kampfgesinnten! Ja, eine sehr traurige Botschaft mußt du vernehmen – wäre es doch nicht geschehen! Tot liegt Patroklos, und nun kämpfen sie um den Leichnam, den nackten, aber die Waffen hat der helmfunkelnde Hektor!‘ So sprach er, und den umhüllte des Schmerzes schwarze Wolke. Und er griff mit beiden Händen in den rußigen Staub und schüttete ihn über das Haupt und entstellte sein liebliches Antlitz, und auf dem nektarischen Kleid saß rings die schwarze Asche. Doch er selbst lag im Staub, der Große, groß hingestreckt, und raufte sein Haar und entstellte es mit seinen Händen. Aber die Mägde, die Achilleus erbeutet hatte und Patroklos, schrien groß auf, bekümmert im Mute, und liefen aus der Tür herbei um Achilleus, den kampfgesinnten, und schlugen alle mit den Händen die Brüste, und einer jeden lösten sich unten die Knie. Und drüben jammerte Antilochos, Tränen vergießend, und hielt die Hände des Achilleus – der stöhnte in seinem ruhmvollen Herzen –, denn er fürchtete, er könnte sich die Kehle abschneiden mit dem Eisen.“168 Im weiteren Verlauf wird noch mehrfach mit ergreifenden Worten geschildert, wie Achill um Patroklos trauert: Er wehklagt schrecklich, er stöhnt schwer, und er weint169 – er weint nicht nur, als er den Leichnam zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, „heiße Tränen vergießend, als er vor sich sah den treuen Gefährten, liegend auf der Bahre, zerfleischt von dem scharfen Erz,“170 sondern man findet ihn auch später immer wieder „über Patroklos hingeworfen, hellauf weinend.“171 einander, und das Haupt lag ganz im Staube, das einst so liebliche: damals aber hatte es Zeus seinen Feinden gegeben zu schänden in der eigenen väterlichen Erde.“ 167 Hom. Il. 24, 31 – 54. 168 Hom. Il. 18, 16 – 34. 169 Hom. Il. 18, 35. 78. 73. 170 Hom. Il. 18, 235 f. 171 Hom. Il. 19, 4 f. 46 Er kann nichts mehr essen – schon gleich gar nicht, wenn er daran denkt, daß das Essen ihm früher von Patroklos hingestellt wurde: „Um ihn aber versammelten sich die Ältesten der Achaier und baten ihn zu essen. Er aber verweigerte es stöhnend [...].“172 Er kann nicht mehr schlafen (auch nicht mit Briseis),173 denkt ständig an die Zeit mit dem Freund, den Hektor ihm genommen hat, steht schließlich auf und reagiert sich ab, indem er Hektors Leichnam malträtiert: „Aufgelöst war die Versammlung, und die Männer zerstreuten sich ein jeder, um zu den schnellen Schiffen zu gehen, und sie gedachten, sich am Mahl und am süßen Schlaf zu ergötzen. Aber Achilleus weinte, seines Gefährten gedenkend, und nicht ergriff ihn der Schlaf, der Allbezwinger, sondern er wandte sich hin und her, sich sehnend nach des Patroklos Manneskraft und tapferem Ungestüm; und wie viele Kämpfe er mit ihm abgewickelt und Leiden erduldet, durchmessend die Kriege der Männer und die schmerzlichen Wogen. Dessen eingedenk vergoß er reichliche Tränen, bald auf den Seiten liegend und bald wieder auf dem Rücken, bald auf dem Angesicht. Dann aber stand er aufrecht auf und streifte irrend umher am Strand des Meeres, und keine Morgenröte entging ihm, wenn sie erschien über der Salzflut und den Ufern, sondern hatte er angeschirrt an den Wagen die schnellen Pferde und den Hektor zum Schleifen hinten an den Wagen gebunden und ihn dreimal gezogen um das Mal des Menoitios-Sohns, des toten, so ruhte er wieder in der Hütte, ließ diesen aber im Staub, vornüber hingestreckt. [...] So mißhandelte dieser den göttlichen Hektor im Zorn.“174 Zwar gab es mehrere Menschen, die Achill etwas bedeuteten, wie z.B. Briseis und Phoinix.175 Patroklos aber war derjenige, der ihm von allen am nächsten stand, der „weit liebste Gefährte“, der „liebe Gefährte [...], den ich vor allen Gefährten wert hielt gleich wie mein eigenes Haupt.“176 Dadurch, daß er ihm Patroklos nahm, hat Hektor Achill einen unerträglichen Schmerz zugefügt. Um sich von diesem Schmerz zu befreien, versucht Achill zuerst, sich selber umzubringen, d.h. sich als empfindendes Subjekt des Schmerzes auszulöschen. Erst danach beschließt er, seinen Schmerz auf den Verursacher zurückzuwenden. (Im Film wendet Achill seine Aggression dagegen sofort nach außen, indem er seinen Fuß auf die Kehle des Boten stellt und Briseis, die ihn daran hindern will, an der Gurgel packt.) Weil er Schmerz erleidet, will er Schmerz zufügen. Das ist zwar nicht zu entschuldigen, aber doch vielleicht zu verstehen. 172 173 174 175 176 Hom. Il. 19, 303 f. Hom. Il. 24, 128 – 131. Hom. Il. 24, 1 – 22; vgl. 24, 416 f. 754 – 756. Zu Briseis vgl. Anm. 34; zu Phoinix vgl. Hom. Il. 9, Hom. Il. 17, 411. 655 (vgl. 19, 315); 18, 80 – 82. 432 – 622, bes. 478 – 495. 606 – 622. 47 Nach Hektors Tod kommt er allmählich wieder zu sich,177 kann allmählich wieder essen, trinken178 und schlafen (auch mit Briseis)179 – kann sogar wieder Mitleid empfinden, und zwar Mitleid mit dem Vater seines Feindes! Er hätte natürlich auch Priamos töten können, als dieser nachts allein in seine Hütte kam, um den Leichnam Hektors zu erbitten, aber er „hob den Alten auf an der Hand, sich erbarmend des grauen Hauptes und des grauen Kinns, und er begann und sagte zu ihm die geflügelten Worte: Ah, Armer! ja, schon viel Schlimmes hast du ausgehalten in deinem Mute!“180 Anders, als er es noch im Racherausch gewollt hatte, ist er jetzt nicht nur willens, Hektors Leichnam dessen Vater zu übergeben, wobei er aus Rücksicht auf die Gefühle des Priamos sogar dafür sorgt, daß der Leichnam gewaschen, gesalbt und in schöne Gewänder gehüllt wird, und eigenhändig mithilft, ihn auf den Wagen zu heben.181 Er bietet vielmehr auch noch eine Waffenruhe an, damit der Leichnam ehrenvoll bestattet werden kann.182 Christine Schmitz betont in diesem Zusammenhang, daß „Achills von Respekt und Mitleid geprägtes Verhalten gegenüber seinen Feinden über das von ihm geforderte Maß weit hinausgeht.“183 Damit erkennt sie ihm außer Mitleid auch noch Großmut zu – eine Großmut, die er zuvor schon mit der „noblen Geste“184 bewiesen habe, Agamemnon nach den Leichenspielen für Patroklos mit der spontanen Übergabe des Kampfpreises zu ehren.185 Hier habe Thetis Achill zwar den Auftrag des Zeus überbracht, Priamos’ Bitte um Hektor zu erfüllen.186 Zeus habe diesen Auftrag aber schon in dem Wissen erteilt, daß Achill dafür auch offen sein werde: „Denn er ist weder unverständig, noch unbedacht, noch frevelmütig, sondern sehr sorgsam wird er den Mann, den Schutzsuchenden, schonen.“187 Seine Gottesfurcht habe Achill nämlich schon seit langer Zeit bewährt.188 Und auch jetzt akzeptiere er den Auftrag des Zeus ohne Zögern und ohne Widerspruch,189 entsprechend seiner an anderer Stelle zum Ausdruck gebrachten Grundauffassung: „Not ist es, Göttin, euer beider Wort zu bewahren, 177 Ein sehr gutes Verständnis dieses Vorgangs ermöglicht Schmitz (2001). Hom. Il. 24, 475 f. 179 Hom. Il. 24, 675 f. 180 Hom. Il. 24, 518. 181 Hom. Il. 24, 580 – 590. 182 Hom. Il. 24, 656 – 672. 183 Schmitz (2001) S. 154, Anm. 31 mit Verweis auf die Ergebnisse von Zanker (1994). 184 Schmitz (2001) S. 153; vgl. S. 145. 185 Hom. Il. 23, 884 – 897. 186 Hom. Il. 24, 133 – 137. 187 Hom. Il. 24, 157 f. 186 f. – Schmitt (2001) S. 30 übersetzt paraphrasierend: „er ist jemand, der Verstand hat, der auch den Ausgang seines Handelns beachtet und niemals absichtlich Böses tut.“ 188 Vgl. z.B. Hom. Il. 16, 220 – 256. 189 Hom. Il. 24, 138 – 140. – Hierin kann man durchaus eine eigene Leistung Achills erkennen, wenn man nicht annimmt, daß die Homerischen Menschen Marionetten der Götter ohne jegliche Art von Entscheidungsfreiheit gewesen seien. 178 48 ob man auch noch so sehr im Mute zürnt, denn so ist es besser. Wer den Göttern gehorcht, sehr hören sie auch auf diesen.“190 Deshalb hebt Schmitz zusammenfassend hervor, daß Mitleid, Großmut und Gottesfurcht „ebenso feste Charaktereigenschaften Achills wie sein leidenschaftliches Wesen [sind].“191 Darin teilt sie die Meinung von Arbogast Schmitt, der ebenfalls unterstreicht: „Achills Charakter ist bei Homer ja nicht etwa als Verkörperung der Zorneswut gezeichnet. Achill ist keineswegs nur der unersättlich und schrankenlos Zürnende; gleich stark sind in ihm auch seine bedingungslose Bereitschaft, für das Recht einzustehen [...], sein aufopferungsvolles Eintreten für das Wohl der Gemeinschaft, selbst unter Hintansetzung des eigenen Lebens, ein aufrichtiges und leicht anrührbares Mitgefühl mit den anderen und seine Gottesfurcht.“192 Auch wenn damit nur sehr wenig von dem, was es über den homerischen Achill zu sagen gäbe, gesagt ist, hoffe ich glaubhaft gemacht zu haben, daß diese Gestalt mehr ist als ein bloßer Ehrgeizling und viel mehr als ein „egozentrischer Terminator und Weiberheld des Altertums, der durch die feindlichen Reihen geht wie ein warmes Messer durch Butter.“193 Natürlich ist auch der Homerische Achill ein Krieger, und natürlich geht es auch ihm um Ruhm. Aber es geht ihm nicht ausschließlich um Ruhm, und es geht auch nicht ausschließlich ihm um Ruhm.194 Mir scheint, daß Benioff, wenn er ein solches Bild von ihm vermittelt, eine bereits zitierte Stelle der Ilias – Achill „sang die Rühme der Männer“195 – irrtümlich als Hinweis auf den spezifischen Charakter Achills und nicht auf die Gattung des Epos interpretiert hat.196 Bei Homer ist Achill ein Mensch mit vielen Stärken und manchen Schwächen. Er erscheint nicht als simpler Typos, sondern als komplexes Individuum, in dem sich negative, neutrale und positive Eigenschaften auf unverwechselbare Weise zur Einheit und Ganzheit eines bestimmten Charakters verbinden.197 Doch damit nun wieder zurück zum Film. [Fortsetzung folgt.] 190 Hom. Il. 1, 216 – 218. Schmitz (2001) S. 153. 192 Schmitt (1990) S. 78 f. 193 Rezension vom 28. 6. 04 aus Östringen. 194 Vgl. z.B. die Aussagen Hektors in Hom. Il. 6, 441 – 446; 22, 304 f. 195 Hom. Il. 9, 186 – 189. 196 Ein solcher aber ist diese Stelle, wie man schon daraus entnehmen kann, daß auch der Aoide Demodokos „die Rühme der Männer“ zum Thema macht; vgl. Hom. Od. 8, 73. 197 Die Frage, ob man bei den Homerischen Menschen überhaupt schon von ‚Charakteren‘ sprechen könne, bejaht aus guten Gründen Schmitt (1990) S. 78 f. mit Anm. 245. 191 49