Henderson, Der Lebensretter

Transcrição

Henderson, Der Lebensretter
Prolog
Der Strom war abgestellt. Die Kerze auf der Kommode gab kaum
genug Licht, um die Geister zu verjagen. Jack sah die tanzenden
Schatten über die Wand huschen und wünschte, Mama hätte ihm
die Taschenlampe gebracht, die sein Vater immer benutzt hatte,
wenn sie zelten gewesen waren. Das Schummerlicht war schlimmer
als die Dunkelheit, und die Schatten lachten ihn aus.
Wenn doch nur Vollmond wäre und kein Sturm. Er konnte hören, wie der Wind stärker wurde. Er zog an der Decke, bereit, sie
jeden Moment über den Kopf zu ziehen, sobald ein Blitz niederging. Manchmal war das Gewitter ein Vorbote von Actionhelden,
die kamen, um ihn zu retten, und manchmal war es einfach nur
eine Reihe von wütenden Blitzen. Heute war das Unwetter wütend.
„Mama?“ Er rief nicht laut. Eigentlich sollte er gar nicht mehr
wach sein. Er durfte sich im Dunkeln nicht fürchten. Aber wenn
sie vielleicht kam und nach ihm sah ...
Der Donner krachte.
Sein Hund kam vom Flur ins Zimmer.
Überglücklich zog Jack die Decke hoch und vergrub das Gesicht
im Kissen, damit es so aussah, als schliefe er. Mama hatte Shep ins
Haus gelassen. Die Kommode wackelte, als der Hund dagegen rannte, bevor er versuchte, sich in das Fort zu quetschen, das Jack an
diesem Tag aus Decken und Stühlen gebaut hatte. Die Kerze
schwankte und verlosch.
Jack kniff in der plötzlichen Dunkelheit die Augen zusammen.
Das war nicht gut. Es war alles andere als gut. Er hörte, wie seine
Mutter mit seinem Vater sprach, und ihre Stimme hallte im Treppenhaus wider, als die beiden nach oben kamen.
Licht fiel ins Zimmer. Er öffnete ein Auge einen Spalt breit, um
zu sehen, ob seine Mutter mit ihrer Lampe an seine Tür gekommen
war und nach ihm sah. Die Tür war offen, aber niemand stand
dort. Jack öffnete beide Augen. Flammen züngelten über die Kante
seines Bettes und leckten an der Bugs-Bunny-Bettwäsche.
Jack blickte mit großen Augen in das Feuer und konnte den Blick
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nicht abwenden. Die Flammen kamen näher wie marschierende
Soldaten in einer breiter werdenden Front.
Er nahm das Matchbox-Auto vom Fußende des Bettes und zog
sich vor der Hitze zurück. „Mama!“
Der Feuermelder im Flur schlug Alarm.
Der Lärm übertönte sogar den Donner draußen.
„Jack!“ Seine Mutter kam ins Zimmer gerannt, gefolgt von seinem Vater.
Sie zog ihn aus dem Bett und schlang die Arme um ihn. Sie duftete nach Flieder. Sein Vater zerrte den Teppich und den Bettüberwurf hervor und trat die Flammen aus. Wow. Es waren schnell Flammen geworden. Gerade noch war es nur ein Flackern gewesen. „Ich
hätte gerne Superman-Bettwäsche statt Bugs Bunny“, sagte er zu
seiner Mutter, während er zusah, wie sein Vater ihn rettete.
Sie drückte ihn an sich. „Superman“, murmelte sie mit erstickter
Stimme. „Geht klar.“
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Das Haus war nicht mehr zu retten. Oberbrandmeister Jack O’Malley
ließ den hellen Strahl seiner Lampe über die triefenden Mauern
gleiten, auf der Suche nach irgendetwas, das den Qualm verursachen könnte, dem er noch immer nachging. Die Balken des zweiten
Stockwerks über ihm ächzten, jetzt wo das Gebäude sich setzte.
Das Feuer hatte aus dem ehemals schönen, gut gepflegten Heim
einen Trümmerhaufen gemacht. Es war, als liefe man in einem Sarkophag herum. Das Gebäude schien zu sterben.
Aus der Küche drang ein scheußlicher Geruch, und der scharfe
Gestank verbrannter Reinigungsmittel ließ Jacks Augen tränen.
Schlaffe Bananen hingen über den Rand einer Schüssel, in der die
Äpfel zu Mus zerkocht waren. Rabattmarken flatterten von der
Arbeitsplatte zu Boden, wo sie im Wasser zu einer aufgeweichten
Masse wurden. Am Kühlschrank waren die Farben der Fotos durch
die Hitze verlaufen, und die schwachen Umrisse, die von den Personen übrig geblieben waren, wirkten wie Geister.
Der große Kalender an der Wand neben dem Telefon war nur
noch eine Sammlung geschwärzter, gekräuselter Blätter. Das Leben
einer Familie, festgehalten in Tagen und Zeiten und Terminen, war
verschwunden. Jack ließ das Licht auf dem Kalender ruhen, auf
dem der halbe Monat November durchgekreuzt war. Das heutige
Datum, der Fünfzehnte, war durch einen jetzt unlesbaren Eintrag
in roter Tinte hervorgehoben. Das Urlaubsdatum, vermutete er.
Nächste Woche war Thanksgiving, und sie hatten beschlossen, früh
loszufahren. Er war dankbar, dass sie nicht von dem Inferno überrascht worden waren.
Es war so unglaublich sinnlos. Das Feuer sah aus, als sei es absichtlich gelegt worden.
Jack spürte, wie die Müdigkeit über ihm zusammenschlug, und
dahinter das Zucken in seinem linken Auge, das immer stärker
wurde und seinen wachsenden Unmut zum Ausdruck brachte. Wie
gerne würde er den Mann finden, der hierfür verantwortlich war,
und ihn niederschlagen!
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Ein grauer Rauchfaden erregte seine Aufmerksamkeit, als das Haus
atmete. Qualm kam durch den zentralen Lüftungsschacht. Jack betätigte sein Funkgerät. „Nate, sieh noch mal im Hauswirtschaftsraum nach.“
„Wird gemacht.“
Jack ging durch das, was früher die Terrassentür gewesen war,
und trat hinaus in die Nacht. Die mächtigen Scheinwerfer der Löschfahrzeuge vor dem Haus warfen merkwürdige Schatten auf den Hof
durch Löcher im Haus, wo keine Fenster sein sollten.
Popcorn.
Jack blieb abrupt stehen, als er am Rand der Veranda die weißlichen Körner sah, durch das hölzerne Geländer vor gestiefelten Tritten geschützt. Der schwelende Ärger brach aus und ihn packte die
Wut. Jemand hatte hier gestanden und zugesehen, wie das Haus
brannte; war hierher gekommen, um sich zu amüsieren. Er kannte
diese Handschrift.
Die weißen Körner lagen verstreut, fallen gelassen wie überzählige Exemplare aus einer vollen Hand. Jack suchte den Bereich ab.
Einige nicht aufgeplatzte Körner, die in die Flammen geschnipst
worden waren, lagen verkohlt und mit gespaltener Schale in den
Trümmern. Jack hatte inständig gehofft, dieser Brandstifter würde
sich auf seine üblichen Gras- und Müllbrände beschränken. Stattdessen war er gerade zu seinem ersten Haus aufgestiegen.
Feuer sollte ein Unfall sein und keine Waffe. Man sollte es nicht
genießen. Jack stieß mit dem Fuß ein qualmendes Holzstück zur
Seite, das von einem Fensterrahmen losgerissen worden war, um
die Beweisstücke sicherzustellen. Seine Arbeit wurde langsam zu
einem Polizeijob.
Er hasste Brandstifter. Schmerzhafte Erfahrungen hatten ihn in
der Vergangenheit gelehrt, wie skrupellos sie werden konnten. Zerstörung von Eigentum. Unschuldige Opfer. Verletzte Feuerwehrleute. Sie mussten diesen Kerl finden, bevor jemand zu Schaden kam.
Er konnte ein Feuer bekämpfen, aber einen Mann ... Jack hatte
das Gefühl, dass ihm die Hände gebunden waren, und er hasste
dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Er war ein O’Malley. Er ging Problemen nicht aus dem Weg. Stattdessen ging er ihnen auf den Grund.
Das hier war ganz eindeutig ein Problem. Aber wie sollte er es mit
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einem Mann aufnehmen, der es vorzog, ein Feigling zu sein und
sich hinter einem Streichholz zu verstecken?
Bald war Thanksgiving und dann kam Weihnachten, und er hatte
schon genug um die Ohren. Seine Schwester Jennifer hatte Krebs,
und zusätzlich zu all dem konnte er diese Art von Wirrwarr nun
wirklich nicht gebrauchen. Die Feiertage schrien förmlich nach
Ärger. Er konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Sie mussten
diesen Kerl bald kriegen. Aber das hatte Zeit bis morgen.
Um ihn herum rollten die Feuerwehrleute von Kompanie 81 die
Schläuche aus und versuchten mit ihren Rufen den Lärm einer
Motorsäge zu übertönen. Sie suchten unermüdlich nach schwelenden Brandherden in dem zerstörten Haus und versuchten herauszufinden, woher der Qualm kam, der sich immer noch wie eine Kobra in die Luft schlängelte.
Irgendwo in den Trümmern war das Feuer noch am Leben. Jack
zog Handschuhe an und ließ seinen geübten Blick über die Trümmer gleiten. Zehn Jahre Brandbekämpfung waren eine gute Schule
gewesen, denn dieser Beruf verzieh einem keine Fehler.
Feuer war ein herrschsüchtiges Tier. Wenn es die Oberhand hatte, forderte es jeden, der sich ihm näherte, mit grimmiger Verachtung heraus. Wenn es gezwungen war, sich zurückzuziehen, hielt es
sich gerne zurück und wartete geduldig, um dann schmerzliche Rache zu üben.
Sie würden es finden. Und töten. Dann war wieder ein Drache
vernichtet.
„Cole.“ Jack wandte sich an den Brandoberinspektor.
Es gab nur wenige Männer, die eine Einsatzstelle einfach durch
ihre Anwesenheit dominieren konnten. Sein Freund Cole war so
jemand: fast einen Meter achtzig groß, gute achtzig Kilo schwer
und mit seinen zweiundvierzig Jahren vorzeitig ergraut. Cole Parker war schon mit sechsunddreißig Hauptbrandmeister geworden.
Die meisten anderen erreichten diesen Rang erst zehn Jahre später.
Jetzt war er Leiter des Brandstiftungsteams. Jack vertraute ihm wie
nur wenigen Menschen außerhalb seiner Familie.
„Was hast du gefunden, Jack?“
Mit seiner Lampe beleuchtete Jack das Popcorn.
Cole, dessen mächtiger Körper einen ebenso mächtigen Schatten
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warf, blieb einen Augenblick stehen, dann schritt er über die Terrasse.
„Er hat die nächste Stufe gezündet“, sagte Jack.
Cole bückte sich, um ein Korn aufzuheben. „Uns war klar, dass er
das irgendwann tun würde. Fünf Brände in sieben Wochen – er ist
nicht gerade ein geduldiger Typ.“
„Er legt Brände rund um die neuen Grenzen des Feuerwehrbezirks“,
vermutete Jack. Es war zumindest ein Hinweis auf die Identität des
Mannes, den sie aufhalten mussten. Die kleineren, älteren Feuerwehren waren in den vergangenen Monaten geschlossen worden,
und Löschzüge und Mannschaften waren auf die ausgeweiteten
Feuerwehrzentralen verteilt worden. Deren entsprechend umverteilte
Ausstattung entsprach besser der Bebauung und demografischen
Entwicklung in der Region, aber es war eine Tatsache, dass es zu
längeren Reaktionszeiten kam, wenn jedem Bezirk ein größeres
Gebiet zugeordnet war. Dieser Feuerteufel wusste, wie er diese Tatsache für sich nutzen konnte.
Cole nickte nur. „Ein gefährlicher Mann, der ein gefährliches Spiel
spielt.“ Er probierte von dem Popcorn. „Gesalzen. Er bringt sich
was zu knabbern mit.“
„Das wollte ich jetzt wirklich nicht hören.“
Sein Freund richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf.
„Ich dachte mir schon, dass es von ihm sein könnte. Spät abends,
am Rand des Bezirks.“ Er sah zu Jack hinüber. „Die Goldene
Schicht.“
Die Andeutung, dass seine Schicht Ziel der Anschläge sein könnte, war Jack nicht entgangen. Sie arbeiteten in 24-Stunden-Schichten, eine Schicht Dienst und zwei Schichten frei, aber alle Brände
waren von seiner Schicht bekämpft worden, nie war es die Schwarze oder die Rote Schicht gewesen. Jack gab nicht gerne zu, dass er
ein mulmiges Gefühl gehabt hatte, als der Alarm ging. Es war nicht
einfach, seinen sprichwörtlichen Humor zu bewahren, wenn jemand
da draußen es darauf angelegt hatte, dass er Feuerkontakt bekam.
Cole klopfte sich die Hände an seiner ausgewaschenen Jeans ab.
Er war von zu Hause an den Brandort gerufen worden. „Erzähl mir
was über das Feuer.“
„Es war in den Mauern.“
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Wagen 81 war als Erster am Einsatzort gewesen. Das Löschfahrzeug
war vorgefahren, als der Rauch gerade, von den Luftschächten im
Dachboden und rund um die Dachrinne nach unten drang. Jack
hatte sich einen Weg in die vordere Diele gebahnt und im Schein
seiner Lampe gesehen, wie die Farbe von der Hitze im Innern der
Wände Blasen warf. Es waren keine Flammen zu sehen gewesen,
aber als er mit seiner Axt die Wand aufgebrochen hatte, war der
Drache brüllend auf ihn losgegangen. „Es war schwierig, es mit
dem Wasser zu erwischen.“
Nate war am Strahlrohr gewesen, während Bruce den Schlauch
entrollt hatte. Aber sie hatten wertvolle Zeit verloren, weil sie die
Wände aufbrechen mussten. Ohne Mondlicht oder einen direkten
Nachbarn in der Nähe war das Feuer erst gemeldet worden, als es
das Haus bereits fest im Griff hatte. Jack dachte zuerst, ein Kurzschluss in der Elektrik hätte den Brand verursacht, bis er die Ausmaße des Feuers sah. Er lenkte den Lichtstrahl seiner Lampe auf
die Rauchlinie und die Brandmuster, als sie durch die Trümmer
schritten.
„In der Mitte des Hauses?“, überlegte Cole.
Sie kämpften sich durch den Hof, der sich jetzt unter stundenlangen Wasserströmen in ein Schlammfeld verwandelt hatte. Bei einem Hartriegelstrauch blieb Jack stehen. „Ich glaube, ja. Dort war
die Umgebungstemperatur zu hoch, als dass es im zweiten Stock
ausgebrochen und sich in den Wänden nach unten vorgearbeitet
haben könnte, und an der Verkleidung waren nicht genug Brandspuren, so dass ein Brandherd in einer Außenwand auch nicht wahrscheinlich ist.“
Brandstiftung als Mittel zur Bereicherung passte nicht zu den Verhaltensmustern dieses Mannes – und ein Mann war es wahrscheinlich –, entschied Jack. Es wirkte auch nicht wie das Werk eines
jugendlichen Straftäters. Diese Brandorte waren sorgfältig geplant.
Und dass ein Brandstifter, der so etwas einfach aus Spaß tat, erst
später im Leben auf den Geschmack kam, war ungewöhnlich.
„Meinst du, er will die Aufmerksamkeit der Presse erregen?“
„Dreist genug, um nach Ausbruch des Feuers daneben stehen zu
bleiben und Popcorn in die Flammen zu schnipsen und eingebildet
genug, um häufig Feuer zu legen. Und jetzt ist er bei der Art des
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Brandes einen Schritt weiter gegangen. Ja, er will Aufmerksamkeit
– unsere, die der Medien und letztendlich die der Öffentlichkeit.“
„Wenn wir ihn nicht aufhalten, bevor die Presse die Brände
miteinander in Verbindung bringt, bekommen wir es mit einer
Massenpanik zu tun.“
„Ganz zu schweigen von Trittbrettfahrern.“
Qualm zog zu ihnen herüber, und Jack musste von den schweren
Aschepartikeln husten. „Wie spät ist es?“
Cole lächelte mitfühlend. „Irgendwas nach zwei Uhr morgens.“
Zweieinhalb Stunden. Jack fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen. Die Brandschutzkleidung lag schwer auf seinen Schultern, und wenn er sich bewegte, klebte und scheuerte sie im Nacken. Die letzten Stunden hatten sein blaues Uniformhemd und das
baumwollene T-Shirt unter dem Mantel in Schweiß getaucht. Jack
wusste, dass er heute Nacht kein Auge zutun würde. Vor dem Morgen würden sie dem Feuer nicht vollständig den Garaus gemacht
haben.
Sein linkes Knie schmerzte immer noch von vorhin, als er mit
mehr Tempo als Vorsicht vom Löschzug auf den Asphalt gesprungen war. Der Anblick des Hauses und des Qualms, der von den
Dachschächten nach unten strömte, hatten ihn schneller agieren
lassen, als es die Sicherheit gebot.
Den Zuschauern, die Zeugen ihres Eintreffens gewesen waren,
mochte es willkürlich erschienen sein, aber die Kompanie hatte
einen gut abgestimmten Angriff auf das Feuer gestartet. Die Mannschaft vom Drehleiterwagen 81 hatte sich um das Dach gekümmert
und das Feuer belüftet, während die Männer vom Löschfahrzeug
mit den Schläuchen vorgeprescht waren, um den Brand mit Wasser
zu bekämpfen. Die Rettungsmannschaft schließlich hatte mit Sauerstoffflaschen bereitgestanden, falls Menschen von den Flammen
eingeschlossen waren.
Die Übungen und die Tatsache, dass sie als Mannschaft aufeinander
eingespielt waren, machten sich bezahlt. Sie hatten während der
Aktion keine Zeit verloren. Es hatte Vorteile, wenn man mit den
besten Leuten zusammenarbeitete. Und ein paar Nachteile. Der
Löschzug, der als Erster am Einsatzort war, kam als Letzter nach
Hause.
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Er hätte alles für eine Dusche gegeben. Der Geruch von Rauch
und Schweiß machte ihm nichts aus, solange er sich bewegte und
der Wind den Gestank von ihm fort trug.
„Ihr habt das gut hingekriegt mit dem Löschen.“
Das Lob freute ihn, denn Cole war sparsam damit. „Danke.“
Jack hätte es vorgezogen, auf dem Dach zu sein oder verkohlten
Putz herunterzureißen. Er hätte sogar lieber Schläuche aufgerollt,
als den Einsatz zu leiten. Aber der Hauptbrandmeister von Kompanie 81 war zu einem Chemieunfall gerufen worden, und so war die
Aufgabe Jack zugefallen.
Er holte zwei Flaschen mit eisgekühltem Wasser von der Rettungsmannschaft und reichte eine davon Cole. Während er trank,
ließ Jack den Blick über die wenigen übrig gebliebenen Zuschauer
wandern – Nachbarn, die sich schnell etwas übergeworfen hatten,
ein paar Kinder, die fasziniert das rote Löschfahrzeug und die Drehleiter betrachteten, die Lokalpresse, ein Polizist, der den Durchgangsverkehr aufhielt.
Manche Feuerteufel waren Beobachter. Sie handelten nur, um zu
sehen, wie die Feuerwehr anrückte. Sie standen dort und sahen
dem Kampf zu, als ihrem eigenen Spektakel. Niemand von denen,
die jetzt dort standen, war auffällig.
Jack wandte sich wieder dem Haus zu und beobachtete, wie die
Jungs noch einmal das Wasser aufdrehten, um ein schwelendes Brandnest zu löschen, das sie in der Wand zwischen Garage und überdachtem Durchgang entdeckt hatten. „Das wird nicht sein letztes
Feuer gewesen sein.“
„Davon kannst du ausgehen.“
„Hast du eine Idee?“
Cole nahm einen langen Zug aus der Flasche, dann schüttelte er
den Kopf. „Keine Idee, keine Vermutungen, keine Schlussfolgerungen. Du weißt, wie der Job funktioniert.“
Jack wusste es. Man brauchte dazu Geduld, die er nicht hatte.
„Meine Männer sind in Gefahr.“ Er sagte dies ganz ruhig, denn er
wusste, welche Erinnerungen Cole mit sich herumtrug und wie seine Worte klingen mussten.
Cole legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz.
Jack war nicht sicher, ob er jemals Hauptbrandmeister werden
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wollte, wenn er daran dachte, wie viel die Verantwortung seinen
Freund gekostet hatte. Cole hatte Kompanie 65 geleitet, bevor er
zur Brandstiftungseinheit gewechselt war. Er hatte diesen Schritt
getan, weil ein Brandstifter es auf ihn persönlich abgesehen hatte.
Jack wollte ihn nach Cassie fragen und nach Ash, aber in dieser
Situation zögerte er, die Namen auszusprechen.
„Oberbrandmeister?“ Ein Feuerwehrmann vom Löschfahrzeug 81
stand in der offenen Tür. „Das sollten Sie sehen.“
Er konnte die Hitze der Flammen durch die Stiefel hindurch spüren.
Jack hörte das Feuer mit seinem stürmischen Klang, riesig, alles verzehrend. Jeder Schritt brachte ihn etwas näher. Der Flur führte um die
Ecke, und er fühlte den Pfosten am Fuß der Treppe. Er ging die Treppe
hinauf. Es war noch immer jemand im Haus. Sie mussten sie herausholen.
Der Rauch rollte in Wellen von oben nach unten. Das Feuer erleuchtete die Dunkelheit vor ihm mit leckenden Flammen, die tückisch durch
den Rauch schlugen.
Die Hitze war zu stark.
Der Rauch hing zu tief.
Kein Mensch konnte in diesem Haus noch am Leben sein.
Es war eine furchtbare Erkenntnis, die mit jedem Schritt mehr zur
Gewissheit wurde, und auf der sechsten Stufe blieb Jack stehen. Er
wollte durch die Flammen stürzen, wollte um alles in der Welt die
Tatsachen ungeschehen machen. Seine Schwester Rachel würde am Boden
zerstört sein, wenn sie erfuhr, dass ihre Freundin tot war, und Tabithas
Mann – Jack konnte nicht ändern, was bereits geschehen war. Er war
für das Leben seiner Männer verantwortlich. Jack streckte den Arm aus
und hielt Ben zurück, den Oberbrandmeister der Schwarzen Schicht,
der bei diesem Evakuierungsversuch den Platz des Neulings in der
Mannschaft eingenommen hatte. „Wir können nichts mehr tun.“
Bruce und Nate, die hinten standen, machten kehrt, um die Truppe
nach draußen zu führen. Ben Rohr zögerte. Jack drückte kurz seine
Schulter. Der Oberbrandmeister war der Veteran in der Gruppe. Er
war erst Anfang vierzig, hatte aber mehr Brände bekämpft, als Jack je
gesehen hatte. Er verstand, warum es dem Mann so schwer fiel, einem
Opfer den Rücken zu kehren, aber sie hatten keine andere Wahl. Ben
stieg die Treppe hinunter.
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Das Feuer brüllte hinter Jack und reckte sich vor, um Jacks schweren
Schutzanzug am Rücken zu fassen. Es hatte schon ein Opfer gefunden.
Sie konnten es sich nicht leisten, ihm ein weiteres zu überlassen. Jack
fasste den Pfosten am Fuß der Treppe und bog um die Ecke in den Flur,
während das Feuer die Stufen hinunterrauschte und ein Teil der Decke
sich krümmte.
Das Martinshorn, das draußen ertönte, gab ihm die Richtung vor.
Jack folgte dem Klang bis zur Tür, durch die sie hereingekommen waren. Wasser schlug gegen die Hauswand und verdampfte mit lautem
Zischen. Männer liefen ihnen entgegen, und ein kurzes Kopfschütteln
überbrachte die schmerzliche Nachricht. Kräftige Hände legten sich
auf ihre Schultern, um durchzuzählen. „Ich bin der Letzte“, rief Jack.
„Ertränkt es!“ Der Feuerwehrmann an der Spritze nickte, zog den
Schlauch bis zur Tür und öffnete dann das Ventil.
Jack streifte seine Schutzkleidung ab. Die Nachtluft fühlte sich nach
der drückenden Hitze kühl an. Sie würden sich dem Kampf gegen das
Feuer anschließen, aber es würde ein grimmiger Kampf werden, der
kein gutes Ende haben würde. Menschen, Eigentum – sie hatten beides
schon verloren. Wie sollte er seiner Schwester erklären, dass Tabitha tot
war? Schon beim Gedanken daran fühlte er sich elend.
Nachbarn, Polizei und Schaulustige waren zusammengelaufen, um
das Geschehen zu beobachten, und Jack sah die Reaktionen, als die
Nachricht vom Tod einer Nachbarin wie ein Lauffeuer durch die Menge ging.
„Wir hätten es schaffen können“, sagte Ben, der wie gebannt auf die
Flammen starrte.
„Wir wären nach oben gekommen, aber nicht wieder raus“, murmelte Jack. Er sah, wie der altgediente Feuerwehrmann die Chancen abwägte, wer schneller gewesen wäre: die Feuerwehr oder das Feuer. Es
wäre ein Selbstmordkommando gewesen.
„Geh mir aus dem Weg!“
Jack wandte sich um und sah, wie ein Mann an den Polizisten vorbeidrängte. Der Journalist Gage Collier, ein bekanntes Gesicht für Feuerwehr und Polizei. Dies war das Haus von Gage. Seine Frau. Jack
machte einen Schritt vor, um dem Mann entgegenzutreten, bevor dieser seine Mannschaft erreichte. Es gab keine Worte für das, was er
fühlte. „Gage, es tut mir Leid. Es tut mir schrecklich Leid.“
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Jack sah den Fausthieb kommen, aber er tat nichts, um ihn abzuwehren.
„Sie war schwanger!“
Schwer atmend fuhr Jack aus dem Schlaf. Er setzte sich mühsam
auf, um dem schweren Schlaf eines Verfolgten zu entkommen. Der
Albtraum kam jetzt immer nach einem Brand. Zwei Jahre war es
her, und immer noch war die Erinnerung lebendig. Sie verschwamm
mit anderen Erinnerungen: an die Opfer, zu denen er nicht hatte
durchdringen können, an die Schreie von Menschen, die in den
Flammen gefangen waren, und an das Pflegeheim – immer wieder
die unvermeidliche Erinnerung an das Feuer im Pflegeheim. Jack
war gerne Feuerwehrmann, aber der Preis wurde mit der Zeit höher. Wusste der Brandstifter, was er da tat?
Jack hätte seine Familie angerufen, einfach um heute Nacht eine
andere Stimme zu hören als die, die in seinem Kopf langsam verhallte. Aber diejenige, die ihm am besten helfen konnte, über das
Trauma zu reden, war ausgerechnet seine Schwester Rachel. Und
sie musste schon mit der Tatsache leben, dass es ihre Freundin war,
die gestorben war.
Er stand auf und ging hin und her, während er versuchte, die
Erinnerungen niederzuringen. Sie würden bleiben, und er musste
damit leben. Tabitha war gestorben, weil sie zu spät am Brandort
gewesen waren.
Ben bezeichnete das noch immer als den schwärzesten Tag in der
Geschichte ihrer Einheit, denn ein Lauffeuer auf der anderen Seite
des Bezirks hatte sie wertvolle Minuten gekostet, bis sie reagieren
konnten. Ein junger Oberbrandmeister und ein alter Hase wurden
von der gleichen Erinnerung verfolgt. Es war nicht das Band zwischen ihnen, das Jack sich gewünscht hätte, aber es war ein starkes
Band. Er wusste nicht, wie Ben damit fertig wurde. Aber Jack tat
gut daran, es zu lernen, denn sonst würde er einem Beruf den Rücken kehren müssen, den er liebte. Das hier brachte ihn langsam
aber sicher um.
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