Ausstellungskatalog
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Ausstellungskatalog
Schloss Trautenfels Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien, Franz Kapfer, L/B, Christian Philipp Müller, Maria Papadimitriou, Kateřina Šedá 3. Juni bis 31. Oktober 2010 Eine Kooperation von Inhalt 1 Peter Pakesch, Dietmar Seiler Ein lebendes Labor oder: Die Regionale im Schloss Martin Prinzhorn Codename Zement 138 Günther Marchner Peripher idyllisch Schnappschüsse einer eigensinnigen Landschaft 150 Peter Gruber Der Autor, seine realen und fiktiven Protagonisten Wegnotizen auf einem literarischen Weitwanderweg 10 Adam Budak Die Performance des einheimischen Lebens oder: Die Herstellung der Welt in die Landschaft der Selbstbedingtheit 32 L/B Beautiful Steps #5 Christoph Doswald Simply Beautiful Über das Moment des Schönen im Werk von Lang/Baumann 48 Kateřina Šedá Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels 190 Hannah Arendt Das Herstellen Tomáš Pospiszyl Ein Glashügel und beleuchtete Kreuzungen 220 Richard Sennett Die Hand 64 Maria Papadimitriou Alpine Altar Jennifer Allen Für immer Parken 80 162 Christof Huemer Wenn Helene kommt Christian Philipp Müller Burning Love (Lodenfüßler) 246 Elke Murlasits Think Global, Fabricate Local? Auf den Spuren des „schaffenden Menschen” in der Region Liezen 252 Gernot Rabl Glaube oder Aberglaube? 258 Gernot Rabl Historischer Aufriss zur Geschichte von Schloss Trautenfels in Verbindung mit klassischen Architektur- und Raumfragen 268 Gundi Jungmeier Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf Andrè Rottmann Der Stoff, aus dem die Kunst ist Christian Philipp Müllers Eigensinn 98 120 Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien Things You Can Walk Into Franz Kapfer Sieh-Dich-Für Pierre Bourdieu Ein Zeichen der Zeit 274 Gundi Jungmeier Das schlechte Gewissen des Homo faber Standpunkte zur Ausweisung von Natura 2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal 280 Günther Marchner Wetterfest in die Globalisierung Notizen zur unverwüstlichen Karriere des Lodens 4 — 5 Vorwort Ein lebendes Labor oder: Die Regionale im Schloss Peter Pakesch im Gespräch mit Dietmar Seiler PP: Mit dieser Ausstellung befinden wir uns in einem Projekt mit einigen ungewöhnlichen und neuen Ansätzen. Wir sind dabei, aus den Perspektiven von Gegenwartskunst und kulturwissenschaftlicher Recherche einen Blick auf eine ganze Region zu werfen. Gerade die Ausstellung in Schloss Trautenfels zeigt exemplarisch viel davon auf. Wie verhält sich das für dich? DS: Für mich ist wichtig, dass ein Festival wie die regionale von der konkreten Realität einer Region und ihren echten Potenzialen ausgeht. Es wäre das Schlimmste für ein Festival, das temporär in eine Region kommt, diese Region mit mehr oder weniger beliebigen kulturellen Aktivitäten überziehen, die dann wieder vorbei sind − sozusagen ein „Festival aus der Retorte“. Das muss man dazusagen, weil das mittlerweile dauernd passiert. Gerade Festivals sind zurzeit bevorzugte Instrumente einer etwas missverstandenen Regionalentwicklung: Wenn der Tourismus nicht so gut funktioniert, wie man es gerne hätte, und die Industrie, die Wirtschaft im Umbruch sind, dann macht man Kultur, und schon hat man ein neues Standbein. Es wird bald klar sein, dass das so nicht funktioniert. Deswegen ist es für mich ganz wesentlich, dass die regionale10 dort anschließt, wo es bereits eine auffällige kulturelle Lebendigkeit gibt, und da ist das Schloss Trautenfels ein eminent wichtiger Ankerpunkt in der Region. PP: Da trifft sich natürlich etwas in unserem Interesse, denn wenn wir als Universalmuseum Joanneum gefordert sind, mit unseren verschiedenen Standorten adäquat umzugehen, ist Schloss Trautenfels natürlich etwas besonderes und spezielles. Es liegt in einer Region, die weit von den anderen Museumsstandorten entfernt und sehr spezifisch gewachsen ist. Schloss Trautenfels ist ein sehr spannendes Museum, das quasi wie eine Insel anmutet, wir bezeichnen es auch manchmal als „das Joanneum in Klein“ − es hat den selben Anspruch der Universalität innerhalb seiner eigenen Sammlung, die naturwissenschaftliche Aspekte ebenso umfasst wie Volkskunde, Archäologie oder Kunst. Dieses breite Spektrum wird in regelmäßigen Ausstellungen immer wieder neu präsentiert, aber gleichzeitig stellt sich für uns die große Frage: Wie verhalten wir uns als einer der großen kulturellen Faktoren da oben? Ich sage bewusst „da oben“, weil damit klar wird, wie weit weg es von unseren anderen Standorten großteils urbaner Kultur ist. So reflektiert Schloss Trautenfels schon rein kulturell sehr viel von den Problemstellungen seiner Region und dessen Einzugsgebiet, das vielleicht mehr nach Salzburg reicht als nach Graz. Damit will ich sagen, dass sich Region hier anders definiert. Diesen Ort als Museum nutzen zu können, ist einerseits spektakulär, erschwert aber auch den Zugang, weil dieser abgehobene Ort an der Wegkreuzung in erster Linie als Burg gesehen wird. Hier finden wir schon sehr viel symbolisches Potenzial, das wir auch nicht so einfach für uns knacken können. Schloss Trautenfels ist ein starker regionaler Faktor, aber wir können nicht davon ausgehen, dass es alle Bewohnerinnen und Bewohner der Region in- und auswendig kennen, obwohl es dort sonst nicht viel anderes gibt, in diesem Gewicht bzw. in vergleichbarer Ausrichtung. Gleichzeitig merken wir an den Besucherzahlen im Sommer, welche starke Rolle der Tourismus dort spielt. Es trifft eine außergewöhnliche Museumssituation auf eine diverse, aber auch starke und motivierte Community, was eben für das Joanneum spannend ist, und für dieses konkrete Ausstellungsprojekt als Motor wirkt bzw. Beteiligung einfordert. DS: Die Community ist für dich... PP: …der stärkste Verein, den wir haben! Die Community sind die vielen Menschen, die sich im Verein Schloss Trautenfels engagieren und die teilweise auch in der REX-Initiative mitarbeiten. Das große Interesse bzw. der Wille, in einer kulturellen Entwicklung vor Ort dabei zu sein, ist dort für mich geradezu verblüffend ausgeprägt. DS: In diesen beiden Punkten, die du ansprichst, befinden sich die regionale und das Schloss Trautenfels in einer ähnlichen Ausgangsposition. Das Schloss liegt auf einem Hügel, und man stellt sich die Frage: Wer kommt denn da rauf? Das gilt auch für ein Festival, das in eine Region hineingeht und dabei Dinge passieren lässt, die womöglich nicht unbedingt selbstverständlich sind. Ebenfalls nicht ganz unwesentlich finde ich den universellen Anspruch des Museums, der trotzdem irgendwie begrenzt werden muss. Wir haben dabei dieselbe geografische Begrenzung, den Bezirk Liezen. Aber beides − der universellt Anspruch und die notwendige Abgrenzung – muss auch permament hinterfragt werden. Was heißt es eigentlich, wenn eine im Grunde nur administrative Einheit 6 — 7 Vorwort sagt: Wir sind jetzt eine Region, die ein Festival macht. Und wenn genau diese Einheit nichts ist, womit sich Menschen tatsächlich identifizieren, weil der Bezirk dafür einfach zu groß ist. Identifikation findet innerhalb sehr viel kleinerer Räume statt. Also muss man sich schon fragen, was es eigentlich bedeutet, diese Grenze zu behaupten. Und das führt dann schon zum nächsten Schritt, bei dem die Ausstellung inhaltlich beginnt, nämlich überhaupt die Frage zu stellen: Was ist eigentlich „das Regionale“? Es gilt, einerseits ganz abstrakt zu betrachten, warum bestimmte Vorstellungen, Ideen und Ansichten zu dem gehören, was wir für „regional“ halten, aber andererseits auch ganz konkret zu hinterfragen, was eine Region denn von anderen Gebieten unterscheidet? Ich glaube, dass die Projekte im Rahmen dieser Ausstellung einiges dazu beitragen können. PP: Ich fand es spannend, wie unterschiedlich die Künstlerinnen und Künstler auf diese Fragen zugegangen sind. Was mich allgemein verblüfft hat – und das ist etwas, womit die Kunst heute sehr spezifisch umgehen kann – ist die Möglichkeit, die wichtigen Elemente, die eine solche Gegend auszeichnen, aufzunehmen und damit arbeiten zu können, und zwar im Kontext einer Haltung, die quasi allerorts geschehen kann. Mit diesem Spannungsfeld bewusst so umzugehen, darin sehe ich schon eine große Kraft, die weder regional noch global ist. Es sind Elemente von Narrativen, von Geschichten, die eben in nicht eindeutiger und nicht eindeutig zu trennender Art und Weise miteinander verbunden sind, und die natürlich dem Alltag an so einem Ort viel mehr entsprechen. Es gibt dort natürlich genauso eine landwirtschaftliche Produktion, die aufgrund der Produkte nur dort sein kann, aber ein paar Kilometer weiter findet man auch Einkaufszentren, die auf der ganzen Welt in haargenau derselben Form existieren können. Auch das Leitmotiv der regionale10, „In der Mitte am Rand“, greift diese Dialektik eines Ortes auf, der verkehrsmäßig enorm durchfahren ist – die nahe gelegene Phyrnautobahn zählt zu den Hauptverkehrssträngen zwischen Nord- und Südosteuropa −, in dem sich aber auch die Entlegenheit manifestiert. Ich bin froh, dass dort etwas in dieser Schärfe stattfindet, und auch darüber, dass dies von sehr unterschiedlichen Akteuren aufgezeigt wird − sowohl von jenen, die vor Ort leben, wie auch von Künstlerinnen und Künstlern. Gerade hier möchte ich zum Beispiel Papadimitriou und Althamer erwähnen, die ja beide immer sehr stark insistiert haben, eine lokale Praxis mit einem großen, global vertretbaren Anspruch zu machen. Das ist durchaus ein Spezifikum, das auch bei allen anderen deutlich wird. DS: Das heißt, du siehst hier auch eine mögliche Stoß- und Zielrichtung, um einen Gegensatz, dem man ja permanent begegnet − zwischen einem unangenehm gewendeten Regionalismus und einem alles gleichmachenden Globalismus −, vielleicht auflösen zu können? Schloss Trautenfels um 1800 PP: Ja sicher, ich würde da gar nicht in der Möglichkeitsform sprechen. Ich denke, dass dies sinnvolle Strategien sind, um eine kulturelle Geschichte der nächsten Jahre zu schreiben. Ich denke, dass wir mitten in diesem Prozess stehen, wobei sich manche stärker und manche weniger stark daran beteiligen, mit diesen Diversitäten besser umzugehen und Lokalitäten umfassend verstehen zu wollen. Wir leben heute nicht mehr in einer einheitlich geformten Welt. Ich meine, in Zeiten einer bipolaren Welt gab es Orientierungspunkte, die sehr hierarchisch aufgebaut waren. Wir nehmen heute mehr und mehr wahr, dass sich geografische Hierarchien in andere Richtungen entwickeln. Es ist natürlich nicht so, dass die Welt enthierarchisiert wurde, aber wir erleben die Wirklichkeit einer multipolaren Welt, eines sehr heterogenes Europas, die wir auch begreifen lernen müssen. Es ist ja nicht so, dass wir uns im Zusammenhang mit einer globalen Position thematisieren, sondern zunächst gilt es, unsere europäische Identität zu entwickeln. Das sind Prozesse, die Hand in Hand gehen. Diese zu buchstabieren, würde ich fast sagen, diese Sprache, dieses Konstrukt, zu lernen, zu formulieren, zu definieren, führt zu interessanten Ansätzen. Gleichzeitig suchen wir eine andere Reflexion, die wir im Zusammenhang der Ausstellung als eine kulturwissenschaftliche betrachten. So kann bewusst betrachtet werden, wie sich diese Kunst, die sich mit dem Alltag beschäftigt, zum Alltag der Menschen verhält, die damit umgehen. DS: Ich finde es sehr wichtig, dass es ergänzend zu den künstlerischen Positionen diese zusätzliche Ebene, diese begleitenden Projekte gibt, an denen sich die Menschen aus der Region beteiligen – das ergibt ein 8 — 9 Vorwort schönes Bild, auch für das Museum. Ich denke, uns beide interessiert an dieser Ausstellung auch die Frage, wie ein regionales Museum sich in Zukunft formulieren kann, wenn es vor allem weg will von der Zuschreibung „Das ist die ‚Burg‘, die definiert und erzählt euch eure eigene Geschichte“, wenn es ein Haus sein will für die Menschen der Region. In diesem Prozess vermittelt die Vorstellung, dass Künstlerinnen und Künstler von außen gemeinsam mit Menschen aus der Region an Erzählungen und Geschichten aus der Region arbeiten, ein sehr schönes Bild von einem lebendigen Laboratorium, das dieses Museum in Zukunft vielleicht sein kann. PP: Ein wichtiges Thema und eine große Herausforderung: Wie funktionieren solche Museen, was sind ihre Aufgaben, was ist geschichtliche Repräsentation, was ist reine Information, die vorliegt und notwendig ist? Aber es stellt sich heute auch mehr und mehr die Frage nach Prozessen − danach, wie man mit Wissen umgeht, wie man dadurch Identitäten schafft, wie man mit der Verfügbarkeit von Bildern umgeht, wie sich das alles manifestiert, sowohl für innen wie für außen. Ich meine, das Spannende gerade an einem Museum wie Schloss Trautenfels ist, dass wir hier ein Haus haben, das für Touristinnen und Touristen genauso interessant ist wie für Menschen aus der Region. Die Bedeutung des vermittelten Wissens ist hier eine ganz andere, vor allem, wenn es sich um lokal konnotiertes Wissen handelt – der schöne Name des Museums ist ja Landschaftsmuseum, es wird also etwas bewahrt, an Geschichte, an Landeskunde für die lokale Bevölkerung zum einen, zum anderen werden aber auch Besucher/innen von auswärts darüber informiert, was das Ortsspezifische ausmacht. In einer Welt, die wie gesagt dabei ist, sich extrem umzugestalten, ist es spannend, inwieweit Prozesse auch so ablaufen können, dass sie nicht in einer Musealisierung im schlechten Sinn münden, die also das Klischee des verstaubten „Museums von früher“ bedienen, sondern sich dynamisch entwickeln, ohne dabei die zu vermittelnden Inhalte über Bord zu werfen. Wenn ich mir zum Beispiel das Projekt von Christian Philipp Müller anschaue, der bewusst auf Textilfertigung mit Loden − also auf eine sehr starke lokale Tradition − eingeht und dabei gleichzeitig eine Strategie der Avantgarde im Umgehen damit verwendet, finde ich das einen sehr wichtigen Ansatz, um etwas klassisch Landeskundliches aufzubrechen. In diesem Zusammenhang wird es interessant sein, inwieweit das Museum und auch sein Publikum in der Folge mit solchen Projekten umgehen, und wie sich das Narrativ des Museums in dieser Region und in den nächsten Jahren weiterentwickelt. A.H. Payne nach L. Mayer Der Grimming, um 1840 (Detail) 10 — 11 Die Performance des einheimischen Lebens oder: Die Herstellung der Welt in der Landschaft der Selbstbedingtheit an unserer Unwissenheit und seiner Unsichtbarkeit leidet und nachdrücklich nach Aufmerksamkeit heischt. Adam Budak Trautenfels, 1681, aus dem Steirischen Schlösserbuch von G.M. Vischer (Kupferstich) Detail aus dem Freskenraum, Schloss Trautenfels 1 Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 100. Was gibt es Bürokratisches in diesen phantastischen Maschinen, die die Völker und Gedichte sind? Es reicht, daß wir uns ein wenig zerstreuen, damit wir uns auf der Oberfläche wissen, daß wir unsere Haut wie eine Trommel spannen, damit die „große Politik“ beginnt. Ein leeres Feld, weder für den Menschen, noch für Gott; Singularitäten; die weder allgemein noch individuell, weder persönliche noch universelle sind, all dies durchquert von Zirkulationen, Echos, Ereignissen, die mehr Sinn und mehr Freiheit verschaffen, mehr Wirksamkeiten, als der Mensch je erträumt und Gott sich je vorgestellt hatte. Das leere Feld zirkulieren zu lassen und die prä-individuellen und unpersönlichen Singularitäten zum Sprechen zu bringen, kurz, den Sinn zu produzieren: Darin besteht heute die Aufgabe.1 Stiegentür in Schloss Trautenfels, Manfred Wolff-Plottegg Buchstaben-Ornament zum Gedenken an Franz Hillebrand, um 1804 Im Herzen des Eigensinns Anmutig, doch asketisch und streng dient die im Jahr 1261 wohl im wahren Geiste des „Eigensinns“ erbaute vormalige Burg Neuhaus an der Kreuzung zwischen der Salzstraße und der Straße durch das Ennstal und vor einem herrlichen Alpenpanorama am Fuße des Grimmings − 1664 von den Grafen Trautmannsdorff unter dem Namen Schloss Trautenfels in Form eines Barockschlosses wiederaufgebaut − wohl als Beispiel für ein ganz besonderes Bauwerk: Einst Bewacher der Brücken über die Enns und der steirischen Grenze, dient dieses großartige rechteckige Gebäude mit überdachten Innenhöfen und einem mächtigen Turm, mit erlesenen Innenräumen, Fresken mit Darstellungen u. a. von Menschen bei der Arbeit, Gemälden mit mythologischen Anspielungen in der Galerie und in vielen Räumlichkeiten der Beletage, heute dem Universalmuseum Joanneum, Österreichs ältestem und zweitgrößtem museologischem Schatz, als Landschaftsmuseum und fungiert als Hommage an die einheimische Bevölkerung, die regionale Geschichte und Erinnerung. Fern jeder schlössertypischen Extravaganz, bedeckt und gar nicht so reizvoll, im Herzen bescheiden und anonym, stellt es ein kaltes Denkmal für (architektonischen) Anticharme dar, das zu Recht 2 Manfred Wolff-Plottegg: Hybrid Architektur & Hyper Funktionen. Wien: Passagen Verlag 2006; ders.: Architektur-Algorithmen. Wien: Passagen Verlag 1996. Offensichtlich befinden wir uns hier genau im Herzen jenes Eigensinns, im zerkratzten Spiegel der Mentalität und des Alltags dieser Region und ihrer Bewohner, in einer (ursprünglichen) physischen wie psychischen Verteidigungslinie. Das Schloss fungiert als kritischer Apparat, als Matrix eklektischen Denkens, als Metapher und Allegorie, Ausdruck einer mühevollen Bautradition, die aufgepeppt wurde durch eine hübsche Fin-de-millenium-artige Revitalisierung (1990-92) durch den steirischen Architekten Manfred Wolff-Plottegg, Verfasser von Hybrid Architektur und Hyper Funktionen und leidenschaftlicher Verfechter von „Architekturalgorithmen“2, deren Prinzipien das Aussehen (und oft auch die Bedeutung) von bekannten architektonischen Elementen verändern. Plotteggs teils futuristische, teils märchenhafte Intervention mit gleichsam nostalgischen Untertönen ist ein verblüffendes und höchst verspieltes Beispiel für moderne Handwerkskunst im historischen Kostüm. Ein Tor ist eine Treppe, Pflastersteine sind Lampenschirme und Elemente des Burggrabens bilden Mauern in dieser algorithmischen Architektur, die das Schloss als Rätsel aus realen wie fiktiven Geschichten betrachtet. Ein solcher räumlicher Plot scheint gut zu dem ornamentalen Relief zu passen, das in eine Wand beim Schlosseingang gemeißelt ist – datiert mit 1790 und im Gedenken an Franz Hillebrand, einen einheimischen Handwerker aus der nahen Stadt Rottenmann. Das geheimnisvolle Tableau ist ein einzigartiges, beinah borgesianisches Rätsel und Diagrammgedicht aus Buchstaben, die, wenn man sie vom Zentrum aus in Richtung der Ränder liest, den Namen der bedeutendsten Familie der Region ergeben, die sich der Eisenverarbeitung widmete, welche neben dem Eisenabbau und der Verarbeitung anderer Bodenschätze der Gebirgsregion wie Kupfer, Silber und Salz die wirtschaftliche Entwicklung der Region wie auch ihr kulturelles Erscheinungsbild in bedeutendem Maße prägte. Er ist aber auch ein kosmologisches Porträt des Homo faber von Trautenfels, einem der wichtigsten „Lokalmatadore“ der Region; genauso wie die Trautenfels’sche Metapher des Eigensinnigen eine Vielzahl der Lesarten des Einen zu erlauben scheint, die in ihrer labyrinthischen Struktur eine oder aber viele Möglichkeiten eröffnen, etwa auch das Wortspiel mit Denkmal (Monument) und „Denk mal!“ (im Sinne von Denkanstoß), und auf diese Weise symbolisch den Rahmen für ein Kunstprojekt bilden, das sowohl Tribut an einen Mikrokosmos als auch Dokument einer lokalen Gemeinschaft sein will. Annäherung an den Homo faber Inszeniert in den Räumlichkeiten des Schlosses Trautenfels ist die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns eine Baustelle des Selbstseins und der Subjektivität. „Vita activa”, einer der grundlegenden 12 — 13 Adam Budak 3 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München: Piper 2010. 4 Ebda, S. 14. 5 Margaret Canovan: Einleitung. In: Hannah Arendt: Human Condition. 2. Aufl., mit einer Einleitung von Margaret Canovan. Chicago: The University of Chicago Press 1998, S. XVI. 6 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa, S. 23. 7 Ebda., S. 16. 8 Ebda., S. 18. Begriffe aus Hannah Arendts bahnbrechendem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960)3, steckt das Wirkungsfeld für sechs Kunstprojekte ab, in denen die Eigenheiten der historischen wie der zeitgenössischen Gegebenheiten der Region Liezen, die − wie im Slogan („In der Mitte am Rand“) des ausrichtenden Festivals, der regionale10, betont wird − im geografischen Zentrum Österreichs liegt doch gleichzeitig an der (steirisch-regionalen) Peripherie, im Transitdenken, am Knotenpunkt dreier wichtiger nationaler Fernstraßen. „Was wir tun, wenn wir tätig sind“4 ist Arendts elementarer Vorschlag zu einer Neubetrachtung der Condition humaine in ihrem Buch, das, wie Margaret Canovan anmerkt, während der Studentenbewegung der 1960erJahre begeistert als Lehrbuch der partizipatorischen Demokratie5 aufgenommen wurde und das nach wie vor eine Quelle der Inspiration und der Kontroverse darstellt. In der Tat bilden „das Schaffen“ – die Aktivität, die sie „Herstellen“ nennt – und „das Soziale” den Rahmen für ihre Analyse einer menschlichen Welt, die von Dauer sein kann. Vita activa tritt als Arendts Version des aristotelischen bios politicos auf, das ein dem Bereich des im eigentlichen Sinne Politischen gewidmetes Leben meinte6. „Mit dem Begriff Vita activa“, – schreibt Hannah Arendt – „sollen im folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“7 Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst. Die Grundbedingung, die dem Handeln entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben. Und im Herstellen letztendlich „manifestiert sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens, das sich der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen Unvergänglichkeit des Geschlechts. Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen (…) In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, (…) und die Welt bietet Menschen eine Heimat in dem Maße, indem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektivgegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist Weltlichkeit“. Arendt weiter: „(…) das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält.“8 Im Bereich der Arbeit tritt der Mensch als Homo faber auf, als der schaffende Mensch, manchmal auch Weltbildner, Werkzeugmacher oder Schöpfer aller Dinge genannt. Arendt übernahm diesen Begriff von Henri Bergson, der in seinem Buch Schöpferische Entwicklung (1921; im frz. Original 1907 erschienen) auf den Homo 9 Henri Bergson: The Creative Evolution. Übers. v. Arthur Mitchell. New York, Dover: 1998, S. 139. 10 Hannah Arendt: Vita activa, S. 451. 11 Danette diMarco: Paradise Lost, Paradise Regained. Homo faber and the Makings of a New Beginning in „Oryx and Crake“. Zit. nach: http://findarticles. com/p/articles/mi_qa3708/ is_200504/ai_n13641438/ (letzter Zugriff: 12.5.2010). 12 Sophie Loidolt: Conditio humana. So lebt der Mensch. Unveröffentlichtes Manuskript, in Auftrag gegeben vom Universalmuseum Joanneum. Wien/ Graz: 2010, S. 2. 13 Richard Sennett: The Craftsman. New Haven: Yale University Press 2008. faber verwies, indem er Intelligenz in ihrem ursprünglichen Sinne definierte, als „die Fähigkeit zur Herstellung von künstlichen Gegenständen, besonders von Werkzeugen zur Herstellung von Werkzeugen und zur unendlichen Variation der Herstellung“9. Arendt entwickelt diese Definition, indem sie behauptet: „Das lateinische Word faber, das vermutlich mit facere im Sinne des hervorbringenden Machens zusammenhängt, bezeichnet den Künstler oder Handwerker, der hartes Material bearbeitet – Holz, Stein oder Metall”10 Nach Arendt hängt die Herrschaft des Homo faber von einer Konstante ab: Er betrachtet sich selbst als das Maß aller Dinge. Obwohl er zur Vollendung seines Werkes zweifellos auf natürliche Ressourcen angewiesen ist, entgeht ihm diese Tatsache, und folglich markiert er die Ressourcen in seinem von ihm hergestellten Werk als unsichtbar. Arendt behauptet, indem sie eine populäre marxistische Behauptung wiederholt, dass der Prozess im Produkt verloren geht, dass mit der Herstellung und der letztendlichen Vergegenständlichung des Produkts der Homo faber selbst die verschiedenen für menschliche Kreativität und Geschicklichkeit bei ihrer Veränderung des innersten Wesens der Natur unabdingbaren Komponenten aus den Augen verliert. Für Arendt ist die wirkliche Tragödie des Homo faber seine Selbstbefangenheit in seiner eigenen Aktivität. Er hat die vergegenständlichte Produktion eingeführt und sich vom Animal laborans das Verlangen nach Überfluss angeeignet – und somit das Ziel der Ernährung und Grundversorgung der Gemeinschaft durch natürliche Ressourcen ersetzt durch jenes der persönlichen (oft finanziellen) Erfüllung durch die Nutzung der natürlichen Ressourcen zur Schaffung eines Mehrwerts.11 Der Homo faber baut sich selbst eine Welt. Er erschafft Werke. Als „artifex“ wie als Schöpfer ist er Meister seines Werkes/Objekts – bis hin zur Möglichkeit, es wieder zu zerstören. Die Welten, die er erzeugt, sind, wie Sophie Loidolt anmerkt, „Welten des Eigensinns. Doch dieser Eigensinn ist immer ein weltlicher Wille. Er ist ein Streben nach einem Sein, das für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potenziellen Unvergänglichkeit des Geschlechts. Weil dieses Sein eine Identität und eine Erzählung in sich birgt, die in den Werken, die es stets neu herstellt, von Trinkgefäßen bis hin zu Landschaftsgestaltung, immer manifest ist. Auch wenn das Herstellen von den natürlichen Ressourcen abhängig ist und auf sie vertraut, ist das dann selbst nicht mehr Natur, weil es den ewigen Kreislauf von Genese und Verfall durchbricht und auf einer neuen linearen Zeitebene endet. Die Tätigkeit des Herstellens hat seine eigene zeitliche Abfolge – einen Anfang und ein Ende. Doch als eine Tätigkeit ist es natürlich ein Prozess, aber keiner, der sich einfach erschöpft und erneuert. Ein Werk entsteht daraus, das in die Welt entlassen werden kann und selbst „‚die Welt’ ist, die bewusst geformt wurde“.12 Richard Sennett betont die Rolle des Homo faber in Arendts conditione humana teatrum und hebt dabei neue Eigenschaften im Gegensatz zum Animal laborans hervor.13 Während das Animal laborans das Herstellen als Selbstzweck betrachtet, ist der Homo faber damit beschäftigt, „gemeinsam ein Leben zu schaffen.“ Laut Sennett ist „der 14 — 15 Adam Budak Homo faber der Richter über materielle Arbeit und Praxis, kein Kollege des Animal laborans sondern sein Vorgesetzter. Deshalb leben wir Menschen (nach Arendts Ansicht) in zwei Dimensionen. In einer stellen wir Dinge her; in diesem Zustand handeln wir amoralisch, ganz in Anspruch genommen von der jeweiligen Aufgabe. Doch bergen wir auch eine andere, höhere Lebensart in uns, in der wir in der Produktion innehalten und gemeinsam zu diskutieren und zu bewerten beginnen. Wogegen das Animal laborans auf die Frage ‚Wie?’ fixiert ist, fragt der Homo faber ‚Warum?’“14 Mehrdeutigkeiten: Eigensinn 14 Ebda., S. 7. 15 Julia Kristeva: Hannah Arendt. New York: Columbia University Press 2001, S. 223. 16 G. W. F. Hegel: Phenomenology of Mind. Mineola: Dover Publications: 2003. 17 H. S. Harris: Hegel’s Ladder. Bd. 1. Indianapolis (u.a.): Hackett 1997, S. 385. 18 Alexander Kluge, Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Aufgabe dieser Ausstellung ist die Untersuchung der möglichen Beziehung zwischen dem Homo faber und der Welt des Eigensinns. Wie schon eingangs erwähnt, sind seine Selbstbefangenheit und seine Selbstwahrnehmung als das Maß aller Dinge möglicherweise ein Beweis für das eigensinnige Wesen des Homo faber. Der Eigensinn als „logischer Eigensinn” (Egoismus) wurde von Hannah Arendt als Privatsinn und im Gegensatz zum Gemeinsinn verwendet.15 Der Begriff Eigensinn selbst hat eine lange Rezeptionsgeschichte. Durch seine Verbindung zu einem Begriff moderner Individualität, der unbedingt auch Selbsttäuschung und ironische Inszenierung beinhaltet, artikuliert er die hegelianische Haltung einer „Gewissheit seiner selbst“. In Die Phänomenologie des Geistes (1807) definiert Hegel Eigensinn als Selbstbewusstsein, das sogar in Knechtschaft bestehen bleibt.16 Der Eigensinn bezeichnet ein starrsinniges Festhalten an einer einzigen flüchtigen Art und Weise, wie die Dinge sind. Hegel betont sowohl die Ambiguität des Eigensinns (in aktiver Souveränität genauso wie im Leid und in der Abhängigkeit, als auch die „Freiheit des Eigensinns“, die das „leere Ich“ charakterisiert.17 Der Eigensinn, so wie auf ihn in der Phänomenologie des Geistes ausdrücklich verwiesen wird, wird als die primitive Entschlossenheit des unreifen menschlichen Tieres wahrgenommen, „seinen Willen durchzusetzen“. Oskar Negt und Alexander Kluge untersuchen in Geschichte und Eigensinn (1993)18 die gesellschaftskritischen Implikationen von Hegels Konzept. Ihre Verwendung des Begriffes Eigensinn untersucht ein Wortspiel mit ihm: „eigen-Sinn“, „jemandes eigner Sinn“ – d. h. „Sturheit“, „Halsstarrigkeit“ oder „das Eigentum betreffender Sinn“. Kluge folgert, diese Form der Eigenwahrnehmung, die für menschliche Wesen unerlässlich ist, wenn Sie die Autoren ihres eigenen Lebens sein wollen, kann nur durch ein Miteinander entstehen. Eigensinn bezeichnet ein Ringen nach Anerkennung und Selbstgewissheit. Für Andreas W. Daum bezeichnet der Eigensinn als analytisches Konzept „eine ganz bestimmte Logik, die von Einzelpersonen und Gruppen in deren sozialer Interaktion verfolgt wird. Es ist nicht bloß eine Sturheit oder Weigerung, sich an die Regeln zu halten; der Begriff bezeichnet nicht unbedingt den Widerstand des Volkes gegen die Autorität. Er bezeichnet vielmehr die Sehnsucht, unabhängig von den Forderungen oder Ansprüchen der anderen zu handeln 19 Andreas W. Daum: Kennedy in Berlin. Paderborn (u.a.): Schöningh 2003, S. 129. 20 Alf Lüdtke (Hrsg.): The History of Everyday Life. Reconstructing Historical Experiences and Ways of Life. Princeton: Princeton University Press 1995. 21 Kathleen Canning: Feminist History after the Linguistic Turn: Historicizing Discourse and Experience. Signs 19/1994. 22 Charles Bright: The Powers that Punish: Prison and Politics in the Era of the „Big House“. Ann Arbor: University of Michigan Press 1996. 23 Ebda, S. 231. und Handlungsmacht einzufordern, wenn auch nur vorübergehend oder in einem begrenzten Rahmen.“19 Der Arbeitshisto-riker Alf Lüdtke versteht unter Eigensinn die wieder in Besitz genommenen Räume der Selbsttätigkeit. Hier wird – gewissermaßen – der Ungehorsam des Eigensinns oder von jemandes eignem Sinn semantisch mit „sich aneignen” verknüpft.20 Kathleen Cannings Untersuchung des Eigensinns greift auf Lüdkes Arbeit zurück, doch ebenso auf Joan W. Scott, und er definiert Erfahrung als „den Ereignissen in dem Augenblick in dem sie passieren Sinn geben (…) sowie als ein ‚eigensinniges Distanzieren‘, das eine ‚Neurahmung‘, eine ‚Neuorganisation‘ ermöglicht, oder eine ‚kreative Neuaneignung der Bedingungen des täglichen Lebens‘“.21 Die Betonung auf „Zustimmung, Neurahmung und Neuaneignung“ in dieser Definition „impliziert, dass Subjekte über eine Art Handlungsmacht verfügen“, und zwar dahingehend, wie sie die Welt auf Basis der ihnen in ihrem soziohistorischen Kontext zur Verfügung stehenden Diskurse interpretieren. Lüdkes Eigensinn als Selbsttätigkeit impliziert eine Reihe von Mehrdeutigkeiten und eine Ambivalenz der Übereinstimmung, die in Lüdkes Augen grundlegend war für das Flickwerk der Aneignung und Reaktion, Annahme und Distanz, das die „Räume der Arbeiter“ als die ihren definierte: bei sich selbst sein oder bei seinen Freunden, doch in jedem Fall „‚Distanz gewinnend‘ von den Anweisungen oder Normen von oben und von ‚außen‘“. Eigensinn ist die Praxis der Zusammenarbeit, während man dagegenhält, klarzukommen ohne überzulaufen, das Spiel mitzuspielen ohne daran zu glauben – auf der Suche nach einem Raum, in dem man wirklich sein kann, aber weder im Widerstand noch in Komplizenschaft.22 Eigensinn erweist sich als Element, das dem Arbeiter bleibt. Man sagt, er sei „die Freiheit, die in der Knechtschaft bleibt“, aber auch ein Geschick, das nur über Macht über irgendetwas verfügt“. Heute ist er die Freiheit, die sich an einer Eigentümlichkeit festmacht. Im vorgesetzlichen Kontext der Lehensherrschaft und Leibeigenschaft war der Eigensinn bereits eine wichtige Fähigkeit; doch nun in der kultivierten Welt des Stoizismus ist er das rechtsgültig anerkannte freie Bewusstsein.23 Die Suche nach einem modernen Hephaistos Das Leben und das Herstellen, sowie die Leidenschaft, die dahintersteht, stehen im Mittelpunkt der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns. Wie durch die Linse eines Vergrößerungsglases wird hier die Condition humaine porträtiert und sie findet ihren Ausdruck in der Performance eines emanzipierten und autonomen Ichs. Der Eigensinn erscheint als geistiger und körperlicher Mechanismus, der die Identität eines gesellschaftlichen und kulturellen Mikrokosmos formt und bedingt: die Konstruktion einer „eigensinnigen“ Weltanschauung als Raum zwischen den Augen, eine Landschaft der Selbstbedingtheit … Wir befinden uns im vagen Territorium eines Zwischenbereichs, in dem das Kleine und Intime, das Persönliche und Exklusive, das unvermeidliche Globale und Kosmopolitische der heutigen Gesellschaft herausfordern. Der Eigensinn ist ein problematisches 16 — 17 Adam Budak Terrain, in dem Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeitsgefühl mit der Sturheit und der egozentrischen Welt der Eigentümlichkeit ringen, wo das Verlangen nach Gemeinschaft auf die Manifestation ganz individueller Glaubensgrundsätze und Wahrheiten trifft. Wie lässt sich die Matrix eines solchen Glaubens darstellen? Wie lässt sich eine solche Haltung umreißen? Was sind die historischen Perspektiven und die zeitgenössischen Bedingungen einer solchen Örtlichkeit? Wie wird lokales Wissen produziert? Diese Ausstellung ist aber auch eine Fallstudie von lokaler Widerständigkeit, von Stolz, Emanzipation und Selbstermächtigung. Wir sind die schaffenden Menschen, Schmiede der Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags, Kinder der Tradition, Schöpfer noch kommender Zukunften und Bildhauer von Orten. Als Studie performativer Zugehörigkeit geht diese Ausstellung der Frage nach, ob der Homo faber in der Welt des Eigensinns überhaupt möglich ist; ihre Anatomie einer (lokalen) Vita activa ist gleichzeitig eine Anatomie des Eigensinns, der Schauplätze seiner Aktivität, seiner auf lokale Sehnsüchte und Ambitionen zugeschnittenen Utopien im kleinen Maßstab. Wie lassen sich Dinge, Köpfe und Denkweisen formen? Die Ausstellung stellt sich der Herausforderung, in die Organisation des Privatlebens des „Lokalmatadors“ und seinem Sinn für die Gemeinschaft, deren teil er ist, hereinzuzoomen. Wie kann man an der Welt des Eigensinns teilnehmen? Was lässt sich über traurige Versuche des gezwungenen Engagements für die sogenannten – fremden – allgemeinen Belange hinaus tun? Eigensinn ist ein Flickwerk aus heroischen Taten und konservativen Ansichten, ein Land der Enge, des Stolzes und der Selbstbehauptung, wo lokaler Gemeinschaftsgeist, das Streben nach Autonomie und Emanzipation und die Vorstellungskraft des schöpferischen Geistes, der nach Senett24 von Widerständigkeit, Ambiguität und Intuition geprägt ist, mit Sturheit und einem Willen zur Distanz und zum Ausdruck seiner eigenen Andersheit im Wettstreit liegen. Im Rahmen der künstlerischen Freiheit des Eigensinn-Syndroms reist der Prototyp des Homo faber, Odysseus mit verbundenen Augen durch dieses Land des Sturheit, in der Hoffnung, die ihm Pandoras Büchse gegeben hat, der Hoffnung, die Welt neu zu erbauen und Kultur und Zivilisation zu erneuern, im Mitgefühl mit der tragischen Figur Hephaistos, dem lahmen Gott der Handwerker, „berühmt für Erfindungen“, Erbauer aller Gebäude auf dem Olymp, Friedensbringer und Zivilisationsschaffer. 24 Richard Sennett: The Craftsman, S. 213. Diese Ausstellung ist eine von sechs partizipatorischen und gemeinschaftsbasierten Kunstprojekten, eine fast wie in einem Kriminalstück von Pirandello orchestrierte Fallstudie, Erzählung der Region und Bestimmung ihrer einheimischen Protagonisten. Sie ist Probe, Untersuchung und Mise-en-scène von Geschichte, Tradition und Kontemporanität, ein Tableau vivant einer widerständigen Identität. Die an Sechs Personen suchen einen Maria Papadimitriou Untitled (T.A.M.A.), 2000 Dreaming the New House, 2004 Autor (1921) erinnernden eingeladenen Künstler machen sich auf die Suche nach einem modernen Hephaistos, indem sie der Eigentümlichkeit einer Region nachspüren, die schon immer als besonders eigensinnig galt. Die Projekte sind in der Tat Beispiele für kritischen Regionalismus – und sind ebenso dynamische Belege für einheimisches Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Die Psychogeografie dieser Ausstellung navigiert zwischen den verschiedensten Aspekten des Lebens der Region: Landschaftsarchitektur und die Organisation des Privatraumes (Franz Kapfer), das sprühende Leben ganz gewöhnlicher Bewohner dieser Region als soziale Skulptur (Pawel Althamer und seine Studierenden), die Bildung einer eigensinnigen Mentalität anhand der Fallstudie zu baulicher Neugestaltung in der Region (Kateřina Šedá), das Phänomen des Genius loci mit einem Verweis auf Natur und Brauchtum der Region (Maria Papadimitriou), Schlossarchitektur als Phantasmagorie (L/B) und die Produktion von realem und symbolischem Wert, wie sie sich in der Tradition eines einheimischen Gewerbes findet (Christian Philipp Müller). Maria Papadimitriou „Alpine Altar“ oder: Rituale des Alltags Maria Papadimitrious Feldforschungen folgen einer Methode, die von der Intensität von bestehenden oder neu begründeten menschlichen Beziehungen und Verbindungen befeuert wird. In ihrer Erforschung der zerbrechlichen Bereiche einer „emotionalen Topografie” legt die griechische Künstlerin ihr Augenmerk auf die Randexistenzen und Unterprivilegierten innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsstruktur. Die Politik des sozialen Raumes, die suburbane Landschaft und der Bereich des häuslichen Lebens stehen im Mittelpunkt ihrer interdisziplinären und gemeinschaftsbasierten Projekte und bilden in erster Linie den thematischen Rahmen für ihr kollektives Langzeitprojekt T.A.M.A. – Temporary Autonomous Museum for All – eine flexible Quasi-Struktur, die in Menidi, einem heruntergekommenen Viertel im Westen von Athen, spontan ins Leben gerufen wurde und von Wanderpopulationen wie den Roma und den Vlach-Rumänen aus Veria praktisch als Zweitwohnsitz genutzt wird. Als mobile postindustrielle Stadt ist T.A.M.A., (das im Griechischen so viel wie feierliches Versprechen, eine Geste der Gabe, der Dankbarkeit oder des Versprechens bedeutet), ein weiterer künstlerischer Versuch der Aufstellung eines Wertesystems bei der Auseinandersetzung mit Themen von bestimmter gesellschaftlicher und politischer Dringlichkeit wie Einwanderung, Armut und Menschenrechte im Allgemeinen. Beinahe unter Anwendung von Camouflage-Strategien tritt Maria Papadimitriou in Gemeinschaften und Gesellschaftschichten ein, nimmt allmählich deren Alltagsgewohnheiten an, dringt ganz tief in deren Lebensbedingungen ein und diagnostiziert auf der Basis ihrer Erfahrung den Status quo dessen, was tunlichst ausgelassen wird oder was allen Strategien oder Ökonomien der offiziellen gesellschaftlichen Zugehörigkeit 18 — 19 Adam Budak Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010 (Fotomontage) 25 Maria Papadimitriou: T.A.M.A., 25. Biennale de Sao Paulo, Futura 2002, S. 13. und Legitimität entgeht. Ihre Kunst ist die Kunst, sich in den Anderen zu verwandeln, seine Identität anzunehmen, in eine Kommunion einzutreten. T.A.M.A. ist der Versuch der Schaffung eines „besseren“, „tragfähigen“ sozialen Raums als Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln und einem offenen Beitrag aller. In ihren Worten „brachten mich die nomadische Lebensweise und die Eigenheiten dieser Gemeinde auf die Idee, zwischen Bewohnern, der Künstlerin, den Kunst- und Kulturschaffenden und der breiten Öffentlichkeit ein System der Kommunikation und des Austauschs zu schaffen. Innerhalb sehr kurzer Zeit realisierte ich, dass alle meine Freunde und Partner an dieser Geschichte mitwirken wollten, die ich ein temporäres autonomes Museum für alle nenne.“25 Das lebende Museum der Künstlerin ist eine Maschine der gesellschaftlichen Möglichkeiten, die innerhalb und außerhalb des institutionellen Rahmens individuelle wie kollektive Gesten erzeugt und vollständig auf die Teilnahme der Menschen angewiesen ist. Als Konstruktion einer gemeinsamen Stimme in der Öffentlichkeit ist ihre Arbeit eine Hommage an das Lokale, das Minoritäre, das Andere. Das Phänomen des Genius loci (des Geistes eines Ortes) war schon der Protagonist zahlreicher bisheriger Installationen von Maria Papadimitriou, die allesamt von der Energie eines ganz besonderen Ortes befeuert waren, seiner realen wie symbolischen Rolle bei der Formung des Lebens der Menschen dort, ihrer Biografien, ihrer Wahrheiten und ihrer Glaubens- und Wertesysteme. Ihre Werke packten in der Tat die Ontologie eines Genius loci an, indem das Dazwischen, das Ephemere, das Intime und das Spirituelle in einer harmonischen Mischung aus Oral History und materieller Kultur erforscht wurde. Eigens geschaffen für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns feiert Maria Papadimitrious Projekt Alpine Altar die lokale Natur und Bevölkerung. Geschichte, Tradition, Bräuche und andere Formen des kulturellen Ausdrucks (Volksmärchen, Sagen und Lieder) tragen zu einer komplexen Ausarbeitung der Landschaft, des Lebens in der Region und regionalen Glaubens. In einem faszinierenden Vergleich zwischen dem nahe Trautenfels aufragenden, die Umgebung dominierenden und oft auch als Mons Styriae altissimus beschriebenen Grimming (etymologisch „Berg des Donners“) und dem Olymp, dem „Heim der Götter“ – insbesondere des Donnergotts Zeus) verweist die griechische Künstlerin auf ihr Heimatland. Papadimitrious Projekt ist eine Tour de force der Schauplätze, ihrer Geschichte, ihrer symbolischen Bedeutungen und aktuellen Wahrnehmungen. Die Künstlerin konstruiert (ihr eigenes) Museum der kollektiven Sehnsüchte: Alpine Altar, ein ganz besonderer Akt der interkulturellen Übersetzung, Zusammenführung des klassischen griechischen Altars mit dem lokalen Kontext des Ennstals. Gebaut aus (Grimming-)Fels ist Papadimitrious Altar ein Schrein der Gelübde, die von den Menschen gesammelt werden und sich auf die Tradition des SchafFestes beziehen, das jedes Jahr in Öblarn gefeiert wird. Der Altar fungiert als Ausdruck des Glaubens der Menschen, als Projektion ihrer Träume Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010 (Recherchematerial) und Fantasien, als Lautsprecher ihrer intimsten gewagten Gedanken und Zukunftshoffnungen. Er ist Erlösungsort und Hort der Hoffnung, Spiegel menschlicher Sehnsüchte, Treffpunkt des Unausgesprochenen und Verborgenen – ein zeitgenössischer Beichtstuhl der Gemeinde und ein utopischer Ort der Katharsis und Kommunion. Der eklektische und heroische Altar der Künstlerin ist äußerster – kollektiver – Ausdruck des Genius loci. In ihrem Brückenschlag zwischen heidnischen und christlichen, fetischistischen und religiösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften fordert Maria Papadimitriou die eigensinnige Mentalität der Bevölkerung des Ennstals heraus. Ihr Altar ist ein Denkmal für viele Mythologien und feiert von Göttern sowie von Menschen geschaffene Reliquien und Talismane. Von Menschenhand geschaffene und auf der geheiligten Fläche eines alten Altars dargebotene Miniatur-Spielzeugschafe leisten ihren Beitrag zu Papadimitrious selbstgefertigtem Ritual: Sie sind Gelübde, Opfersymbole und aufrichtiger Ausdruck eines tiefempfundenen Glaubens, eines Bedürfnisses, das Leben symbolisch als Geschenk Gottes/der Götter und der Natur zu feiern sowie vor unbekannten Kräften zu beschützen. Das literarische Werk von Paula Grogger (1892-1984), einer hochgefeierten Schriftstellerin aus dieser Region, dient Maria Papadimitriou als weiterer Verweis auf Struktur und Geschichte der Region. Paula Groggers umfassendes Werk, und hier vor allem der Roman Das Grimmingtor (1926), ist in seiner Zusammenstellung von - in einer einzigartigen Mischung aus Hochdeutsch, lokalen Dialekten und dem seltsamen Idiom einer Chronik des 17. Jahrhunderts erzählten Mythen und Legenden ein Tableau vivant ihrer Heimat. Als charismatische Schriftstellerin wurde Paula Grogger als eine der „populärsten Erzählerinnen von sentimentalen Volkserzählungen betrachtet, die viel zu deutschnationalem Gedankengut beitrug.“ Während ihr Werk ohne Zweifel eine wenn auch nicht unumstrittene Hymne an die Werte der Region ist, zielt Maria Papadimitriou darauf ab, dem Translokalen (oder zumindest dessen Möglichkeit) Achtung zu bezeugen, sich von dessen Eigensinn zu befreien und Raum für ein breiteres vielstimmiges Verständnis von Kultur und Tradition zu schaffen. L/B „Beautiful Steps“ oder: Im Turm des befestigten Ichs Irgendwo zwischen Installationskunst, Plastik und erweiterter Malerei, und an der Schwelle zwischen Architektur, bildender Kunst und Design angesiedelt, lässt das höchst verführerische und spielerische Werk des Schweizer Kollektivs L/B (Sabina Lang, Daniel Baumann) die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen und entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung. Es handelt sich um ein wahrhaft traumartiges Schaffen voller Nostalgie, es verweist ganz offensichtlich auf das Unterbewusste des Betrachters, während es gleichzeitig tief ins Alltägliche, Profane und Banale eintaucht. Die architektonischen und quasi designten Interventionen von L/B sind 20 — 21 Adam Budak Beautiful Lounge #1, 2003 Joburg Bar in Long Street, Cape Town bisweilen sanftere und dann wieder gewaltsamere Versuche des Zusammenlebens, mal in Freundschaft, mal in Feindschaft, parasitär und willkommen geheißen, doch fast immer angenehm, sympathisch und idyllisch: schön, „einfach schön“.26 Quasi nomadisch lassen sie an Mobilität denken, sind eher Tagträume mit einem futuristischen Flair, Anti-Utopien vielleicht, doch performative Schauplätze potenzieller Erzählungen. L/B sind Meister des visuellen Raumes, meisterhafte Errichter von paradiesischen Welten. Ihre verzauberten (planen) Landschaften und die ephemeren Architekturen ihrer aufgeblasenen Röhren sind Einladungen zu einer halluzinogenen Reise durch die verwunschenen Länder der Fantasie mit einer Explosion aus leuchtenden Farben, psychedelischen Mustern und komplexen Geometrien. Ihre Lounges, Bars und Diskussionsplattformen sind verblüffende Beispiele für sinnliche haptische Räume von überraschender Vieldimensionalität. Industrial Design, Mode, Lifestyle, Tourismus sowie die ästhetischen Ansprüche einer nomadischen Freizeitgesellschaft leisten ihren Beitrag zur ganz besonderen Poetik des Raumes von L/B, einer Union von Neo-Pop Art, Op Art und möglicherweise Post-Minimal und Post-Land Art. Darüber hinaus wird die Funktion des architektonischen Elements hinterfragt und letztendlich annulliert; als Zeugen der Herstellung sind wir in dieser Tour de Force der Perfektion und erhabenen Schönheit mit der Simulation von handwerklicher Tätigkeit konfrontiert. Obwohl sie die plane Oberfläche in starkem Maße fetischisieren, erweisen sich die Tableaus von L/B als ein Ringen zwischen Ebene und räumlicher Tiefe, ein Wettkampf zwischen Perspektive und zweiter Ebene. Doch sind sie eher der Schauplatz der ersten Ebene, eines Bildes im klaren Rahmen einer subvertierten Wirklichkeit, einer lebenden Installation, einer bewohnbaren Umgebung mit partizipatorischem Charakter. 26 Christoph Doswald: Simply Beautiful, in diesem Band. Die im Rahmen der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns präsentierten Projekte von L/B stellen weitere Schritte im ihrem Prozess der Meisterung (kritischer) Schönheit dar: Beautiful Steps #3 und Beautiful Steps #5. Die (räumlichen) Prinzipien des Eigensinns als natürliche Eigenschaft einer konservativen Weltsicht sind wie es scheint ein gerader, schmaler und strikt horizontaler Pfad, ästhetische Strenge der Architektur und eine schmerzhafte Logik der Dinge. Installiert im prächtigen und glanzvollen Marmorsaal des Schlosses Trautenfels provoziert die riesige, überlebensgroße Skulptur Beautiful Steps mit ihrer vielleicht zu offensichtlichen metaphorischen Aufladung. Plötzlich und offenbar ohne unser Zutun finden wir uns im Reich der Allegorie wieder. Über dem Boden schwebend schlängelt sich eine geschwungene weiße Stiege durch dieses großzügige und monumentale Interieur, umgarnt es wie ein Band, das man um ein kostbares Geschenk gewickelt hat, und erreicht den Himmel – die von Carpoforo Tencalla im 17. Jahrhundert mit beeindruckenden Fresken - meisterlichen Variationen auf mythologische Heldenmotive - geschmückte Decke des Marmorsaals. Solcherart in die Höhe gehoben L/B Beautiful Corner #1, 1999 migros museum für gegenwartskunst, Zürich L/B Beautiful Steps #3, 2009 Beautiful Steps #5, 2010 (Rendering) 27 Julia Kristeva: Hannah Arendt, S. 156. ist ihre luftige Gegenwart erhaben und magisch. Eine moderne asketische Struktur korrespondiert mit dem Barock und reicher Aristokratie. Doch diese auf den ersten Blick höchst unpassende Mischung erweist sich sehr bald als durchaus kompatibel und sinnvoll. Die Beautiful Steps #3 necken mit ihrer formalen Reinheit und der Illusion ihrer Benützbarkeit, fordern die Wahrnehmungsfähigkeiten des Betrachters heraus und versetzen ihn in eine recht surreale räumliche Umgebung. L/B steht für Phantasmagorien des Alltäglichen, Schwebezustände der Wahrnehmung und Überarbeitungen jeder konventionellen Semantik des Raumes. Wir befinden uns an der Schwelle zum Absurden; wir erleben die Sensation, das, was sich Logik und Menschenverstand entzogen hat; hier befinden wir uns an der Schwelle zwischen Realität und Fiktion, an der Pforte zur Fantasie. Mit Beautiful Steps #5 setzen L/B ihre Untersuchung von Grenzbereichen fort. In diesem Fall fungiert auch die Architektur des Schlosses als ein Hauptdarsteller in der unheimlichen Vision der Künstler: Zwei schmale Stiegen führen auf rätselhafte Art und Weise auf die diagonalen Schlossfenster zu, überqueren die Fenstersimse und schleichen sich ins Freie davon, setzen ihre Bahn fort und umschließen letztendlich den Turm des Schlosses mit einer bescheidenen ringförmigen Plattform. Eine solche ortsspezifische Intervention gehört dem Genre der psychologischen Architektur an. Teils wie ein Fluchtplan aussehend, teils wie Raumakrobatik à la Alice im Wunderland fungiert sie als Medium einer Vorstellungskraft ohne Grenzen. Ihre elegante neutrale Struktur belebt die eher eintönige Fassade, indem sie eine mögliche zweite Haut enthüllt, in einem für den Historiker interessanten Sinne Spannung erzeugt und einen Verfremdungseffekt, der eine kritische Haltung evoziert. Beautiful Steps #5 lässt sich vielleicht als gebrochene endlosschleifenartige Gedankenlinie wahrnehmen, oder als unmögliche Brücke ohne Zugang als Metapher für Eigensinn in einem als Symbol für das bewehrte Ich zu sehenden Schloss. L/B durchdringen das Verhältnis zwischen dem Drinnen und dem Draußen, dem Öffentlichen und dem Privaten, dem Realen und dem Imaginären. Was entkommt dem Lauf der Geschichte? Wie können wir die Zeit bewahren, die im Flug vergeht? Was ist persönliche und kollektive Erinnerung? Das Projekt von L/B verweist auf die Bedeutung der Oberfläche – der Oberfläche, die zählt, der Oberfläche der Bedeutung, einer Plattform des Sinns. Wir sind Erzeuger der Ansichten der Welt, der Vielzahl der Ansichten. Die Brücke als Umarmung agiert als ein Ausdruck von Arendts Glauben an „gemeinsame Interessen“ oder, wie Cicero gesagt hätte „gemeinsamen ‚Konsens‘“: esse kann zu inter-esse, oder Interesse, werden. Inter-esse ist ein „ZwischenMenschen” und Grundlage und Ziel zugleich, sowie nicht nur Antithese aller totalitären Systeme, sondern aller Formen von solipsistischer Isolation und transzendentalem Utilitarismus“.27 Doch, so wie das auch für Wolff-Plotteggs algorithmische Architektur gilt, sind die Stiegen von L/B nur Instrumente der Sinnlichkeit; sie sind nur ein Verlangen, ein Phantom eines notwendigen Architekturgegenstandes – eines fehlenden… 22 — 23 Adam Budak Pawel Althamer Bródno, 2000, 2000 Common Task, 2009 28 Sarah Cosulich Canarutto: Phenomenology of the Invisible. In: New! Experience Clear and Perfect Vision. Discover a New Reality. Non-addictive/Nondeforming. Pawel Althamer, 19/10/02 – 03/12/02, Comotato Trieste Contemporanea 2002, S. 13. 29 Pawel Althamer im Gespräch mit Maurizio Cattelan. In: Sarah Cosulich Canarutto: Phenomenology of the Invisible, S. 51. Pawel Althamer und seine Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien „Things You Can Walk Into“ oder: Zwischen Herstellen und Handeln Die Bedingungen des Andersseins und Zustände der Fremdheit bilden den Kern von Pawel Althamers Realitätswahrnehmung und seiner Auffassung von der Kunst als therapeutische Aktivität. „Jeden Tag, wohin auch immer ich gehe, fühle ich mich wie ein Außerirdischer, der gerade auf der Erde gelandet ist. Sogar die Dinge, die ich wieder und wieder sehe, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich, weil sie mir jedes Mal neu erscheinen. Und wenn ich mein eigenes Schlafzimmer betrete, habe ich den Eindruck, dass ich es jedes Mal durch eine andere Türe betrete.“28 Seine Kunst ist insgesamt, ganz egal in welchem Medium, eine Art Kostümierung und nimmt die Form einer Übung des erweiterten Selbstporträts an und den reinen Ausdruck der Identität eines Außenseiters, der durch seine Verkörperung des archetypischen Schamanen einen privilegierten Zugang zur Realität innehat. Bei seiner Ausübung zeitgenössischer gesellschaftlicher und privater Alltagsrituale fetischisiert Althamer sich selbst und seine Rolle als Kommunikator mit dem „Außerhalb“ des normalen (Geistes-)Zustands und der herkömmlichen (soziopolitischen) Ordnung. Sein Werk – der Bau einer sozialen Skulptur – strahlt die gleichsam außerirdische Magie ritualistischer Überschreitung aus. „Ich bin ein Mitgefangener – das ist meine Rolle in der Gesellschaft“29, bekennt der Künstler anlässlich einer seiner Interventionen. Außerhalb des Mythos, im Zwischenraum eines Rituals, werden die Wirklichkeit und die Welt im Allgemeinen als Spielfilm wahrgenommen und es ist die Rolle des Künstlers, die Bühne einzurichten und sanft einzugreifen, also Regieanweisungen zu geben und die Ereignisse und deren (lokale) Protagonisten aufzuzeichnen – doch ohne auch nur eine einzige Filmrolle zu verwenden. Dies ist die konzeptuelle Konstruktion der Mehrzahl der Projekte von Pawel Althamer, gemeinschaftsbasierten Projekten im öffentlichen Raum mit Protagonisten wie Obdachlosen, Häftlingen, Kindern, Passanten oder aber den Nachbarn des Künstlers wie im Falle der monumentalen Performance/Aktion/sozialen Skulptur Bródno, 2000, die zu einer eindrucksvollen Manifestation kommunalen Geistes wurde. Ursprünglich geplant zur Feier des neuen Jahrtausends war Bródno, 2000 eine spektakuläre Lichtinstallation, die auf der Fassade eines Häuserblocks im Warschauer Bezirk Bródno, also dem Wohnviertel des Künstlers, „performt“ wurde. Als Ergebnis der gelungenen, äußerst präzisen Zusammenarbeit der vielen, vielen Bewohner des Blocks ergaben die beleuchteten Fenster über die Länge des Blocks die Zahl 2000 in riesigen Ziffern. Als perfektes Beispiel für die Kreuzung des Unmöglichen mit vermeintlich utopischer Kollektivität war Althamers Projekt ein Fest des Engagements und ein Spektakel der Zugehörigkeit, das mithalf, viele Bedeutungen und Bedürfnisse weit über den reinen Kunstkontext hinaus zum Ausdruck zu bringen, indem soziale Anonymität aufgehoben und für gewöhnlich Pawel Althamer und seine Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien Things You Can Walk Into, 2010 (Detail) 30 Sarah Cosulich Canarutto: Phenomenology of the Invisible, S. 13-23. 31 Susanne Cotter: Common Task, Broschüre, Modern Art Oxford, England, December 2009. einander entfremdete Gesellschaftsgruppen aktiviert wurden. Der Künstler verfolgt durch Assimilation und Eintauchen in die vorgegebenen Strukturen die Taktik der sozialen Camouflage als künstlerische Strategie im Umgang mit der Wirklichkeit und deren vorwiegend ökonomischer, politischer und sozialer Konstruktion. „Phänomenologie des Unsichtbaren“ – mit diesen Worten beschreibt Sarah Cosulich Canarutto Althamers quasi naiven und bisweilen recht ephemeren Gesten, die jedoch auf überraschend starken Widerhall stoßen und beinah kathartische Wirkungen zeitigen.30 Die Grenzen des Körpers überschreitend und sich frei in Raum und Zeit bewegend, vermischt der Künstler auf beinah alchemistische Art und Weise Spirituelles mit Irrationalem, Reales mit Fiktivem und Materielles mit Immateriellem. Wir betreten eine metaphysische Erfahrungszone; wir sind im Begriff, an einem geistigen Flug in Parallelwelten von seltsamer Vertrautheit teilzunehmen. Immer befeuert durch Spontanität und einen Sinn für das Unvorhersehbare, verweist Althamers künstlerische Praxis auf Oskar Hansens „offene Form“, die dem Prozess den Vorzug gibt gegenüber dem singulären Objekt, einen Prozess, in dem der Betrachter durch aktive Teilnahme zum Ko-Autor des Kunstwerks wird. Wie Susanne Cotter anlässlich von Althamers jüngstem Projekt Common Task (2009) bemerkt hat, „wird das Leben um uns herum als Ort des erhöhten Bewusstseins und der Entdeckungen offenbart. In jeder Begegnung liegt Potenzial und die Möglichkeiten sind optimistisch gesprochen unendlich.“31 Pawel Althamers Beitrag zur Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns ist eine weitere Übung in der Kartierung eines solchen Felds der unendlichen Möglichkeiten. Realisiert in Zusammenarbeit mit Studierenden der Akademie der bildenden Künste Wien (den Studierenden des erst unlängst an die Akademie berufenen Professor Althamer) ist sein Projekt mit „offenem Konzept“ und dem Titel Things You Can Walk Into (Dinge, in die man hineinlaufen kann) eine wahrlich auf echter Erfahrung beruhende partizipatorische Aktion/Performance/soziale Skulptur, ausgeführt in Form einer ziemlich altmodischen Aktivität en plein air (d.h. einer Tätigkeit unter freien Himmel), womit im Frankreich des 19. Jahrhunderts der Akt des Malens im Freien beschrieben wurde und heutzutage eine Form des kollaborativen Schaffens außerhalb jeden institutionellen Kontexts, ausgeführt in einem Eintauchen in das Leben einer Community. Das Campieren von Althamer und seinen Studierenden auf Schloss Trautenfels verwandelt diesen Ort in einen Schauplatz eines gemeinschaftlichen Rituals und das radikale und dauerhafte Eintauchen in die Örtlichkeit der Region ermöglicht die Kommunion mit der einheimischen Bevölkerung und die Konstruktion einer sozialen Skulptur aus dem pulsierenden Stoff einer lokalen Community. Althamer orchestriert soziale Situationen, manchmal offene, bisweilen intime, in denen die Grenzen zwischen öffentlich und privat verschwimmen, indem er sich selbst spielt und der reale Akt seiner eigenen Hochzeit in der hiesigen romanischen Johanneskappelle eines der grundlegenden Elemente der Dramaturgie des Projekts darstellt. Wir sind bereits Zeugen 24 — 25 Adam Budak Christian Philipp Müller Green Border, 1993 Performance anlässlich der Venedig Biennale eines weiteren Films im Kopf unter der Regie von Pawel Althamer, oder wir berühren das authentische Gewebe des ganz gewöhnlichen Lebens, oder aber wir erleben beides gleichzeitig, da wir offenbar bereits IN DIE DINGE HINEINGELAUFEN SIND… In seiner Transzendierung der Grenzen des Vertrauten und Hinterfragung des Status des Aliens ist das Projekt Things You Can Walk Into eine weitere Kritik an der Mentalität des Eigensinnigen. Der Ruf nach Zusammengehörigkeit und ein Sinn für Zugehörigkeit und Gemeinschaft, der so typisch für Althamers Künstlerethos ist, ist der Weltsicht des Homo faber ähnlich und erlaubt die Wahrnehmung des Künstlers als reine Verkörperung der Vita activa: „Die Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf Tätigsein eingelassen hat, bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. (…) Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt. Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, dass Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft.”32 Genau dort sollte man Althamers Praxis ansiedeln – im Zwischenbereich zwischen Herstellen und Handeln: „Dieser besondere Bezug, der das Handeln an das menschliche Zusammen bindet, scheint es vollkommen zu rechtfertigen, dass schon sehr früh (bei Seneca) die aristotelische Bestimmung des Menschen als eines zoon politikon, eines politischen Lebewesens, im Lateinischen durch das animal socialis wiedergegeben wird, bis schließlich Thomas [von Aquin] ausdrücklich sagt: ‚homo est naturaliter politicus, id est, socialis (Der Mensch ist von Natur politisch, das heißt gesellschaftlich)’”.33 Das ist genau die Gesamtdimension Pawel Althamers künstlerischer Praxis: Politik und Gesellschaft. Christian Philipp Müller Space Rendez-Vouz, 2008 Manifesta 7, Rovereto Strickmuster „Brennende Liebe“ Christian Philipp Müller „Burning Love“ oder: Das performative Porträt eines Lokalmatadors 32 Hannah Arendt: Vita activa, S. 33. 33 Ebda., S. 34. 34 James Meyer, Christian Philipp Müller: Ein Gespräch. In: Philipp Kaiser (Hrsg.): Christian Philipp Müller. Basel: Kunstmuseum Basel, Museum für Gegenwartskunst 2007, S. 41. Christian Philipp Müllers kritische Kunstpraxis beschäftigt sich mit der Kartierung der institutionellen und geopolitischen Parameter des Vernakulären. Sein Werk ist die Mise-en-scène verschiedenster Wissensdisziplinen, geschaffen von einem Künstler, der in die verschiedensten Rollen schlüpft – Archivar, Forscher, Kommunikator und Performer. Dabei bleiben die Themen nationale Identität und Konstruktion von Grenzen im Zentrum von Müllers Untersuchungen der Ökonomien des jeweiligen Ortes und der Politik der Zugehörigkeit. Für die Installation Grüne Grenze, die er 1993 für den österreichischen Pavillon im Rahmen der Biennale von Venedig realisiert hat, überquerte der Künstler im Wanderer-Outfit acht Mal illegal Staatsgrenzen. „In meiner Anleitung zur Grenzüberquerung machte ich Vorschläge für das beste Outfit, um mit der Landschaft zu verschmelzen. Heutzutage ist der Tourist die unauffälligste Gestalt“34, bekennt der Künstler bei der 35 Ebda., S. 56. 36 James Meyer: The Functional Site. In: Platzwechsel. Ursula Biemann, Tom Burr, Mark Dion, Christian Philipp Müller, Kunsthalle Zürich 1995, S. 25-29. Beschreibung seines bahnbrechenden Projekts, das mittlerweile zu einem Symbol für den künstlerischen Diskurs zur Politik nach 1989 und Themen der nationalen Repräsentation geworden ist. Das gesamte Schaffen von Christian Philipp Müller scheint ein Statement gegen den Eigensinn zu sein. In einem Gespräch mit James Meyer räumt er ein: „Ich hasse starre Identitäten. Ich glaube an multiple Identitäten (…) Wir werden alle auf Klischees reduziert. Wir werden typisiert, weil unsere Gesellschaft mit multiplen Identitäten nichts anfangen kann. Wenn ich über diesen Bach springe, dann sehen Sie mich genau im Dazwischen, an der Grenze: Das ist es vor allem, worum es in meiner Arbeit geht. Sie ist eine Hybride. Sie haben ein Bild vor sich und eine Bildunterschrift, und sie versuchen dann im Kopf eine Verbindung zwischen dem, was Sie sehen und dem was Sie lesen herzustellen. Was ich dabei erreichen möchte, ist die richtige Abstimmung. Ich versuche das geeignete Medium, den Maßstab, den Raum und die Einbeziehung meines eigenen Körpers zu finden, um meine Botschaft rüberzubringen. Zum Beispiel zeigte ich in Venedig nicht das Werk von Christian Philipp Müller. Ich präsentiere mich nicht selbst als das Produkt. Ich präsentiere Umstände. Ich orientiere mich in der Arbeit an Themen, vorgegebenen und selbst gewählten.“35 Seine für die Manifesta 7 (2008) konzipierte Feldarbeit/Installation/Performance Space Rendez-Vous ist ein komplexes ortsspezifisches Gebäude aus Querverweisen, in dem der Futurist Fortunato Depero auf Weltraumeroberungsträume aus der Zeit des Kalten Krieges trifft, die globale Industrie und folkloristische Allegorien. Müllers Carro Largo-Parade, die bevölkert war mit in Trachten für Deperos festa dell’uva im Jahr 1936 gekleideten Menschen war ein ehrgeiziger Versuch, unter Verwendung des kritischen Vokabulars einer globalisierten Welt die Dogmen des Regionalismus neu zu schreiben. Christian Philipp Müllers Kunstpraxis (zusammen mit dem Werk von u.a. Fred Wilson, Mark Dion, Andrea Fraser) wurde von James Meyer als Erforschung des so genannten „funktionalen Ortes“ beschrieben, einem erweiterten Ortsbegriff, der im Gegensatz zu einem (physikalischen) festen Ort als „ein Prozess, ein sich zwischen Orten vollziehender Vorgang, eine Kartierung institutioneller und diskursiver Verzweigungen und der sich dazwischen bewegenden Körper (vor allem dem des Künstlers) verstanden wird. Es ist ein Ort der Informationen, Schauplatz des Ineinandergreifens von Texten, Fotografien und Videoaufzeichnungen, physikalischen Orten und Dingen: ein allegorischer Ort (…).“36 Nach dieser Definition ist das Werk eine Bewegung, eine Bedeutungskette; eine Funktion erscheint in der Passage zwischen Orten und Blickwinkeln. Meyer unterstreicht die Bedeutung des Zusammentreffens zwischen dem Produzenten und dem Ort, an dem die grundlegenden Identitäten des Künstlers und einer Gemeinde zusammenfallen oder ernsthaft herausgefordert werden. Eine solche Praxis weist Züge einer „diskursiven Performativität“ auf, einer bestimmten Form der sozialen Maskerade, die tiefergehende Forschung, kritisches Engagement und Identifikation mit dem Thema bzw. dem untersuchtem Subjekt erleichtert. 26 — 27 Adam Budak Christian Philipp Müller Burning Love (Lodenfüßler), 2010 Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das er für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns vorbereitet hat, ist eine vielschichtige, beinah monografische Erforschung der regionalen Identität durch die ganz besondere Fallstudie einer für das Ennstal typischen Tradition – der Herstellung von Loden, einem dicken Wollstoff, der von der Textilindustrie der Region zur Herstellung von einheimischer Mode verwendet wird. Der sinnliche Projekttitel ergab sich aus der Aneignung des Namens eines Musters – „Brennende Liebe“ – das von lokalen Sockenherstellern (Lodenfüßler) entwickelt wurde und dem der Künstler im Rahmen des Besuchs eines in Schloss Trautenfels stattfindenden Handarbeitstreffen erstmals begegnet ist. Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das Einblicke in Herstellung und Gebrauch einer Tracht liefert, die für nationale Identität und ein Gefühl von Zugehörigkeit steht, spürt nicht nur den Mechanismen des Handwerksethos und der Konstruktion vom Nationalstolz und Emanzipation nach, sondern definiert auch Tradition als Synergie von Leben und Gemeinschaftsgeist und artikuliert ein Bedürfnis nach (historischer und ideologischer) Kontinuität und kultureller Vielfalt, wie es in einem im Katalog von Loden Steiner 2009/2010 gefundenen Slogan zum Ausdruck gebracht wird: „Zukunft braucht Herkunft, denn je globaler die Welt, desto wichtiger die Wurzeln”. Müllers Projekt umfasst eine ganz besondere Performance: eine Prozession über 42 Kilometer mit 25 Einheimischen, die eine Art kollektive Tracht aus einem 50 Meter langen Lodenstoff von Steiner als spektakuläre mobile Skulptur durch das Ennstal hinauf zum Landschaftsmuseum Schloss Trautenfels tragen. In seiner Reise zwischen den Kontexten, die immer zu engen Grenzen nur eines kulturellen Ausdrucks hinter sich lassend, bringt der Künstler hier eine Mise-en-scène auf die Bühne, die gleichermaßen bodenständig wie weltgewandt ist, da sie, unter anderem, an die Aktionen von James Lee Byars anklingt, der 1968 das größte Kleid der Welt hergestellt hat, mit dem 500 Menschen um die Häuserblocks von New York zogen, oder an die Arbeiten von Christo, Helio Oiticica oder Robert Morris. Müllers unheimliche Verschmelzung von Modeschau und Ritual ist ein einzigartiges und einmaliges performatives Porträt eines Lokalmatadors – die Feier einer Leidenschaft, die man oft „brennende Liebe“ nennt“… Kateřina Šedá „Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels“ oder: Die Möglichkeit von Katharsis Kateřina Šedás künstlerische Praxis ließe sich vielleicht als Chronik der kollektiven Erinnerung und Storyboard des sozialen wie individuellen Imaginären beschreiben. Präziser formuliert sind es die Überschneidungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, die den Inhalt wie den Umfang des beeindruckenden Werkkorpus der tschechischen Künstlerin ausmachen. Ihre Grafiken, Videos und Installationen sind Musterbeispiele für einen neokonzeptuellen Ansatz, bei dem der dokumentarische Kateřina Šedá It Doesn‘t Matter, 2005 Over and Over, 2008, Berlin Biennale Modus der persönlichen Erfahrung der Realität gefiltert durch die Linse künstlerischer Manipulation entspricht. Šedá manipuliert Wahrnehmung wie Imagination von kommunalen Strukturen, aber auch ihrer eigenen Familie, und erzielt dabei unerwartete, beinah magische Ergebnisse, irgendwo an der Schwelle zum Unbewussten. Weder interventionistisch noch aktivistisch birgt ihre Kunst mit ihrer Einfachheit und vorgeblichen Naivität eine therapeutische Kraft in sich, fähig zu beinah revolutionären Veränderungen. Die Künstlerin kombiniert in ihrer Untersuchung der Bedingungen von „Normalität“ und der Aufstellung ihres eigenen subjektiven moralischen Werteindex Vertrautes mit Verdrängtem, die große Erzählung mit der kleinen und gewöhnlichen. Auch das Gefühl für Wichtigkeit wird aus dem Gleichgewicht gebracht: Kateřina Šedás Interesse gilt Neubewertungen von Verhaltensmustern und Urteilssystemen. Für gewöhnlich ist die Alltagsroutine Ausgangspunkt ihrer gleichsam soziologisch motivierten und oft psychologisch intensiven Untersuchungen des Alltäglichen. It Doesn’t Matter (2005), eine Grafikenserie und ein Video, ist ein repräsentatives Beispiel für Kateřina Šedás Strategie: Hier erlegte die Künstlerin ihrer inzwischen verstorbenen Großmutter die Aufgabe auf, aus dem Gedächtnis so viele Produkte zu zeichnen, die sie in mehr als 30 Jahren im Haushaltswarenladen der Familie in ihrer Heimatstadt Brno verkauft hatte, und rettete die alte Frau somit aus der tiefen Depression, in die sie in ihren letzten Lebensjahren gefallen war. It Doesn’t Matter als auferlegte Nachstellung der Vergangenheit ist ein Tableau des Gedächtnisses und des Akts des Erinnerns, ein Leben in seiner aufrichtigsten und elementarsten Form. Berührend und höchst intim, sorgt dieses Werk für eine Neubelebung der Kunst als soziale Praxis und verringert ihre Losgelöstheit von der Banalität des Alltags. Šedá betrachtet die Kunst als Instrument der Kommunikation und des Handelns bzw. Agierens - oder vielmehr Reagierens - in Not- oder Konfliktsituationen. Ihr prozess- und gemeinschaftsbasiertes Projekt Over and Over (2008) ist ein Mikroporträt der heutigen Gesellschaft und die eingehendere Untersuchung der Künstlerin der Veränderungen der Mentalität der Menschen unter dem Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich in Kateřina Šedás Heimatland, Tschechien, vollzogen haben. Ein architektonisches Element, das normalerweise kommunale Verbindungen trennt oder eindämmt, ist hier der Protagonist: der Zaun einer privaten Umgebung und das dazugehörige Gartentor. Šedás 40 Nachbarn aus einem Vorort von Brno wurden darum gebeten, die Zäune zwischen ihren Eigenheimen zu überqueren und wurden darauf nach Berlin eingeladen (da Over and Over ein Auftragswerk der Berliner Biennale war), um auch dort ihre Zäune aufzubauen und erneut ein offenbar kathartisches Ritual des Zusammenseins und der Trennung zur Aufführung zu bringen. Im Kern partizipatorisch, ist dieses Projekt eine recht ironische Fallstudie einer ganz gewöhnlichen Aufgabe und eine Untersuchung dahingehend, was denn eigentlich die Menschen wirklich verbindet. Projekte aus jüngster Zeit wie What Can I Do? und It Can’t Be Helped, die in kleinen Gemeinschaften in der Stadt bzw. 28 — 29 Adam Budak Kateřina Šedá Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, 2010 auf dem Land durchgeführt wurden, wären noch weitere zwei Beispiele für Šedás Kritik an Gentrifizierung, Landbesitz und globalen Ökonomien, die die Ursache für Stadtsanierungen bilden und die Entscheidungen von multinationalen Konzernen beeinflussen. In beiden Fällen wird durch lächerliche Baumaßnahmen entweder die Landschaft vor Ort zerstört oder die Bewegungsfreiheit und der Komfort der Anwohner ernstlich getrübt. Das dunkle Metalltor eines neuen Eigentümers versperrt den Weg und nimmt dem Bereich jedes Sonnenlicht; eine neu errichtete Industriezone mit einer riesigen Autofabrik nimmt auch ihre Umgebung in Beschlag, indem sie sie etwa mit einer aggressiven Flut künstlichen Lichts blendet. Das Gefühl von Resignation und Hoffnungslosigkeit angesichts der Macht der politischen Autorität überwiegt in Kateřina Šedás emotional aufgeladenen Untersuchungen des Scheiterns und der Absurdität. Die Unmöglichkeit von Kommunikation (einschließlich des Scheiterns des Zusammengehörigkeitsgefühls), Ignoranz, Menschenrechtsverletzungen, Nichtachtung der Privatsphäre – das sind die wichtigsten Themen von Kateřina Šedás Projekten, die quasi als Lautsprecher fungieren, für vorwiegend marginale Gemeinschaften/ Gemeinden, die von Global Playern unter Druck gesetzt wurden. Die Künstlerin beschreibt die Entstehungsgeschichte ihres neuen für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns in Auftrag gegebenen Projekts als in der Tat neue Erfahrung, die sich wirklich von ihren bisherigen Projekten, die vorwiegend mit Tschechien zu tun hatten, unterscheidet: Als sie die einheimische Bevölkerung des Ennstals darauf ansprach, erfuhr sie, dass in dieser (geografisch und politisch) offenbar idyllischen Landschaft keinerlei Wunsch oder Bedürfnis nach Veränderung besteht. Darüber hinaus wird das alles beherrschende Naturschauspiel, der Grimming, nicht als Barriere betrachtet, von der Landschaft und Menschen voneinander getrennt werden, sondern vielmehr als zentrale Schnittstelle, die alles auf den Punkt bringt: Von der Künstlerin aufgefordert, sich vorzustellen, was sich hinter dem Berg befindet und das, was sich genau hinter dem Berg befindet, zu zeichnen, lieferten die Einheimischen der Künstlerin ein perfektes Bild von hoher Präzision. Der Berg schien durchsichtig zu sein; der Sichtbarkeits- oder Wahrnehmungstest der Künstlerin scheiterte … oder war letztendlich ganz unerwartet erfolgreich! Jedenfalls brachten weitere Nachforschungen Kateřina Šedá auf den wahren Kern der entdeckten lokalen Kontroverse: der geplante Bau des größten Kreisverkehrs Österreichs, und zwar mitten in einem Ortszentrum, mit dem zwar der Transitverkehr erleichtert und das Problem mit dem Durchzugsverkehr gelöst sein, aber die bestehende Raumorganisation zerstört würde, das Dorf praktisch durchschnitten und somit das Leben der Bewohner schwieriger würde. Diese Entscheidung wurde nun schon seit beinahe drei Jahrzehnten heiß debattiert und konnte bislang von Interessensgruppen, Bürgerinitiativen wie LIEB, NETT und der Kampagne „Stop Transitschneise Ennstal“ erfolgreich verhindert werden. Mit ihrem Projekt Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels erweitert Kateřina Šedá ihr Interesse an Metaphern des Lichts und der Blendung, der Sichtbarkeit und der Transparenz, als Instrumente einer aktiven Kritik an Modernisierung und Industrialisierung. „Der geplante Kreisverkehr, genauso wie die Autofabrik mit ihrem Licht, blendet die Anwohner und die Menschen können sich durch die Dunkelheit gar nicht sehen“, meint die Künstlerin und stellt sich die Aufgabe „eine Möglichkeit zu finden, wie die größtmögliche Personenanzahl durch das blendende Licht (den Kreisverkehr) verbunden werden und auf diese Art und Weise ihr Blick nur in eine Richtung gelenkt werden kann.“37 Šedá organisiert eine ganz besondere performative Zeichensession von kollektiver Urheberschaft, indem sie die Einheimischen dazu auffordert, den Kreisverkehr mit verbundenen Augen mit Buntstiften zu zeichnen. Diesem Konzept folgend, zusammengefügt und geschichtet, bieten die überlappenden Zeichnungen eine „einheitliche“ Sicht auf einen höchst problematischen Gegenstand – einen metaphorischen, beinah halluzinatorischen Knoten aus den verschiedensten Vorstellungen und Erwartungen. Hier in diesem kritischen Akt der Gruppentherapie betritt das Individuum die kommunale Ebene und erreicht auf auf diese Art und Weise möglicherweise die Neuverhandlung oder Erweiterung der Grenzen des Eigensinns. Franz Kapfer “Sieh-Dich-Für” oder: “My Home Is My Castle”, einmal umgekehrt Franz Kapfer Zentaur, 2004/05 37 Katerina Seda: Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, Projektbeschreibung. 38 Roger M. Buergel in: Franz Kapfer/Emil Varga, Katalog. Fotogalerie Wien, 2003. Die Untersuchung von Klischeedarstellungen bildet die Grundlage für viele Projekte des in der Steiermark geborenen Künstlers Franz Kapfer. In seinen bildhauerischen Interventionen und auf Video, inszenierter Fotografie und Performance beruhenden Arbeiten werden in einem Akt der Herstellung der ganz persönlichen Privatmythologie des Künstlers – einem subjektiven Theater der männlichen Identität, da, in den Worten Roger M. Buergels, Kapfer „mit der dynamisierten Pose, der Maskerade oder der Dramatisierung seiner eigenen Erscheinung arbeitet“38 – antike und christliche Ikonografien einer Neubetrachtung unterzogen. Seine Kunstpraxis beruht auf einer Performativität, die auf die Tradition der Performancekunst und der Body Art der 1970er-Jahre verweist. Es finden sich auch Anklänge an die Poetik des mittelalterlichen Theaters und sie erinnert auch an die Figuren der Commedia dell‘ arte mit ihrer für das Bachtinsche Karnevaleske typischen Körperlichkeit, Groteskheit und ihrem so genannten „Realismus auf einer niedrigeren Ebene“. (Männliche) Körperpolitik und Sexualität stehen im Zentrum seiner kritischen Untersuchungen von Identitätsbildung (Gender-Diskurs), Gesellschaftsstrukturen (Faschismus, Familie) und Religion (Katholizismus), die er in Form einer Reihe von performativen Travestie-Tableaus zur Aufführung bringt. Indem er in Rollen aus der Mythologie oder der Weltgeschichte schlüpft, Rituale nachstellt und deren Symbolsprache hinterfragt, untersucht Kapfer die Darstellungsmuster, von denen unsere Vorstellung und Wahrnehmung der Welt geprägt ist. Mal als mythologischer Pan verkleidet, der seine Freundin verführen möchte, mal als Zentaur, der seiner 30 — 31 Adam Budak Franz Kapfer Rom 2003, 2004 Wunderwürdiges Kriegsund Siegs-Lager, 2008 Tochter näher kommen möchte, aber immer wieder an ikonische Figuren aus der Welt der Mythen, Sagen und Legenden erinnernd, probt der Künstler auf offenbar selbstironische Art und Weise seine Vater- und Liebhaberrolle. Fruchtbarkeit, Sexualität, Liebe, Familie, Vaterschaft – dies sind die großen Themen aus Kapfers Repertoire, in dem Scheitern, Impotenz und Illusion quasi als Chor hinter der Bühne den Plot kommentieren. (Nicht nur) das mythologische Kostüm hilft dem Künstler, die falsche Seite der Wirklichkeit zu entlarven: indem er seiner Tochter im Video Zentaur (2004/5) „Höre, höre Tochter, alles ist Lüge“ ins Ohr flüstert; indem er die Binsenweisheit „Die Welt ist eine Bühne“ postuliert, während sein eigener Körper mit bildhauerischen Mittel neu gestaltet wird und in mimische Interaktion mit den Steinbildern des Brunnens auf dem Salzburger Kapitelplatz (1991) tritt, oder mit dem Denkmal von Kaiserin Elisabeth (1991) und dem St. Sebastian Friedhof (1991) in seiner Performance Festspiele; oder, indem er mit den Plastiken in Rom 2003 (2004) aus seinen skulpturalen Objekten ein trügerisches Idyll schafft, das - obwohl es auf Fruchtbarkeitssymbole der österreichischen Alpenwelt verweisen und italienische Glaskunst simulieren soll - zum Großteil aus weggeworfenen Plastikflaschen besteht, die er in Rom als Müll eingesammelt hat. Kapfers Theater ist ein Brecht’sches Theater. Gesellschaftskritik, Geschichte und Politik ergänzen das Themenspektrum, das auf der Bühne dieses Künstlers zur Aufführung gelangt. Seine Installation und Architekturintervention Wunderwürdiges Kriegs- und Siegs-Lager des Prinzen Eugen (2008/09), die er für das Obere Belvedere realisierte, vergrößert durch unterhalb aufgestellte große Spiegel einige der weniger gut sichtbaren Fragmente des Deckenfreskos im Marmorsaal, insbesondere jene, auf denen die von vier türkischen Sklaven erlebte Unterdrückung und deren Wehklagen dargestellt sind und welche neben den Allegorien der Tugenden des Prinzen die Zeit überdauert haben. Inmitten des herrlichen Interieurs errichtet, umreißt die scheinbar abstrakte minimale Struktur sowohl das Siegeslager des Prinzen als auch ein Türkenzelt. Kapfers Installation Trophäen (2010) ist eine Sammlung von skulpturalen Silhouetten von klischeehaften türkischen Motiven, wie sie in der österreichischen Architektur zu finden sind. Den Künstler interessieren die Überführungen von Ideen und die verborgenen Motive des Kulturapparates, wie sie etwa beim Status des Bildes in der heutigen Gesellschaft sowie bei der Konstruktion einer Symbolsprache der Repräsentation zum Ausdruck kommen. In der für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns realisierten Installation Sieh-Dich-Für untersucht Franz Kapfer die Eigenheiten der einheimischen Architektur des Ennstals. Auf Architektur wie Geschichte von Schloss Trautenfels verweisend, sowie auf einen seiner Besitzer, General Trauttmansdorff („Am liebsten experimentierte er, General Siegmund J. von Trauttmansdorff, ausgiebig in seinem militärischen ‚Labo- Franz Kapfer Trophäen , 2007 Sieh-Dich-Für, 2010 39 Franz Kapfer: Sieh-Dich-Für, Projektbeschreibung. ratorium’, das er sich auf der Bastei hatte einrichten lassen. Durch seine spontanen Schießübungen und Probesprengungen erschreckte er die Bevölkerung, die zunächst mit einem anrückenden Feind rechnete, immer wieder”), und auch auf die so genannte Alpenfestung und deren historischen und ideologischen Hintergrund (am Toplitzsee experimentierte ab 1943 das „Torpedolaboratorium” der Seemarine, gegen Ende des Krieges wurde das Ausseerland angesichts der unmittelbar bevorstehenden militärischen Niederlage als „Alpenfestung des Dritten Reiches“ propagiert39, führt der Künstler eine vergleichende Studie zu privaten wie öffentlichen Mustern der Raumorganisation durch und zeichnet Beziehungen nach zwischen auf der einen Seite militärischem Design (V2-Raketen, Minen, Bomben usw.) und Verteidigungsarchitektur (Burgbasteien und Befestigungen) und, auf der anderen, der Art und Weise wie die einheimische Bevölkerung ihre intimste und privateste Wohnumgebung gestaltet, inklusive Gartengestaltung und Landschaftsarchitektur der Umgebung. Die Wohnhäuser der Menschen mit ihren massiven hohen Zäunen, die aus dichter Vegetation herausragen, verwandeln sich hier in kleine Festungen und Tempel der Privatsphäre des in höchstem Maße beschützten Lebens; die gesamte häusliche Umgebung erinnert an eine Art „Gated Community“, eine gefängnisartige, eher aggressive und brutalistische, wenn auch sterile und elegante und von der sie umgebenden Welt abgekapselte Kleinbürgerwohnsiedlung. Kapfers theatralische Installation ist fürwahr eine Recherche der Bildung (einheimischer) Mentalität und Wahrnehmung, sowie des Wesens einer unterbewussten Referenz, von der die einheimische Wohnarchitektur beeinflusst ist. Seine Skulpturen von mauerartigen Zäunen und raketenartigen Thujen sind überzeugende Metaphern des Eigensinns – Monumente der Isolation, der Engstirnigkeit und des antikommunalen Geistes. Aufgestellt im Freien, auf einer der Terrassen des Schlosses, steht die monumentale Textskulptur Sieh-Dich-Für, die auf den eigentlichen Namen der Bastei verweist, für Franz Kapfers subjektive Definition von Eigensinn, und suggeriert die Unmöglichkeit von Kommunikation, Unzugänglichkeit und ein verzweifeltes Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Emanzipation. Kapfer setzt sich hier ironisch mit „My home is my castle“ auseinander, einem an und für sich freundlichen, guten alten englischen Sprichwort, das hier aber doch pejorativ besetzt ist, als Sehnsucht nach Abtrennung und Entfremdung, nach Herstellung unsichtbarer abgeschlossener Welten, die weder Zugang noch Einblick bieten. Darüber hinaus liefert er noch einen kritischen Kommentar auf das noch immer präsente Erbe des Faschismus und dessen autoritären Denkmustern. Eindrucksvoll und triumphierend überblickt Kapfers Skulptur Sieh-Dich-Für die Landschaft und sieht der Bevölkerung ins Auge – als provokanter Ruf nach einem notwendigen Wandel. 34 — 35 Simply Beautiful Über das Moment des Schönen im Werk von Lang/Baumann 1 Lang/Baumann: Beautiful Book. Zürich: JRP | Ringier 2008. Christoph Doswald In Marmorsaal von Schloss Trautenfels in der Nähe von Graz sollen nun weitere Kapitel dieses L/B-Schönheitsdiskurses geschrieben werden: Beautiful Steps #3, eine Skulptur in Form einer 12 Meter langen, leicht gekrümmten weißen Treppe, die horizontal über den Köpfen der Betrachter im Barocksaal schwebt. Und wie fast immer, wenn L/B das Thema Schönheit anpacken, geschieht dies mit einem architektonischen Echoraum - so auch bei den schönen Stufen, die sich im Milieu des feudalen Herrensitzes breit machen, ihre behauptete minimalistische Schönheit mit der herrschaftlichen Kulisse in Dialog bringen: ein Wort- und Formenwechsel zwischen barocken und modernistischen Ordnungssystemen. Allzu gerne möchte man sie beschreiten, diese formreinen Treppenstufen, die in den farbüberladenen, elysischen Himmel zu führen versprechen; man möchte den Boden der Realität verlassen: schwebend, träumend, lustwandelnd, sich der Verführungskraft hingebend, auf Augenhöhe mit Göttern und Engeln. Im ästhetischen Diskurs der Jetztzeit herrscht ein merkwürdiges Misstrauen gegenüber dem Schönen, das sich im Wesentlichen auf die Paradigmen der Moderne zurückführen lässt. Verkürzt gesagt geht es um Fragen der Wirklichkeit, der Authentizität, der Wahrhaftigkeit und der Glaubwürdigkeit. Schönheit steht immer im Verdacht, diese normativen, aufklärungsmodernistischen Kriterien nicht zu erfüllen. Die schöne Oberfläche stellt zwar einen durchaus geschätzten gesellschaftlichen Wert dar, doch steht sie immer im Verdacht, die möglicherweise dahinter liegende wirkliche Wirklichkeit zu manipulieren, sie zu verfälschen und zu camouflieren. Bei der Beurteilung von Kunstwerken ist dieser Widerspruch noch ausgeprägter anzutreffen. L/B Street Painting #1, 2003 Môtier, Schweiz Das aus der Schweiz stammende Künstlerpaar Sabina Lang (*1972) und Daniel Baumann (*1967), das unter dem Kürzel L/B firmiert, beschäftigt sich in seinem Werk häufig mit diesem Paradoxon des Schönen. Es gibt Beautiful Walls, Beautiful Windows, Beautiful Corners, Beautiful Entrances, den Beautiful Floor, die Beautiful Steps, das Beautiful Mezzanine, den Beautiful Carpet und die Beautiful Lounge – und schließlich auch ein Beautiful Book1, das diese seit 1991 andauernde Beschäftigung mit dem Schönen dokumentiert. Man könnte mittlerweile fast ein ganzes Gebäude mit den Versatzstücken dieser künstlerischen Tätigkeit errichten. Marmorsaal um 1940 36 — 37 L/B Dass bei solchen Verlockungen durch das Schöne immer irgendwo der Absturz lauert, ist ein kulturgeschichtlicher Topos, der sich in unser tiefstes Unterbewusstsein eingebrannt hat. Besonders deutlich wird das bei jener Skulptur, die L/B als Beautiful Steps #5 an die Außenwand eines rund laufenden Eckturms von Schloss Trautenfels applizieren. Im Obergeschoss des Turms erschließen zwei Treppen, die durch bestehende Außenfenster geführt werden, einen um die Außenfassade laufenden Steg. Die Treppenaufgänge sind begehbar, sodass für Besucher des Schlosses der Eindruck entstehen muss, auch der Steg könne benutzt werden. Ein Irrtum: Der umlaufende Steg hat kein Geländer und ist in Leichtbauweise gefertigt, sodass die Konstruktion höchstens eine symbolische Tragfähigkeit aufweist. Simply beautiful. Schön, aber nicht benutzbar. Eingangsbereich Schloss Trautenfels mit architektornischen Elementen von Manfred Wolff-Plottegg Stiegentür in Schloss Trautenfels, Manfred Wolff-Plottegg L/B Beautiful Steps #5, 2010 (Rendering Innenansicht) 38 — 39 L/B Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg, um 1500 40 — 41 L/B 2 Vgl. hierzu das Projekt Höhenrausch, das im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms über den Dächern von Linz 2009 realisiert wurde. L/B Beautiful Steps #3, 2010 (Fotomontage, Marmorsaal) Beautiful Steps #3, 2009 Le Confort Moderne, Poitiers Mit Gegenwartskunst vertraute Betrachter mögen sich dieser Frage der Benutzbarkeit differenziert nähern. Denn es gab ja bereits komplette Ausstellungen, die sich mit der Rekontextualisierung von Museen oder Ausstellungsräumen beschäftigt haben, oder die mit einer PerspektivenVerschiebung nach oben dem White Cube aus luftiger Höhe einen neuen Blickwinkel zu verleihen versuchten.2 Beautiful Steps #5 ist jedoch keine begehbare Skulptur, die nach Benutzbarkeit verlangt, sondern eine Intervention, die auf subtile und vielfältige Weise mit unserer Vorstellungskraft spielt: Theaterkulisse, Architekturdiskurs, Design-Tourismus, Freizeitgesellschaft, Jugendkultur, Zukunftsgläubigkeit, Retrovision um diese Ambivalenz der Wahrnehmungen, um diese Ausdifferenzierung im post-postmodernen Bewusstsein geht es bei den vordergründig so spektakulären archiskulpturalen Interventionen, die L/B unter dem Deckmantel des Schönen in unsere Welt bringen. 42 — 43 L/B L/B Beautiful Steps #2, 2009 11. Schweizerische Plastikausstellung, Stadt BielBienne L/B Beautiful Steps #4, 2009 Le Confort Moderne, Poitiers 44 — 45 L/B L/B Comfort #3, 2005 KBB, Barcelona L/B Comfort #6, 2008 Madrid 46 — 47 L/B Diving Platform, 2005; Marks Blond Project, Bern L/B Spielfeld #2, 2004; Zollkanal Speicherstadt, Hamburg 50 — 51 Ein Glashügel und beleuchtete Kreuzungen Tomáš Pospiszyl I Einige von Kateřina Šedás Projekten verströmen ein besonders rustikales Flair: Sie behandeln nicht die aktuellsten globalen Themen, sondern beziehen sich auf Individuen und Gemeinschaften, die wahrscheinlich normal scheinen, alltäglich und marginal. Sie interagieren mit Orten, die die dramatischste Periode ihrer Existenz schon hinter sich haben: das kleine staubige Dorf Ponětovice, die nicht besonders beeindruckende Gegend von Líšeň oder das vergessene ostdeutsche Loch Uhyst, aus dem jeder, der etwas aus seinem Leben machen wollte, längst weggezogen ist. Wenn es etwas gibt, das diese Orte verbindet, ist es ihre besondere posttraumatische Situation. Es sind Orte, die jeweils in einer bestimmten Situation aufgebaut wurden, die sich in der Zwischenzeit substanziell verändert hat. Die politischen Regime haben sich dabei ebenso geändert wie die Art des Lebensunterhalts und des beidseitigen Kommunizierens; Zivilisationszyklen wurden ausgewechselt. Als Generatoren des europäischen Wohlstandes sind Dorf und Landwirtschaft seit Langem ersetzt worden. Nicht sosehr durch die Industrie, sondern durch eine abstrakte Dienstleistungsökonomie und die unklaren Regeln der Weltwirtschaft. Das sozialistische Wohnungsprojekt, das Dorf und die Kleinstadt müssen sich mit einer Zeit arrangieren, die sich von jener, in der sie geformt wurden, vollkommen unterscheidet. Die Situation, dass Menschen noch immer mit einem Fuß in der Vergangenheit leben, mag für das postkommunistische Europa typisch erscheinen. In dieser Hinsicht ist der österreichische Ort Trautenfels keine Ausnahme. In Osteuropa sind die neuen sozialen Konstellationen nach Jahrzehnten der Stagnation nur umso sichtbarer. Sogar in einem österreichischen Tal wird das Leben seit Langem von der Tourismusindustrie, und nicht von der Landwirtschaft diktiert. II Die Kunst ist ein Werkzeug, das die Veränderungen der Welt einfangen kann. Es macht – manchmal unabsichtlich oder als Nebenprodukt – die Beziehung zwischen Mensch und Natur und seiner Umgebung sichtbar. Die Kunstgeschichte hat aufgezeigt, auf welche Art Künstler wie z.B. Jean-François Millet, Gustave Courbet oder die Impressionisten des 19. Jahrhunderts den Wandel in der menschlichen Naturwahrnehmung bildlich darstellten. Durch die moderne Art zu leben spielte die Landschaft nicht nur für die Existenzgrundlage eine Rolle, sondern wurde auch zu einem Ort der Kontemplation, zu einem Hilfsmittel der menschlichen Subjektivität. Die zuvor genannten Künstler leisteten nicht mehr oder weniger, als in der Landschaft zum ersten Mal das zu sehen, was ihre Vorgänger immer noch nicht sehen konnten. Die Beziehung zur Natur ist nicht länger das dominierende Element der menschlichen Existenz. Wesentlich mehr Macht über sie hat etwas, das wir soziale Natur nennen können. Dennoch widerspiegeln die von Menschen besiedelten Landschaften ihre Zivilisation akkurat. Vorstadtbauten, Industrieanlagen oder sogar ein Blick auf Hochspannungsleitungen symbolisieren perfekt die Beziehungen und Werte einer Gesellschaft, die diese verwendet. Diese Gesellschaft ist von zentralisierten Energieressourcen und von Mobilität abhängig. Die Landschaft wird von einer Geometrie der Straßen durchdrungen, die – im Gegensatz zu jenen der Vorzeit – von völlig neuen Gesetzen regiert werden. Autobahnen, Überführungen oder Kreisverkehre haben klar definierte Transportfunktionen. Wir können sie aber als Metaphern der Funktionsweise der Gesellschaft wahrnehmen – als irrationale Symbole bisher unbekannter moderner Religionen. 52 — 53 IV Kateřina Šedá III Kateřina Šedá gibt zu, dass sie die Organisatoren von Ausstellungen wohl manchmal zur Verzweiflung treibt. Man kann schwer abschätzen, wie lange sie an dem neuen Projekt gearbeitet hat. Sie weiß nicht, wann genau es ihr gelang, einen Weg zu finden, um auf diese neue Herausforderung zu reagieren. Dazu kommt, dass Trautenfels ein idyllischer Ort ist. Die Einwohner selbst tun sich schwer, etwas zu benennen, das sie gerne geändert hätten. Als ob das Ausmaß dessen, was in ihrem Leben veränderbar ist, bereits vom großen Grimming ausgefüllt wird, der für jeden Tag und jede Jahreszeit ein eigenes, besonders wandelbares Licht aufweist. Zuerst ließ Šedá die Einheimischen das zeichnen, was hinter dem Hügel liegt, auf dem Schloss Trautenfels steht. Aufgrund der Erfahrungen in ihrem Heimatland erwartete sie, dass der Hügel als ein Hindernis wahrgenommen würde und die Einheimischen nur eine dunkle Ahnung von der Welt hinter ihm haben. Es zeigte sich aber, dass der Hügel ein natürlicher Teil des Lebens der Einwohner von Trautenfels ist. Er repräsentiert keine physische Barriere, sondern einen Punkt, der Menschen aus den umliegenden Gegenden verbindet. Es ist, als könnten sie ganz bis zum Tal hinüber sehen. So als wäre der Hügel aus Glas. Aber was kann man als Malerin mit einer Landschaft anfangen, die transparent wie Glas ist? In ihr kann man nichts sehen. Der Kreisverkehr, der im Zuge der Vorbereitungen für die Ski-Weltmeisterschaft in Schladming geplant ist, hat die Atmosphäre im Dorf radikal verändert. Mit einer Breite von 60 Metern wird er die größte Konstruktion dieser Art in Österreich sein – und wird die Stadt förmlich in mehrere Segmente zerteilen. Der geplante Kreisverkehr machte plötzlich das ganze Dorf, seine Gemeinschaft und Lebensweise sichtbar. Kateřina Šedá strebt nicht nach seichtem politischem Aktivismus, der danach bewertet werden kann, wie sehr durch ihn die Welt korrigiert wurde. Das ist das Ziel der Politik, die Šedá von der Kunst zu unterscheiden weiß. Ihr Ziel ist scheinbar simpler und doch in seiner Schwierigkeit nahezu undurchführbar: Die Entstehung von Leben zu sehen und dann an andere weiterzureichen. Diese Herangehensweise lässt an das mittelalterliche Konzept der Illumination denken, dem Zustand der Erleuchtung, der Fähigkeit, plötzlich die Wahrheit zu erkennen. Die Offenbarung der Welt ist an ihr Verständnis geknüpft. Die Einzigartigkeit der Kunst, im Gegensatz zur Landläufigkeit der Politik, liegt in einer ähnlich kreativen Epistemologie, in der Fähigkeit, Phänomene wahrzunehmen, die vorher nicht sichtbar waren. Das ist die erste Voraussetzung, um die Welt bewerten und gegebenenfalls korrigieren zu können. Der Kreisverkehr, der ohne große Warnung mitten in Trautenfels auftauchte, hat etwas gemeinsam mit der Schicksalshaftigkeit von Seuchen oder Springfluten. Die moderne Zivilisation produziert hier so etwas wie einen Berg aus Beton und Asphalt, einen Punkt, nach dem die Einwohner von Trautenfels die Hand ausstrecken müssen. Ihre Zeichnungen des geplanten Kreisverkehrs lassen an die Berichte von Menschen erinnern, die versuchen, ihre Begegnungen mit außerirdischen Unbekannten weiterzugeben, mit einer höheren Ordnung, deren Kraft der Monumentalität jener der umliegenden Alpen ähnelt. Die Sammlung dieser Bilder ist nicht der Versuch einer Art von Kunst-Petition zum Stopp eines unsensiblen Bauprojekts, sondern ein vergeblicher Versuch, das Problem schon vorher so zu zeichnen, dass es gerade durch seine Darstellung gelöst wird. 1, Sonja Pichler 5, Gertrude Schwaiger 6, Sabine Geier 9, Selina Winterer 12, Stefanie Harreiter 15, Reinhold Schirl 17, Markus Maurer 18, Carmen Fladl-Schachner 21, Monika Kogler 22, Florian Kogler 32, Johanna Leyendecker 33, Silvia Fercher 44, Christiane Tasch 55, Alois Brettschuh 58, Annika Hofer 63, Anna-Lena Kanzler 82, Gerhard-Thomas Posch 65, Julian Schmied 73, Karl Bindlechner 89, Helene Kreutzer 93, Alois Perl 95, Manuela Zeiringer 100, Johann Karl 110, David Wieser 123, Dominik Gastel 130, Gerald Habeler 139, Maria Kreisel 141, Thomas Klingler 133, Silvia Kolb 148, Lena Gasteiner 152, Markus Mößlberger 155, Melanie Resch 157, Roswitha Kals 164, Helmut Krasa 172, Marigona Rexhaj 174, Patricia Kleewein 177, Daniela Auritsch 185, Nada Huber 186, Michaela Ulz-Schirl 200, Alexandra Danglmaier 203, Peter J. Gragabber 181, Julia Ritt 188, Stefanie Haigl 198, Patrick Schranz Bild aus der Überlappung der Zeichnungen Nummer 9, 44, 46, 49, 51, 54, 55, 62, 65, 73, 74, 76, 135 66 — 67 Für immer Parken Jennifer Allen Was haben alle Reisenden gemeinsam? Sie müssen einen Schlafplatz finden, sei es für eine Nacht, eine Woche oder ein Monat. Der zeitgenössische Reisende sieht sich mit einem weiteren Dilemma konfrontiert, das durch das Finden eines Hotelzimmers nicht gelöst ist. Reisen ist heutzutage nicht nur häufiger, sondern auch standardisierter geworden. Dieser Standardisierungsprozess, der mit der Einführung der Zeitzonen im letzten Jahrhundert seinen Anfang nahm, wurde durch den internationalen Flughafen, der jede Flugerfahrung der anderen gleichen lässt, intensiviert. Anders als frühere Reisende, die unterwegs immer auf Abenteuer eingestellt waren, erwarten wir, dass die Abenteuer erst beginnen, wenn wir unsere Destination sicher erreicht haben. Am Besten sollte während einer Reise gar nichts passieren, das über die Bewegung hinausgeht. Die Taxis sollten pünktlich sein, der Flug ruhig, und das Gepäck sollte so wieder auftauchen, wie wir selbst es bei der Ankunft tun: von der Ortsveränderung unberührt. Doch wenn die Zeit zunimmt, die wir unterwegs und in der Luft verbringen, führt unser Wunsch nach ereignislosem Reisen dazu, Erfahrung und Erinnerung auszulöschen. Die Architektur und das Design von Massenmobilität – Wartehallen, Gepäckrollbänder, Taxistände, Parkplätze, Hotelzimmer – widerstehen den Spuren jener Menschen, die sie benutzt haben. Wir verbringen mehr Zeit im Übergangsstadium – das bewohnend, was Marc Augé „Nicht-Orte“ nannte – und produzieren mehr und mehr – sowohl kollektive als auch individuelle – „Nicht-Geschichte“. Was viele Reisende heute teilen, ist fortwährende Bewegung ohne Erinnerung. Für immer Parken Maria Papadimitriou befasst sich mit diesem Dilemma auf zwei Arten. Erstens zielen Papadimitrious Arbeiten auf den Reisenden ab, indem sie die Architektur und das Design der Massenmobilität reproduzieren. Maria Papadimitriou Hotel Grande, 2005 Altstadt von Larissa, Griechenland Das Hotel, das Auto, der Bahnhof – allzeit benutzbar – können in ihrem interaktiven Oeuvre eine Rolle spielen. Zweitens fügt Papadimitriou jedem Schauplatz tragbare Formen des Gedächtnisses hinzu. Diese Formen des Gedächtnisses sind kein Touristenplunder, sondern eher „Memoria-Kram“, den jeder so leicht mit sich führen kann wie ein Lied. Songs, Träume, Geschichten und Bräuche werden als mnemotechnische Praktiken in ihre Interventionen integriert: Hilfsmittel, die es Reisenden ermöglichen, sich der Vergangenheit zu besinnen und die Gegenwart zu erinnern. Im Jahr 2003 lud Papadimitriou am Bahnhof von Modena, von dem aus Züge zum Arbeitervorort Sassuolo fahren, den Chor Coro popolare di San Lazzaro ein, im Wartesaal kommunistische Revolutionslieder und erotische Stücke zu singen – Musik, die sowohl vergangene als auch gegenwärtige Anstrengungen und Freuden der pendelnden Arbeiter harmonisierte. In einem Athener Migrantenviertel verwandelte Luv Car (Transbonanza Platform for Public Events) – ein mit Tanzboden und einer Soundanlage ausgerüsteter Pick-up – im Jahr 2003 internationale Passanten in tanzende Passagiere und ließ Popsongs aus aller Welt ertönen. Letztes Jahr errichtete die Künstlerin ein provisorisches Kino an einer Tankstelle am aus Larissa hinausführenden Highway und zeigte Alexis Damianos’ Filmklassiker über griechische Emigration, Until the Ship Sails (1966); ein Stop an der Tankstelle konnte hier plötzlich mit anderen kollektiven historischen Reisen verbunden werden. In einem tropischen Garten der Villa Olimpica in Puerto Rico schuf Papadimitriou 2004 Hypothesis 2, The Soul Message Formula (Illumina tus sueños, Amphiareion 04), ein Heilungszentrum, das vom griechischen Halbgott Amphiaraos, der auch Orakel und Heiler war, inspiriert wurde. Menschen, 68 — 69 Maria Papadimitriou die auf den provisorischen Betten unter freiem Himmel schliefen, konnten ihre Träume erhellen und gleichzeitig mythologische Praktiken des alten Griechenlands wiederbeleben. In diesen Interventionen erschafft Papadimitriou nicht nur einen Übergangsort für Menschen in Bewegung, sie bietet ihnen auch die Gelegenheit, ihre Erfahrung des Ortes einer Erinnerung aus der Vergangenheit einzuschreiben. Der „Nicht-Ort“ – egal ob Bahnhof oder Tankstelle – markiert eine außergewöhnliche Begegnung mit der Geschichte. Homer als Architekt Maria Papadimitriou Temporary Office, 2004 Fondazione Adriano Olivetti, Rom T.A.M.A., 2005 Papadimitrious Antwort auf das Dilemma eines Lebens in ständiger Bewegung – Strukturen für die Mobilität und die Erinnerung zu kreieren – beinhaltet das Schaffen eines neuen Gleichgewichts zwischen Architektur und Eigentum. Um sicherzugehen, dass ihre Arbeiten von allen benutzt werden können, bevorzugt Papadimitriou Schauplätze, die dem Besessenwerden von nur einer Person widerstehen – Orte, die so kollektiv bleiben wie Sinnsprüche, Legenden und Volkslieder. Tatsächlich behandelt die Künstlerin Gebäude so, als wären sie Oral History: kollektiv besessen, immer verfügbar, durch Zirkulation überdauernd. Diese Vorliebe, Architektur wie Mythologie funktionieren zu lassen, hat einen direkten Einfluss auf Papadimitrious architektonische Designs. Während Reisende ihre idealen Benutzer darstellen, heißen ihre Arbeiten nicht nur Touristen und Geschäftsleute willkommen, sondern auch Pendler, Passanten, Wanderarbeiter und sowohl legale als auch illegale Migranten. Ihr bisher ambitioniertestes Projekt T.A.M.A., das sie 1998 startete und das noch immer läuft, verwandelt ein Zigeunerlager am westlichen Rand Athens in ein Temporäres autonomes Museum für alle (Temporary Autonomous Museum for All), in dem rumänische Nomaden mit Nomaden aus der Kunstwelt zusammenarbeiten können. Um universale Zugänglichkeit zu garantieren, bevorzugt die Künstlerin die öffentliche Sphäre – nicht genutzte Parzellen im Verbund mit Parks, Straßen, Museen – ihre Strukturen hingegen sind meist temporär, mobil und parasitisch, um der Verwandlung in nicht exklusives privates Eigentum von Anfang an zu widerstehen. Hotel Grande (2005) – ein Hotel, das in einem verlassenen Geschäft installiert wurde und rund um die Uhr für Reisende, die in Larissa Halt machten, offen stand – ist ein gutes Beispiel. Ihre Baumaterialien – billig, gefunden, second-hand – sind Ready-mades, die nicht in Gefahr kommen, abtransportiert zu werden, egal ob von Dieben, Vandalen oder der Müllabfuhr. Mit dieser Materialwahl erforscht Papadimitriou die seltsame Kategorie des Mülls: Dinge, die in einer Spannungslage existieren, da sie nicht mehr wirklich benutzt werden, aber auch noch nicht weggeworfen wurden. 2004 sammelte Papadimitriou den Müll, der im Keller der Fondazione Adriano Olivetti in Rom herumstand – altes Bürozubehör, darunter Olivettis eigene altmodische, aber voll funktionsfähige Maria Papadimitriou Luv car (Transbonanza Platform for Public Events), 2003, Menidi, Athen 70 — 71 Maria Papadimitriou Computermodelle, Schreibmaschinen, Faxgeräte – und schuf ein temporäres Büro im Ausstellungsraum der Fondazione. Papadimitriou belebte die erloschene Geschichte von Olivetti und machte diese Vergangenheit gleichzeitig zu einem öffentlichen Sekretariat, in dem Touristen auf ihrem Weg von der oder zur nahen Piazza Navona sich ausruhen, reorganisieren oder vielleicht eine Postkarte auf einer originalen Schreibmaschine schreiben konnten. Hier wird die Vergangenheit weder zu einem Objekt noch zu einem Spektakel; die Reisenden nehmen die Erfahrung mit, wie es denn ist, die Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit zu schreiben. Ihnen gehört der architektonische Ort, nicht durch Verdienst oder Titel, sondern durch die Praxis der Benutzung der Geschichte des Orts. Bei What do we Really Remember? (2003) bestand der Müll aus einem aufgegebenen Brunnen im Hof eines ehemaligen Dominikaner-Klosters, das jetzt das Rathaus von Sternatia, Magna Graecia, ist. Menschen, die den Hof betraten, lösten Bewegungssensoren aus, die eine Aufnahme traditioneller griechischer Lieder – gesungen von einem örtlichen Jugendchor – einschaltete, die im ausgetrockneten Brunnen versteckt war. Wenn die Besucher dann in den Brunnen blickten, lösten sie weitere Sensoren aus, die die Musik leiser werden ließ. Der leere Brunnen füllte sich mit lokaler musikalischer Geschichte, die von den Körpern der Besucher ein- und ausgeschalten wurde. In Papadimitrious Arbeiten – wo Müll auf Mythos trifft – verschlechtert die öffentliche Benützung die Geschichte nicht, noch tilgt sie sie, vielmehr bringt sie Erneuerung und Dauerhaftigkeit. Zirkulierende Geschichten Für die Ausstellung Less (2006) im Padiglione d’Arte Contemporanea in Mailand schuf Papadimitriou ihre eigene Version eines mongolischen Ger-Zelts, um Mobilität und Gedächtnis als eine Strategie für alternatives Leben neu zu überdenken. Das runde Zelt mit einem Loch im Dach und einer Tür ist das tragbare Heim der mongolischen Hirten; dieselbe Struktur – bekannt als Jurte – wird von nomadischen Hirten in ganz Zentralasien verwendet. Seine Stärken liegen in seinen gebogenen Scherengitterwänden, die auf Hängen stehen und starken Winden widerstehen können. Seine Bedeutung wird in der Flagge Kirgistans demonstriert, die den Dachring des Zelts zeigt; die Geschichte einer Familie kann an den Rauchmalen, die sich rund um den Ring über die Jahre angesammelt haben, gemessen werden. Der Ger und die Jurte – leicht zu transportieren und schnell zu bauen – sind nicht nur ein Lebensstil, sondern für die Nomaden in Zentralasien auch eine Art gelebter Geschichte. Inspiriert von der Tradition dieser Zelte, erlebte Papadimitriou ein Ger nahe bei sich zu Hause in Athen während einer Reiki-Behandlung. Diese natürliche Heilmethode, bei der Energie mit den Händen des Heilers durch den Körper des Patienten gechannelt wird, ist uralt und wurde im späten 19. Jahr- Maria Papadimitriou Hotel Grande, 2005 Maria Papadimitriou My Yurt, 2006, PAC, Mailand Maria Papadimitriou Alpin Altar, 2010 (Recherchematerial) hundert vom japanischen Minister Dr. Mikao Usui wiederentdeckt. Wie auch die nomadische Kultur, lebt Reiki durch orale Tradition; seine Geschichte wurde mündlich überliefert, und alle, die es praktizieren, müssen von Meistern ausgebildet werden, die ihrerseits von alten Meistern ausgebildet wurden. Papadimitrious eigene Heilungserfahrung ist Teil einer menschlichen Kette, die bis zu Dr. Usui zurückreicht. Wenn auch der Ger keine Rolle in dieser Geschichte spielt, wurde er doch Teil der Gegenwart des Reikis, da viele Heiler die runde Form des Zelts, das keine Ecken und keine Stützpfosten im Zentrum aufweist, schätzen. Um diese nomadischen Geschichten zu kombinieren – der Ger als Heim von Hirten und Reiki als Weg, die Körperenergie zu bewegen – hat Papadimitriou ihren Ger mit Polstern und Teppichen ausgestattet, sodass Reisende sich niederlegen, relaxen und Energie tanken können. Und um deren mündliche Erinnerungen zu erfrischen, hat die Künstlerin den Ger um Erzählungen sowie um Aufnahmen von traditionellen Geschichten auf Italienisch, Englisch und Türkisch ergänzt. Dort zu liegen und zuzuhören ist eine Einladung, mit Geschichte als eine Erfahrung zu leben, etwas, das weder angefasst, noch besessen werden kann, aber durch Zirkulation gedeiht. Alpiner Altar In der Steiermark stellt der Grimming mit seiner eigensinnigen Immobilität eine neue Herausforderung für sich bewegende Erinnerungen dar. Für die Ausstellung Der schaffende Mensch brachte Papadimitriou ihre Heimat Griechenland und ihr Gastland Österreich zusammen und baute aus Steinen vom Grimming einen traditionellen griechischen Altar. Weit von einer einfachen Mischung entfernt – ein antiker griechischer Brauch, der mit zeitgenössischer österreichischer Landschaft verschmolzen wird – legt Papadimitrious Geste eine tiefere Verbundenheit zwischen den beiden Ländern frei. Der Olymp – Heimstätte der zwölf olympischen Götter der Antike – ist der höchste Gipfel in Griechenland und der Grimming einer der höchsten in der Steiermark. Doch das sind nicht die einzigen Ähnlichkeiten zwischen Olymp und Grimming nicht. Jacob Grimm zeigt in seiner Studie Deutsche Mythologie (1835), dass der Name Grimming auf das slawische Wort germnik und das altslawische gr‘mnik zurückgeführt werden kann, was in modernem Deutsch soviel heißt wie „Donnerberg“. Natürlich war der Herrscher des Olymps kein Geringerer als Zeus, der Gott des Donners und des Wetters, des Gesetzes, der Ordnung und des Schicksals. Kurz gesagt: Der Grimming ist der Berg Zeus’. Grimmingtor Grimming/Olymp Paula Grogger Das Grimmingtor, 1926 Wie Sir James Frazer in The Golden Bough (1890-1915) bemerkt, wurde Zeus am Olymp und anderswo unter dem Beinamen „Donnerkeil“ verehrt, während einige Statuen den Gott einen Blitzstrahl haltend zeigen. Quer durch die europäischen Mythologien – vom griechischen Zeus zum römischen Jupiter, vom nordischen Gott Thor zum litauischen Perkunas, vom Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010 (Recherchematerial) keltischen Drynemetum zum germanischen Donar bzw. Thunar – wurde der Gott des Donners immer mit der Eiche assoziiert. Tatsächlich war die heilige Eiche, die der heilige Bonifaz im 8. Jahrhundert in Fritzlar fällte, um Heiden zum Christentum zu bekehren, auf Latein als robur Jovis (Jupiters Eiche) und im Altgermanischen als Donares eih (Donars Eiche) bekannt gewesen. Während allerdings der heidnische Kult sein Ende fand, als der Donnergott den heiligen Bonifaz für das Fällen des heiligen Baumes nicht mit einem Blitz erschlug, lebt die Tradition der Verehrung des Gottes im Namen des Wochentages Donnerstag weiter. Der Name Grimming widerhallt schon durch das Fortschreiten der Zeit. Über diese philologischen und mythologischen Verbindungen zwischen Olymp und Grimming hinaus, belebt Papadimitrious Altar ritualistische Praktiken in Griechenland und Österreich wieder. Wie sich Sir Frazer erinnert, verehrten die alten Griechen Zeus nicht nur in Orakel-Eichen, sondern auch an Orten, an denen der Blitz eingeschlagen hatte, da man von Zeus wusste, dass er blitzartig von den Himmeln auf die Erde herabstieg. Diese Orte – von Hohepriestern abgeschlossen und geweiht – wurden mit Altären für Opfer ausgestattet, die dann womöglich Zeus’ Zornesausbrüche samt Donner und Blitz besänftigt und gleichzeitig die befruchtende Kraft des Regens angelockt haben. Der Grimming als einer der höchsten Gipfel der Steiermark wäre wiederum ein Ort, der bei einem Gewitter am leichtesten vom Blitz getroffen würde, genau wie sein Korrelat, der Olymp. Sir Frazer bemerkt, wie alte germanische Mythen dem Donnergott ähnliche Fruchbarkeitskräfte zuschrieben, aber es findet sich keine Erwähnung von Altären oder Opfern. Und doch taucht der Grimming in österreichischen Legenden als heiliger Berg auf, in dem ein Goldschatz und kostbare Juwelen versteckt sind: Symbole für Wohlstand. Solche Legenden könnten die narrativen Überreste von Oper- und Fruchtbarkeitsritualen aus vorchristlicher Zeit sein: als Praktiken tot, aber in Geschichten lebendig. 76 — 77 Maria Papadimitriou Maria Papadimitrious Aufruf an die Bevölkerung anlässlich des Ennstaler Schafbauerntags in Öblarn, 19./20. März 2010 Rituale sind mit Bewegung verbunden. Die alten Griechen konnten zu Altären reisen und Zeus ein Opfer darbringen, zum Beispiel ein Schaf töten, in der Hoffnung auf weniger heftige Stürme und mehr sanfte Regenschauer. Die Steirer haben die alte Verehrung ihres Donnergottes und seines Berges womöglich in ihre Wanderungen überführt. Gesundheitsfördernde Wanderungen sind vielleicht die lebende Erinnerung an alte Pilgerreisen zum Berg: zuerst des Opfers und dann der Schatzsuche wegen. Wie Papadimitriou beobachtet hat, gibt es viele Einheimische rund um den Grimming, die Miniatur-Puppenschafe vor ihren Häusern zur Schau stellen – vielleicht Mementos von lebendigen Opfertieren, die einst geschlachtet wurden, um den Gott des Donners gnädig zu stimmen. In vielen Legenden, die sich um den Grimming ranken, heißt es von vielen, die nie mehr von ihren Wanderungen zurückkehrten, sie hätten den magischen Eingang gefunden, wären aber nun im Berg gefangen, weil sie mehr Gold und Juwelen mitnehmen wollten, als sie tragen konnten. Bitte einen Gott nie um zu viele Gefallen. Im Lichte dieser Erinnerungen erscheint der Grimming als riesiger Altar zu Ehren des Donnergottes – ein Altar, der nicht nur von wandernden Pilgern besucht wird, sondern auch immer wieder einige von ihnen als menschliche Opfergaben verschluckt, die wiederum eine Spur an Legenden zurücklassen. Papadimitrious Altar, wie griechisch er auch immer sein mag, scheint die Steirer an das zu erinnern, was sie schon immer getan haben. Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010, (Recherchematerial) 79 — 9 82 — 83 Der Stoff, aus dem die Kunst ist Christian Philipp Müllers Eigensinn André Rottmann 1 Georges Didi-Huberman: Ninfa moderna. Berlin, Zürich: Diaphanes 2006, S. 15f. 2 Ebda., S. 23. 3 Ebda., S. 27, sowie Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 199. In seinem Essay zum anachronistischen Nachleben des faltenwerfenden Gewands, das in der Antike einst die Nymphe trug, bevor es in den Allegorien der Liebe in der Renaissance als bloßes Tuch, aus dem die menschliche Form sich verflüchtigt hat, vom Körper der schönen Venus an den Rand des Bildes abfiel, aber „figurale Autonomie“ gewann, um Jahrhunderte später als Lumpen in den Straßen von Paris in den fotografischen Blick des Neuen Sehens zu geraten und schließlich Ende der 1960erJahre in den verschlungenen Filz-Skulpturen von Robert Morris wiederzukehren, hat der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman den Versuch unternommen, die Aktualität der „paradoxen, [...] unzerstörbaren Dinge“ zu denken, „die von sehr weit herkommen und unfähig sind, endgültig zu vergehen.“1 Mit vergleichbarem Sinn für unerwartbare Konstellationen von auf den ersten Blick disparaten Kontexten und wiederkehrenden Motiven sowie einer in akribischen Recherchen gewonnenen Aufmerksamkeit für das widersprüchliche „Eigenleben“2 und die historischen Wechselfälle – und Faltenwürfe, zugleich verhüllend und umhüllend, stets an der Grenze zum Anthropomorphismus3 – eines textilen Materials, das lange schon am Körper getragen wird, über Fragen der Funktionalität hinaus aber auch den metaphorischen und metonymischen Stoff des kulturellen Gedächtnisses und traditionsbehafteten aktuellen Alltags- und vergangenen Arbeitslebens einer Region bildet, hat Christian Philipp Müller sein Projekt Burning Love (Lodenfüßler) (2010) in der Umgebung und den Räumen des Schlosses Trautenfels in der Steiermark realisiert. Es ist der hier produzierte, verarbeitete, vermarktete, getragene und lokale Identität ebenso stiftende wie repräsentierende Stoff Loden, den Müller ins Zentrum seines jüngsten Werks stellt, das aus einem Ausstellungsdisplay (in Form eines an der Wand installierten Bildtableaus), einer Performance und einer raumgreifenden Skulptur besteht, die den Betrachter durch zwei Säle im Obergeschoss des Schlosses führt, das als Teil des 4 Siehe hierzu den grundlegenden, mit Blick auf die Arbeiten von Müller argumentierenden Text von James Meyer: Der funktionale Ort. In: Platzwechsel. Ursula Biemann, Tom Burr, Mark Dion, Christian Philipp Müller. Ausstellungskatalog Kunsthalle Zürich, Zürich1995, S. 24-39, sowie in historischer Perspektive Miwon Kwon: One Place After Another. Site-Specific Art and Locational Identity. Cambridge/Mass., London: MIT-Press 2002. 5 Didi-Huberman, a.a.O., S. 55. 6 Vgl. Miwon Kwon: Fluktuierende Werte. In: Philipp Kaiser (Hrsg.): Christian Philipp Müller. Ausstellungskatalog Museum für Gegenwartskunst Basel. Ostfildern: Hatje Cantz 2007, S. 15-27, S. 27. Universalmuseums Joanneum auch eine Schausammlung zur Natur- und Kulturgeschichte des benachbarten Ennstals und Ausseerlands beherbergt. Der in Berlin und New York lebende, immer aber in situ arbeitende Künstler etabliert indes keine Hierarchie zwischen der Geschichte der postminimalistischen Skulptur und der „Land Art“ sowie einem im Rekurs auf soziologische und historiografische Formen der Recherche erweiterten Verständnis von Ortsspezifik4 verpflichteten künstlerischen Methode und jenen handwerklichen Artefakten und ethnografisch sowie zunehmend kommerziell konnotierten Bildern, die sich der am Ausstellungsort ansässigen Lodenfabrikation und den mit ihr verbundenen Kodierungen der in diesem Landstrich typischen, alpenländischen Trachtenmode verdanken – finden sich doch, wie auch Didi-Huberman in seinen Ausführungen zur „Mode und ihren Hüllen“ betont, die „Überbleibsel, die Formen des Nachlebens [...] überall: Sie schleichen sich in jeden Winkel der Geschichte ein – in den der Kunst zum Beispiel.“5 Dementsprechend ist Burning Love (Lodenfüßler) auch nicht der erste Fall, in dem in Christian Philipp Müllers Œuvre der letzten 25 Jahre der Zusammenhang zwischen Identität und Tradition im Gewand einheimischer Trachten in einem kontextreflexiven Projekt zum Thema wird, das die in der (nach)modernen Kunst angeblich inkompatiblen Register des Sozialen und Ästhetischen – oder vermeintlich unüberbrückbaren Antinomien zwischen Gehalt und Form – dialektisch aufeinander bezieht. Umso mehr aber gilt es, über diese Kohärenz innerhalb einer kritisch-reflexiven künstlerischen Praxis hinaus, für diese konkrete Arbeit zu klären, welche Aspekte und Formen des Nachlebens eines Materials und seiner Bedeutungsschichten Müller an diesem Schauplatz ins Werk setzt. Anlässlich seiner Retrospektive im Basler Museum für Gegenwartskunst hat der Künstler 2007 zu Protokoll gegeben, ortsspezifisch zu arbeiten bedeute für ihn, sich präzise außerhalb eines Kontextes zu positionieren.6 Burning Love (Lodenfüßler) bildet keine Ausnahme von diesem zunächst paradox wirkenden, für Müllers Methode ebenso grundlegendem wie produktivem Prinzip, das sich insbesondere in diesem Projekt der programmatischen Verknüpfung von lokalem wie künstlerischem Eigensinn mit der Eigenlogik ästhetischer Produktion und Erfahrung verdankt. Wie seit mehr als 500 Jahren üblich, wird vor der Lodenwalke Steiner in Rössing bei Ramsau am Dachstein der nasse Loden (vom althochdeutschen lodo, grober Wollstoff) in circa 1,50 x 50 Meter messenden, bunt gefärbten oder wie am Ausgang von Müllers Burning Love (Lodenfüßler) im naturbelassenen Zustand wollweißen Bahnen an einem überdachten Holzgestell an der Bergluft getrocknet, bevor er zu „Wetterflecken“, „Schladmingern“, „Walkjankern“ oder anderen traditionsreichen Modellen der regionalen Trachtenmode weiterverarbeitet wird. Wie ein abstraktes Band scheint das Bild dieser monochromen Fläche sich durch die alpine Landschaft der Steiermark zu ziehen; verstärkt durch den Ausschnitt 84 — 85 Christian Philipp Müller Christian Philipp Müller Burning Love (Lodenfüßler), 2010 7 Didi-Huberman, a.a.O., S. 25 einer Fotografie vom mit Loden behängten Trockenstand der Walke, die Müller in seine kulturhistorisch anmutende, aus eigenen Aufnahmen, Archivalien und im Umkreis des Schlosses vorgefundenen Ölbildern bestehenden „Ausstellung in der Ausstellung“ integriert hat, stellt sich für das kunsthistorisch geschulte Auge unwillkürlich eine formale Verbindung zu den skulpturalen Interventionen der „Land Art“ in angeblich unberührten, von den Zentren der Gegenwartskunst weit entfernten Naturszenerien her – etwa dem im Wind flatternden Stoff des nördlich von San Francisco errichteten Running Fence (1972-1976) von Christo und Jeanne-Claude. Zugleich ist damit von Müller aber nicht nur eine assoziative Engführung zwischen der regionalen Textilfabrikation und der kanonischen Kunst des Postminimalismus vorgenommen, sondern gleichermaßen wird auf die entscheidende Veränderung in der Wahrnehmung und Bestimmung dieser pittoresken Landschaft in der Nachkriegszeit angespielt, wie sie auch das unvergängliche Nachleben des Lodens als Material, stoffliche Form und kultureller Bedeutungsträger betrifft, dem er in diesem Werk gleichsam Schritt für Schritt folgt: vom Schauplatz handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit zur Kulisse der Freizeit- und Tourismusindustrie. Entsprechend stellt Müllers Sammlung von Bildern und Dokumenten aus der lokalen Geschichte dieses traditionsbehafteten Stoffs, aus dem sein ortsspezifisches Projekt für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns in der Hauptsache gemacht ist, vor Augen, welche widersprüchlichen Kodierungen dieser im Laufe der Zeit durchlaufen hat. Heute gilt Loden- bzw. Trachtenmode, sobald sie ihren angestammten Platz im sozialen Gefüge einer regional verankerten Gemeinschaft und ihren Gebräuchen verlässt und in Städten wie Graz, München, Münster oder gar Hamburg in Fußgängerzonen auf den Plan tritt, als Ausweis wertkonservativer Gesinnung, ökonomischer Prosperität und bürgerlichen Selbstverständnisses. Hinter diesem vermeintlich einfach zu deutenden Gewand aus Schafwolle verbirgt sich indes, wie Müller zu betonen scheint, eine paradoxe Geschichte „dynamischer Umkehrungen“7: Es war Erzherzog Johann, Namensgeber des steirischen Universalmuseums, zu dem das vorübergehend auch als Jugendherberge genutzte Schloss Trautenfels heute gehört, der die aus Loden gefertigte Tracht als Ausdruck lokaler Verbundenheit und Patriotismus im frühen 19. Jahrhundert buchstäblich hoffähig machte und eine Transformation des durch dieses Material signalisierten sozialen Status und Habitus einleitete. War Lodenbekleidung einst jenen vorbehalten, die sich bei der Arbeit in den Bergen effektiv gegen Wind und Wetter zu schützen hatten, so fuhren ab den 1860er-Jahren wohlhabende jüdische Familien aus Wien und später Intellektuelle wie Sigmund Freud und Stefan Zweig nach Bad Aussee in die Sommerfrische und trugen im Urlaub vor Ort selbstverständlich Tracht, deren Charakter als „Volksgut“ schließlich Konrad Mautner in einer Sammlung zu bewahren suchte, auf der das dortige Kammerhofmuseum noch heute aufbaut. Neben Einheimischen sind es damals wie heute Touristen, die sich zwischen Überzeugung Christian Philipp Müller The Family of Austrians, 1993 (Einladungskarte der Galerie Metropol, Wien) Having Fun in Slovakia, Ringier VOYAGE, 2000 8 Im traditionellen Prozess des Walkens wird ein Wolltuch in handwarmem Wasser (30-40°C) unter Zugabe von Kernseife durch Druck und Reibung verfilzt, sodass ein Stoff mit einer höheren Dichte und einem um etwa 40 % reduzierten Volumen entsteht. und Travestie schwankend vor Ort in Loden hüllen, aber auch der zum konservativen Politiker avancierte Schauspieler Arnold Schwarzenegger und der verstorbene rechtspopulistische Politikerdarsteller und Landeshauptmann Kärntens Jörg Haider wurden bereits öffentlichkeitswirksam in Loden abgelichtet; entgegen dem Ruf mangelnder Raffinesse und einer gewissen Robustheit, die diesem Stoff gemeinhin vorauseilt, zählt der andere Zweig der in der Region um Schloss Trautenfels Loden fabrizierenden Familie Steiner exklusive Modehäuser wie Yves Saint Laurent und Dolce & Gabbana zu seinen Kunden und setzt ganz im Sinne des Werbeslogans „Keine Zukunft ohne Herkunft“ auf eine gewinnträchtige Kombination von Heimatverbundenheit und stilbewusster Weltoffenheit. So spannt Müllers Tableau einen weiten Bogen von der gegenwärtigen, in ihrer Widersprüchlichkeit kaum auflösbaren Polysemie eines Stoffs zu seinen rein funktionalen Anfängen als gegen die Witterung schützender Wetterfleck, wie er heute in abgewandelter Form und grüner Färbung als ärmelloser Überwurf noch Jäger kleidet, aber, wie einige Aufnahmen zeigen, auch den Künstler auf Ortsterminen in der Region ziert. Dieses archaische Modell aus dem Sortiment steirischer Trachtenmode macht Christian Philipp Müller in Burning Love (Lodenfüßler) zur Grundlage seiner ortspezifischen Auseinandersetzung mit der historischem Wandel unterworfenen Repräsentation regionaler Identität und bezieht es auf die „figurale Autonomie“ der Faltenwürfe textiler Materialien in der postminimalistischen Kunst und ihre anthropomorphen wie performativen Implikationen: Müller verwandelt eine komplette, mehr als 50 Meter lange Bahn wollweißen Lodens aus der Steiner’schen Walke in Rössing in einen überdimensionierten Wetterfleck, der nicht weniger als 20 Personen Platz und Schutz bietet. Zu diesem Zwecke hat der Künstler eine entsprechende Anzahl von kreisrunden Aussparungen in den lose gewebten Stoff geschnitten, bevor dieser gewalkt wurde; durch das Walken8 erhalten die Kopföffnungen dieses kollektiven Kleidungsstücks individuelle organische Konturen und weiche Kanten. Noch vor Eröffnung der Ausstellung schickt Müller seinen Loden zu Himmelfahrt am 13. Mai auf den ungefähr 25 Kilometer langen Weg vom Ort seiner Produktion zu den Ausstellungsräumen im Schloss Trautenfels. Diese zwischen Performance, Parade und Prozession angesiedelte Wanderung durch die obersteirische Landschaft schafft einerseits das bewegte Bild einer monochromen abstrakten Fläche, die gänzlich unerwartet an Dynamik, wenn nicht Eigenleben, gewonnen hat und darin die anthropomorphe Dimension, die dem Stoff und dessen die Figur des menschlichen Körpers evozierenden Faltenwurf immer schon inhärent ist, realisiert, noch bevor der Loden durch Schnitte, Nähte, Einfärbung und Applikationen seiner Bestimmung zum alpenländischen Gewand zugeführt werden konnte. In diesem Sinne macht Müller, indem er diese noch nicht weiter verarbeitete Bahn Loden auf den Weg bringt, die in ihrer basalen Stofflichkeit noch fern aller Assoziationen mit 86 — 87 Christian Philipp Müller 9 Ebda., S. 137. 10 Zu denken ist ebenso an Arbeiten von Franz Erhard Walther aus den Sechzigerjahren und die Parangolés von Hélio Oiticica; zu letzterem siehe Sabeth Bucchmann: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica. Berlin: b_books 2007, S. 228ff. 11 Siehe dazu George Baker, Christian Philipp Müller: A Balancing Act. In: October 82, Herbst 1997, S. 95-118, S. 110f, 115. In diesem Text reflektieren Baker und Müller anlässlich des gleichnamigen Projekts des Künstlers für die Documenta X in Kassel 1997 die Geschichte der öffentlichen Skulptur auf dem Friedrichplatz in Kassel in der Spannung zwischen Formalismus (Walter de Maria, Vertical Earth Kilometer, 1977) und Engagement (Joseph Beuys, 7000 Eichen, 1982). Burning Love (Lodenfüßler) kann in dieser Hinsicht als Fortführung dieser Auseinandersetzung mit den historischen Voraussetzungen ortsspezifischen Arbeitens gelten. 12 Vgl. Didi Huberman, a.a.O., S. 42. 13 Siehe dazu Christian Philipp Müller, a.a.O., S. 72-79. Trachtenmode scheint und so offen für alternative Besetzungen ist, jenen „morphologische[n] und bedeutsame[n] Reichtum“ buchstäblich, „auf welchen ein einfaches Tuch“ in der ästhetischen Erfahrung „unsere Augen lenken kann“9. Andererseits stiftet Müller anders als die Arbeiten der „Land Art“, die hier unter anderem10 kunsthistorisch Pate standen, und jenseits der nominalistischen Behauptung, Alltagsmaterial in Kunst verwandeln zu können, unter diesem einfachen Deckmantel eine soziale Gemeinschaft im öffentlichen Raum, die durch die Stoffbahn aus Loden gleichermaßen konstituiert und zusammengehalten wird. So überbrückt er wie schon in früheren seiner Arbeiten zumindest auf Zeit die Kluft, die sich in der Geschichte und Theorie der (nach)modernen Kunst zwischen den Bereichen des Ästhetischen und Sozialen vermeintlich unüberwindlich aufgetan hat.11 Das Rechteck aus Stoff, das als abstrakte Bodenplastik oder farbenfroher Bildersatz beispielsweise auch in Ausstellungen von Cosima von Bonin oder Falke Pisano anzutreffen ist, wird in Gebrauch genommen, am Körper getragen und durch Berg und Tal gesandt. Freiwillig vereint unter einem kollektiven Wetterfleck, der keiner mehr oder noch keiner ist, aber auch durch die Fäden des Stoffes auf der gemeinsam zu bewältigenden Strecke zwischen dem Handwerksbetrieb und dem Museum im Schloss sind die Teilnehmer der Performance temporär aneinander gebunden bzw. aufeinander angewiesen. So findet Müller ein bewegtes, dialektisches Bild für den Umstand, dass der schaffende Mensch dieser Region in seiner Identität – anders als es Tourismusmanager und Kulturfunktionäre nahezulegen suchen – nicht in einheimischen Trachten zu repräsentieren und fixieren ist. Der Faltenwurf des Lodens lässt diesen charakteristischen Stoff, in dem sich lokaler Eigensinn manifestieren soll, zwischen formlosem Haufen und drapierter, solider, dauerhafter Form12 changieren. Müllers Burning Love (Lodenfüßler) wirft einen retrospektiven Blick auch auf eine Reihe thematisch verwandter Arbeiten des Künstlers zu Fragen von regionaler oder nationaler Identität und deren Repräsentation: Auf der Rückseite des Katalogs und dem Plakat zum Österreichischen Pavillon der Biennale von Venedig 1993, auf der Müller seine heute schon klassische Arbeit Grüne Grenze13 präsentierte und als Schweizer neben der Amerikanerin Andrea Fraser und dem Österreicher Gerwald Rockenschaub auf Einladung des damaligen Kommissärs Peter Weibel – in den Augen einiger unstandesgemäß – die Alpenrepublik repräsentierte, sind alle drei Künstler in einem urigen Wirtshaus (österreichisch: „Beisl“) versammelt und in Trachtenmode gekleidet zu sehen,14 wie um den auch damals längst schon obsoleten Anspruch der Großausstellung auf einen nationalstaatlichen Wettstreit in der globalisierten Gegenwartskunst vollends ad absurdum zu führen. Selbst- und Fremdverständnis traten in diesem Bild rigoros auseinander und der Mythos einer österreichischen Identität, die eine geschlossene Gesellschaft von angestammten Privilegien 14 Solche Porträtaufnahmen waren darüber hinaus Teil der Arbeit almost adjusted to the new background,1993, die in Colin de Lands New Yorker Galerie American Fine Arts, Co. im Rahmen der von James Meyer kuratierten Ausstellung Whatever Happened to Institutional Critique? zu sehen war. 15 Siehe dazu auch Alexander Alberro: Unraveling the Seamless Totality: Christian Philipp Müller and the Reevaluation of Established Equations. In: Grey Room 06, Winter 2002, S. 5-25, S. 20. 16 Siehe dazu ausführlicher André Rottmann: Faksimile: Kalkül und Anschauung in Serie. Überlegungen zu den Ringier Jahresberichten 1997 – 2008. In: Wladimir Velminski (Hrsg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, hrsg. von Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner, Bd. 7.2. Berlin 2009 [im Druck]. 17 Siehe dazu Christian Philipp Müller, a.a.O., S. 136-139, sowie Christian Meyer: Christian Philipp Müller und die Familie der Österreicher. In: Camera Austria, Heft 49, 1994, S. 15-23. 18 Vgl. Didi-Huberman, a.a.O., S. 27. 19 Siehe zu der Bedeutung dieses Konzepts für die Arbeit Müllers Ein Gespräch zwischen James Meyer und Christian Philipp Müller. In: Christian Philipp Müller, a.a.O., S. 44-57, S. 57. signalisieren soll, wird als Teil plakativen Marketings lesbar.15 Auch die Rückseite des Jahresberichtes, den Müller 1999 für Ringier realisierte und für den er alle ausländischen Niederlassungen des Schweizer Medienkonzerns bereiste,16 ziert eine Christian Philipp Müller having fun in Slovakia betitelte Fotografie, die auf humorvolle Weise die Gleichzeitigkeit der realiter effektiven Globalisierung mit archaischen Selbstbildern ins Bild setzt: Der Künstler ist mit Baseball-Mütze und Jeans-Jacke bekleidet auf einer Bank neben drei farbenfrohe Trachten tragenden Frauen im Liptauer Heimatmuseum zu sehen. Die ambivalente kulturelle Kodierung von Trachtenkleidung war ebenfalls Gegenstand von Müllers Ausstellung im Herbst 1993 in der Wiener Galerie Metropol The Family of Austrians, in der er auf die Darstellung des österreichischen Landlebens in Edward Steichens berühmter ethnografischer Erfassung der Welt im fotografischen Atlas einer Family of Man rekurrierte. Auf der Einladungskarte war Müller in einem Bild aus dem Kontext von „Grüne Grenze“ als Wanderer zu sehen, der sich wie noch heute für seine Arbeit im Schloss Trautenfels der Frage österreichischer Selbstdarstellung gleichsam von außen nähert. In Vitrinen waren Bregenzerwälder Trachten ausgestellt, flankiert von Verkaufsbroschüren und didaktischen Filmen aus den Beständen des Wiener Instituts für Kostümkunde, die auf volkstümliche Authentizität als Ware zielten und in dieser folkloristischen Überformung nationaler Identität eine Entsprechung in Steichens als Bildpaneele in der Galerie verteilten, in der US-amerikanischen Perspektive der Nachkriegszeit geradezu exotische Rückständigkeit suggerierenden Darstellungen des Landlebens in Österreich anno 1955 fanden.17 Demgegenüber betont Müllers neue Arbeit auch ihrem Titel nach die Konnotationen regionaler Trachten, die sich Kalkül und Kontrolle zu entziehen vermögen. Für die Männer der Region gehört es sich, zur landestypischen Lederhose kniehohe Socken, sogenannte Lodenfüßler, mit aufwendigem Strickmustern zu tragen: Eines, das unbedingt symmetrisch auf dem Schienbein platziert werden muss, heißt „Brennende Liebe“. Auch in diesem traditionellen, für manchen heute befremdlich konservativen Wollstoff und seiner Verarbeitung zur Tracht bleibt menschliches Begehren mithin als untilgbarer Rest in jeder Form gegenwärtig.18 In seiner Performance im Außenraum mobilisiert Müller die anthropomorphe und Gemeinschaft stiftende, ein multiples statt rigides Verständnis von Identität19 erlaubende Dimension seiner Bahn wollweißen Lodens. Als eine Referenz für Burning Love (Lodenfüßler) dient ihm ein Happening, das James Lee Byars 1969 in der von Anny de Decker in Antwerpen betriebenen Galerie „Wide White Space“ veranstaltete. Unter dem Titel Pink Silk Airplane brachte Byars ein 30 x 30 Meter messendes Stück Stoff in den Ausstellungsraum mit 100 kreisrunden Öffnungen für 100 Personen, die auf dem Boden gemeinsam eine imaginäre Flugreise antreten konnten: „So sassen nach einer Weile alle auf dem Boden, eingehüllt in eine rosa 88 — 89 Christian Philipp Müller 20 Johannes Gachnang (Hrsg.): James Lee Byars. Ausstellungskatalog Kunsthalle Bern. Bern 1978, s.p. 21 Siehe unter anderem mit Bezug auf die kritischen Arbeiten Müllers dazu George Baker: Beziehungen und Gegenbeziehungen: Ein offener Brief an Nicolas Bourriaud. In: Yilmaz Dziewior (Hrsg.): Zusammenhänge herstellen. Ausstellungskatalog Kunstverein in Hamburg. Köln: DuMont 2003, S. 126-133. 22 James Lee Byars, a.a.O, s.p. 23 Siehe zur Ausstellung A Sense of Friendliness, Mellowness, and Permanence, die Ende 1992 in der Galerie American Fine Arts, Co. in New York stattfand: Baker, a.a.O., S. 127f., sowie Christian Philipp Müller, a.a.O., S. 132-135. 24 James Lee Byars, a.a.O., s.p. 25 Didi-Huberman, a.a.O, S. 27. Seidenwolke und schwebten in einer Atmosphäre festlicher Verwunderung. Wer das Ganze lächerlich fand und sich nicht in eine derart verrückte Situation begeben wollte, sah zu, dass er fortkam. Wer jedoch mitspielte tauchte etwas verlegen in den rosa Traum und schaute verwundert nach den schmunzelnden oder versonnenen Gesichtern um sich herum, in denen er dann Freunde [...] erkannte.“20 Aber auch 1969 war Byars genau wie vier Jahrzehnte später Müller nicht daran gelegen, die Freude eines gemeinschaftlichen Erlebens zu ermöglichen, wie sie in der „relationalen Ästhetik“ der Neunzigerjahre fröhliche Urständ‘ feiern sollte;21 vielmehr sind die damals wie heute durch ein Stück Stoff hergestellten Zusammenhänge mitunter von Momenten der ungewollten Zugehörigkeit geprägt. So wiederholte Byars Pink Silk Airplane einen Monat später anlässlich eines Besuchs bei Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf, an der in den Achtzigerjahren auch Müller studieren sollte, zerschnitt aber, wie de Decker sich erinnert, „nachdem etwas hundert Leute [...] Platz genommen hatten, [...] den Stoff mit einer Schere und das Flugzeug zerfiel in luftige rosa Engel, wobei immer zwei oder drei miteinander verbunden waren, je nachdem wie sie Byars ausgeschnitten hatte.“22 Der Seidenstoff ist mithin genau wie Müllers Loden kein Garant für ein Gefühl von Freundlichkeit, Heiterkeit und Beständigkeit, um den Titel eines Projekts des Schweizer Künstlers aus dem Jahr 1992 zu zitieren.23 Was als „formloses zusammengeknülltes Bündel“24 begann, ist bei Byars kein Nachleben als faltenwerfender Stoff vergönnt, aus dem die „menschliche Form [...] sich tatsächlich verflüchtigt [hat]“, aber als „Suspense“25 gegenwärtig bleibt. Müller schneidet die Bahn, die zwanzig Personen vorübergehend als Bekleidung auf einer realen Tagesreise per pedes gedient hat, hingegen nicht in Stücke, sondern überführt sie in eine Skulptur, die sich nach dem Auftakt seines Tableaus zur Geschichte und Gegenwart des Lodens durch zwei Säle des Schlosses Trautenfels zieht, um am Ende dieses Parcours auf einen Film zu treffen, das den langen, kollektiv zurückgelegten Weg dieser Stoffmasse von der Walke ins Museum festhält. In der Formlosigkeit einer der Ästhetik des Postminimalismus folgenden Plastik tritt der Loden den Betrachtern nun haptisch entgegen; wo ihm einst die Köpfe und Rümpfe von zwanzig Personen Halt und Form gaben, sorgen nun einfache Böcke – ungefähr so breit wie ein paar Schultern und wie die Bodendielen des Schlosses aus Lärchenholz gefertigt – dafür, dass er über dem Boden der Ausstellungsräume schwebt. Die Präsenz der menschlichen Figur bleibt bestehen: Müllers Minimalismus begnügt sich nicht, wie oft von dieser Formation in der nachmodernen Kunst behauptet wird, mit der Tautologie angeblich elementarer Formen und neutraler Materialien, die nur das zu sehen geben, was man tatsächlich sieht. Das dialektische Bild dieser Arbeit schlägt im Wissen um den nachhaltigen Anthropomorphismus der skulpturalen Form und eingedenk der von Müller ausgestellten Geschichte der dynamischen Umkehrungen des Stoffes, aus dem sie gemacht ist, vielmehr eine Brücke zwischen dem „Seh- und James Lee Byars Pink Silk Airplane, 1969 Wide White Space, Antwerpen Christian Philipp Müller Rückseite des Kataloges der Venedig Biennale, österreichischer Pavillon, 1993 v.l.n.r.: Andrea Fraser, Gerwald Rockenschaub, Christian Philipp Müller 26 Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München: Fink 1999, S. 159. 27 Didi-Huberman, a.a.O., S. 137. 28 Vgl. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 264. In diesem Sinne betont Rebentisch zurecht, dass die „Stärke ortsspezifischer Kunst noch nie in der Prätention [lag], den Produktionsbedingungen tatsächlich entkommen zu können, sondern darin, das Bewusstsein für diese und die mit ihnen verbundenen Konfliktlinien zu schärfen. Ebda., S. 266. 29 Ebda., S. 263. 30 Ebda., S. 278. Tastsinn“ und den „semiotischen Sinne[n] oder Bedeutungen mit ihren Mehrdeutigkeiten.“26 So wie die allgemeine Kraft des Nachlebens sich in den späten Sechzigerjahren Didi-Huberman zufolge in den „Fällen“ aus Filz von Robert Morris äußerte, erscheint sie auch in dieser Skulptur Müllers als „ewige Gegenwart der Metamorphosen“27, in diesem Falle jener des Lodens als Textil und Bedeutungsträger, aus dem spezifischen Kontext stammend, in dem wie so oft in den kritisch-reflexiven Werken des Schweizer Künstlers die Her- und Ausstellung von zeitgenössischer Kunst programmatisch in eins fallen. Wie Burning Love (Lodenfüßler) in der Konstellation eines idiosynkratisch anmutenden Bildtableaus mit der performativen Aktivierung eines überdimensionierten Wetterflecks in der Landschaft und einer das regional codierte Textil mit der Geschichte der Kunst nach dem Minimalismus verknüpfenden raumgreifenden Skulptur deutlich macht, wäre es indes ein Missverständnis, die Arbeitsmethode Müllers dahingehend zu deuten, dass ihr kritisches Potential daraus resultiere, sich mit einem Kontext gemein zu machen. Wie auch das eingangs angeführte, paradox wirkende Statement Müllers zu seinem Verständnis einer ortsspezifischen Praxis betont, geht es, wie die Philosophin und Kunstkritikerin Juliane Rebentisch herausgestellt hat, in solchen Werken immer darum, den „doppelten Ort der Kunst“, d.h. die etablierten Konventionen der Ausstellung und Produktion im Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Funktion insgesamt zu reflektieren.28 Dies hat zur Folge, dass eine Arbeit wie Müllers Projekt in der Steiermark „dem jeweilig lebensweltlich bestimmten Raum gewissermaßen einen virtuellen Raum [überschiebt], der durch das Spiel der Bedeutungen bestimmt ist, das durch das Werk in bezug auf seinen sichtbaren ebenso wie in Bezug auf seine unsichtbaren Kontexte in Gang gesetzt wird.29 Soziale Relevanz entsteht deshalb auch im Falle von im Hinblick auf einen konkreten Ort entwickelten Werken wie Burning Love (Lodenfüßler) nicht dann, wenn Ästhetik nivelliert wird, sondern im Gegenteil dann, wenn die „Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem alle Gehalte reflexiv so unter Strom setzt, daß deren vermeintliche Selbstevidenz von der prozessualen Logik der ästhetisch erfahrenden Werke noch dort aufgezehrt wird, wo sie ihren Produzenten als Wesentliche erscheinen.“30 Die Beziehung zwischen einem Material und seiner Bedeutung steht in solchen Werken niemals still, sondern ist, wie Müller in seiner bewusst eingeschränkten Perspektive auf die wechselhafte Geschichte und widersprüchliche Aktualität des Lodens vor Augen führt, strukturell bedeutungsoffen, der Intention des Künstlers entzogen und an keinen Ort unauflöslich gebunden. Das Nachleben eines Stoffes und seiner ortsspezifischen Gehalte in dieser selbstreflexiven Eigenlogik der ästhetischen Erfahrung zu brechen, ohne das Soziale gegen eine Kunst auszuspielen, die sich ihrer konstitutiven Ortslosigkeit vollends bewusst ist, darin liegt Christian Philipp Müllers Eigensinn. 122 — 123 Ein Zeichen der Zeit1 Pierre Bourdieu 1 Wiederabdruck aus: Pierre Bourdieu: Ein Zeichen der Zeit. In: Pierre Bourdieu (u.a.): Der Einzige und sein Eigenheim. Erweiterte Neuausgabe der Schriften zu Politik & Kultur 3, hrsg. von Margareta Steinrücke. Hamburg: VSA 2002. Übersetzung des Textauszugs: Jürgen Bolder. 2 Der sich selbst Quälende, Titel eines Gedichtes von Baudelaire aus der Sammlung Die Blumen des Bösen, ursprünglich Titel einer Komödie des römischen Dichters Terentius Afer (195-159 v. Chr.); Anm. d. Hrsg. 3 Verträge, aus denen eine Partei allein allen Nutzen zieht; Anm. d. Hrsg. 4 Die v.a. von Linken vorgenommene Idealisierung des Volkes bzw. der Volksklassen als kollektiv orientiert und klassenbewusst; Anm. d. Hrsg. Das, was im Verlauf dieser Arbeit immer wieder zur Sprache kommen wird, bildet eine der Hauptquellen des kleinbürgerlichen Elends oder genauer, all der kleinen Nöte, all dessen, was die Freiheit, die Hoffnungen und die Wünsche beeinträchtigt und dazu führt, dass das Dasein von Sorgen und Enttäuschungen, von Einschränkungen und Fehlschlägen und nahezu unvermeidlich von Melancholie und Ressentiment erfüllt ist. Freilich ruft dieses Elend, anders als die großen Härten der proletarischen oder subproletarischen Lebenssituation, nicht spontan Sympathie, Mitleid oder Empörung hervor. Und das wohl deshalb nicht, weil die Bestrebungen, die die Unzufriedenheit, die Desillusionierung und das Leiden des Kleinbürgers nach sich ziehen, stets auch etwas der Komplizenschaft desjenigen, der diese Bedrückungen erfährt, geschuldet zu sein scheinen, seinen irregeleiteten, entpressten, entfremdeten Wünschen, durch die er, diese moderne Inkarnation des Heautontimoroumenos,2 untergründig an seinem eigenen Unglück mitwirkt. Dadurch, dass er sich häufig auf für ihn zu groß angelegte, weil eher auf seine Ansprüche als auf seine Möglichkeiten zugeschnittene Projekte einlässt, bringt er sich selbst in eine von übermächtigen Zwängen beherrschte Lage. In dieser bleibt ihm als Ausweg nur, sich um den Preis einer enormen Anspannung den Folgen seiner Entscheidung zu stellen und sich zugleich darum zu bemühen, sich mit dem, womit die Realität seine Erwartungen sanktioniert hat, zufriedenzugeben, wie man so sagt, indem er alle Anstrengungen macht, die Fehlkäufe, die erfolglosen Unternehmungen, die leoninischen3 Verträge in seinen eigenen wie in den Augen seiner Angehörigen zu rechtfertigen. Dieses gleichermaßen kleinliche wie triumphierende „Volk“ hat nichts, woran die populistische Illusion4 Gefallen fände. Zu nah und zu fern zugleich, zieht es die Missbilligung und die Sarkasmen der Intellektuellen auf sich. Sie beklagen seine „Verbürgerlichung“ und machen ihm seine irregeleiteten Bestrebungen wie seine Unfähigkeit zum Vorwurf, diesen eine andere als eine ebenso irregeleitete und lächerliche Befriedigung zu 124 — 125 Franz Kapfer verschaffen; kurz, all das, worauf die gängige Denunzierung des Traums vom eigenen Heim sich bezieht. Und weil es sich dazu verleiten ließ, über seine Verhältnisse, auf Kredit zu leben, stößt es doch, über kurz oder lang, namentlich in Form der Sanktionen der Bank, von der es sich wahre Wunder erhofft hatte, fast ebenso schmerzlich auf die Härten der ökonomischen Notwendigkeit wie zu anderen Zeiten die Industriearbeiter. Dieser Umstand erklärt wohl, warum dieses „Volk“, das zum Teil auch Produkt einer auf seine Bindung an die bestehende Ordnung durch die Bande des Eigentums angelegten Politik des sozialen Liberalismus ist, in seinem Wahlverhalten gleichwohl den Parteien die Treue gehalten hat, die sich auf den Sozialismus berufen. Scheinbar der besondere Nutznießer des allgemeinen „Verbürgerlichungs“-Prozesses, ist es durch den Kredit an ein Haus gefesselt, das oft unverkäuflich geworden ist. Wenn es nicht gar außerstande ist, die vor allem mit dem Lebensstil zusammenhängenden Belastungen und Verpflichtungen auf sich zu nehmen, welche die oftmals ihm selbst nicht transparente Ausgangsentscheidung stillschweigend implizierte. „Nicht alles am Vertrag ist vertragsmäßig“, hat Durkheim gesagt. Nirgends trifft diese Formel so zu wie bei dem Kauf eines Hauses, in dem unausgesprochen ein ganzer Lebensplan und Lebensstil einbegriffen sind. Das ist es, was so viele Aussagen auf so bewegende Weise zum Ausdruck bringen. 132 — 133 Codename Zement Martin Prinzhorn In seinem neuen Projekt Sieh-Dich-Für verbindet Franz Kapfer zwei vordergründig entgegengesetzte Stränge: Auf der einen Seite stehen Konzepte wie Befestigung, Autarkie, Abschottung nach Außen etc., auf der anderen Seite geht es um die V2, jene deutsche Wunderwaffe, die für die Aggression der Politik der Nazis steht, für Eroberung, Unterdrückung und Terror. Rückzug trifft hier gewissermaßen auf Eroberung. Historisch gesehen hat dieses Zusammentreffen von konzeptuellen Gegensätzen vor mehr als sechzig Jahren in der Umgegend des Veranstaltungsortes tatsächlich stattgefunden, als die den Krieg verlierenden Nazis – also Deutschland und das mit diesem fusionierte Österreich – unter dem Codenamen Zement das Konzept der „Alpenfestung“ als eine Art letzten Ausweg entwickelten, um das Terrorregime doch noch über den Krieg hinaus zu retten. Die Idee dabei war sozusagen, sich hinter beziehungsweise in die Berge zurückzuziehen und hoffnungsvoll abzuwarten, bis sich Westmächte und Sowjetunion über kurz oder lang bekriegen würden und man als Dritter diesen Konflikt mehr oder weniger unbeschadet durchstehen könnte. Vor allem die Kriegsindustrie sollte unterirdisch im Schutz der Alpen weiterbestehen, um militärische Macht hinüberzuretten. Die Produktion der Wunderwaffe V2 wurde von Peenemünde ins oberösterreichische Ebensee verlagert, ihr Treibstoff sollte statt Bier in den Kellern der Brauerei Zipf hergestellt werden. Inwieweit das Verstecken oder Versenken von Schätzen dem Sagenhaften zugeordnet werden muss, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Aber da die ganze Aktion so viele unwirkliche oder fantastische Elemente enthält, eignete sie sich in den Jahrzehnten nach 1945 und in rechten Kreisen wohl bis heute vorzüglich als eine Art mythischer Nachlass des Dritten Reiches, der gerne anstelle von Zerstörung, Kriegsopfern und Millionen Ermordeter thematisiert wurde. Diese Phantasien, die dann auch reichlich Stoff für Agentengeschichten abgaben, lenken von der Katastrophe in ihrer Gesamtheit ab und führen von einer politischen Reflexion des 134 — 135 Franz Kapfer Faschismus weg, hin zur Räuberpistole und zur Vorstellung, man sei irgendwie doch noch überlegen gewesen, obwohl es dann letztendlich nicht geklappt hat. Es sind also auch Phantasien, wie sie für Kleinbürger typisch sind, die so den tristen Gegebenheiten ihres alltäglichen Lebens entkommen wollen. Dies führt schon in die zentrale Thematik von Franz Kapfers Kunst. In seiner künstlerischen Praxis geht es immer um eine Analyse politischer Kultur, in der die Verhältnisse von den kleinen und sehr konkreten Strukturen her aufgerollt werden und deren Abbildbarkeit auf die großen Themen wie Autorität und Unterdrückung in politischen und religiösen Systemen überprüft wird. Es sind die Symptome im Mikrobereich, die den Künstler interessieren, von denen aus er zu einer Gesamtheit gelangen will. In früheren Arbeiten war es vor allem der Austrofaschismus und das mit diesem im Zusammenhang stehende verwaschene Verhältnis zwischen Kirche und Staat, das den Kapfer interessiert hat. Aber hier hat er eben keine Analyse von oben her versucht, sondern den alltagskulturellen Zeichen nachgespürt, mit denen Politik und Kultur hier repräsentiert wird, bzw. wie ihrer gedacht wird. Hier gelingt es dem Künstler, durch das Aufspüren formaler Details oder weitgehend unbekannter inhaltlicher Querverbindungen Netzwerke freizulegen, die politischen Ideen in ihrer Gesamtheit – und das heißt vor allem auf allen unterschiedlichen Ebenen – erfassbar zu machen. Ganz in diesem Sinne erinnern auf einer formalen Ebene Kapfers künstlerische Produktionen an Bühnenbilder: Im Raum der Kunst werden sozusagen die einzelnen Requisiten in einer großen Installation zusammengetragen, und so verweist dieser Raum wiederum auf Bühne und Inszenierung, genau jene beiden Begriffe, die Kapfer in seiner Analyse der politischen Verhältnisse als konstituierende Elemente begreift. Absolute Lächerlichkeit und bitterer Ernst können an keinem besseren Ort aufeinandertreffen als auf der Bühne. Ausgangspunkt für die hier gezeigte Arbeit ist wie gesagt die Alpenfestung mit all ihren historischen und ideologischen Hintergründen. Von diesem Punkt aus unternimmt Kapfer seine Recherche zum Thema Faschismus. Er bewegt sich allerdings nicht wie ein Historiker nur in der Zeit zurück, sondern versucht, Anknüpfungspunkte in der Kultur der Gegenwart zu finden und so wiederum eine Mikroebene in das Gesamtbild einzufügen. Dabei geht es ihm wohl auch darum, den Charakter zu erforschen, der ein autoritäres System überhaupt erst ermöglicht. Diesen Charakter haben schon früher Denker wie Fromm oder Adorno im Zusammenhang mit dem Kleinbürger und seinen Phantasien gesehen. Kapfer kommt hier zu einem ähnlichen Ergebnis, aber nicht aufgrund sozialpsychologischer Recherche, sondern aufgrund der ihm eigenen Methode einer formal-inhaltlichen Assoziation. Der Alpenfestung werden jene kleinen Festungen gegenübergestellt, die beim Bau von Eigenheimen entstehen: 136 — 137 Franz Kapfer Um das Einfamilienhaus wird eine Gartenanlage befestigt, umzäunt von Betonwällen oder Pflanzenhecken, sozusagen die natürliche Befestigung durch die Berge nochmals duplizierend. Daraus nimmt sich Kapfer ein Detail, das schon zu einer Art Wahrzeichen für kleinbürgerliche Gartengestaltung geworden ist: Die Thuje, der „Lebensbaum“. In seiner Kunst wird sie in zweifacher Weise übersetzt. Einmal in ihrer einzelnen Form, in der sie auf die Form der V2-Rakete verweist, die wie ein riesenhafter Phallus für Eroberung und Aggression steht, und einmal in der Formation einer Hecke, die für Schutz und Rückzug steht. Damit wird das Bild der Alpenfestung auf jenen autoritären Charakter übertragen, der in seiner Spießigkeit zwischen Abschottung und Schutzbedürfnis einerseits und Allmachtsfantasien und Eroberung andererseits hin und her schwankt. Sehr souverän verbindet Franz Kapfer hier sowohl Geschichte und Gegenwart des Ausstellungsortes als auch die ideologische Formation in einer großen Perspektive mit ihren individuellen Voraussetzungen. 140 — 141 Peripher idyllisch Schnappschüsse einer eigensinnigen Landschaft Günther Marchner Skipioniere am Hochmühleck 1909 (Quelle: Familie Loitzl, Foto: Sepp Kain) Ausdrücke wie „handwerkliche Fertigkeiten“ oder „handwerkliche Orientierung“… verweisen auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern. Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2008, S. 19 In der europäischen Kulturgeschichte wird der „schaffende Mensch“ (Homo faber) als Hersteller von Dingen und Leistungen für die Gemeinschaft idealisiert. Ihm wird der Mensch als Last tragendes und von Routine geplagtes Arbeitstier (Animal laborans) gegenübergestellt. Diese Unterscheidung unterstellt eine Hierarchie zwischen Gestaltern und Entscheidungsträgern einerseits und den quasi untergebenen „Ausführenden“ andererseits. Sie erinnert an die Trennung zwischen Kopf und Hand, zwischen geistiger und manueller Tätigkeit – und irgendwie auch zwischen Städten als Orte von Macht und Geist und ländlichen Regionen als Zonen der untergebenen Zuarbeit. Vor rund zehn Jahren noch konnte es geschehen, dass sich während eines Gespräches im Eisenbahnzug ein Bauer beklagte, seine Kinder seien zu intelligent. Was soll aus uns werden, fragte er, sie wollen studieren, und wenn sie studiert haben, greifen sie kein Werkzeug mehr an. Heute wissen auch die Bauern bereits, dass Intelligenz nützlich sein kann. Nicht nur für die Herrschaften in den fernen Städten, sondern an Orte und Stelle. Im Dorf. Herbert Zand: Einsame Freiheit oder Landleben und Zivilisation. In: Kerne des paradiesischen Apfels. Aufzeichnungen, Wien 1971, S. 42 Die Freude an der Arbeit lässt das Werk trefflich geraten. Eröffnungsworte zum Öblarner Schafbauerntag am 19. März 2010 1 Richard Sennett: Handwerk. Berlin 2008, bzw. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998. Inmitten der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt und des Rationalisierungs- und Wettbewerbsdrucks auf die Realwirtschaft spricht Richard Sennett, ein bekannter Interpret des flexiblen Menschen, von „handwerklicher Orientierung“ als menschliches Grundbedürfnis, gute Arbeit um ihrer selbst Willen zu leisten.1 Unsere Welt sei von handwerklich gut gemachten Dingen und Leistungen abhängig. Sennett meint damit nicht nur das vertraute Bild des klassischen Handwerkers in seiner Werkstatt, sondern viele Professionelle wie zum Beispiel Künstler, Wissenschafterinnen, Ärzte, Komponisten, Designerinnen, Köche oder Hebammen, die hochmotiviert und qualitätsorientiert Dinge herstellen oder Leistungen erbringen, für die sie Kopf und Hand (= Fertigkeit durch Übung) brauchen. Und er widerspricht der Unterscheidung zwischen Homo faber und Animal laborans. Denn bei allen arbeitenden Menschen – seien es Bäuerinnen, Handwerker, Köche, Facharbeiterinnen oder Frisöre – sind für eine gute Arbeit Motivation, Fertigkeit, Verantwortung und Qualitätsorientierung wesentlich, müssen Kopf und Hand „im Dialog“ stehen. 142 — 143 Günther Marchner Pioniere, Visionäre, Innovatoren Ein Vorurteil lautet, dass Neuerungen immer von den wirtschaftlichen und politischen Machtzentren ihrer jeweiligen Zeit ausgingen und dass der ländliche Raum in der Regel diese zu erleiden, zu erdulden oder nachzuahmen hatte. Aber die Geschichte von Regionen ist nicht allein eine Geschichte des passiven Erlebens äußerer Veränderungen, seien es Krisen, rasante Umwälzungen oder – positiv gewendet – die Umverteilung von Wohlstand und Wachstum. Die „schaffenden Menschen“ waren an Veränderungen in ihrer Region immer auch aktiv beteiligt. Und sie nutzten veränderte Rahmenbedingungen und Gelegenheiten für die Einführung von Neuerungen. Sägewerk Loitzl in den 1920er-Jahren (Quelle: Familie Loitzl, Fotograph unbekannt) In wohl keinem Bereich wird das Wunschbild einer motivierenden, sinnerfüllenden und naturnahen Tätigkeit so „hinein idealisiert“ wie in die bäuerliche Landwirtschaft oder in das Handwerk in ländlichen Regionen. Auch wenn die vielen kleinen Landwirtschafts-, Handwerks- und Gewerbebetriebe auch in den Gegenden des Bezirks Liezen einem enormen Druck, oft bei abnehmenden Erträgen, entwerteter Arbeit und der lähmenden Erfahrung der Konkurrenz durch Massenprodukte und Großstrukturen ausgesetzt sind, verbunden mit Perspektivlosigkeit für Betriebsnachfolger/innen. Auch wenn in dieser agrarisch anmutenden, von MontanTraditionen durchzogenen Region die meisten Menschen nicht in diesen Bereichen tätig sind. In einer Region, die nur in wenigen Fällen „Austragungsort“ einer großen Dienstleistungsindustrie – Seilbahngesellschaften, touristische Leitbetriebe, Eventmacher – sowie einer Immobilienund Finanzwirtschaft mit entsprechenden Erträgen ist. In einer Region, in der die klassische Trennung zwischen manueller und geistiger Tätigkeit spürbar wird: durch die Abwanderung von Menschen mit „höheren“ technischen und anderen Qualifikationen in die Ballungsgebiete. Oder durch die Minderwertschätzung von vorrangig manuell tätigen Lehrberufen und damit auch jenen Menschen, die in der Regel in der Region bleiben. Ob Pionier und Erneuerer, Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt und Landschaft, bedauertes Arbeitstier oder romantisiertes Wesen in der alpinen Idylle: Der „schaffende Mensch“ kommt in den Gegenden des Bezirks Liezen – wie in einer Bildergalerie – in vielerlei Gestalten daher. Und das oft in eigensinniger Form. 2 Siehe dazu: Richard Lamer: Das Ausseer Land: Geschichte und Kultur einer Landschaft. Graz: Styria 1998, S. 63-66. 3 Siehe dazu: Siegfried Ellmauer: Ohne Holz kein Salz. Maximilian Edler von Wunderbaldinger. Wegbereiter der neuzeitlichen Forsteinrichtung. In: Thomas Hellmuth u.a. (Hg.): Visionäre bewegen die Welt. Ein Lesebuch durch das Salzkammergut. Salzburg: Pustet 2005, S. 150-161. 4 Vgl. dazu: Gerhard Longin: Landwirtschaft aus dem Lehrbuch. Paul Adler und sein Leben für den bäuerlichen Fortschritt. In: Thomas Hellmuth u.a. (Hg.): Visionäre bewegen die Welt. Ein Lesebuch durch das Salzkammergut. Salzburg: Pustet 2005, S. 143-149; Hermann Baltl: Paul Adler – Ein Leben für den bäuerlichen Fortschritt. Graz: Leykam 1984. 5 Siehe dazu: Landgenossenschaft Ennstal (Hg.): Ein Wal im Wandel der Zeit, Stainach 1983. So ist auch diese Region nie nur „Objekt“ der von außen angestoßenen Veränderungen gewesen, wie zum Beispiel der erzherzoglichen Organisation des Bergwerkswesens und damit verbundener Nebengewerbe über mehrere Jahrhunderte. Oder der Angliederung an die überregionale Industriegesellschaft durch den Eisenbahnbau Ende des 19. Jahrhunderts. Der Integration in überregionale Tourismus- oder landwirtschaftliche Absatzmärkte im 20. Jahrhundert. Oder der Etablierung staatlicher Industrien im Dritten Reich und in der Zweiten Republik auf der Grundlage vorhandener montaner Traditionen. Neuerungen waren zumeist mit Pionieren und innovativen Persönlichkeiten aus der Region verbunden. Sei es zum Beispiel Christoph von Praunfalk, der in der frühen Neuzeit die Grundlage für die Modernisierung der Ausseer Salinen und für eine ökonomische Nutzung der Waldbestände legte.2 Oder ein Pionier der modernen Forstwirtschaft, wie der im Salzkammergut tätige Max von Wunderbaldinger.3 Dazu zählen auch der Hinterberger Bauer Paul Adler, der sich als Freund der steirischen Leitfigur Erzherzog Johann für eine Verbesserung und Modernisierung der Landwirtschaft seiner Region einsetzte.4 Der Gröbminger Bauer Franz Haiger, der die Initiative zur Gründung der Käsereigenossenschaft Gröbming im Jahr 1900 ergriff und somit den Grundstein für die spätere Landgenossenschaft Ennstal und für die Schaffung gemeinschaftlicher Verarbeitungs- und Absatzmöglichkeiten legte.5 Der ehemalige Ausseer Salzfuhrmann Johann Loitzl, der sein Kontaktnetz und sein kaufmännisches Talent nutzte, um als Hinterberger Sägewerksbesitzer auf das neue Eisenbahnnetz für den Holzexport zu setzen. Oder jene Skipioniere, die noch in der Zeit der k.k. Monarchie die Möglichkeiten ihrer Landschaft wie auf der Tauplitzalm, im Hinterbergertal oder anderen Gegenden der Region mit den Bedürfnissen städtischer Skiverrückter aus Wien, Graz und München verknüpften. Oder Bergsteigerpioniere wie die Steinerbrüder in der Ramsau, die mit ihrer Route durch die Dachsteinsüdwand Aufsehen erregten. Oder ein Schneider wie Robert Kanzler, der im Dialog mit dem Skisportler Leo Gasperl in den 1930erJahren die „Keilhose“ entwickelte, Jahrzehnte bevor der sicherlich dafür passende Ausdruck „Creative Industries“ überhaupt in Verwendung 144 — 145 Günther Marchner kam. Oder unternehmerische Persönlichkeiten wie der Bad Mitterndorfer Langzeitbürgermeister Siegfried Saf, der in den 1960er-Jahren die Rahmenbedingungen des deutschen Wirtschaftswunders für den Aufbau des Massentourismus ebenso nutzte wie die Schladminger und Ramsauer, deren Sprung zur Massentourismus in Seilbahnprojekten auf den Dachstein, in Sportstadien und spektakulären Wintersport-Events mündete.6 Stets war es die Schaffenskraft von regionalen Pionieren, Visionären und Innovatoren in dieser ländlich-patriarchalen Welt, die allgemeine Bedingungen und darin liegende Chancen erkannten und für Neuerungen nutzten, neue Existenz- und Erwerbsmöglichkeiten schufen, zur Bewältigung von Krisen beitrugen – gelegentlich aber auch zur Schaffung nachfolgender Krisen. Es war ihre Schaffenskraft, die mit der Einführung von Neuem in einer traditionsreichen Gegend damit immer auch „Gewachsenes“ wie „Gewohntes“ zerstörte. 6 Vgl. dazu: Rudolf Raimund Gross: Bad Mitterndorf, Liezen 1972; Dokumentationsarchiv „Kultur in der Natur“ zur Gemeinde Bad Mitterndorf (noch unveröffentlicht); Günter Cerwinka und Walter Stippberger (Hg.): Schladming. Geschichte und Gegenwart, Schladming 1996; Herbert Thaller: Ramsau am Dachstein. „Land und Leut`“. Eine zeitgeschichtliche Photodokumentation, Schladming, o.J.; Günther Cerwinka: Bauern. Bibel. Berge. Ramsau am Dachstein, Ramsau 1999. 7 Vgl. dazu: Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. 8 Herbert Zand: Einsame Freiheit oder Landleben und Zivilisation. In: Kerne des paradiesischen Apfels. Aufzeichnungen., Wien: Europaverlag, 1971, S. 42. Der aus Knoppen (Gemeinde Pichl-Kainisch) stammende Herbert Zand erhielt Anfang der 1950er-Jahre den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Siegfried Saf bei der Errichtung der Tauplitzalmstrasse Anfang der 1960er Jahre (Quelle: Frau Saf, Fotograf: Sepp Kain) Animal laborans als Homo ludens Dabei war nicht nur der arbeitende Mensch am Werk, sondern vielfach auch der Homo ludens. Nicht zufällig „entdeckte“ das städtische Bürgertum bei seiner Flucht in die idyllische Sommerfrische, dass die Menschen auf dem Lande nicht nur eine „arbeitende Masse“, sondern auch kreative und originelle Kulturschöpfer waren. Die Begeisterung für diese Menschen, im Besonderen für ihre Volksmusik, drückte sich gerade im Ausseerland aus, wie zum Beispiel bei Konrad Mautner, der sich als Abkömmling einer Industriellenfamilie in einen begeisterten Gössler verwandelte.10 Vielleicht klingt in der überdurchschnittlich hohe „Musikantendichte“ der Region, die in keiner öffentlichen Statistik als bemerkenswerte Erscheinung vorkommt, diese Seite des Homo ludens noch nach. Bis in das 20. Jahrhundert war der „schaffende Mensch“ in den vergleichsweise armen Alpentälern der k.k. Monarchie Teil einer bäuerlich-dörflichen Welt, geprägt von harter Arbeit und einem bescheidenen Leben, autarker Selbstversorgungswirtschaft, geringen Marktbeziehungen, eingeschränkten Konsummöglichkeiten, strenger sozialer Kontrolle und einem Aufeinanderangewiesensein in dörflichen Gemeinschaften7 – in den Gegenden des Bezirks Liezen ergänzt durch Zuverdienstmöglichkeiten im Bergbau, in der Holzwirtschaft, im Fuhrwerk oder Handwerk, erst später gelegentlich durch den Tourismus. Der aus der Region stammende Schriftsteller Herbert Zand betonte in den 1960er-Jahren in seinem Essay Einsame Freiheit oder Landleben und Zivilisation die illusionslose und unromantische Seite des Arbeitens und Lebens auf den Höfen und in den Dörfern seiner Heimat – gegen eine falsche Idealisierung des Landlebens.8 Für ihn war es eine Welt, wo die Menschen durch ihre Arbeit „der Natur“ ständig näher waren, als es städtische Naturliebhaber je sein konnten, eingebunden in einen gnadenlosen Jahreskreislauf und eine karge Basis, die kaum Freiheiten für anderes zuließ. Aber Zand nahm auch wahr, wie diese Welt auch ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Freiheiten von Menschen ermöglichte, vorausgesetzt sie waren in der Lage, mit diesen Bedingungen zurechtzukommen. Diese bäuerliche, mit Bergbau, Forstwirtschaft und Fuhrwesen vermischte Welt, wie sie diese Region prägte, war aber nicht nur eine Zone hart arbeitender Menschen außerhalb der Städte, die keinen Geist und Sinne für mehr hatten. Sondern sie war auch eine Welt voller Fertigkeiten, voller Stolz und voller Kreativität. Der in Spital am Phyrn aufgewachsene österreichische Soziologe Roland Girtler beschreibt diese Welt, die er als Jugendlicher nach dem Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte und welche in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Ende ging:9 Eine bäuerliche Kultur, die seit dem Mittelalter nach dem Prinzip der Selbstversorgung lebte und wo Menschen nebenher Einnahmequellen erschlossen, wie im Bereich des ländlichen Handwerks, im Bergbauwesen, als Holzknechte und Holzführer – oder ab dem späten 19. Jahrhundert im Ausseerland durch die Aufnahme und Versorgung von „Herrschaften“ aus den Städten über die Sommermonate. Diese Welt war voller Fertigkeiten und Erfahrungswissen: Nicht nur von Ennstaler Bauern, sondern auch von Handwerkern, wie jene entlang der Salzstrasse wie an einer Perlenschnur aufgefädelten Schmiede, Wagner oder Sattler. Oder die Schneider und Schuster, die „auf Stör“ von Hof zu Hof zogen, Kleider und Schuh richteten und herstellten. Oder die stolzen und gewiss privilegierten Salinenbergleute und Salzfuhrleute. Oder jene Holzknechte und Holzführer, die in der Lage waren, harte und gefährliche Handarbeit im Wald zu verrichten. 9 Roland Girtler: Sommergetreide. Vom Untergang der bäuerlichen Kultur. Wien: Böhlau 1996. 10 Vgl. dazu: Nora Schönfellinger (Hg.): „Conrad Mautner, großes Talent“. Ein Wiener Volkskundler aus dem Ausseerland. Grundlsee: Kulturelle Arbeitsgemeinschaft Grundlsee 1999. 11 Vgl. dazu: Vom Leben auf der Alm. Ausstellungskatalog. Kleine Schriften des Landschaftsmuseum Schloß Trautenfels am steiermärkischen Landesmuseum Joanneum, Heft 12. Trautenfels 2004. Zu dieser besonderen Welt gehörten auch Almen und Berge, jener „erste Stock“ der Region, den auch Herbert Zand in seiner biografischen Erinnerung als Achse der Freiheit und des mythischen Zaubers erlebte. Nicht zufällig wurde das „Almleben“, trotz harter und verantwortungsvoller Arbeit, jedoch verbunden mit geringerer sozialer Kontrolle und mit mehr Freiheit, zum besonderen „Labor“ volkskultureller Ausdrucksformen und Gegenstand späterer Idealisierung.11 Die Zeit der Modernisierung und des großen Wandels ländlicher Regionen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg machte jedoch auch sichtbar, wie gerne Menschen aus dieser kargen bäuerlich geprägten Welt flüchteten, hinein in eine Welt der – in dieser Region oft staatlichen – Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistung, die mehr Rechte, weniger Schinderei und mehr Wohlstand bedeutete. Vielleicht war die rasante Modernisierung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ablehnung alles Ländlichen, Regionalen und Alten und die Zuwendung zur modernen materiellen Kultur seit den 1960er-Jahren auch ein Ausdruck dieser Flucht. 146 — 147 Günther Marchner Enns und die Nutzbarmachung des Talbodens für Verkehr und Landwirtschaft im 19. Jahrhundert. In der rasanten Veränderung der Kulturlandschaft durch Meliorationen, Mechanisierung, Flurbereinigung, Produktivitätssteigerung und Spezialisierung auf Grünlandbewirtschaftung. Oder im Wandel von der ennstalerischen Heuhütten- in eine HeuballenLandschaft, unterbrochen vom Zeitalter der Betonsilos der 1970er- und 1980er-Jahre. Die romantische Idealisierung ländlich-alpinen Schaffens Alpine Landschaften dienten seit der Industrialisierung und seit ihrer romantischen „Entdeckung“ als vielfältige Projektionsflächen: sowohl für bürgerliche Fluchtbewegungen als auch für wärmestiftende Heimatbilder im Gegensatz zur Unwirtlichkeit und Unbehaglichkeit der industriellen Moderne. Die Landschaften des Bezirks Liezen – vor allem das Ausseerland – zeugen davon mit reichhaltigem Material.12 Die arbeitenden Menschen in ländlichen Regionen – vor allem Bauern, Handwerker, Jäger, Holzknechte oder Sennerinnen – schienen für Adel und Bürgertum einem „Leben mit der Natur“ näher zu stehen. Sie idealisierten das harmonisch erscheinende und bescheidene Leben eines stolzen und eigensinnigen „Menschenschlages“. So entstanden Mythen des einfachen Volkes in einer heilen ländlichen Welt, nachhaltig wie wirkungsvoll besungen etwa von Erzherzog Johann Oder durch den Wandel der Verkehrswege in der Region, wie zum Beispiel mit dem markanten Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1870erJahren (was erst durch die Regulierung der Enns möglich geworden war). Historisch waren die Verkehrswege oft quer zum Talboden verlaufen, zum Beispiel vom Pass Stein ins Sölktal oder durch das Donnersbachtal über das Gladjoch Richtung Süden. Die uns heute bekannten Hauptstrecken durch die Talböden waren nicht immer die wichtigsten, da technisch genauso rasch (oder langsam) zu bewältigen, wie die Saumpfade über die Alpen. Der Bau des Eisenbahnnetzes veränderte durch die Einbindung der Region in ein überregionales Industriesystem die Bedingungen des Wirtschaftens in der Region ebenso radikal wie der spätere motorisierte Straßenverkehr. In den 1970er-Jahren wurde das Ennstal zur gefürchteten, da gewundenen, langsam zu befahrenden, vom Verkehr überrollten „Gastarbeiterroute“. Eine Entwicklung, die schließlich zur Planung der „Ennsnahen Trasse“ führte, die nicht nur als Verkehrsweg, sondern auch als Konfliktlinie von Befürwortern und Gegnern das Tal in zwei Hälften schneidet. Im Hinblick auf Idealisierung bis hin zum politischen Missbrauch stand im Besonderen immer das Bild des „stolzen unabhängigen Bauern“ im Mittelpunkt: zum Beispiel als Repräsentant des „einfachen und fleißigen Volkes“, als Vertreter einer ständischen Gesellschaftsordnung, oder – wie in der NS-Zeit – als tragendes Element einer Blut-und BodenMythologie. Heute ist es das Bild des Bauern als spezialisierter selbständiger Unternehmer. Dieses Bild kollidiert aber auch in dieser Region mit einer Realität, in welcher die Mehrheit der immer weniger werdenden Landwirtschaftsbetriebe zu abhängigen Gliedern einer Agrarmaschine geworden ist, eingespannt in vor- und nachgelagerte Bereiche einer Bereitstellungs- und Verarbeitungsindustrie und eines dschungelartigen Vertretungs- und Förderwesens. 12 Thomas Hellmuth u.a.: Visionäre bewegen die Welt, Ein Lesebuch durch das Salzkammergut. Salzburg: Pustet 2005. 13 Daten laut „Rauminformationssystemsystem Steiermark. Regionalprofil Liezen“ (ein Projekt der Initiative Regionext des Landes Steiermark): Im Jahr 2005 waren 7% der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft, 30% in Industrie und Gewerbe, 63% im Bereich der Dienstleistungen beschäftigt. Oder sei es der Tourismus, der in den Gesichtern mancher Gemeinden seine Spuren hinterließ, sogar bis hin zum „totalen Tourismus“14, der als teilweise realisierte Vision in den 1970er-Jahren z.B. die Gemeinde Bad Mitterndorf prägte, bis der Bauboom aufgrund des zunehmend unbehaglichen Gefühls quer durch alle Gemeinderatsfraktionen in einem Baustopp mündete. Genauso wie in der Dachstein-Tauernregion, wo die Tourismusinfrastruktur den umliegenden Bergen einen nachhaltigen Stempel aufdrückt. Ländlich-alpine Regionen werden auch in aktuellen Vorurteilen und Wunschbildern vieler Menschen noch immer als vorrangig „agrarische“ Welt verstanden, ergänzt mit Tourismus und Naturschutz. Andere Bereiche wie Dienstleistung und neue Industrien, Forschung, Wissenschaft oder „Kreativwirtschaft“ sind in diesen Vorstellungen des ländlichen Raumes gar nicht vorgesehen – auch wenn die meisten Menschen im Bezirk Liezen nicht mehr in der Landwirtschaft tätig sind und obwohl es in dieser Region immer auch schon andere Branchen und Berufe gegeben hat.13 Regionalität als Aufstand gegen Entwertung Der schaffende Mensch als Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt Der „schaffende Mensch“ als Gestalter – und auch als Zerstörer – seiner Landschaft und Umwelt, manifestierte sich in der Region vielfältig: zum Beispiel in der Bewirtschaftung der Wälder für die Ausseer Salinen, die die Landschaften seit dem Mittelalter mitformte. In der Regulierung der 14 Der Begriff wurde verwendet in: Stefan Karner: Geschichte der Steiermark im 20. Jahrhundert. Graz: Styria 2000. „Regionalität“, jenes Schlagwort, das im Schatten der Globalisierung zur Konjunktur gelangte, lebt nicht nur vom der Erfahrung des Verschwindens nahräumlicher Qualitäten, sondern vor allem vom „Aufstand“ gegen einen schleichenden Entwertungsprozess lokal gebundener Erwerbstätigkeit und Wertschöpfung. Dieser Wandel, der traditionelle wirtschaftliche Kleinstrukturen unter Druck setzt, hat seine Auswirkungen auch in einem Bezirk wie Liezen, wo Wertschöpfung, Kaufkraft und Humanressourcen in einem stetigen Prozess an Ballungsräume verloren gehen oder 148 — 149 Günther Marchner 15 Siehe dazu: www.meisterstrasse.at 16 Vgl. dazu: Landschaft des Wissens (Hrsg.): Strategien des Handwerks. Sieben Portraits außergewöhnlicher Projekte in Europa. Stuttgart 2006. sich an wenigen verkehrsgünstigen Punkten und attraktiven Standorten in der Region konzentrieren. Bereits vor drei Jahrzehnten ist dagegen die Idee der „eigenständigen Regionalentwicklung“ geboren worden – die auch in der Programmatik des europäischen Förderprogramms „Leader“ ihren Ausdruck findet. Statt auf Betriebsansiedlungen, Wachstumseffekte und den Segen von außen und von oben alleine zu hoffen, werden mit dieser Idee die vorhandenen Potenziale und Stärken der Menschen einer Region und das gemeinschaftliche innovative Handeln und Erneuern in den Mittelpunkt gestellt. Diese Idee erzählt im Grunde von nichts anderem als von „schaffenden“ und „eigensinnigen“ Menschen als Motoren für die Entwicklung in Regionen. Gerade in der Konzentration auf wertschöpfende Potenziale und identitätsschaffende Qualitätsprodukte einer Region wird die Wiederaufwertung von vorhandenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um gute Arbeit zu machen und Qualität zu schaffen, zum Leitmotiv. Erzählt nicht gerade die Vermarktungsplattform der „Meisterstraße“, die die Renaissance österreichischer Handwerkskultur propagiert, und der inzwischen viele Betriebe im Salzkammergut und im Ennstal angehören, nicht vom Stolz auf die eigene Qualität, auf die Besonderheit originärer wie kreativer Leistungen und von ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Lebensqualität in der Region?15 Sind nicht die Ennstaler Lodenwalkereien Beispiele für „neue Strategien des Handwerks“16 und für Betriebe, die es schaffen, traditionelle Verfahren und gewachsenes Wissen mit Spezialisierung und Nischen-Marketing zu kombinieren und sich in einer Wirtschaft zu behaupten, in welcher eine europäische Textilindustrie kaum noch eine Rolle spielt? Sind die Landschaften des Bezirks nicht voll brach liegendem und unsichtbar gewordenem Erfahrungswissen in Land- und Forstwirtschaft, in der Holzverarbeitung, in montanistischen Techniken oder im Tourismus, die in neuen Kombinationen und Modellen auch in der „Wissensgesellschaft“ genutzt werden können? Vielleicht tritt der „schaffende Mensch“ in dieser Region zukünftig vermehrt als jugendlicher Neugründer, als kreative Bäuerin, als initiative Dienstleisterin oder als engagierter Migrant ebenso hervor wie als neuartige Kooperation zwischen Gewerbetrieben oder als kleingenossenschaftliche Initiative in der Landwirtschaft – wie es zum Beispiel die „Hinterberger Landpartie“ als Plattform von rund 15 Bauern tut. Auf der Suche nach dem regionalen Eigensinn Eigensinn wird den Landschaften des Bezirks Liezen zugeschrieben –- positiv wie negativ. Aber was ist damit gemeint? Ist es ein bäuerlicher Katholizismus oder eine sozialdemokratische Holzknechtkultur, die so manche gegen den Nationalsozialismus immunisierte oder der Eigensinn mancher Menschen aus dem Salzkammergut, der sie in den spanischen Bürgerkrieg, zur Desertion von Kriegseinsatz und zum Versteck ins Tote Gebirge geführt hat. Ist es der Eigensinn mancher Ortschaften, wo das geheimprotestantische Verstecken und Zusammenhalten gegenüber der katholisch-habsburgischen Obrigkeit noch heute seine kulturellen Spuren hinterlässt, obwohl in den meisten Fällen jegliche Überlieferung an reformatorisches Aufbegehren gelöscht worden ist? Oder ist es der Eigensinn des „Ausseers“, der in seinen Jahreskalender gleich mehrere heilige Faschings- und Bierzelttage einbaut, um gesellschaftliche Normen und Pflichten außer Kraft zu setzen und welcher im Wechselspiel zwischen Einheimischen und bewundernden „Zuagroasten“ zum überregionalen Markenartikel geworden ist? Oder der Eigensinn von Menschen, die – wie einst die Figur des murtalerischen Hödlmosers – gar nicht wissen, dass sie sich in einer peripheren Lage befinden und die eigene Welt immer als Mittelpunkt „rationalisieren“, um gar keine defizitären Gefühle aufkommen zu lassen, und eben Graz und andere „abgelegene“ Gegenden zur unwichtigen Peripherie erklären? Oder jener Eigensinn, der scheinbar selbstbewusst, aber bildungsfeindlich daherkommt und der entsteht, wenn man sich ausgeschlossen fühlt, nicht mehr mitkommt und auf „eckig sein“ pocht, im Widerstand gegen eine Modernisierung, von der man sich ausgeschlossen fühlt. Oder ist es der Eigensinn von Personen, die sich in einer Region ohne bürgerlich-städtische Kultur erlauben, in der Öffentlichkeit „abweichende“ und kritische Meinungen zu äußern? Oder vielleicht der Eigensinn, der in der unnachahmlichen Querfeldinterpretation von Volksmusik und Jazz bei der Wörschacher „Lemmerer Musi“ zum Ausdruck kommt? In einer Arbeitswelt, die den Menschen Anpassung und Funktionieren abverlangt, wird Querdenken und Kreativität zunehmend als Quelle für Innovation gesehen, sodass in der heutigen Wettbewerbsgesellschaft überall nach eigensinnigen Menschen mit neuen Ideen gesucht wird. Heute hängen auch die Möglichkeiten von ländlichen Regionen immer weniger von Grund und Boden, sondern vor allem von Wissenspotenzialen ihrer Menschen sowie von Motivation und Eigensinn ab. Und obwohl die „Statistik Austria“ und wahrscheinlich alle Raum- und Regionalexperten aufgrund vorhandener Daten und der topografisch-strukturellen Lage den Bezirk Liezen zur strukturschwachen und peripheren Region erklären, wird in Schladming oder vor allem auch im Ausseerland niemand daran zweifeln, sich trotzdem im Mittelpunkt der Welt zu befinden. 150 — 151 Der Autor, seine realen und fiktiven Protagonisten Wegnotizen auf einem literarischen Weitwanderweg Text: Peter Gruber Bilder: Kurt Hörbst Im Sommer lebe ich im Dachsteingebirge. Auf einer Alm. In einer Textwerkstätte. In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, von dessen höchstem Punkt einst mein literarischer Weg seinen Ausgang nahm. Ein Weg, der längst zum Weitwanderweg wurde. Ein Weg, der mich zunächst in die Notgasse führte, eine bizarre Felsenschlucht inmitten des Kemetgebirges, danach durch wildreiche Hochwälder in die düstere Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz lenkte, von dort aus auf die Hirzberghöhen und weiter auf das Wind und Wetter ausgesetzte Karstplateau zum Tod Am Stein, und schließlich im gwändigen öden Gebürg in den Sommerschnee. Ein Weitwanderweg, der gewissermaßen mit meinen literarischen Werken Hand in Hand geht und einen chronologischen Bogen von fast 500 Jahren übers Dachsteingebirge spannt, vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Ein Weg, dessen Tritte in den Tälern, Stufen auf den Höhen, Fußstapfen im Schnee und Schritte im Nebel ich gerne erneut abschreite, jedenfalls gedanklich, auf der Suche nach besonderen Wegnotizen und nach Begegnungen mit jenen Menschen, die meinen Weitwanderweg kreuzten, und die seither wie Wegmarken in meinen Erinnerungen leben, ob realer oder fiktiver Natur. Etappe I: Die Blütezeit des Almlebens, die Anfänge der Reformation, der Bauernaufstand im Jahr 1525. Etappe II: Die Hoch-Zeit der verbotenen Jagd, die Wilderei, das Aufeinanderprallen von Wildschützen und Jägern, vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit und der Wirren der Ersten Republik. Etappe III: Die Erschließung des Gebirges als internationale Fremdenverkehrsattraktion, das unvergessliche Unglück der Heilbronner Schüler und Lehrer. Etappe IV: Die gegenwärtige Situation der Dachstein-Almen, die kaum noch erhebliche wirtschaftliche Bedeutung haben, heutzutage auch als Rückzugsorte für Identität suchende Menschen dienen – so etwa für mich, den Hüterautor, wie mich der AlmKunst-Kurator zu benennen pflegt. Der 23. Oktober 1994 ist ein Bilderbuchtag. Auf den Almhöhen strahlen die Lärchen, bronzefarbene Nadeln tänzeln durch die Lüfte, entkleiden die knorrigen Uraltriesen, lassen dünnes Gezweige mehr und mehr nackt zurück, besäen die frosterstarrten Mulden und länger und länger werdenden spätherbstlichen Schatten. Auf einem meiner liebsten Aussichtshöcker im Gebirge lasse ich die Gedanken lustwandeln. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein mag, vor Jahrhunderten, als die Steige und Almen mindestens so sehr belebt waren wie die Dörfer und Märkte in den umliegenden Tälern. Ich stelle mir das rege Leben und Treiben recht fantasievoll vor. In den Almdörfern mit dutzenden von niedrigen Hütten, mit hunderten von Almtieren, mit unzähligen Menschen, Frauen und Männern, Kindern und Alten. Ich ahne, wie die Almschreie und Juchzer der Almleute und die Glocken und Schellen des Almviehs die Höhen zum Erklingen gebracht haben. Die Vorstellung, eine große Geschichte über die Almen im Dachsteingebirge zu schreiben, beseelt mich. Meine Idee vom Leben auf der Hirzbergalm nimmt ihren Anfang, ebenso die vom Sterben in der Notgasse. Ein umtriebiger Felsritzbildhüter gewährt mir Zugang und Einblick in ein reichhaltiges Archiv. Ich orte die Anfänge der Reformationszeit als die veränderungsstärkste Epoche aller Zeiten im und rund um das Dachsteingebirge, die Jahre von 1523 bis 1525. Mit dem vereinten Aufstand der Bergknappen und Bauern gegenüber Grundherrschaften. Mit einem Rebellenheer von 10.000 Mann, das sich gegen die Söldner des Landesfürsten stellt, im Ennstal und im Paltental, einen blutigen, unerbittlichen, zunächst durchaus erfolgreichen Kampf führt. Aber das Kriegsglück ist für die Aufständischen nur von kurzer Dauer. Die Notgasse gerät in den Mittelpunkt der Geschichte, als unheimlicher Ort, an dem dämonische Kräfte walten. Der gleichnamige Romantitel soll zugleich eine Metapher sein für Leid, Schuld und deren Überwindung. Aneignen eines sonderbaren Glossars: Aderlassen (den Kranken Blut entziehen, schröpfen), Bader (handwerksmäßig geschulte Helfer bei Krankheiten), Bergmiete (Zinsabgabe für Almbenützung), Drude (alptraumhafte Peinigerin aus der Teufel-Sippschaft), Fußbrand (offene Feuerstätte), Gewäg Haar (Maßeinheit für Flachs), Gorz (Maßeinheit, 12 Gorz = 1 Mut), Harnisch (Brustpanzer für Soldaten), Hellebarde (Waffe, Spieß mit Axt), Kaskee (konisches Holzgefäß mit durchlöchertem Boden), Mut (Maßeinheit, ca. 270 Liter), Pfleger (Verwalter für eine Grundherrschaft), Schwardach (Flachdach mit Legschindeln und Steinbeschwerung), Sudpfanne (zum Aussieden von Salz), Terz (Türkensteuer, wurde vom Landesfürsten speziell zur Abwehr der Türken eingehoben). Die Felsritzbilder in der Notgasse, an überhängenden Felsen zu finden, sind zwar in ihren symbolischen Bedeutungen erklärbar, hinsichtlich ihrer Herkunft jedoch bleiben die meisten bis heute ein Rätsel, öffnen deshalb Tür und Tor für alle möglichen Interpretationen. Dass die Bilder den Lebenswelten von Almleuten, Jägern, Salzträgern, Holzarbeitern entspringen, gilt als am Wahrscheinlichsten. Wie eine seltene Blüte 152 — 153 Peter Gruber der Erkenntnis erscheint es mir, dass die in die Verwitterungsrinde des Kalkgesteins geritzten Initialen und Jahreszahlen, vorwiegend das 17./18. Jahrhundert betreffend, als Sterbedaten von geheimprotestantischen Bauern gedeutet werden, wie dies einem ORF-Radio-Wandersendung-Skript von 1982 zu entnehmen ist, wobei sich die Redakteure auf eine Gröbminger Quelle berufen. Manche Bergführer, die heutzutage Gäste durch die enge, verschlungene Notgasse führen, zeigen sich mehr vom realen Gegenwärtigen angetan als vom mystischen Vergangenen, wie etwa von einer Kleinflugzeugabsturzstelle, die an den tragischen Tod von vier Insassen erinnert, nach denen in den 1980er-Jahren wochenlang gesucht wurde. Notgasse ist der historische Roman der Heimat Peter Grubers, die er herzlich liebt und die ihn in ihren Armen hält, stellt der Geschichteprofessor fest, anlässlich der Roman-Erstpräsentation beim Grafenwirt in Aich. Der Autor dürfte für diesen Roman einen guten Lektor gehabt haben, äußerst sich die betagte Volksmusiklehrerin, selbst auch poetisch tätig, im höchsten Maße anerkennend nach etwa der ersten Hälfte der Lektüre, erfreut über die gute Recherche im Milieu der Bauern und was die Besiedelungshistorie des Ennstales betrifft. Der Autor müsse jedoch plötzlich von allen guten Geistern verlassen worden sein, meint sie vernichtend, ebenso im höchsten Maße, nach der zweiten Hälfte der Lektüre, und sie ortet diesen Teil als schrecklichen Unsinn. Wissenshüter, wie es insbesondere Wissenschaftler, Forscher, Historiker, Chronisten, Archivare, aber vor allem auch Hobby-Volkskundler sind, mögen es gar nicht gerne, wenn ihnen ein vermeintlich Gescheiterer in die Quere kommt. Dies ist eine Erkenntnis, die ich im Zuge meiner Recherchen mache, die mich zwar befremdet, den einen und anderen Zugang zu Wissenswertem deshalb auch erschwert, mich aber von meinem weiteren Tun nicht abbringen lässt. Im Frühjahr 1999 erfahre ich, dass vier Jäger aus dem Gröbminger Winkl das Höflechner-Kreuz wiederaufgestellt haben, das schwere Eisenkreuz, nachdem es nach fast sieben Jahrzehnten durch die winterliche Schneelast vom großen Kalksteinklotz gedrückt worden war, der seit 1931 an den erschossenen Jäger in der Tälchenfurche erinnert, an einem äußerst schwer aufzufindenden Ort im Kemetgebirge, zwischen dem kleinen Z’sammtreibboden und der Zeissenstallalm. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben die Jäger den Schaden behoben, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie es sich für diesen Berufsstand geziemt. Doch was vermag schon geheim zu bleiben, wenn anschließend Jäger und Nichtjäger im Dorfwirtshaus einander begegnen. Wenn man das erste Mal diese Tälchenfurche betritt, bei schlechtem Wetter, bei Nebel, Nieseln oder bei Nordwind, man plötzlich zwischen den zig quer liegenden Bäumen und inmitten der vielen glitschigen, stummen Tothölzer das schwarze Eisenkreuz mit seinen nach oben und seitlich ragenden scharfen Zargen erblickt, überkommt einen leicht ein Gefühl des Unbehagens, und man beginnt sogleich, sich vorzustellen, was sich hier an jenem Julimontagmorgen tatsächlich zugetragen haben könnte. Als ich meinen Vater – zugleich einer meiner wichtigsten Gesprächspartner, was Recherchen hinsichtlich der Dachsteinweitwanderweggeschichten anbelangt – darüber in Kenntnis setze, dass ich mich literarisch dem offensichtlich nie wirklich geklärten Fall Höflechner, insbesondere dem damit in Verbindung stehenden und damals wider Erwarten vom Gericht, noch dazu in einem aufsehenerregenden Prozess mit Lokalaugenschein am Tatort im Hochgebirge, in allen Anklagepunkten freigesprochenen Wilderer August Dormann widmen möchte, fragt er mich spontan: Traust du dich das? Ist das nicht zu gewagt? Schließlich geht selbst heute noch ein heftiger Ruck durch die Jägerkreise, wenn das Wort auf den Freispruch dieses verruchten Wilderers fällt. Die Steiner-Gretl, leidenschaftliche und legendäre Sängerin und Jodlerin, bevorzugt in Perlloden gekleidet, begleitet mich zu einem erfahrenen Jäger am Fuße der Dachstein-Südwände, zu einem älteren Mann, dem ein großer Wissensschatz nachgesagt wird. Ja, ich weiß von diesem Fall Höflechner, von der Geschichte mit dem Stock und den Haaren, vom unverzeihlichen Freispruch, vom Justizirrtum, vom Justizskandal, von der Aufgebrachtheit in der Jägerschaft. Ich vermute, dass Dormann falsche Aussagen gemacht hat, vielleicht doch Mithelfer hatte. Jedenfalls galt er als frech und selbstsicher. Hat die ganze Justiz in die Irre geführt. Das Gerücht, dass Ramsauer Wildschützen für seinen Verteidiger Geld gesammelt hätten, für einen Juden noch dazu, ist wahrlich nicht glaubhaft. Es war bestimmt kein Unfall, keine Notwehr, sondern kaltblütiger Mord. Der erfahrene Jäger bestätigt mir, dass es tatsächlich so was wie Schussfieber gibt. Vor allem bei jüngeren Schützen. Das ist die Aufregung, das Warten, bis ein Wild in richtiger Position für einen Breitschuss ist, um es ganz sicher zu treffen. Da werden die Hände zittrig, die Nerven flattern, die Ungeduld wächst. Im höheren Alter ist das nicht mehr so, kann man schon auch einmal auf einen Schuss verzichten. Dieser erfahrene Jäger erzählt mir auch davon, dass sie als Schüler den Heimwehr-Angehörigen nachriefen: Hahnenschwanz, Hahnenschwanz, bist ein armer Tropf. Was der Hahn am Hintern trägt, trägst du auf dem Kopf. Unerklärlich aber ist ihm, dass alle Angehörigen der Heimwehr Spielhahnfedern als Hüteschmuck trugen. So viele Spielhähne kann es doch gar nicht gegeben haben, erklärt mir der Mann, es müssten ja alle zum Abschuss freigegeben worden sein. Er vermutet vielmehr einen Import von einem verwandten Hahn in Skandinavien, den es in viel größerer Zahl gab. Bei einem etwas älteren Herren, ebenfalls einem Zeitzeugen der 30er-Jahre, den ich, so wie allgemein ältere Informanten mit Hilfe einer Vertrauensperson kontaktiere, erwarte ich mir mehr Details zum Fall Höflechner, erhalte stattdessen jedoch eine ausführliche Milieu-Studie, was die frühe nationalsozialistische Tätigkeit im oberen Ennstal betrifft. Ich lausche mit einer Mischung aus großem Interesse und Ernüchterung zugleich. Der ältere Herr 154 — 155 Peter Gruber erzählt mir von einem Aufmarsch der Nazis mit Transparent und Gesang, cirka 20 junge Männer, alle mit weißen Hemden und weißen Stutzen bekleidet, anlässlich einer NS-Versammlung in den Jahren 1932/33 in Gröbming, die vom örtlichen Gendarmen wegen Aufmarschverbotes verhindert wurde, weshalb man später im Gasthofgarten weitergesungen hatte. Der ältere Herr weiß auch davon, dass Nazis damals zu Ehren der im Weltkrieg Gefallenen zu Allerheiligen das Kriegerdenkmal in Gröbming mit Kranz und Schleife versehen hatten. Das hat einen großen Konflikt mit dem damaligen Gröbminger Pfarrer zur Folge gehabt. Dieser ältere Herr erzählt mir auch, dass auf einem Felsen über dem Sattental ein Hakenkreuz prangte, weithin sichtbar. Ich ahne, dass die literarische Bearbeitung des Falles Höflechner vom zeitgeschichtlichen Hintergrund nicht loszusagen sein dürfte, vielmehr werde ich einen Nachhilfeunterricht nehmen müssen, denn mein erworbenes Schulwissen über die Zwischenkriegszeit wird kaum ausreichen, um möglichst real diese Zeit beschreiben zu können. Der älteste aller Zeitzeugen, ein über Neunzigjähriger, zugleich einer, der sogar noch persönlich beim Prozess vor Ort dabei war, damals bereits als Jungjäger, im Turnsaal der Volksschule Gröbming, den man kurzerhand zum Prozessraum umgewandelt hatte, und wo um zwei Uhr in der Früh der von allen Seiten vehement verteufelte Freispruch getroffen worden war. Dieser Neunzigjährige will mir in der Tat weismachen, dass die Ramsauer mit dem Angeklagten Dormann unter einer Decke steckten, weil sie selbst die ärgsten Wilderer im Kemetgebirge waren, und viel Geld für den Verteidiger aufgebracht haben. Der Mann zeigt mir einen Eintrag in seinem Tagebuch, in dem von 20.000 Schilling die Rede ist. Hitlerverehrung und Judenhass in einem schlagen mir in diesem Recherchegespräch entgegen. Die Zeit sei extrem schlecht gewesen, versucht mir der Zeitzeuge verständlich zu machen. Die Bauern gingen Not abbeten, der Bauer trug dabei eine Pfanne mit Glut und Weihrauch bei sich und sprach: Koa Staberl steht, koa Bröckl Brot, und ein Bub ging hinten nach und sagte: Verdammte Not! Verfluchte Not! Mehrere Monate lang widme ich mich in der Folge ausschließlich dem nachträglichen Geschichteunterricht, begebe mich in Archive, sichte einschlägige Literatur, vergleiche meine Erkenntnisse und die Aufzeichnungen meiner Gespräche mit den Zeitzeugen mit historisch kompetenten Experten. Allmählich gedeiht mein Wildererroman. Ein Ramsauer, dessen Vater verdächtigt wurde, in den Fall Höflechner verstrickt gewesen zu sein, gewährt mir Einblick in die private Sammlung von seltenen Fotos und Postkarten. Mir fällt die gestochen schöne Handschrift von Dormann auf. In diesem Gespräch erfahre ich von einem obersten Gebot, dass sich Wildschützen immer wieder und wieder in Erinnerung riefen und regelrecht antrainierten: Sofort die Waffe wegwerfen, wenn du auf einen Jäger stoßt! Nur ja nicht in Versuchung kommen, die Waffe auf einen Jäger zu richten! Die Tochter eines Wildschützen zeigt sich stolz, weil sie schon im jungen 156 — 157 Peter Gruber Mädchenalter vom Vater in den Wald mitgenommen wurde. Sie hat bereits als Kind einen Rehbock erlegen dürfen. Einmal haben sie beide, Vater und Tochter, frisches Gamsblut getrunken. Ihr Vater meinte, dass dies sehr gesund sei. Sie erinnert sich noch gut an die volle Doppelhandkehle mit dem Blut. Wildererleidenschaft ist nicht erklärbar, sagt sie. Das ist ein Gefühl. Nichts für den Verstand. Auch nicht die Tötungslust. Es ist das Verbotene, das Warten, die Chance, die Überlegenheit. Am Rande eines Vortrages des bekannten Wildererprofessors, vor voll gefülltem Saal in Gaishorn, versuche ich, den lokalen Wildschützen Dormann ins Gerede zu bringen, stelle jedoch bald fest, dass dies gar kein erwünschtes Gesprächsthema ist, trotz der längst vergangenen Geschehnisse. Mit ernsten Mienen hören die Gäste dem unterhaltsam vortragenden Professor zu und mit regungslosem Gesichtsausdruck folgen sie dem Gesangsquintett bei der Wildererhymne: An eines Sonntags Morgen. Trotz Einladung des Vortragenden findet kein einziger der Zuhörer auch nur einen Ton zum Mitsingen. Die Gerüchte, was unmittelbar nach dem Freispruch aus dem Wildschützen Dormann geworden ist, sind so vielfältig, wie es sich wohl oder übel für eine Figur dieser Art gehört. Man sagt, er habe sich umgebracht. Er sei in die Enns gegangen. Er habe sich erhängt. Er sei neuerlich der Leidenschaft des Wilderns nachgegangen. Er habe sich später jenseits der deutsch-österreichischen Grenze herumgetrieben. Er sei wieder auf frischer Tat ertappt und hinter Schloss und Riegel gebracht worden. Er habe geheiratet, und nachdem er seiner Gemahlin gestanden hat, dass er drei Menschenleben auf dem Gewissen habe, wurde ihm verwehrt, weiterhin im Haus zu schlafen, er habe fortan mit einer Hütte Vorlieb nehmen müssen. Wahrheiten? Gerüchte? Lügen? Legenden? Der Anfang eines Mythos? Im Dachsteingebirge, auf einer Alm, in einer Textwerkstätte, in einer Denkhütte, vertiefe ich mich in das SchattenkreuzManuskript. Einige Minuten zuvor war ich noch draußen unterwegs, habe beobachten können, wie der Bergnebel von den Hirzberghöhen tiefer und tiefer wölbte, grüne Gamsäsungen verhüllte, gleichfarben mit dem grauen Kalkkarst verschwamm, näher und näher rückte, kühle und feuchte Luft mitbringend. Bergnebel ist der Freund des Wilderers. Bergnebel ist auch mein Freund, der mich stets läutert, mir alles Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen vermag, und mich dazu inspiriert, unmittelbar Papier zu entrollen und Bleistifte zu spitzen, mich hinzusetzen und sofort festzuhalten, was mir gedanklich in den Sinn kommt, so wie an diesem Tag, mit der alles entscheidenden Erzählszene im Skript, der Wildererpirsch in der Tälchenfurche am Julimontagmorgen. Mittendrin in meinem Unterfangen kreuzt der Königreichalmhüter auf. Heute Nacht wird der Jäger dran glauben müssen, sage ich zum Almnachbarn. Lass ihn noch eine Nacht leben, fleht mich der Almnachbar an, nicht minder lapidar. Schreib doch einmal eine Geschichte mit einem guten Ausgang, wünscht sich sehnlich eine treue Leserin meiner Bücher. Wenn Schattenkreuz auch so eine grausame Geschichte ist wie Notgasse, werde ich das Buch nicht lesen, lässt mir eine andere Leserin ausrichten. Bei der gut besuchten Sonderausstellung Auf der Alm im Schloss Trautenfels in den Jahren 2004 und 2005 wird mir, dank eines Impulses vonseiten des AlmKunst-Kurators, die Möglichkeit zum Mitwirken beschert. Kunst 19 lässt die Besucher eine Textwerkstatt-Alm schauen, mit Werkzeug und Schwersteinen auf Materialbündeln, wo mit Roafmesser und Bleistiftspitzer gleichermaßen umgegangen wird, wo die Abfälle zum eigentlichen Werkplatz gehören wie die Scharten in die Tischlerei, oder es ist alles ganz anders, penibel geordnet und aufgeräumt. Anlässlich der Ausstellungseröffnung begegne ich dem vulgo Kalcher aus Ramsau am Dachstein, der mir schildert, wie er auf imaginäre Weise meiner Notgasse-Erzählung gefolgt ist, auf Schritt und Tritt, jeden im Buch beschriebenen Ort, ob realen oder fiktiven Ursprungs, gedanklich nachgegangen ist und jeden dieser Orte in seinen Vorstellungen auch gefunden hat. Ich bin tief bewegt von dieser Begegnung mit dem alten vulgo Kalcher, und ich denke mir, dass es sich für solch einen Leser allein lohnt, eine Geschichte zu erzählen. Einige Wochen nach der Veröffentlichung des Romans Schattenkreuz entdecke ich, bei einem Fitnesslauf entlang der Enns, nahe der Brücke in Aich, unmittelbar neben Altpapiercontainern einen Haufen mit alten Zeitungen und Zeitschriften. Im Zuge meiner Recherchen in Archiven und Sammlungen habe ich mir den Blick der Neugierde für altes, vergilbtes Papier angewöhnt, und ich kann nicht umhin, vor diesem Haufen jäh zu stoppen und darin zu stöbern. Nach nur wenigen Augenblicken halte ich eine Ausgabe der Neuen Illustrierten Wochenschau aus dem Jahr 1954 in Händen, eine damals im ländlichen Raum beliebte Wochenzeitung, und mir sticht sogleich die Titelseite ins Auge, mit einer Reportage vom Heilbronner Dachsteinunglück und, zu meiner völligen Verblüffung, einem Titelfoto, dass drei der im Schnee erfrorenen Opfer unmittelbar nach der Bergung in Großaufnahme zeigt. Magst dich schon äußern, welches Thema du als nächstes bearbeiten wirst, fragt mich der Grafenbergalmhüter in einem Café in Wien. Ja, weißt, da gibt es noch eine Geschichte, ein Dachstein-Ereignis, stottere ich wohl ein wenig unsicher, in Anbetracht des frühen Stadiums meiner Überlegungen, und ich meine, dass es vielleicht an der Zeit wäre, mir ernsthaft Gedanken zu machen. Noch gar nicht auf den Punkt meiner Äußerungen gekommen, nimmt mir der Grafenbergalmhüter das Wort vorweg: Du meinst die Dreizehn, die Kinder, die Lehrer, die an einem Karfreitag gestorben sind. Von der Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz ist es ein weiter, mühsamer Weg bis zum Tod Am Stein. Die Geländeunwirtlichkeit lässt es kaum zu, geradlinig zu gehen, immer wieder muss breiten Latschenfeldern, Geröllhalden, Karen, Dolinen, Schlünden und Abgründen ausgewichen werden. Manchmal führt es einen um die rundlichen Kuppen der Hirzbergausläufer, manchmal durch die aussichtsarmen Muldensenken. Man erzählt, 158 — 159 Peter Gruber dass an jenen dreizehn Orten im Kalkkarst, wo die einzelnen Opfer später gefunden wurden, jeweils ein rotes Kreuzlein auf den blanken Fels gemalt worden ist, zur Erinnerung an die weit voneinander verstreuten Dreizehn. Nur wenige Ortskundige wissen noch um die Orte dieser Kreuzlein. Ich widme mich ausgiebig der Recherche im Umfeld des Heilbronner Kreuzes – das übrigens an jener Stelle errichtet worden ist, wo seinerzeit ein Notbiwak der Vermissten entdeckt wurde – vermeide aber die Suche nach diesen kleinen Kreuzlein, aus Respekt und aus Gründen der Pietät. Wieder ist es mein Vater, zu dem ich mich als Erstes begebe, was meine genaueren Nachforschungen anbelangt, vor allem auch deshalb, weil ich mich entsinne, dass er schon zu meiner Kindheit über dieses Unglück erzählt hatte. Mein Vater gilt seit jeher als ausgezeichneter Kenner des Kemetgebirges. Am Freitag, dem 23. April 1954, ist er zusammen mit seinem Bruder und dem Pitzer-Friedl (ein Unikum unter den damaligen Almhütern) aufgebrochen, um sich vom Stoderzinken aus in Richtung Plankenalm auf die Suche nach den Vermissten zu begeben. In der Hoffnung, vielleicht in einer der eingeschneiten Almhütten Spuren zu entdecken. Die drei wollten nicht untätig bleiben. Es war eine innere Stimme, die sie zum Aufbruch rief. Auch sie wollten bei der groß angelegten Suchaktion ihren Anteil leisten. Ausgerüstet waren sie mit einfachen Skiern, damals noch ohne Metallkanten, sie verfügten nicht einmal über Steigfelle. In die Rucksäcke stopften sie Jause, sie rechneten mit Nächtigungen in einer der Almhütten. Es hat damals ungeheure Schneemengen und im April noch meterhohe Schneeverwehungen gegeben, erinnert sich mein Vater. Im Tumerach, kurz vor der Plankenalm, stießen die drei Männer auf Bergretter, die von Gröbming aus an der Suchaktion teilnahmen, und sie schlossen sich diesen unmittelbar an. Du bist dazu bestimmt, diese Geschichte zu schreiben, der Tragik der Dreizehn auf den Grund zu gehen, kommentiert die Steiner-Gretl meine Absicht, als ich sie und den Gebauer-Heli am Fastenberg auf der Tauernseite zum Gespräch treffe, hinsichtlich ihrer Erinnerungen an die Geschehnisse von Ostern 1954. Begleitet von einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen beschwört sie, dabei regelrecht allem und jedem überlegen erscheinend: Die Buben werden dir begegnen, nachts, in den Träumen, dort oben, wenn du Wind und Wetter ausgesetzt sein wirst, auf deiner Alm! Vom Fastenberg aus erscheint es einem, als könne man das ganze Dachsteingebirge mit einem einzigen Blick erfassen, doch der Schein trügt, denn nichts ist von hier aus von der breiten, weiten Hochfläche zu erkennen, die sich hinter den Wänden und Graten ausdehnt. Spät, mit Einbruch der Dämmerung, als die letzten Sonnenstrahlen am Kalkgestein des Dachsteins rötlich aufflammen, jodeln mir die Gretl und der Heli zum Abschied den Dåchstoana nach, so klar und kräftig und perfekt, wie ich ihn niemals zuvor (auch niemals wieder danach) von den beiden vernommen habe. Es war die größte alpine Suchaktion in der Geschichte Österreichs. 160 — 161 Peter Gruber Unzählige Männer waren in den Tagen nach Ostern 1954 unterwegs, um im Dachsteingebirge nach den dreizehn Vermissten zu suchen, Bergrettungsmänner und Alpingendarmen. Bis zu 500 waren im Einsatz, bemühten sich vergeblich, vermochten am Ende nur dreizehn Tote zu bergen. 500 Bergretter, das sind auch 500 Bergrettergeschichten. Von mehreren Seiten wird mir – durchwegs von einem ewig unverzeihlichen, vorwurfsvollen Unterton begleitet, zu meinem Erstaunen selbst noch 50 Jahre nach der Tragödie – ein Zitat des Klassenlehrers Hans Sailer (Anführer der Dreizehn, der letztlich selbst auch unter den Opfern war) zugetragen: Meine Jungen müssen sich richtig warm laufen! Im Mai 2006, in der süddeutschen Stadt Heilbronn, am Tag vor der Erstpräsentation meines Romans Tod Am Stein gegenüber der Heilbronner Öffentlichkeit, im besonders launischen Maienwetter, begebe ich mich auf den städtischen Friedhof, wo in einem Ehrengrab elf von den dreizehn Verunglückten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Dort hocke ich mich auf eine Bank, lasse meine Blicke und Gedanken über die Grabsteine schweifen, auf denen in großen Lettern die Vor- und Nachnamen und Geburtsdaten geschrieben stehen. Irgendwo, in sehr weiter Ferne, in direkter Luftlinie über die Gräber hinweg, gegen Südosten zu, denke ich mir das Gebirge, das Dachsteinmassiv, das den jungen Heilbronnern zum Verhängnis geworden war. Während ich so manchen Wegnotizen nachsinne, die diese Etappe meines literarischen Weitwanderweges mit einer ganz besonderen Tiefe geprägt haben, beginnt sich der Himmel über mir wie rasend zu verfinstern, kommt plötzlich Wind auf, setzen fast zeitgleich Blitz und Donner und ein kräftiger Wolkenbruch ein, legt ein ziemlich heftiges Frühjahrsgewitter los. Als würde die Natur mehr als bloß ein Wörtchen mitreden wollen, auch an diesem Tag. Seit den Ereignissen von 1954 bin ich nie wieder in die Nähe des Dachsteins gekommen, verrät mir der ehemalige Sportlehrer der Damm-Realschule, und versichert mir aus voller Überzeugung, dass er auch in Zukunft nie und nimmer diesem Gebirge begegnen will. Ich dagegen setze meinen literarischen Weitwanderweg fort, bleibe dem Schnee im Hochgebirge auf gewisser Weise treu, wenn auch auf gänzlich andere Art, wende mich vom Tod Am Stein in den 50er-Jahren wieder ab und der Gegenwart zu und begebe mich in den Sommerschnee. Als ich erstmals den Fotografen mit den Hochalmen im Kemetgebirge vertraut mache, wir zusammen über die Almhöhen schreiten, ohne viele Worte, eher schweigsam, beide in Gedanken und Beobachtungen versunken, beim Überschreiten des Almsattels zur Neubergalm, mit den Blicken auf die abgewitterten Dächer der Almhütten, Viehunterstände, Sautrempel und Wasserbunker, äußert sich der Fotograf beeindruckt: Schön, dieses gleichfarbene Grau der abgewitterten Schindeldächer, der Kalksteine, der toten Baumstrünke! Das Dachsteingebirge ist seit jeher eine Art Panoptikum für Narren, stellt die Mittelschulprofessorin fest. Als Dachstein-Narren könne man sie alle auch bezeichnen, die Wissenschaftler und Forscher, die Wanderer und Bergsteiger, die Wilderer und Jäger, die Schafbauern und Almhüter, die Grenzgänger und Aussteiger, die Maler und Schriftsteller. Sind Sie ein Einzelgänger, fragt mich die Lebenswege-Moderatorin. Einen Augenblick halte ich inne, als müsse ich erst überlegen, obgleich das auf diese Frage hin gar nicht notwendig ist, aber ich halte wohl deshalb kurz inne, weil mir bewusst wird, dass ich die Antwort in einer Rundfunksendung und somit vielen Zuhörern gebe. Ja, antworte ich schließlich aus Überzeugung. Und in Selbsteinschätzung, denn die Quelle meines literarischen Wanderns nährt sich vom Einzelgängerischen. Ich möchte auch zukünftig im Sommer im Dachsteingebirge leben. Auf einer Alm. In einer Textwerkstätte. In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, wie der Schröfl-Rudl, ein treuer Weggefährte in den frühesten Jahren meiner Erkundungen auf und um die Almen im Dachsteingebirge – lange vor den ersten Schritten auf dem literarischen Weitwanderweg – einen der unzähligen, auf erstem Blick hin eher unbedeutend erscheinenden Almhöcker benannt hatte, in der Ahnung, dass der Almhöcker einer meiner Lieblingsdenkplätze ist. 162 — 163 Wenn Helene kommt Text: Christof Huemer Bilder: Stefan Emsenhuber 1) Ich bin ein geschmeidiger Vogel. Ich tanze und kreise. Ich schwebe und gleite. Ich liebe es. Ich spiele im Aufwind, drehe Kreise um den runden Turm, lasse mich wieder fallen. Ein paar Mal kräftig mit den Flügeln schlagen, wenn die Abendsonne die Luft bewegt unten an der großen Mauer, und wieder gleite ich. Ich gleite, um zu fühlen, wie die klare Luft mein Gefieder streift. Ich gleite um zu spüren, wie schnell ich bin. Zu fühlen wie sich meine Krallen entspannen, mein Rumpf ganz glatt wird und wildes Knarren aus meinem Schnabel dringt. Wenn ich fliege, kann ich Dinge, die sonst nur Zauberer können und Hexen. Ich drehe mich mühelos, ich drifte entlang des Frieds, ich wirble um den Reif, der den Turm umarmt, und segle weiter. Ich segle, halte dann beinahe an und schaue in die Fenster. Ich sehe und erkenne und fliege weiter. Ich schmiege mich an die Strömung, spreize meine Schwingen, folge dem Balkon und lasse mich über den Weiher treiben. Ich bin ein Wachtelkönig und mein Name ist... 2) Kleine, braun gefiederte Vögel, Hunderte davon, zogen ihre Kreise rund um den Flaggenturm des Schlosses, als Theresa Hegelmann, ein Waisenkind von fast 14 Jahren, das die Erzieherinnen in ihrem Münchner Internat gerne als vorlaut oder frühreif beschrieben, wenn sie Theresa dieser Eigenschaften nicht sogar bezichtigten, vor dem Bahnhof im Dorf der Haselnussmenschen stand und vergeblich versuchte, von dem sie abholenden Fahrer Hilfe zu bekommen. Wie Theresa schnell erkannt hatte, war er nicht jener Notar, Dr. Philipp Burger, dessen Brief sie im FilibusterHeim der Karmeliterinnen St. Rhinus über den notwendigen Antritt einer Erbschaft informiert hatte, sondern eine im Schloss angestellte Hilfskraft. Ohne auszusteigen und, wie Theresa sich einbildete, widerwillig hob der bärtige Mann im Lodenjanker die Hand zu einem müden Gruß, den man auch als Geste deuten konnte, die so viel besagen sollte wie: Ich will mit dir und deinem Schicksal nichts zu tun haben. Theresa öffnete die Beifahrertür, kletterte in den vor sich hin brummenden Wagen und da der Chauffeur weiterhin keine Anstalten machte, ihr behilflich zu sein, stellte sie ihren Koffer einfach zwischen ihre Füße. Bald begann die Fahrt sie zu irritieren. So nahe hatte das Schloss vom Bahnhof aus noch gewirkt. Doch der durch Schlaglöcher versehrte Weg durch das Dorf der Haselnussmenschen, das nun so gar nicht wie eine Ortschaft aussah, eher wie eine Ansammlung von zu unterschiedlichen Zeiten vergessenen Häusern, nahm kein Ende. Viele Gebäude im Dorf waren verlassen oder verfallen, oder vielleicht schien es nur so, und die Züge hielten zwar am Bahnhof, doch stieg nie jemand zu oder aus. Theresa war die Einzige am Bahnsteig gewesen, die Einzige in der Halle, und der Mann, der sie ins Schloss brachte, blieb der einzige Mensch, den sie sah. „Ist es zu dieser Zeit immer so kalt?“, machte sie Konversation, griff sich an dem Mantelkragen, wie eine Dame im Film es getan hätte, und der Chauffeur aus dem Dorf der Haselnussmenschen starrte vor sich hin. Auch ihre Erkundigungen nach der Einwohnerzahl und dem Grund für seine langsame Fahrweise ließ er unquittiert. Er wollte oder durfte nicht sprechen. Theresa presste ihre Unterschenkel an ihren Koffer und eine Hand, die rechte, an ihre linke Brust, dorthin, wo sie das Tagebuch ihrer Mutter vermutete. Schweigend zuckelten sie durch die letzten Häuser des Dorfs der Haselnussmenschen und ihr Chauffeur begann, holprige, zischende Silben zu murmeln. Sie nahmen die unbefestigte Straße, die das Schloss mit dem Dorf der Haselnussmenschen verband. Der Chauffeur murmelte lauter. Noch immer kam das Schloss nicht in Sicht. Hinter dieser Biegung muss es liegen, dachte Theresa bei jeder Kurve aufs Neue. Hinter jener dort vorne. Der endlose Weg und das feindselige Murmeln – sie wollte am liebsten schreien, so genervt war sie. Und dann sah sie das Schloss. Sie sah den See, in dessen Mitte ein verlassenes Ruderboot trieb. Sie passierten ein Haus, das einer Fischerhütte glich und hinter dessen Fenstern sich viele neugierige und, wie sie fand, irre Kindergesichter drängten. Sie sah die felsige Anhöhe mit dem kastenförmigen Gebäude, das wie eine Klinik oder Heilanstalt wirkte, aber so gar nicht wie ein Schloss. Sie sah die Vögel, Hunderte aufgeregte Vögel, die im abendlichen Aufwind der Nordwand tollten und dabei ein schnarrendes Geschrei ausstießen, das Theresa bis unter die Haut ging. Und dann sah sie den Ring um den runden Flaggenturm des Schlosses, einen weißen, nach unten gesunkenen und auf rätselhafte Art leuchtenden Heiligenschein, von dem Theresa schwören könnte, dass er bis vor wenige Minuten noch nicht und weder als sie das Schloss vom Bahnhof noch von der Strecke aus betrachten konnte, da war. Ohne eine Antwort zu erwarten und mehr, um sich ihrer Wahrnehmung zu versichern, fragte sie: „Was ist das für ein Ring?“ Ihr Chauffeur lachte laut auf, klammerte sich wie ein Affe an das Lenkrad des Geländewagens, den er, jetzt noch langsamer, die schmale Straße um den Teich herum kutschierte und rief, es sei das Reich, das wiederkehre, das Reich, das gottseidank immer und immer wieder- und wiederkehre, Nacht für Nacht, und auch wenn man es rundum verboten habe, auch wenn man sie gedemütigt und erniedrigt habe, sie, die Haselnussmenschen, seien glücklich zu preisen, das Reich, es kehre wieder. Der Weg führte nun bergauf, der Irre schaltete in einen niedrigeren Gang, glücklich zu preisen, schnarrte er und Speichel, sehr weißer Speichel sammelte sich in seinem Bart. Vor dem Schlossportal angekommen, wurde ihr die Wagentür von einem Mann in dreiteiligem Anzug geöffnet, der sich als Notar Dr. Philipp Burger vorstellte. Er erkundigte sich nach ihrer Reise, die, lang wie sie war, hoffentlich frei von Überraschungen und Beschwernissen vonstatten gegangen sei. Er half ihr vom Trittbrett und führte sie sofort ein paar Schritte weg von Schloss und Wagen. Dann eröffnete er Theresa, die er abwechselnd mit „Mein Kind“ und „Liebes Fräulein“ ansprach, dass dringende Termine ihn leider zur sofortigen Abreise zwängen, ja, es bliebe nicht einmal mehr die Zeit, gemeinsam Abend zu essen, bedauerlich sei das und dennoch nicht zu ändern, nach seiner Rückkehr aber... Während all dieser Worte, denen Theresa vor allem entnahm, dass es noch dauern würde, bis sie erfuhr, um welche Art Erbschaft es sich handle und was für ein Mensch ihre Mutter gewesen war, spürte sie rege Betriebsamkeit hinter ihrem Rücken. Während seiner Abwesenheit werde sich die langjährige Haushälterin und Herrin über das wenige Personal, fuhr der Notar fort und legte eine Hand auf Theresas Rücken, gut um sie kümmern. Auch würde seine Absenz nicht lange währen, wahrscheinlich kaum einen Monat. Der Notar schob sie zum Schloss, die drei Stufen hinauf, und durch das offene Portal. Theresa stand unversehens in einer steinernen Halle, ein Mädchen von 14 Jahren, in Baumwollkleid und Mantel, der Kragen hochgeschlagen, und wurde von einer Gruppe dunkel gekleideter Personen gemustert, neugierig und ohne sichtbare Wertschätzung. Wie jedes Kind, das ohne Eltern aufgewachsen war, fühlte sich Theresa in solch einer Situation unwohl und blickte ungeschickt in die Versammlung. Ganz hinten stand ihr irrer Chauffeur, rieb sich den Bart, presste seine Hände dann übertrieben kräftig an seine Hosennaht, und als wäre somit alles fertig, trat da die Gestalt vor ihm aus der Menge. Sie war in tiefstes Schwarz gekleidet, hager und groß, zwischen 50 und 70 Jahren alt, mit hervorstechenden Backenknochen, pergamentener Haut und erinnerte Theresa vage an einen Pinguin. „Das, mein Kind,“ erklärte der Notar, „ist Frau Thannver“. Theresa schauderte bei diesem Namen. Unsicher beugte sie ihre Knie, deutete einen Kicks an, und die Vorgestellte kam auf sie zu, streckte ihre Arme nach Theresa aus, voller Liebe und doch mit staubig gemessener Haltung, blieb genau einen Schritt vor ihr stehen und betrachtete sie gütig. Sie flüsterte etwas, das wie „Helene“, klang, ganz zärtlich, „meine 166 — 167 Christof Huemer Helene“, und machte sich daran, Theresas schüchtern vorgestreckte Hand zu ergreifen. „Frau Thannver,“ vollendete der Notar das Ritual in sachlichem Ton, „dies ist Fräulein Theresa.“ Die Hand, die Theresas dann ergriff, war schwer, eiskalt und fühlte sich wie tot an. Und Frau Thannvers Gesicht, eben noch voller Zuneigung, verwandelte sich in Stein, in ein in Marmor gehauenes Mahnmahl zu allen von ihr selbst, dem Dorf der Haselnussmenschen oder gleich des ganzen Gaus erlittenen Schmähungen. Sie ließ ihre eiskalte Hand in der von Theresa und bohrte ihren Blick in ihre Stirn. Dann fügte sie sich wieder in die Gruppe ein, Margit werde sie auf ihr Zimmer führen, hörte Theresa Frau Thannver sagen. Ein leicht schielendes Mädchen in Theresas Alter löste sich aus dem Aufgebot, Theresas Koffer schon in der Hand. Sie ging ein paar Schritte und huschte, als sie sah, dass Theresa ihr folgte, die Stiegen hinauf. Theresa fühlte hundert Blicke in ihrem Hinterkopf. „Sie ist eine Hegelmann“, hörte sie den Notar noch sagen, „die Vorletzte.“ Und Thannver sagte, ausatmend: „Wir wollen es hoffen.“ 3) Das Zimmer, das man Theresa zuwies, war geräumig und trotz der Dämmerung hell. Margit schickte sich an, ihren Koffer auszupacken, was Theresa sie ersuchte, nicht zu tun, und selbst als die Vorhänge zugezogen, der Koffer im rechten Winkeln am Bett abgelegt und auch sonst nichts mehr zu tun war, kostete es Theresa einige Mühe, Margit aus dem Zimmer zu komplimentieren. „Was ist nur mit diesen Haselnussmenschen los?“, dachte sie unkompliziert, legte sich samt Mantel und Schuhen auf das Bett, rollte auf den Bauch und öffnete ihren Koffer. Als sie wieder erwachte, war es dunkel, ein Tablett mit einem Teller Suppe ruhte neben dem Bett auf einem Tisch, der zuvor noch nicht da gestanden hatte und ihr Koffer, eine Tatsache, die Theresa aber erst viel später auffiel, war verschwunden. Nachdem Theresa ein paar Löffel kalte Suppe gegessen hatte, zog sie das Tagebuch ihrer Mutter aus der Innentasche ihres Mantels. Dieses Buch, ein Heft von circa 120 Seiten, war die Gesamtheit dessen, was Theresa von ihrer Mutter kannte, die bei ihrer Geburt sehr jung ums Leben gekommen war, oder so hatten es ihr die Schwestern im Internat erzählt. Theresa sei Österreicherin, so wie ihre Mutter Gertrude eine gewesen sei, und auch das monatliche Geld an das Internat würde von Österreich aus überwiesen, ihr Vater sei wohl im Krieg gefallen, im Alter von vier Jahren sei sie zu den Karmeliterinnen gekommen, was früh sei, sehr früh, mehr wisse man oder wolle man auch beim besten Willen nicht wissen, noch habe es irgendeinen Sinn, in der Vergangenheit zu rühren, nun weine doch nicht, wer wird denn gleich sentimental werden. Vor zwei Wochen kam dann der Brief des Notars, ihrem Vormund, wie er sich auch nannte, mit der dringenden Bitte, ins Dorf der Haselnussmenschen zu reisen. Wie im Testament ihres Vaters vorgesehen, solle sie eine Erbschaft antreten, für Details bliebe vor Ort noch Zeit, eine Zugkarte fände sie anbei. Dem freundlich, aber vollkommen unpersönlich gehaltenen Brief lag jenes Tagebuch von Theresas Mutter bei, das den Zeitraum von März bis September 1941 umspannte, also in etwa zwei Monate vor Theresas Geburt abbrach. Schon nach ein paar Zeilen hatte Theresa erkannt, worum es sich handelte, das Heft wieder zärtlich geschlossen. Und seitdem jeden Tag darin und nie mehr als drei Seiten, es musste lange halten, gelesen. Wie ihre Mutter, womöglich bereits schwanger, im März 1941 ins Dorf der Haselnussmenschen kam, wo der Künstler Conrad Halder (ein bedeutender? Theresa hatte noch nie von ihm gehört) Gertrudes Zukünftiger und, so konnte man mutmaßen, Theresas Vater, von seinem engen Freund, Reichspostminister Ohnesorge zum Verwalter im Schloss bestellt worden war, eine Funktion, die dieser alles andere als wahrnahm. Wie eine Haushälterin namens Thannver ihrer Mutter jede Minute ihres dort verbrachten Lebens durch Gemütskälte erschwerte; wie die für Juni anberaumte Hochzeit wieder und wieder verschoben wurde, wie die Menschen des Haselnussdorfs sich über sie und ihren Zustand das Maul zerrissen, ein Umstand, den ihre Mutter tollkühnerweise konterte, indem sie im Gewand einer Schlossherrin ins Dorf ging; wo ihre Versicherungen, Conrad Halder werde sie heiraten, allerdings niemand ernst nahm, erst recht nicht, als sich ihre Besuche wöchentlich wiederholten und die Haselnussmenschen Gelegenheit hatten, Gertrudes Courage und Aufgeklärtheit zu begegnen (auch bei den anzüglichsten Bemerkungen ihren Körper oder ihr Gesicht betreffend wahrte sie Beherrschung und Contenance, worin die Mehrheit der darüber klatschenden Haselnussmenschen den Hinweis auf einen kühnen, freisinnigen Charakter sahen, was nur den Schluss zuließ: Hierher, und vor allem zu Halder, passte sie nicht), kurz, weder das Jahr 1941 noch das Dorf der Haselnussmenschen eigneten sich besonders für fehlende Kleingeistigkeit. Wie ihre Mutter versuchte, angesichts ihrer fortschreitenden Schwangerschaft und des nahenden Herbstes Renovierungsarbeiten durchzusetzen; wie sie dabei scheiterte. Und, immer wieder, so als wäre es ein Refrain, wie ihre Mutter nach Einsetzen der Dunkelheit durch die Gänge des Schlosses wandelte, im Nachthemd, barfuss, vom Schlafzimmer in den Salon in den Marmorsaal, durch den Saal in das Speisezimmer und immer weiter. Und Theresa richtete sich auf. Konnte dieses Bett, auf dem sie lag, das Bett ihrer Mutter sein? Sie stand auf und betrachtet es kurz, ein einfaches Bett, alt, aber in gutem Zustand. Jetzt erst bemerkte Theresa, dass am Fußende des Bettes ein Nachthemd für sie lag. Nahe der Halsnaht waren die Initialen HH eingestickt. Wie lange konnte sie geschlafen haben? Und dann tat Theresa etwas, wozu eigentlich nur ihre Mutter mutig genug war. Theresa schlüpfte aus Schuhen, Mantel, Kleid und Unterwäsche, zog das Nachthemd über. Dann machte sie sich daran, das Schloss zu erkunden. 168 — 169 Christof Huemer Barfuss, eine Kerze in der Hand, alles wie bei ihrer Mutter, schlich sie hinaus in den Salon, durch den das Hausmädchen sie geführt hatte und dessen Deckengemälde sie aufgrund geschlossener Fensterbalken abermals ignorierte, wandte sich dann aber nicht sofort nach rechts in Richtung des Stiegenhauses, sondern ging, als sie die zweite Tür zu ihrer Rechten ausmachte, ein paar Schritte weiter. Sie drückte lautlos die Klinke, nie hatte ihre Mutter Geräusche erwähnt, bis auf das Schnarren der Vögel, natürlich, das sie zu rufen schien, ein Werben, gegen das sich wehren musste, so schrieb sie, und Theresa trat ein in die vom Mondlicht annehmend beleuchtete Halle. Sie bemerkt sofort den Marmorboden, der die Sicheln ihrer Fußsolen abbildete, anders als die Parkett- und Schiffsböden in den restlichen Räumen. Sie setzte weiter Fuß vor Fuß, Schritt für Schritt. „Ich setze Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß und summe ein Lied für mein Mädchen“, hatte Gertrude an einer Stelle geschrieben; obwohl sie nicht wissen konnte, dass ich ein Mädchen würde, dachte Theresa und ließ ihren Blick dem vom Mond hingeworfenen Umriss eines Fensters vom Fensterrahmen die Wand hinauf bis zur Decke folgen, wo der helle Umriss bei einer gemalten Szene anhielt: Eine dicke Frau, die in der rechten Hand ein Seepferdchen schwang, kniff einen noch dickeren Engel mit der linken Hand in die Schulter. Ihr gegenüber ein irgendwie von einem Einhorn aufgespießter Engel, der ihr einen Spiegel hinhielt; über ihm ein Band mit der Aufschrift „PRUDENTIA TE SERVABIT“, ein Spruch, den die Klosterschülerin Theresa unschwer als Teil der Sentenz „Consilium custodiet te, prudentia servabit te“ erkannte. De facto hatte sie ihn schon drei Mal hundert Mal in ein Heft geschrieben, samt der Übersetzung: Guter Rat wird dich bewahren, Verstand dich behüten. Doch was sollte das Fehlen des ersten Teils hier bedeuten? Und warum zwickte die dicke Frau den armen Engel? Theresa jedenfalls wärmte sich zuerst ihre rechte, dann ihre linke Fußsohle am jeweils anderen Oberschenkel und nahm dann die offen stehende Tür zu ihrer Rechten, die sie, wie Theresa erkannte, direkt ins Stiegenhaus führte. Es mochte genetisch vererbte Sorglosigkeit sein, Waghalsigkeit, Forschergeist – Theresa war der mysteriöse Ring eingefallen, der sich wie eine Halskrause um den Flaggenturm gezogen hatte. Zu ihm, zumindest zu einem Fenster im zweiten Stockwerk, von dem aus man ihn begutachten konnte, wollte sie nun vordringen. Theresa bewegte sich bereits auf die Stufen zu, als ihr Blick ein zweites Mal von einem Kunstwerk gefesselt wurde. Der Stein oder Marmor, das konnte sie nicht sagen, schien ihr, als sie ihn berührte, sonderbar kalt und sein Standort schien mit Stolz gewählt und entbehrte nicht einer gewissen Logik, denn das Stiegenhaus gab gewissermaßen den Herztrakt des Schlosses. Sie legt kurz ihre Wange an die kühle Tafel, als würde sie an der Wand lauschen, dann trat sie zwei Schritte zurück und besah das Ornament genauer. Wie auf einem Schachbrett, einem in die Länge gezogenen Schachbrett, um exakt zu sein, waren dort Buchstaben 170 — 171 Christof Huemer angeordnet. Suchte man das Zentrum des Kunstwerks, was Theresa automatisch tat, fand man ein tänzelndes F, den einzigen Buchstaben, der nur einmal vorkam. Ausgehend von diesem Mittel-F strahlten all die restlichen Buchstaben in alle Richtungen, ergaben unzählige mögliche Wege und Straßen und Schneisen. Doch egal, welchen Pfad von der Mitte zu einer der Ecken man nahm, egal welchen Ausweg man suchte – die Buchstaben waren so angeordnet, dass sie immer den Namen „Franz Hillebrand“ ergaben, nie etwas anderes. Einen kurzen, bitteren Moment lang dachte Theresa, sie müsse das Orakel etwas fragen, aber ihr fiel keine Frage ein, warum hat meine Mutter darüber nie geschrieben, wunderte sie sich und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, der es gelang, den restlichen Körper zu beruhigen. Dann setzte sie einen Fuß auf die erste Stufe und erstarrte, als sie plötzlich die Stimme von Frau Thannver direkt hinter sich vernahm. „Wohin, darf ich fragen, gedenken Sie zu gehen?“ Theresa blies wie auf Befehl ihre Kerze aus. „Auf dem Weg zum Schloss ist mir ein, wie soll ich sagen, Steg, rund um den Flaggenturm aufgefallen“, sagte sie. „Ein Steg?“ „Vielleicht mehr ein Ring, wie eine Beilagscheibe...“ „Fräulein Theresa,“ aus ihrem Mund klang es wie der Name einer zur Recht Verurteilten, „ich gebe Ihnen einen guten Ratschlag: Sie werden keinen Fuß in den zweiten Stock dieses Hauses setzen.“ „Aber wieso denn nicht?“ „Der zweite Stock ist für Helene reserviert.“ Dann fügte die im blassen Mondlicht noch fahler und toter wirkende Thannver hinzu, dass es spät sei, das Fräulein jetzt wohl besser zu Bett gehe, man habe ihr eine Tasse Tee ans Bett gestellt, und als Theresa sich darauf hin nicht bewegte, vernahm sie ein gefauchtes „Verschwinde in Dein Zimmer!“ Theresa brach in Tränen aus, lief zurück in ihr Zimmer, knallte die schwere Tür zu, warf sich sehr theatralisch dagegen, und es war, als hörte sie direkt davor jemanden zischen: „Bleib weg von meinem zweiten Stock!“ 5) Den nächsten Tag brachte Theresa damit zu, das Schloss mit Ausnahme des zweiten Stocks zu erkunden und ihr Erleben mit dem in Einklang zu bringen, was sie bisher aus dem Tagebuch ihrer Mutter kannte. Bei sich im Zimmer und gleich nachdem sie morgens die Augen geöffnet hatte, fing sie an. Sie öffnete, auch auf der Suche nach ihrem eigenen Koffer, sämtliche Schränke, drei an der Zahl, und fand sie voller weißer Wäsche. Es handelte sich jedoch nicht um Bettwäsche, wie sie die Stapel zunächst vermuten ließen. Im Kasten neben der Tür zum Stiegenaufgang fand sich im Mittelfach Babykleidung für, so schien es Theresa, Kinder von null bis 24 Monaten, und sie hatte mit dieser Einschätzung recht. Allen Lätzchen, Strampelanzügen, Hemdchen etc., alle weiß, war in Hals- oder Bundnähe das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darunter: Kinderhemden, -nachthemden, -leibchen, -röcke, -jäckchen, alle weiß, allen in Hals- oder Bundnähe das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darüber: Blusen, Jacken, Röcke, Leibchen für Kinder im Schulalter, wie Theresa wieder richtig schätzte, alle weiß, allen in Hals- oder Bundnähe das Monogramm HH eingestickt. In den beiden anderen Schränken, und auch hier fehlte weder das Monogramm noch das Weiß, der Rest einer Garderobe eines ganzen noch einzukleidenden Frauenlebens, vom ersten Schrei bis zum – wer konnte schon sagen, wie es zu Ende ging, sagte sich Theresa mit der für Heranwachsende typischen Morbidezza – dem letzten. Bis zum letzten Schrei, letzten Ächzen oder Hauchen von HH, in deren Nachthemd sie steckte. Ha ha. Zweimal der achte Buchstabe. H wie Hillebrand, wie Hegelmann, wie Heil. Theresa beschloss jemand nach HH zu fragen, Margit, wenn sie sie sah, Thannver, wenn es sein musste, den Notar, wenn es nicht anders ging. Dann schlüpfte Theresa in Kleid und Wäsche des Vortages, vergaß erneut, sich um den Verbleib ihres Koffers zu sorgen und wiederholte, auch aufgrund des Tageslichts weniger zaghaft, ihren nächtlichen Rundgang, das Tagebuch in der Hand. Schritt für Schritt. Das Durchgangszimmer, von dem Theresa diesmal wahrnahm, dass es anders als ihres, eine üppig verzierte Zimmerdecke aufwies. Fuß vor Fuß. Geradeaus ins nächste Zimmer, ein leeres Schlafzimmer mit kleiner, einer Voliere nachempfundenen Badenische. Auf einem Schemel warteten dort (für Theresa?) zwei penibelst gefaltete Badetücher. Schritt für Schritt. Zurück und nach links in den Marmorsaal, guter Rat und Verstand, Fuß vor Fuß in den nächsten, unbekannten Raum, das Speisezimmer. Auf einem runden, unter dem verschlissenen Tischtuch massiven Tisch – einer der schweren Stühle war bereits für sie zurückgeschoben – ein Teller mit zwei länglichen Brotschnitten, beide mit Butter bestrichen. Kein Besteck. In einer Tasse schwarzer Tee oder sehr erbärmlicher Kaffee. Schritt für Schritt und noch immer barfuss hielt sie sich links, die Tür zum Eckzimmer, eine Bibliothek, stand offen. Bücher bis an die Decke, schwere Fauteuils, auch hier wohnte niemand, ruhte niemand, las niemand, auch hier kein Mensch, nicht einmal ein Vogel vor dem Fenster. Enttäuscht, erleichtert und einsam, vor allem einsam, lief Theresa zurück in ihr Zimmer, schlüpfte in ihre Schuhe. Lief zurück ins Speisezimmer und frühstückte. Schwäche und Übelkeit, die kurz nach dieser Mahlzeit einsetzten, fesselten Theresa den restlichen Tag ans Bett. Thannver kam und sah nach ihr, legte ihre Eishand auf Theresas Stirn, ließ einen heißen, in Tücher geschlagenen Ziegelstein bringen und Theresa fragte nicht nach Frau H und fragte auch nicht nach Medizin, sondern dämmerte in Sphären, in denen die Welten der Klosterschule und des Schlosses sich ineinander schoben, und kam erst wieder so richtig zu sich, als es dämmerte. Theresa stellte sich ans Fenster, betrachtete aufmerksam das Dach der Bäume, die einen kleinen Wald bildeten, der „ein dunkler Bauch war, durch den 172 — 173 Christof Huemer lautlose Tiere huschten“, dachte sie, ihre Mutter zitierend, und hörte ein Schnarren und Kreischen und Klagen, das in der Luft flog wie ein langes weißes Band und langsam näher kam. Hinter mir, auf der anderen Seite, geht die Sonne unter, sagte sich Theresa. Ich muss Thannver finden und mit ihr sprechen. Dann sah sie die Vögel. Doch wie auch schon Gertrude Hegelmann in ihrem Tagebuch notiert hatte, konnte man „Thannver nicht finden; wenn, dann fand Thannver einen. Ich habe versucht, mit den anderen Angestellten über dieses Phänomen zu sprechen und viele haben mir bestätigt, man könnte fast sagen, es ist eine Tatsache, dass man Thannver sich nie durch das Schloss bewegen sieht. Bekommt man sie zu Gesicht, dann steht sie, so als stünde sie schon ewig und noch länger hier, die Hände vor der Scham verschränkt, ihr Rock reicht bis zum Boden und man sieht ihre Füße nicht. Wie sie dies schafft, wie sie zwischen den Stockwerken wechselt, wie sie in die einzelnen Räume gelangt, ohne je auf dem Weg dorthin gesehen zu werden, ist mir, und allen, mit denen ich sprach, ein Rätsel, dessen dunkelster Teil jener ist, dass Thannver die Angewohnheit hat, stets völlig überraschend hinter einem aufzutauchen. Da steht sie dann plötzlich, erschreckt einen zu Tode mit irgendeiner Form des Tadels und wieder fragt man sich, wie sie einem so lautlos so nahe kommen konnte.“ In der Tat. Als Theresa in das Zimmer mit der Badenische kam, stand dort Thannver und obwohl das Zimmer hell beleuchtet war und nichts an dieser Begegnung, die sie ja herbeiführen wollte, überraschend war, fuhr Theresa zusammen. „Ihr Bad ist bereitet“, sagte Thannver knapp. Hatte sie auf Theresa gewartet? Hatte sie gewusst, dass sie kam? 6) Folgendes Bild: Theresa in der Wanne, in warmem Wasser halb liegend, halb schwebend, eine Hand auf ihrem kindlichen Bauch, ein Unterarm über ihren weiblichen Brüsten. Neben der Nische, den Blick abgewandt, auf einem Sessel sitzend, Thannver. Der Raum allein erleuchtet durch eine kleine Tischlampe, von draußen die Laute der Vögel. Keine Nachricht von Notar Burger, das Abendessen stehe, erkaltet natürlich, immer noch im Speisezimmer, Theresa fragte nicht nach der Bedeutung des Monogramms, und Thannver sprach von Theresas Mutter. „Auch ihre Mutter litt vom ersten Tag an an Übelkeit“, sagte sie und wer könnte beurteilen, ob sie es abschätzig sagte oder bloß kalt. „Eine Frau von ruheloser Energie“, sei Gertrude Hegelmann gewesen, Conrad Halder eine Seele, ein Künstler, ein Poet. Das Fehlen jeglichen Blickkontaktes verleitete Thannver zu sprechen, könnte man annehmen; schwierige Jahre hätten sie hinter sich, doch werde es bald besser; wenn Helene kommt, alles werde besser, alles sei bereit für Helene. „Ihr Vater?“, fragte Theresa, die sich auch nicht nach Helene zu fragen traute. Meldete sich im Herbst 1941, einer Eingebung folgend, zu den Fahnen. Wurde zunächst zum 312. Infanterieregiment geschickt, diente dann später unter General von Bohle, einem von Wilhelms (gemeint ist der Theresa aus dem Tagebuch ihrer Mutter hinlänglich bekannte Wilhelm Ohnesorge, damaliger Reichspostminister und enge Freund des Führers, der so wie Thannver selbst aus Gräfenheinichen stammte, wie Thannver selbst 1920 der Partei beitrat und dem zu begegnen Thannver am Machnower See das Vergnügen und dann natürlich des öfteren in diesem Hause im Dorf der Haselnussmenschen hatte; von dem Theresa später im Tagebuch ihrer Mutter noch lernen sollte, dass die Parteinummer 42 die seine war, die 69 jene von Thannver) wirklich engen Freunden, wo sie doch beide so für Philatelie schwärmten ... Halders Spur, der seinen Teil beigetragen hatte, Ehre wem Ehre gebührt, der sich der Vorsehung unterworfen habe, verlor sich im Winter 1942, Dezember, Rumänien, Schicksalsjahr, von Bohle, Leichtsinn, und irgendwo dazwischen, eingestreut oder Sinnestäuschung, der Name Helene. Thannver sprach, und Theresa hörte. Thannver deutete an, Theresa, das Tagebuch im Hinterkopf, nicht wissend, dass Thannver es natürlich kannte, glich ab. Die nächsten Tage verliefen exakt gleich. Theresa stand auf, frühstückte, Übelkeit und Schwäche fesselten sie ans Bett, einmal kam ein Arzt, verschrieb ein Mittel, Tropfen, die Thannver Theresa gab oder vorenthielt, am Abend endlich Besserung. Ein Bad, ein Gespräch, das keines ist im Halbdunkeln. Der Tag darauf. Verlief gleich. Der Tag darauf. Verlief gleich. Theresa, in ihrer Wanne, rund um sie die Geschöpfe des Paradiesgartens, von draußen das Locken der Vögel. Thannver auf ihrem Stuhl. Immer früher wird es finster. Zeit für die Fütterung. Nie mehr fiel der Name Helene. Und doch entkam Theresa nicht der Diktatur dieses Namens. Vielen kleine dunkle Andeutungen der Haushälterin – oder vielleicht war es nur der Tonfall, oder so etwas wie die Pausen zwischen den Wörtern – zwangen Theresa förmlich zur Mutmaßung, Thannver selbst bilde womöglich den Punkt, an dem all die Geheimnisse und auch die Antworten kurzweg zueinander finden mochten, und dieser Punkt trage diesen Namen. Oder: Vielleicht war Theresa, die Klosterschülerin, das Kind, auch allzu leicht zu beeindrucken. Vielleicht war sie müde aufgrund der Krankheit und dachte schwermütiger und ängstlicher, als es sonst der Fall war. Eventuell verrieten die Worte der Haushälterin und auch jene des Fahrers aus dem Dorf der Haselnussmenschen gar nichts über den Gemütszustand, den Charakter des Haselnussdorfs und seiner zitternden Empfänglichkeit für das Ewige und Reine. Folgendes Bild: Theresa, in einem Schuppen, der der Lagerung der Gartengeräte dient, und ein Erntehelfer – die Kartoffelstauden werden 174 — 175 Christof Huemer ausgerissen, ihre Erde abgeschüttelt, die Früchte in Weidenkörbe geworfen – ein Erntehelfer aus dem nächstbesten bayrischen Dorf, den Theresa seit zwei Jahren als Ministranten kannte, ihn genau so lange stumm anstarrte, von ihm angestarrt wurde, schiebt seine Hand unter ihrem Rock hoch, seine gewaschene, von Erde vollkommen freie Hand. Nach 10 Minuten ist alles vorbei. Niemand hat etwas bemerkt. 7) Schwäche und Übelkeit. Übelkeit und Schwäche. Nach gut einer Woche, Theresa musste sich eingestehen, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte, waren ihr beide so sehr vertraut, dass sie untertags, es war ein Sonntagvormittag und sie wähnte Thannver in der Kirche, den Versuch zu lesen unternahm. Sie holte das Tagebuch aus dem Schrank mit der Babywäsche, vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe ihres Zimmers war und begann zu lesen, und es war an diesem Tag, dass ihre Mutter in einem Eintrag zum ersten Mal den Ring erwähnte. „Wir nahmen das Abendmahl dann ohne Gezänke [dieser Stelle war ein Streit vorangegangen] im Speisezimmer, Conrad las wie für gewöhnlich seine Zeitung. Und nach dem Essen hatte wie immer Frau Thannver ihren Auftritt und unser gerade wieder aufgenommenes Gespräch geriet ins Stocken. Frau Thannver stellte sich an den Tisch, viel näher zu Conrad als zu mir – aber: besser so – und ließ dort ihre üblichen Fragen nach dieser Front oder jenem Buch ab; sie versuchte dabei wie eine preußische Intellektuelle zu klingen (was sehr lustig ist, schade, dass Conrad keinen Humor hat), während Conrad ein Messer mit Horngriff und kurzer Klinge aus der Tischschublade holte und einen Apfel schälte, einfach des Schälens wegen. Und, ich weiß nicht warum ich es tat und warum genau dort und dann, ich fragte Conrad: „Conrad, was hat es mit dem Ring um den Turm auf sich?“ Ich war wahrscheinlich bloß neugierig. Aber Frau Thannver und Conrad wechseln hektisch Blicke, ängstliche Blicke. „Ring...?“ fragt Conrad noch, da fällt ihm Thannver dazwischen und mich an: „Das ist allein Angelegenheit Helenes. Herr Halder, bitte sorgen sie dafür, dass die zukünftige Frau Halder sich von Helenes Räumlichkeiten fernhält.“ Ach, dieser entsetzliche Krieg. Er macht die Menschen so sonderbar. Ich wollte Conrad nach Helene fragen, aber die einzige Zeit, zu der ich ihn sehe, ist das Abendessen, und da kommt immer sofort Frau Thannver und stört. Meine zwei Vermutungen bezüglich Helene: Thannver hat eine geheime Liebhaberin, die oben im Turm wohnt, nicht ernst gemeint, natürlich. Oder Helene ist der Name von irgendeinem Geheimprojekt, das Ohnesorge hier betreibt (für das er womöglich auch Conrad benötigt, wofür denn auch sonst) und der Ring gehört dazu. Das Wetter ist nach wie vor grässlich. Am liebsten würde ich heizen lassen.“ Und Theresa las auch den Eintrag des nächsten Tages, geschrieben gleich in der Früh, man spürte, dass Gertrudes Eindruck noch frisch war. Ihre Mutter war in der Nacht aufgewacht, verstört und angsterfüllt. Sie hatte geträumt, schlecht geträumt, in schwarzweiß. Wie sie auf einem Schachbrett stand, das das Schloss war und Personen, die sie aus dem Dorf der Haselnussmenschen kannte oder ihr nahe standen, ihre Großmutter etwa, warteten neben ihr vor sich hin, jede für sich auf einem eigenen Feld. Dann wurde Gertrude von irgendwelchen Mächten verschoben und sie spürte, dass es ein schlechter Zug gewesen war, und sie wollte etwas sagen, es gelang ihr aber nicht; sie wollte schreien, doch sie konnte nicht; sie wollte sich wehren, aber nichts half, eine hochmütige Figur rückte neben sie und Gertrude hörte Stimmen rufen, die Königin werde fallen, die Königin werde fallen. Gertrude versuchte den Bann zu lüften, sich zu bewegen, zu schreien, leben zu können. Ein Zug wurde gemacht, eine schwarze, kalte Frauenfigur kam auf sie zu, kam immer näher, stieß aber schließlich nicht sie um, sondern Conrad Halder, den König, der, ohne dass sie ihn wahr genommen hatte, direkt neben ihr stand all diese Zeit, und Gertrude wachte auf, panisch, richtete sich auf, sie blickte atemlos neben sich. Da lag ihr zukünftiger Gemahl. Conrad Halder schlief tief und fest. Gertrude lachte erleichtert auf, fuhr mit einer Hand durch sein Haar, strich es aus der Stirn. Dann konnte sie einfach nicht anders. Sie weckte ihn, rüttelte ihn wach. „Was?“, fragte Halder. „Was ist los?“ „Conrad, ich liebe Dich!“, sagte Gertrude und umarmte ihn, indem sie sich einfach auf ihn legte, auf ihn warf, ihn mit sich zudeckte. „Nichts ist los. Ich liebe Dich nur so sehr.“ Halders Kopf drehte sich leicht zu ihrem hin. Sie sah es ihm sofort an. Sein unbewegtes Gesicht, an dem sich außer einem Halsmuskel nichts rührte oder zuckte, als Halder sich zu ihr drehte, nicht einmal besonders verschlafen oder durcheinander, wirkte zwar wie stets elegant und distanziert. Auch sagte Halder gar nichts, nicht einmal „Was ist bloß los mit dir?“ oder was er sonst zu sagen pflegte, wenn Gertrudes Benehmen ihm Anlass zu Ärger bot oder er sich wegen ihr schämte. Er blickte sie bloß an mit einem Blick, und dieser Blick sagte es. Als sei diese Umarmung das Ekelhafteste, Unglaublichste und Abartigste, das ihm je widerfahren sei und deshalb auch ohne Beispiel, wie man damit umgehen könnte, sagte dieser Blick: Du bist widerwärtig, dreckig und noch mehr und, und das traf Gertrude am allermeisten, dieser Blick konnte auch nicht verhehlen, wie peinlich Halder das Vorgefallene war. Jedoch nicht peinlich auf herkömmliche Faux-pas-Art, weil sich so etwas nicht schickte; auch nicht peinlich um ihretwillen. Nein, peinlich um seinetwillen und einer höheren Instanz wegen, als müsste Halder vor Scham vergehen, dass zwischen dem, wofür er stand, und ihr überhaupt je, wenn auch nur einmal, eine Verbindung bestanden hatte. Gertrude wurde also klar, dass er nie mehr mit ihr schlafen oder sie berühren würde. Nicht klar wurde ihr selbstverständlich, dass sie ihn 176 — 177 Christof Huemer nie mehr sehen sollte. Halder, der aufstand, bevor sie wach war und den sie den ganzen Tag – augrund seiner Arbeit? – nie sah, nahm seine Abendessen, wie Thannver sie informierte, ab dieser Nacht im Dorf. Um sie nicht zu wecken, bezog er ein zweites Schlafzimmer, und als Gertrude endlich, zwei Wochen nach dieser Nacht, den Mut aufbrachte, seine Anwesenheit ein für allemal einzufordern, war er bereits an der Ostfront. Theresa, deren Bauch sich wölbte, nahm ab diesem Sonntag ihre nächtlichen Erkundigungen wieder auf. Jedoch traute sie sich nicht in den zweiten Stock, und da alle Türen zum Nordteil des ersten Geschosses versperrt waren – sie fand sowohl die Tür vom Speisezimmer in den nächsten Raum als auch die zweite Tür in ihrem Zimmer versperrt, beschränkten sich ihre nächtlichen Wandlungen auf die fünf ihr schon bekannten Zimmer. Bis sie eines Nachts, es war eine helle, winterliche Vollmondnacht und die Böden und Möbel ächzten beim leisesten Hauch, die Klinke an der Tür im Speisezimmer drückte und die massive Holztür ein Stück nachgab. Nach kurzem Zögern – bezüglich des ersten Stocks gab es von Thannver kein Verbot – schob Theresa die Türe einen Spalt auf, schlüpfte in den Raum und sah sofort die bizarren Möbel. Sessel, Fauteuils, Tische, Beistelltische, alle in penibelster Kleinarbeit aus den Geweihen toter Hirsche gefertigt, die Sitzgarnitur gewordene Spießrutenfantasie eines vor Jagdlüsternheit kranken Gehirns. Theresa wusste nicht, was sie angesichts dieser Obszönitäten fühlen sollte, wollte lachen, spürte gleichzeitig eine ganz andere Übelkeit in sich aufsteigen und erinnerte sich an eine Stelle im Tagebuch ihrer Mutter. Die Stelle fand sich relativ am Beginn der Aufzeichnungen, und da sie nichts mit ihrer Mutter zu tun hatte, sondern mit einer Frau, die Theresa nicht kannte, hatte sie diese offenbar mit weniger großem Interesse gelesen. So aber lief Theresa zurück, holte das Tagebuch aus dem Wäscheschrank und warf sich damit aufs Bett. Sie fand den Eintrag auf der fünften Seite. „... und setze meinen Fuß durch die Tür und in ein Zimmer, das mir das Grauen über den Rücken jagte. Gleichzeitig musste ich um ein Haar lachen, denn alle Möbel in diesem Raum waren aus Tierhorn, also Geweihen gefertigt: Eine komplette Zimmereinrichtung voller Enden und Zacken und Spieße. Ich wollte mich kurz auf der Armlehne eines Stuhls niederlassen, um die Szenerie auf mich wirken zu lassen, tat es dann aber nicht aus Angst, mein Nachthemd zu beschädigen. Und da erinnerte ich mich einer Geschichte, die man sich auf der Hakeburg erzählt hatte. Dass nämlich Hitler und seine Gefährtin Eva Braun in diesem Schloss bei Wilhelm Ohnesorge, Conrads Vorgesetztem, zu Gast war und dass nach der Abendgesellschaft, während derer man sicher angeregt über die Herrlichkeit der deutschen Landschaft und den kernigen Menschenschlag der Haselnussmenschen geschwätzt 178 — 179 Christof Huemer hatte, alle ins Bett gegangen waren. Nur Eva Braun wollte noch länger am Feuer sitzen. Hitler, Ohnesorge, dessen Frau Gustie und noch andere gingen also auf ihre Schlafzimmer, Eva blieb noch. Und während unser Führer Carlyles Biografie Friedrichs des Großen studierte, setzte sich Eva Braun so folgenschwer und unglücklich und gleichzeitig fest und ruckartig in einen der Sessel (oder vielleicht war es ein Unfall und sie war von der Armlehne abgerutscht; auch mag sie gestolpert sein, man war sich darin damals nicht einig) dass ein Geweihspieß eine ihrer Schamlippen perforierte und tief in ihr Fleisch eindrang. Über die folgenden Einzelheiten wusste man natürlich noch weniger. Hitlers Leibarzt reiste bereits am nächsten Tag in das Dorf der Haselnussmenschen und nähte und korrigierte so gut es ging, was der in der Nacht gerufene örtliche Mediziner sich kaum anzurühren gewagt hatte. Geschlechtsverkehr zwischen Hitler und Eva Braun soll ab dieser Nacht jedenfalls nicht mehr stattgefunden haben; stattgefunden haben können, wie es häufiger hieß, wobei sich die Berichte, die es zu diesem Unfall gab, jeweils sowohl auf einen Vertrauten des Leibarztes als auch darauf stützten, dass Hitlers Politik in den darauf folgenden Wochen, etwa in der Judenfrage, eine entscheidende Wende nahm. [Das könnte in der Tat stimmen. Historiker gehen momentan davon aus, dass die endgültigen Entscheidungen, die zum Holocaust führten, im Herbst 1941 gefallen sein müsse, was zeitlich gut hinkäme.] Eine Version all dieser Berichte, die natürlich dadurch interessanter wurden, dass sie zu erzählen lebensgefährlich war, erscheint mir, da ich die Möbel selbst gesehen habe, nun jedoch am Glaubwürdigsten, ich weiß nicht warum. Es ist jene, die niemand bis dato für besonders plausibel hielt. Dass Eva Braun es absichtlich getan hatte. Dass sie den Spieß, den Zacken, das Ende absichtlich durch ihre Schamlippe getrieben hatte, warum auch immer. Ich setzte meinen Versuch, zu diesem seltsamen Ring zu gelangen, der immer nur in den Stunden der Dämmerung, gemeinsam mit dem Lullen der Vögel zu existieren scheint, an diesem Abend nicht fort.“ 8) Nach Wochen, vielleicht Monaten im Schloss, zumindest war aus Herbst Winter geworden, hatte sich Theresas Zustand soweit gebessert, dass sie zwar tagsüber das Bett verlassen konnte. Sobald sie aber ein paar Schritte lief, die Stiegen zu schnell nahm oder aus anderen Gründen außer Atem geriet, bemächtigte sich ihrer eine bis dato ungekannte Erschöpfung, und ihr Bauch war so geschwollen, dass die von ihr mitgebrachte und kürzlich wieder aufgetauchte Kleidung nicht mehr passte. Da Thannver sich nicht daran störte, bediente sich Theresa also jener Blusen, Jacken etc., die sie im Schrank in ihrem Zimmer fand. Vom Notar hatte Theresa einen Brief erhalten, den Thannver ihr ungeöffnet übergab. Sein Inhalt lief vollumfänglich auf eine Entschuldigung heraus, die Gründe für die lange Absenz jedoch blieben vage, Geldgeschäfte. Beigelegt war eine Postkarte aus Buenos Aires. Theresa besah kurz die Briefmarke. Sie war ebenfalls in Buenos Aires abgestempelt, sie wollte sich nicht vorstellen, wie lange eine Schiffspassage, sagen wir von Marseille nach Argentinien, oder von Buenos Aires nach Rotterdam dauerte. Theresa bemerkte Thannver, die plötzlich oder immer noch hinter ihr stand und lief weinend und leicht watschelnd auf ihr Zimmer. In einer der nächsten Nächte ereignete sich Seltsames. Theresa fand, wieso auch nicht, alle Türen im ersten Geschoss offen. Sie konnte also, wie ihre Mutter es getan hatte, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß aus ihrem Zimmer in den Durchgangsraum, von dort in den Marmorsaal („Verstand wird dich behüten“), von dort in das Speisezimmer, weiter in den bizarren Raum der Eva Braun wandeln. Und weiter in eine Folge von nordseitig gelegenen, feucht-muffigen Räumen, von denen der erste an den Flaggenturm anschloss. Wie in allen anderen Räumen der Nordseite, verhinderten auch in diesem, von den Schreien der Vögel erfüllten Raum geschlossene, oder wie es Theresa schien: vernagelte Fensterläden einen klärenden Blick nach draußen. Auf die Vögel und den Grund ihres Lärms. Auf den See, der zugefroren und trüb, unterhalb des Schlosses im Dauerschatten lag. Auf die Fassade des Flaggenturms, um die sich einen Stock höher ein Ring, ein Reif, ein Steg ziehen musste. (Nicht, dass Theresa noch nie versucht hatte, bei Anbruch der Nacht aus dem Schloss zu gelangen. Sobald es ihr Zustand zuließ, galt diesem Ziel beinahe all ihre Energie; die Mission ihrer Mutter, das Auffinden des Stegs, war zu ihrer Mission geworden. Allein das Schlossportal, der einzige Weg nach draußen, blieb mehrfach verschlossen, Theresa war also eine Gefangene. Nur, dass sie dies nicht so empfand, denn auch im Münchner Internat war es ihr noch nie anders ergangen.). Theresa ging weiter, öffnete Tür um Tür der Zimmer des Nordtraktes, vier Räume, in jedem derselbe kalte Schiffsboden, dieselbe Dunkelheit, die Fenster in jedem einzelnen verschlossen, vernagelt. Ich muss versuchen, eine Zange aufzutreiben, dachte Theresa, wusste gleichzeitig, dass ihr eine Zange nicht helfen würde, dass sie schon eher so etwas wie ein Brecheisen benötigte und ärgerte sich, dass sie zwar Latein beherrschte, nicht aber die Namen für die einfachsten Werkzeuge kannte. Sie öffnete enttäuscht und zugleich erleichtert, einen ersten Rundgang absolviert zu haben, ohne jemanden zu treffen, die diesmal nicht verschlossene zweite Tür zu ihrem Zimmer. Und bemerkte sogleich eine kleine Gestalt, die sich an ihrem Versteck zu schaffen machte. Ohne das leiseste Zögern rannte Theresa los, warf sich gegen den winzigen Dieb, der wuchtig gegen die Regalbretter des Wäschekastens prallte und dann zu Boden ging, wimmernd und klein. Die Kerze, die Theresa immer noch in der Hand hielt, war bei ihrer Attacke 180 — 181 Christof Huemer ausgegangen. Theresa entzündete sie erneut und erblickte ein aus der Nase blutendes Mädchen mit zwei seitlich abstehenden Zöpfen, keine acht Jahre alt. „Wer hat dich geschickt? Was willst Du mit meinem Buch?“, herrschte Theresa den blutenden Zwerg vor ihr an, der zunächst gar nichts sagen wollte, sich aber nach mehreren immer drohender dargebrachten Fragen schließlich erklärte. Sie habe nichts stehlen wollen, bei ihrer kranken Großmutter nicht. Der Grund, warum sie halb im Schrank verschwunden wäre, sei ein einfacher. Sie hätte Schritte gehört, gedacht, es handle sich um Thannver und das nächstbeste Versteck aufgesucht. Was sie in ihrem Zimmer zu suchen hätte, fragte Theresa. Ihr Vater, sie wohne unten in der Fischerhütte, eines der irren Gesichter, sagte sich Theresa, ihr Vater habe sie geschickt, Theresa zu warnen. Ihr Vater? Der Fischer, Chauffeur, Handwerker, Hausbesorger in einer Person. Und wovor warnen? „Ich weiß, wie Deine Mutter gestorben ist.“ Und Theresa ließ das blasse kleine Kind mit den zwei Zöpfen erzählen. Gertrude, ihre Mutter, sei abends aus der Badewanne gestiegen, hochschwanger und angelockt durch einen Laut, so wie ein Hund auf eine Pfeife, nein, wie eine Schlange auf eine Flöte reagiert. Sie hätte sich in ihr Handtuch gehüllt und sei der Melodie gefolgt, barfuss und alle Vorsicht in den Wind schlagend, sei in den zweiten Stock gelangt, in den zweiten Stock und in jenes sagenhaft weiße Eckzimmer, das an den Flaggenturm anschließt. Sie habe gesungen, als sie das Zimmer betreten habe, „Was hat sie gesungen?“, schnappt Theresa dazwischen. Gesungen, lässt sich das Mädchen nicht irritieren, sie sei die fünf, sechs Stufen hinaufgestiegen, wie eine Braut. Das Fenster stand offen. Sie sei hinausgeschritten. Auf den Steg, den Ring, Schritt für Schritt, als hätte sie es geübt, und eigentlich hätte sie immer nur weiter gehen müssen, immer weiter um das Rund des Turms herum, beim zweiten Fenster hinein in das Weiß, die Stufen hinunter. Das kleine Mädchen begann zu husten, ein bellendes, krankes Husten, und Theresa schüttelte es: „Erzähl!“ Man habe sie nie gefunden. Sie sei am höchsten Punkt ... einfach verschwunden, hieße es. Nicht hinunter gestürzt, gefallen, gesprungen, zig Meter weit, nicht davon getragen. Verschwunden. Und auf der obersten Stufe, im Zimmer, fand man ein Neugeborenes. „Mich?“, fragte Theresa. „Mein Vater sagt, ja.“ „Und was hat es mit dem Steg auf sich?“ „Ich weiß nicht?“ „Was hat es mit dem Steg auf sich?“ „Ich weiß es nicht!“ Theresa packte das blasse Mädchen, riss es hoch, warf es zu Boden und trat mit ihren Füßen gegen den kleinen Körper so fest es ging, gegen den Kopf, die Rippen und dorthin, woher die enervierenden Geräusche kamen, sie trat und trat, bis sie selbst erschöpft war, bis er ihr besser ging, weil einmal sie die Stärkere war, die Unbarmherzige, weil sie einmal nicht das Gefühl hatte, sich in Luft aufzulösen, ein Gefühl des kaum mehr Existierens, das sie hatte, seitdem sie hier war; bis sie Thannver hinter sich sagen hörte: „Hör sofort auf!“ Ein sehr großer, sehr blonder Mann mittleren Alters, den Theresa vorher noch nie gesehen hatte, trug den übel zugerichteten Körper des Mädchens aus ihrem Zimmer, gleich nachdem Theresa von ihm abgelassen hatte, und sogleich erschien auch Margit mit Eimer und Tüchern und beseitigte die Blutflecken. Thannver blieb vor dem offenen Kasten stehen, bis alles verrichtet war, und keine Falte in ihrem Gesicht bewegte sich, ein Hinweis, dass ihr Zorn über diesen Vorfall schnell verrauchen würde. Der Arzt, der Theresa nach dem Frühstück des nächsten Tages aufsuchte, diagnostizierte einen Nervenzusammenbruch, verordnete Ruhe, körperliche und geistige, und gab ihr eine Spritze. Theresa erwachte am nächsten Morgen. 9) Folgendes Bild: Theresa sitzt im Speisezimmer beim Frühstück und dreht sich um, weil Thannver den Raum betritt, mit einer Torte. 14 Kerzen. Hinter ihr der sehr große, sehr blonde Mann, der vor ein paar Tagen das halbtote Mädchen aus ihrem Zimmer getragen hatte. Beide singen sie „Zum Geburtstags viel Glück, zum Geburtstag viel Glück“, und anstatt der Zeile, in der es „liebe Theresa“ heißen müsste, singen sie ebenfalls „zum Geburtstag.“ Theresa rechnet nach. Ihrer raschen Kalkulation zufolge, die zur Hälfte auf ihrem Gefühl, zur Hälfte auf der Zahl der Vollmonde basiert, liegt ihr Geburtstag in etwa acht, neun Wochen zurück. Thannver stellt den Kuchen auf den Tisch und eine merkwürdige Situation entsteht, da sich im Raum kein Messer befindet, um ihn anzuschneiden. Auch nicht das kleine Messer mit dem Horngriff, mit dem Ihr Vater seinen Apfel schält. Theresa hat das längst überprüft. Ab diesem Tag sollte Theresa den sehr großen, sehr blonden Mann täglich sehen. Er kam, sobald sie ihr Frühstück beendet hatte, geleitete sie die paar Meter in die Bibliothek, nahm ein Buch aus einem der Regale und ging es mit ihr durch. Theresa las über Norwegen; über die Tugenden Keuschheit, Bußfertigkeit und Entsagung; sie hörte von Pflanzenarten des Toten Gebirges, von Brehms Tierleben; sie lernte die Kunst Michelangelos über jene Brunelleschis zu stellen. Sie grub sich durch das Tal der Könige. Sie verehrte den Medici Giovanni die Bicci, zumindest tat sie so. Sie las eine vereinfachte Form von Moby Dick auf Englisch, kurz: Unterricht, der die in ihren weißen Kleidern noch blasser wirkende Theresa so erschöpfte, aber genau das mag seine Aufgabe gewesen sein, dass sie das Angebots einer Mittagsruhe gerne annahm. Sie zog sich dann in ihr Zimmer zurück, sah lange aus den Fenstern auf die verschneite Landschaft und widmete sich ernsthaft und immer noch heimlich ihrem strengen Regime von höchstens drei Tagebuchseiten pro Tag. Ihre Mutter, hochschwanger, widmete sich wiederum allein dem Rätsel um den Ring. Sonntag für Sonntag begab sich die Hochschwangere und an sich bedingt gläubige Gertrude auf den beschwerlichen Weg zur Johanneskapelle, um nach der Messe unter dem Vorwand der Stärkung und Ruhe eines der Gasthäuser aufzusuchen und Erkundigungen einzuholen. Theresa, die sich nicht erinnern konnte, das Schlossgelände je verlassen zu haben, versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter die matschige Strasse hinunter zum See schlitterte, der bleifarben und wie ein monströser Pechtropfen im Schatten lag. Wie sie dann weiterstapfte, den unerträglichen Weg entlang, der nirgendwohin führte, ins Dorf der Haselnussmenschen, und der Theresa, wie zurzeit fast alles, das nicht Schloss war, auch nicht von dieser Welt zu sein schien. Sie malte sich aus, wie ihre Mutter eine ganze Messe lang ausharrte, um dann im Gasthof des Herrn Zettler Erkundigungen über den Ring einzuholen. Ihre Mutter, die trotz ihres Zustandes immer noch von einschüchternder Schönheit war, zumindest wollte Theresa sich so erklären, warum Thannver, die ihren Vater so verehrte, sie partout nicht leiden wollte, suchte dort dann die Nähe alter Zausel, knorriger Bauern oder Soldaten auf Heimaturlaub, die in ihrem Tagebuch zu schildern Gertrude eine Riesenfreude bereitete. Die übrigen Gespräche verstummten kurz, sobald diese Kontaktaufnahme erfolgreich war, und kreisten sodann allein darum, wie und in welcher Stellung jeder einzelne Gertrude gerne vögeln würde. Und Gertrude fragte ihre Opfer nach dem Ring, der sich, immer nur zur Zeit der Dämmerung, um den Flaggenturm des Schlosses zu schlingen schien. Zumeist gaben sich die Herren verschwörerisch. Ob sie schon einmal etwas von Feng Shui gehört habe, fragte sie etwa ein Volksschuldirektor im Ruhestand und schüttelte für sie den Kopf gleich mit. Wong Schweh, wie er es aussprach, sei die Lehre der Harmonisierung des Menschen mit seiner Umgebung, eine alte asiatische Kunst, die speziell hier im Dorf der Haselnussmenschen, denn die Haselnussmenschen seien Asiaten, Asiaten, die nicht aussähen wie Hühner und dir auch nicht die ganze Hand abkauten, wenn du ihnen einen kleinen Finger reichtest. Darin glichen sie den Bayern, aber, in Gottes Namen, man hüte sich vor den Bayern, den Salzburgern, mit denen spreche man am Besten gar nicht, es sei denn sie seien auf der Durchreise, dann seien sie wie junge Hunde. „Spielen Sie ruhig mit ihnen.“ „Die Asiaten?“, fragte Gertrude. Haben eine leichte, vollkommen ausgewogene Küche, was zum Teil den Fels- und Kiessteinen ihrer Küsten geschuldet sei, da könnte Schweden nicht mit. Auch England nicht, Engländer seien dreckige Schweden mit Deckel drauf. „Und die Wong Schwe?“, fragte Gertrude. Oh ja, es heiße übrigens „Schweh, das W, als würden Sie ein Schwein küssen, Schweh!“, 184 — 185 Christof Huemer dabei gehe es um eine Harmonisierung der Lebensräume mit dem Äther. Wong Schweh hieße ja „den Himmel und die Erde beobachten“. Man wolle sich also die Geister der Luft und des Wassers geneigt gemacht. So gebe es etwa in Asien viele Geister, die man sich, um das Böse, das man sich nicht so wie das Böse aus Polen vorstellen dürfe, die Polen und auch die Juden seien wesentlich penibler in ihrer Bösartigkeit, die Juden geradezu rechthaberisch, um das asiatische Böse ungestört dorthin fließen zu lassen, wo es aufgesogen werde, im großen gelben Meer etwa. In den Schluchten der mittleren Gebirge, das seien noch Schluchten, die diesen Namen verdienten. Das Böse könnte also, sagen wir, aus dem Berg, sagen wir, durch das Dorf, ohne Aufenthalt ins Meer, ins Tal, in die Schlucht fließen. Und die baulichen Maßnahmen im Dorf, die dies unterstützten, im Übrigen seien die Holländer nicht nur Sodomiten, sondern auch passable Architekten, besser als viele Deutsche, diese Maßnahmen folgten der Lehre der Beobachtung von Himmel und Erde, Luft und Wasser. Und der Ring um das Schloss? Der Gürtel um den Schlossturm, im Übrigen würde er gerne einmal beide ihrer geschwollenen Titten kneten, sei genau das. Im Schloss sitze das Böse, nur dass es nicht sitze, es lauere dort, nein, es brüte dort, im Portugiesischen (als Volk schwuchtliger als die Spanier, aber bessere Seemänner) gäbe es ein Wort dafür, eine Mischung aus „wachsen“, „lauern“, „zu Kräften kommen“ und dabei „etwas planen“; und wie eine dunkle Sonne, die von Zeit zur Zeit Eruptionen zeige, Protuberanzen, müsse dieses Böse im seinem momentanen Stadium hie und da ausbrechen. Und der Ring, er gehe davon aus, das Fräulein werde sich für diese Information erkenntlich zeigen, man sollte dies als alleinstehende Frau ja schon allein des Nährwerts des Spermas wegen, er sorge dafür, dass dieses Böse, all die dunkle Energie, die aus dem Schloss schieße zur Abendstunde, nicht das Dorf der Haselnussmenschen heimsuche; dass es nicht am Grimming vorbei und in Richtung Tauplitz flöge. Dass es nicht den Weg nach Westen gen Schladming finde. Und so weiter. Das Böse würde aus dem Schloss hinaus geschleudert, das meiste davon im Ring gefangen und zurück ins Schloss geleitet werden. Der Überschuss schaffe es nicht weiter als bis zum See und zur Fischerhütte, arme Brut, die sich dort zusammenrotte. Nie schrieb ihre Mutter, ob sie sich schlussendlich erkenntlich zeigte. 10) Wieder glichen sich Theresas Tage. Nach dem Frühstück das Studium, nach dem Mittagessen die Müdigkeit, das Trampeln im ihren Bauch, die Lektüre des Tagebuchs, das Abendmahl, ein treuer, seltsamer Muttesanbeterinnen-Rundgang durch den ersten Stock. Schlaf. Ein anderer Sonntag hatte Gertrude in die Stube des Gasthauses Beichtbuchner geführt, und während die anderen Männer rauchten und sich darüber unterhielten, in welcher Stellung sie die schöne Schwangere gerne vögeln würden, erhielt Gertrude einmal nicht jene mal mehr, mal weniger einfallreich ausstaffierte Geschichte vom Bösen im Schloss. Ein junger, auf einem Auge erblindeter Invalider, dem sich die Haut in Fetzen vom Gesicht schälte und den Gertrude als jungfräulich, ungeschickt und zerstreut beschrieb, als „menschliche Taschenlampe“, lud sie auf einen warmen Wein ein. Und wusste, dass „der Krieg ohne die Atombombe bald verloren sei“, worauf ein Geraune durch die Gaststube ging, sich zwei andere Heimkehrer erboten, ihm das Maul zu stopfen, vom Wirt aber barsch aufgefordert wurden, an ihrem eigenen Zopf zu ziehen, was auch immer das bedeuten sollte. Die Taschenlampe fuhr fort: Karl Wilhelm Ohnesorge, der Schlossbesitzer, wie Gertrude ja sicher wisse (was Gertrude bewies, dass er sie und ihre Geschichte nicht kannte), und dazu ein persönlicher Freund des Führers, sei auch dessen erste Ansprechperson in Sachen Atom. Ohnesorge sei er bis zu seinem Unfall unterstellt gewesen, als dessen Mann im Institut von Manfred Baron von Ardenne in Berlin-Lichterfelde (deswegen der Dialekt, dachte Gertrude), wo er an der Entwicklung eines elektromagnetischen Massetrenners gearbeitet habe, mehr dürfe er wirklich nicht sagen. Beim Flaggenturm des Schlosses handle es sich demnach, er dürfe das wahrscheinlich nicht sagen, andererseits wisse er es ja nicht, er „wisse“ es nur, ob sie verstehe, um die äußere Scheibe eines Zyklotrons, welches wohl bald um eine Anlage zur Isotopentrennung erweitert würde. Conrad Halder? Ja, er habe diesen Namen gehört. Und die Vögel, die um den Ring kreisten? Vögel? Die Gaststube prustete. Warum der Ring nur bei Dämmerung erscheine und dann wieder verschwinde? Eine optische Täuschung. Worauf Gertrude beschloss, ihm nicht länger zuzuhören. Die Ausbeute anderer Sonntage: • Die Heilige Lanze sei im Schloss versteckt (und, aber das dürfe man niemandem sagen: Eva Braun habe sich daran die Schamlippen geritzt). Gesprächspartner: ein Messdiener. • Ganz ohne Zweifel verfeinere man im Turm und für den Endsieg den so sehnlichst im Einsatz erwarteten Nurflügler, weshalb der Ring zur Dämmerung auch in Richtung Neuschwabenland zeige. Gesprächspartner: ein für den Pfarrer aus dem Dorf der Haselnussmenschen einspringender Kaplan. • Die Vril-Gesellschaftz werden ihn umbringen, wenn er es verrate, aber, nun gut: Gemeinsam mit Wissenschaftern des Sternensystems Aldebaran (über 60 Lichtjahre entfernt), denen der Grimming als Einflugsschneise und das Schloss als Lande- und Arbeitsplatz diene, werde im Schloss aus simplen organischen Verbindungen Gold gewonnen. Nebenbei, Frau 186 — 187 Christof Huemer • Thannver sei natürlich niemand anderes als Maria Oršič. (Als wer? Mein Gott, Kind. Selig die Unwissenden.) Gesprächspartner: ein junger Rekrut, Überlebender eines Kopfschusses. Es handle sich um einen Balkon, nein, Verzeihung, es sei natürlich die zynischerweise als Jungfernsturz bekannt gewordene Anhöhe, derer sich junge, in Not geratene Frauen bedienten, um die Ehre ihrer Familien nicht zu schädigen. Hü und Hüpf. Haha. Gesprächspartner: ein Arschloch, dem Gertrude ins Gesicht schlug. 11) Für Theresa, in deren Leben Sexualität, bis auf einen einzigen Vollzug, keine Rolle gespielt hatte, öffnete sich mit den Schilderungen dieser sonntäglichen Nachforschungen und den auf sie folgenden, impliziten Übergriffen ein Panoptikum sexuellen Wissens. Der einzige Mensch, mit dem sie darüber sprechen konnte (abgesehen von ihrem großen, blonden Lehrer, der ihr immer leicht das Gefühl vermittelte, ihm grause vor ihr) blieb Thannver. Nicht nur, weil sie neben Margit die einzige weibliche Person im Schloss war. Auch weil sich zwischen Thannver und Theresa, durch die stets einseitig verlaufenden Unterhaltungen während des abendlichen Bades und trotz oder wegen aller Asymmetrie der Beziehung, trotz aller Feindseligkeit, die von beiden kaum verhohlen wurde, so etwas wie Vertrautheit entwickelt hatte. Und so beschloss Theresa, ihr Bauch eine Kugel und die Wanne der einzige Ort, an dem sich zu bewegen ihr noch schmerzlos möglich war, Thannver, die wie jeden Abend seit Monaten auf einem Stuhl im dunklen Zimmer saß, den Rücken Theresa zugewandt, einfach zu fragen. „Wie ist das,“ fragte sie, „wenn man es in sich fühlt, wenn man endlich möchte, dass es passiert, dass diese große Nähe, der Wunsch danach, endlich beisammen sein zu können, wenn man...“ „Wenn man“, nahm Thannver ihren Gedanken auf, die Stimme weicher als sonst, „in der Erwartung lebt, dass es passiert. Wenn man horcht, immerzu, ob man es nicht hört, das Nahen eines Wunders, das sich eines Nachts dem Zimmer nähert, wo sie alle warten, und es dann endlich so weit ist, das Warten ein Ende hat und sie endlich kommt, wenn sie endlich kommt ...“ Thannver verstummte. Auch Theresa sagte nichts mehr, und in der eintretenden Stille, die vom Schnarren der Vögel nicht gemindert wurde, war ihr, als hörte sie Thannver schluchzen. Leise, schüchtern und erleichtert schluchzen. In der darauf folgenden Nacht badete Theresa zum ersten Mal allein. Margit legte die Handtücher zurecht, Thannver sei ins Dorf gegangen, sagte sie, ob Theresa wünsche, dass sie bei ihr bleibe und sie starrte Theresa, die aus ihren Kleidern stieg, dabei seltsam wissend an. Nein, sie brauche nichts, es sei schon gut, antwortete Theresa und stieg erst ins Wasser, als Margit die Zimmertür geschlossen hatte. „Gute Nacht“, sagte sie dann leise. Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht. Sie blies die Kerze aus, ließ ihren Rumpf mit dem Ausatmen ins Wasser sinken, mit dem Einatmen aufsteigen und lauschte den Vögeln, der Symphonie ihres Knarrens, sie sah sie förmlich vor sich. Wie sie mühelos schwebten, sich fallen ließen, kurz nur mit den Flügeln schlugen, Höhe gewannen und wieder frei waren. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf dieses tierische Raunen, und eine neue Note mischte sich unter die Schreie. Theresa war, als würde sie ihren Namen hören, als wäre es dringlich. Komm zu uns, schienen die Stimmen zu weinen, komm, säuselten die ihr so vertrauten Geschöpfe. Theresa wusste nicht, ob sie es hörte oder roch wie einen betörenden Duft. Komm, spürte sie sie rufen. Theresa drehte schnell ihre Haare im Nacken zu einem Zopf, wrang ihn aus und stieg aus der Wanne. Ein Badetuch verknotete sie oberhalb der Brüste, das zweite schlang sie um den Kopf wie einen gelüfteten Schleier. Dann folgte sie dem Rufen, folgte ihm und nichts tat ihr mehr weh. Leicht setzte sie Fuß vor Fuß auf dem Parkettboden, „Was ist los, bitte?“ fragt sie hallend in den Raum rund um sich, mehr um denjenigen, zu dem sie ging, wer auch immer das war, wissen zu lassen, dass sie kam. „Bitte?“ Wie auf einem Band glitt sie vorwärts. Sie kam in den Marmorsaal, der ihr heller schien als je zuvor. In seiner Mitte schwebte, wartete eine weiße Treppe, wie aus Zähnen gefertigt, sie wand sich in einer großzügigen Pirouette nach oben durch den Raum. All das ist Theresa vertraut. Das ist der Traum meiner Mutter, sagt sie sich. Das Ende des Schachspiels. Die Obhut der Vernunft. Und: Wie kann es sein, dass diese Treppe, diese gleichzeitig so himmlische und entartete Treppe, nicht schon immer hier war? „Hier, wo sie hingehört.“ Theresa, die nicht mehr zu sagen vermochte, ob sie noch selber ging und ob die Stufen vom Himmel herab oder in ihn hinauf führten, sprach es laut aus. Sie begann zu singen. Der Raum drehte sich um sie, verlosch unter ihr, auf dem Singsang der Vögel kehrte sie ein in das zweite Geschoss des Schlosses. Ich komme, sang Theresa, der klar war, dass man sie nicht hörte. Zwei vollkommen unerhebliche Räume noch. Ich komme. Die Tür stand offen. Theresa verstummte. Noch nie hatte Theresa so ein Weiß gesehen. Ein vollkommen strahlender Raum, weiß wie die Hölle. An der Stirnseite ein offenes Fenster, fünf, sechs Stufen führten hinauf zum Ring um den Turm. Der Singsang der Vögel war ein Brausen. Der sanfte Nachtwind nahm sie bei der Hand. „Ich trage dich“, hörte Theresa ihn sagen. Gleich ist es vorbei. Eine Stufe noch, und Theresa, beide Hände auf ihrem Bauch, geht hinaus. Schritt für Schritt. Fuß vor Fuß. Dann kam der Schmerz und irgendwann hörte er auf. 188 — 189 Christof Huemer 13) Ich bin ein kluger Vogel. Ich kann Brot fressen, ich kann Aas fressen. Ich esse mit Genuss. Wenn ich nicht esse oder schlafe, fliege ich. Ich fliege und drehe mich, und segle und tolle. Ich fliege am Schloss vorbei. Ich wirble um den Reif, der den Turm umarmt. Ich fange den Wind, lasse mich nach oben tragen, spreize meine Schwingen und schaue in die leuchtenden Fenster. Diese Frau, die wie eine Krähe aussieht, läuft ins Zimmer, die Prozession hinter ihr hält Abstand. Ich sehe ihre Tränen. Ich stoße einen Schrei aus, fliege eine schnelle Schleife, komme wieder zu stehen vor diesem offenen Fenster, und das nackte Menschenjunge, das halb am Fenster lag, halb am Reif, liegt nun im Arm der Frau. Sie wischt sich eine Träne von der Wange, dreht sich dann um und präsentiert das Menschenjunge der fiebernden, strahlenden Gesandtschaft aus dem Dorf. Heil Helene, rufen sie. Heil Helene. Der Säugling wird herumgereicht. Sie heben ihn hoch, Heil, jeder hält ihn und vergießt seine Freudentränen auf ihm. Dann nehmen sie ihn, hüllen ihn in Loden und tragen ihn zum Altar. Ich fliege weiter. Ich gleite und sause. Ich bin ein Wachtelkönig und meine Name ist ... 190 — 191 Das Herstellen1 für Herzustellendes zu benutzen. Dies scheint das Ende zu sein, das schließlich alle einzelnen Dinge der Welt erwartet, gleichsam als Zeichen dafür, daß sie Produkte sterblicher Menschen sind; aber für die Welt im Ganzen, in der alle einzelnen Dinge ständig ersetzt werden im Wechsel der Generationen, die in sie geboren werden, in ihr verweilen und aus ihr wieder verschwinden, gibt es ein solches Ende nicht. Außerdem nutzt das Gebrauchen die einzelnen Gegenstände zwar ab, aber dies Abgenutztwerden gehört nicht im gleichen Sinne zu ihrem Wesen, wie das Verzehrtwerden zum Wesen der Konsumgüter gehört. Was sich im Gebrauchtwerden abnutzt, ist Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit. Hannah Arendt Diese Haltbarkeit nun verleiht den Dingen der Welt eine relative Unabhängigkeit von der Existenz der Menschen, die sie herstellten und in Gebrauch nehmen, die „objektive“ Gegenständlichkeit, die sie dazu befähigt, den unersättlichen Bedürfnissen und Notdürften ihrer Erzeuger „entgegenzustehen“ und sie wenigstens für eine Zeit zu überstehen.3 So gesehen, haben die Weltdinge die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren, und ihre „Objektivität“ liegt darin, daß sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens − daß, wie Heraklit sagt, niemals derselbe Mensch in denselben Fluß steigen kann − eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen. Mit anderen Worten, das, was der Subjektivität des Menschen entgegensteht, und woran sie sich mißt, ist die Objektivität, die Gegenständlichkeit der von ihm selbst hergestellten Welt, und nicht die erhabene Gleichgültigkeit einer von Menschenhand unberührten Natur, deren überwältigende Elementargewalt ihn im Gegenteil, vermöge des biologischen Lebensprozesses und seines Kreislaufs, in die umgreifend kreisende Bewegung zwingt und einfügt, in der alles Natürliche schwingt. Nur weil wir aus dem, was die Natur uns gibt, die objektive Gegenständlichkeit einer eigenen Welt errichtet, weil wir in den Umkreis der Natur eine nur uns eigene Umgebung gebaut haben, die uns vor der Natur schützt, sind wir imstande, nun auch die Natur als einen „Gegenstand“ objektiv zu betrachten und zu handhaben. Ohne eine solche Welt zwischen Mensch und Natur gäbe es ewige Bewegtheit, aber weder Gegenständlichkeit noch Objektivität. Die Dauerhaftigkeit der Welt 1 Wiederabdruck aus: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. (c) 1967 Piper Verlag GmbH, München. 2 Das lateinische Wort faber, das vermutlich mit facere im Sinne des hervorbringenden Menschen zusammenhängt, bezeichnet den Künstler oder Handwerker, der hartes Material bearbeitet – Holz, Stein oder Metall. Ihm entspricht das griechische Wort τέχτων, für das faber auch als Übersetzung dient. Der Plural fabri ist häufig in fabri tignarii für Bauhandwerker und Zimmerleute. Es war mir unmöglich festzustellen, wann der Begriff des Homo faber zuerst auftaucht oder wer ihn geprägt hat. Sicher ist nur, daß er ganz modernen Ursprungs ist: Jean Leclercq (in Vers la Société basée sur le Travail, in Revue du Travail, Vol. LI, No. 3, März 1950) meint, daß Bergson sein Urheber ist. Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit unseres Körpers, Homo faber, der vorgegebenes Material bearbeitet zum Zwecke der Herstellung, und nicht das Animal laborans, das sich körperlich mit dem Material seiner Arbeit „vermischt“ und ihr Resultat sich einverleibt, verfertigt die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der von Menschen erbauten Welt zusammenfügt.2 Die meisten dieser Dinge, aber nicht alle, sind Gebrauchsgegenstände, und als solche besitzen sie die Haltbarkeit, die Locke als Vorbedingung des Eigentums erkannte, die Adam Smith als Vorbedingung der „Werte“ benötigte, die auf dem Markt erscheinen und ausgetauscht werden, und in der Marx den Beweis für die der menschlichen Natur eigene Produktivität erblickte. Diese Gegenstände werden gebraucht und nicht verbraucht, das Brauchen braucht sie nicht auf; ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüßte; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen. Aber auch die Haltbarkeit der von Menschen geschaffenen Dingwelt ist nicht absolut. Der Gebrauch, den wir von den Dingen machen, nutzt sie ab, wiewohl er sie nicht verzehrt; der Lebensprozeß, der die Existenz des Menschen treibt und sie dringt, dringt auch in die Welt; und selbst wenn wir die Dinge nicht benutzten, würden sie doch schließlich verfallen, nämlich zurückkehren in den umgreifenden Kreislauf der Natur, dem sie entrissen und gegen den sie in ein eigenständiges Dasein gestellt wurden. Ausgestoßen aus der Welt der Menschen und sich selbst überlassen, wird auch der Stuhl wieder zu Holz werden, und das Holz wird verwittern und zu dem Boden zurückkehren, aus dem der Baum wuchs, bevor man ihn fällte, um ihn als Material 3 Das Wort „Gegenstand“ ist eine wörtliche Übersetzung von „Objekt“, das, von obicere „entgegenstellen“, ursprünglich das Entgegengestellte bezeichnete. Wiewohl Gebrauchen und Verbrauchen so wenig dasselbe sind wie Herstellen und Arbeiten, kommen sie sich doch oft so nahe, gehen so fast unmerklich ineinander über, daß die öffentliche und gelehrte Meinung, die diese Sachen miteinander identifiziert, gerechtfertigt zu sein scheint. Alles Brauchen enthält in der Tat ein Element des Verbrauchens, insofern der Abnutzungsprozeß durch Kontakt des gebrauchten 192 — 193 Hannah Arendt Gegenstandes mit einem lebend-verzehrenden Organismus zustande kommt, so daß die Identifizierung von Gebrauchen und Verbrauchen um so einleuchtender sein wird, je mehr der betreffende Gegenstand in den körperlichen Bereich des Benutzers rückt. Denkt man z. B. bei der Erörterung von Gebrauchsgegenständen an das, was wir für unsere Kleidung benötigen, so wird man zu der Überzeugung kommen, daß Gebrauchen sich von Verbrauchen nur durch eine Verlangsamung des Tempos unterscheidet. Hiergegen spricht, wie wir bereits erwähnten, daß Abgenutztwerden eine zwar unvermeidliche, aber sekundäre Folge des Gebrauchtwerdens ist, während das Verzehrtwerden eines Konsumgutes dasjenige ist, um dessentwillen es überhaupt erzeugt wurde. Die billigste Fabrikware unterscheidet sich von der erlesensten Delikatesse noch dadurch, daß sie nicht verdirbt, wenn sie nicht benutzt wird, daß sie eine bescheidene Eigenständigkeit hat, die sie befähigt, die wechselnden Launen ihres Besitzers für einen recht beträchtlichen Zeitraum zu überdauern. Wenn man ein Paar Schuhe nicht gerade mutwillig zerstört, werden sie, getragen oder ungetragen, für eine gewisse Zeit in der Welt verweilen. Aber es gibt ein berühmteres und auch viel plausibleres Beispiel, das man zugunsten der Gleichsetzung von Herstellen und Arbeiten anführen kann. Die notwendigste und elementarste Arbeit des Menschen besteht in der Bestellung des Bodens, und der Ackerbau stellt in der Tat eine Tätigkeit dar, in welcher sich das Arbeiten in seinem Vollzug in ein Herstellen verwandelt. Denn obwohl alle landwirtschaftlichen Arbeiten dem biologischen Lebensprozeß des Menschen notwendiger und dem Kreislauf der Natur inniger eingefügt sind als irgendeine andere Tätigkeit, hinterlassen sie doch ein Resultat, das die Tätigkeit selbst überdauert und zu einem greifbaren, bleibenden Teil der Welt wird: wo jahrein und jahraus, in endloser Wiederholung gepflügt, gesät und geerntet wird, fügt sich die Wildnis der Natur schließlich in ein von Menschen bestelltes Land. Das ist natürlich der Grund, warum zu allen Zeiten die Würde der Arbeit an der Landarbeit exemplifiziert worden ist, während die Haushaltsarbeiten stets ins Feld geführt wurden, wenn man die knechtische Natur der Arbeit kennzeichnen wollte. Zweifellos steht die Landarbeit, die die Produktion der Lebensmittel besorgt, dem Herstellen näher als die Hausarbeit, die für ihren Konsum erforderlich ist; zweifellos auch geht die uralte Hochschätzung des Landbaus darauf zurück, daß die Bodenbestellung eben nicht nur Lebensmittel erzeugt, sondern bestelltes Land, in welchem die Erde, zum Acker verwandelt, nun den Grund hergibt für die Erstellung der Welt. Dennoch springt selbst in diesem Fall der Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen als menschlichen Tätigkeiten in die Augen: auch Ackerland ist niemals wirklich ein Gebrauchsgegenstand, der seine Eigenständigkeit besitzt und für seine Beständigkeit nur einer gewissen Pflege bedarf; der bestellte Boden muß, wenn er Ackerland bleiben soll, immer wieder von neuem bearbeitet werden; er besitzt kein von menschlicher Mühe unabhängiges Dasein, er wird niemals zu einem Gegenstand. Selbst da, wo in jahrhundertelanger Mühe der bestellte Boden zur Landschaft geworden ist, hat er nicht die Gegenständlichkeit erreicht, die den hergestellten Dingen eigen ist, die ein für allemal in ihrer weltlichen Existenz gesichert sind; um Teil der Welt zu bleiben und nicht in die Wildnis der Natur zurückzufallen, muß er immer wieder von neuem erzeugt werden. 4 Die Vorstellung, daß der Mensch in seinem Schaffen an Material gebunden ist, während Gott aus dem Nichts hervorbringt, ist mittelalterlich, während die Auffassung vom Menschen als unumschränkten Herrn der Erde und der irdischen Natur charakteristisch für die Neuzeit ist. Beide Auffassungen stehen in gewissem Widerspruch zu dem Geist der Bibel. Denn für das Alte Testament ist der Mensch der Herr aller lebenden Kreaturen, die zu seiner Hilfe geschaffen wurden; er bleibt ein Diener der Erde, und die Güter der Erde sind nicht Material für eine unabhängige, prometheische Schöpfungskraft. So ist es bezeichnend, daß Luther auch in dieser Hinsicht die Versuche der Scholastik, die Lehren der Bibel mit Hilfe griechischer Philosophie zu interpretieren, zurückweist und seinerseits versucht, alle eigentlich produktiven Elemente im menschlichen Tun zu eliminieren. Alles, was der Mensch tut mit Bezug auf die Natur, ist, daß er die Schätze „findet“, die Gott in sie gelegt hat; er bleibt Diener der Erde wie im Alten Testament: „Sage an, wer legt das Silber und Gold in die Berge, daß man es findet? Wer legt in die Äcker solch großes Gut als herauswächst…? Tut das Menschen Arbeit? Ja wohl, Arbeit findet es wohl; aber Gott muß es dahin legen, soll es die Arbeit finden…So finden wir denn, daß alle unsere Arbeit nicht ist denn Gotte Güter finden und aufheben, nicht aber möge machen und erhalten“ (Werke, Ausg. Walch, Bd. V, S. 1873). Die Verdinglichung Die Werktätigkeit von Homo faber, der die Welt herstellt, vollzieht sich als Verdinglichung. Selbst den zerbrechlichsten Dingen verleiht er eine gewisse Konsistenz, die er dem Material entnimmt, aus dem er sie verfertigt. Dies Material wiederum ist ebenfalls bereits etwas Verfertigtes; es ist nicht einfach da und gegeben wie die Früchte von Baum und Strauch, die wir pflücken oder hängen lassen mögen, ohne damit in den Haushalt der Natur einzugreifen. Material muß erst einmal gewonnen werden, seiner natürlichen Umgebung entrissen, und mit der Gewinnung von Material greift der Mensch in den Haushalt der Natur ein, indem er entweder ein Lebendiges zerstört – einen Baum fällt, um Holz zu gewinnen – oder einen der langsameren Naturprozesse unterbricht, wenn er das Eisen, den Stein, den Marmor aus dem Schoß der Erde bricht. Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört. Die Bibel hat Adam, den dem Acker verpflichteten, arbeitenden Menschen, zum Herrn über alle lebende Kreatur gesetzt, aber das Animal laborans, das die Kraft des eigenen Körpers durch die Kraft der ihm unterstellten und von ihm gezähmten Tiere vervielfachen kann, um dem Leben seine Nahrung zuzuführen, wird nie Herr der Erde und der Natur selbst. Nur weil er auch Homo faber ist, kann es dem Menschen gelingen, Herr und Meister der gesamten Erde zu werden. Und da menschliche Produktivität sich immer an einer göttlichen Schöpferkraft gemessen hat, die ex nihilo, aus dem Nichts schafft, während der Mensch eine Substanz braucht, die er gestaltet, hat sich das Bild der Rebellion des Prometheus der Vorstellung von Homo faber so innig vermählt, wie das Bild einer Gott ergebenen Frömmigkeit im Sinne der Bibel exemplarisch geworden ist für ein Leben, das gesegnet ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen. In jedem Herstellen liegt etwas Prometheisches, weil es eine Welt errichtet, die auf der gewalttätigen Vergewaltigung eines Teils der von Gott geschaffenen Natur sich gründet.4 Kraft und Stärke des Menschen äußern sich am elementarsten in den Erfahrungen der Gewalttätigkeit, und sie stehen daher im äußersten Gegensatz zu der qualvoll-erschöpfenden Anstrengung, welche die Grunderfahrung des Arbeitens ist. Aus ihnen stammen Selbstgewißheit und Selbstgefühl, und sie können sogar 194 — 195 Hannah Arendt 5 In Hendrik de Mans berühmtem Buch Der Kampf um die Arbeitsfreude (1927) wird z.B. ausschließlich die für alle Werktätigkeit charakteristische Befriedigung über die Fertigstellung eines Gegenstandes, die natürlich erst einsetzt, wenn das Werk vollendet ist, beschrieben. 6 Die Formulierung steht in Yves Simon: Trois Leçons sur le Travail (Paris, o. J.), aber sie ist typisch für die Idealisierungen der Arbeit bei liberalen katholischen Autoren. „Le travailleur travaille pour son œvre plutôt que pour lui-même: loi de générosité métaphysique, qui définit l’activité laborieuse“, meint z.B. der Dominikaner M. D. Chenu in Pour une Théologie du Travail in Esprit 1952 u. 1955. Ganz ähnlich auch Jean Lacroix: La Nation du Travail, in der Zeitschrift La Vie Intellectuelle, Juni 1952. Quelle lebenslänglicher Zufriedenheit werden, aber sie sind grundsätzlich verschieden von dem Segen, der auf einem Leben ruht, das in Mühe und Arbeit dahingegangen ist, und sie vermögen niemals die Intensität des Lustgefühls zu erreichen, das das Arbeiten zuweilen begleitet, vor allem dann, wenn die Anstrengung rhythmisch verläuft und der Körper die gleiche Lust empfindet, die jeder rhythmisch geordneten Bewegung eigen ist. Sofern die modernen Beschreibungen der „Arbeitsfreude“ mehr meinen als die Arbeitslust eines gesunden Körpers, sofern sie ferner nicht einfach auf einer Verwechslung des Stolzes auf eine Leistung mit der höchst fragwürdigen „Freude“ beruhen, die angeblich den Vorgang des Vollbringens selbst begleiten soll,5 haben sie ihre echte Erfahrungsgrundlage in dem beinahe physischen Gefühl einer Genugtuung, die sich meldet, wenn immer der Mensch das ihm eigene Kraftpotential in seiner ganzen Gewalttätigkeit an der überwältigenden Macht der Elementargewalten mißt, denen er in dem Grad standzuhalten vermag, als es ihm gleichsam gelingt, sie zu überlisten, nämlich durch die Erfindung von Werkzeugen die eigene Kraft ungeheuer über ihr natürliches Maß hinaus zu vervielfältigen. Die dinghafte Substantialität, die den Gegenständen der Welt innewohnt und sie befähigt, Widerstand zu leisten, ist nicht das Resultat des Segens und der Mühe, der Lust und der Qual, mit denen wir im Schweiße unseres Angesichts unser Brot essen, sondern das Produkt dieser Stärke; und solche Produkte fallen dem Menschen nicht in den Schoß wie die Früchte der Erde, sie sind nicht freie Gabe der Natur, welche die Immerwährende ihren Kreaturen reicht; das zu ihrer Erstellung benötigte Material muß dem Schoß der Erde entrissen werden, Substanz und Substantialität sind bereits Dinge von Menschenhand. Die eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leitung eines Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird. Ein solches Modell mag dem inneren Blick des Herstellenden nur vorschweben, oder es kann als Entwurf bereits versuchsweise vergegenständlicht sein. In jedem Fall befindet sich das Vorbild, das die Herstellung leitet, außerhalb des Herstellenden selbst; es geht dem Werkprozeß voraus und bedingt ihn auf eine ganz ähnliche Weise, wie die drängenden Antriebe des Lebensprozesses im Arbeiter der eigentlichen Arbeit vorangehen und sie bedingen. (Diese Beschreibung widerspricht natürlich den Lehren der modernen Psychologie, die meint, daß Vorstellungen sich ebenso greifbar im Kopfe lokalisieren ließen wie das Hungergefühl im Magen. Diese Subjektivierung der modernen Wissenschaft spiegelt nur die radikalere Subjektivierung der modernen Gesellschaft wider und läßt sich damit rechtfertigen, daß das moderne Herstellen in der Tat in der Weise des Arbeitens vonstatten geht, so daß der Werktätige, selbst wenn er es wirklich wollte, ganz außerstande ist, „mehr um der Sache als um seiner selbst willen“ zu arbeiten,6 da er von dieser „Sache“, nämlich davon, wie der Gegenstand, an dessen Herstellung er beteiligt ist, schließlich aussehen wird, zumeist nicht die leiseste Ahnung hat.7 Aber diese rechtfertigenden Umstände, wiewohl sie historisch von großer Bedeutung sind, kommen in einer Beschreibung der grundsätzlichen Gliederung der Vita activa kaum in Betracht.) Ausschlaggebend ist hier, daß alle körperlichen Empfindungen, Lust und Unlust, das Verlangen und seine Stillung – die so „privater“ Natur sind, daß sie noch nicht einmal angemessen mitgeteilt werden können, von einem dinglichen Erscheinen in der Außenwelt ganz zu schweigen – durch eine Kluft von der geistigen Vorstellungswelt geschieden sind, die sich so leicht und selbstverständlich der Verdinglichung fügt, daß wir weder ein Bett herstellen können, ohne uns vorher irgendwie ein Bett vorzustellen, d. h. ohne die „Idee“ eines Bettes vor Augen zu haben, noch uns ein Bett vorstellen können, ohne uns an ein bestimmtes Bett aus unserer sinnlichen Anschauungserinnerung zu halten. 7 Georges Friedman (Problèmes humains du Machinisme industriel, 1946, S. 211) berichtet ausführlich, wie häufig die Fabrikarbeiter noch nicht einmal den Namen oder den Zweck des von ihrer Maschine produzierten Teils kennen. Für die Stellung, welche die Herstellung in der Hierarchie der Vita activa eingenommen hat, ist von großer Bedeutung, daß die Vorstellung oder das Modell, das den Herstellungsprozeß leitet, ihm nicht nur vorausgeht, sondern auch nach Fertigstellung des Gegenstandes nicht wieder verschwindet und sich so in einer Gegenwärtigkeit hält, welche die weitere Herstellung identischer Gegenstände ermöglicht. Aber diese der Herstellung inhärente, potentielle Vervielfältigung desselben unterscheidet sich prinzipiell von der Wiederholung, die das Kennzeichen der Arbeit war. Denn Wiederholung ist nur die Art und Weise, in welcher die Arbeit dem Kreislauf des biologischen Lebens nachkommt und ihm untertan bleibt; die Bedürfnisse und Begehren des menschlichen Körpers kommen und gehen in rhythmischer Folge, sie erscheinen und verschwinden, aber verweilen nicht. Vervielfältigung dagegen vervielfacht das, was bereits eine relativ stabile, relativ gesicherte Existenz in der Welt besitzt. Diese Eigenschaft des Beständigseins, die dem Modell und Vorbild zukommt – daß es vor dem Beginn der Herstellung schon war und noch als identisches da ist, wenn die Herstellung an ihr Ende gekommen ist, daß es also die Entstehung aller in seinem Bilde hergestellten Dinge überdauert und immer weiter unveränderlich und unerschöpflich zur Herstellung neuer Dinge dienen kann –, spielt eine sehr große Rolle in Platos Lehre von den immerwährenden Ideen. Sofern nämlich die Ideenlehre wirklich von dem Wort Idee – also von ίδέα und είδος, von Gestalt und Aussehen –, das Plato als erster in einem philosophischen Sinne verwandte, ausgeht, beruht sie offensichtlich auf Erfahrungen des Herstellens, der ποίησις, und wiewohl Plato die Ideen selbstverständlich dazu benutzt, um ganz andere, nämlich eigentlich philosophische Erfahrungen des „Sehens“ mitzuteilen, greift er doch immer, wenn er die Plausibilität seiner Lehren illustrieren will, auf Beispiele zurück, die 196 — 197 Hannah Arendt 8 Daß Plato das Wort ίδέα als erster in philosophischer Bedeutung verwandte, wissen wir von Aristoteles (1. Buch der Metaphysik, 987b8). Gerard F. Else: The Terminology of Ideas (in den Harvard Studies in Classical Philology, Bd. XLVII, 1936), unterrichtet ausgezeichnet über die vorphilosophische Bedeutung des Wortes. Else betont mit Recht, daß wir aus den Dialogen nicht erfahren, was die Ideenlehre in ihrer endgültigen Form lehrte. Wir wissen auch nichts Definitives über ihren Ursprung, aber hier mag der sicherste Hinweis noch in der Bedeutung des Wortes selbst liegen, das Plato so überraschend in die philosophische Begriffssprache eingeführt hat, obwohl es in der attischen Alltagssprache ungebräuchlich war. Die Worte είδος und ίδέα beziehen sich zweifellos auf sichtbare Formen und Gestalten, und zwar im speziellen von lebendigen Wesen; dies macht es eigentlich unwahrscheinlich, daß die Ideenlehre geometrisch-mathematischen Ursprungs ist. Cornford nimmt an, daß die Lehre einerseits Sokratischen Ursprungs ist, da ja Sokrates solchen Fragen wie dem Gerechten überhaupt, dem Guten an sich nachging und versuchte, Begriffe zu definieren, die aus der Welt des Handwerkers und des Herstellens stammen.8 So wird schließlich einleuchtend, daß eine einzige, immerwährende Idee über der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese Beziehung zwischen dem ewig Einen und dem veränderlich Vielen in offenbarer Analogie zu der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit des Modells und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen obwaltet, die in seinem Bilde hergestellt werden können. Was nun den Herstellungsprozeß selbst anlangt, so ist er wesentlich von der Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt. Das hergestellte Ding ist ein Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt („der Prozeß erlischt im Produkt“, wie Marx sagt), und es ist ein Zweck, zu dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war. Zwar produziert die Arbeit zweifellos auch für den „Zweck“ des Konsums, aber da dieser Zweck, als Endprodukt gesehen, der weltlichen Beständigkeit eines Gegenstandes ermangelt, ist das Ende des Arbeitsprozesses nicht durch das Endprodukt determiniert, sondern durch die Erschöpfung der Arbeitskraft; die Arbeitsprodukte andererseits werden sofort wieder zu Mitteln, ihr Zweckcharakter ist eine ganz vorübergehende Eigenschaft, die sofort verschwindet, wenn die erzeugten Güter ihrer Bestimmung zugeführt werden, um als Lebensmittel für die Regeneration der Arbeitskraft verwendet zu werden. Über das Ende des Herstellungsprozesses kann dagegen gar kein Zweifel bestehen; er ist zu Ende, wenn ein ganz und gar neues Ding, das beständig und eigenständig genug ist, von nun an ohne alle Hilfe des Menschen in der Welt zu bleiben, dem Gebilde von Menschenhand hinzugefügt worden ist. Was dies Ding in seinem Fertigsein betrifft, so braucht der Prozeß, dem es sein Entstehen schuldet, nicht wiederholt zu werden. Daß der Handwerker ihn dann doch wiederholt und ein Ding nach dem anderen herstellt, hat lediglich damit zu tun, daß auch er sich seinen Lebensunterhalt verdienen muß, was nichts anderes heißt, als daß in gewissem Sinne Herstellen und Arbeiten zusammenfallen; oder es mag daher rühren, daß eine Nachfrage nach solchen Dingen besteht, die der Verfertiger aus Erwerbsgründen zu befriedigen wünscht, was nichts anderes besagt, als daß er, wie Plato gemeint haben würde, neben seiner Handwerkskunst noch die zusätzliche Kunst des Gelderwerbs gelernt hat und zu betreiben wünscht. Worauf es hier ankommt, ist, daß der Herstellungsprozeß in beiden Fällen aus Gründen wiederholt wird, die außerhalb seiner selbst liegen und mit ihm nichts zu tun haben; während eine endlose, sich im Kreise drehende Wiederholung allen Arbeitsprozessen inhärent ist: man muß essen, um zu arbeiten, und muß arbeiten, um zu essen. Es ist das eigentliche Merkmal des Herstellens, daß es einen definitiven Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende hat; und hierdurch allein schon unterscheidet es sich von allen anderen menschlichen Tätigkeiten. Das Arbeiten, gefangen in den Kreislauf des Körpers, hat weder Anfang noch Ende. Und das Handeln hat zwar einen klar erkennbaren wir ständig gebrauchen und die uns in sinnlicher Erfahrung nicht gegeben sind; und daß sie andererseits unter pythagoreischem Einfluß entstanden ist, weil die Antwort der Ideenlehre auf die Sokratischen Fragen, nämlich die ewige und von allem Vergänglichen abgetrennte Existenz einer Idee des Gerechten oder des Guten, implizierte, daß es eine bewußte und der Erkenntnis fähige Seele gibt, die so abgesondert von Körper und Sinnen existiert wie die Idee von irdischen Dingen. Es ist also, als hätte Plato auf die sokratischen Fragen mit der pythagoreischen Seelenlehre geantwortet. Dies klingt wahrscheinlich (für Cornford, siehe vor allem seinen Plato und Parmenides). Aber meine Darstellung läßt alle diese Fragen in der Schwebe; sie bezieht sich einfach auf das 10. Buch des Staates, wo Plato selbst den Begriff der Idee mit dem alltäglichen Beispiel eines Handwerkers erklärt, der Betten und Stühle herstellt „entsprechend seiner Idee“, also einer im vorhinein gefaßten Vorstellung, wobei Plato noch ausdrücklich hinzufügt: dies meinen wir in diesen und ähnlichen Fällen. Für Plato hatte natürlich das Wort „Idee“ eine ganz andere, konkret sprechende und bedeutende Qualität als für uns; und was er mit dem Wort selbst andeuten wollte, war einfach, daß ja auch der „Handwerker, der ein Bett oder einen Tisch herstellt, hierfür nicht auf ein anderes Bett oder einen anderen Tisch blickt, sonder auf die ‚Idee‘ des Bettes“ (vgl. Kurt von Fritz: The Constitution of Athens, 1950, S. 34/5). Selbstverständlich rührt keine dieser Erklärungen an den Kern der Sache, d.h. weder an die spezifisch philosophische Erfahrung, die dem Ideenbegriff zugrunde liegt, noch an die entscheidende und gearde nur den Ideen zukommende Eigenschaft der Leuchtkraft, daß sie gleich der Sonne alles Erscheinende erhellen und zum Leuchten bringen. Anfang, ist aber dann, wenn es erst einmal begonnen ist, wie wir sehen werden, ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, endlos; auf keinen Fall hat es ein Ende, das man voraussagen, und einen Zweck, den man in Gewißheit verfolgen könnte. Diese große Verläßlichkeit, die dem Herstellen eignet, spiegelt sich in der Tatsache wider, daß es, im Unterschied zum Handeln, nicht unwiderruflich ist. Was von Menschenhand geschaffen wurde, kann von Menschenhand auch wieder zerstört werden, und kein Gebrauchsgegenstand wird so dringlich im Lebensprozeß benötigt, daß sein Verfertiger sich seine Vernichtung nicht leisten und sie überleben könnte. Homo faber ist in der Tat ein Herr und Meister, nicht nur, weil er Herr der Natur ist oder verstanden hat, sie sich untertan zu machen, sondern auch, weil er Herr seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens ist – was man weder von dem Animal laborans, das der Notwendigkeit des eigenen Lebens unterworfen bleibt, noch von dem handelnden Menschen sagen kann, der sich immer in Abhängigkeit von seinen Mitmenschen befindet. Unabhängig von Allem und Allen, allein mit dem ihm vorschwebenden Bild des herzustellenden Dinges, steht es Homo faber frei, es wirklich hervorzubringen; und wiederum allein, konfrontiert mit dem Resultat seiner Tätigkeit, kann er entscheiden, ob das Werk seiner Hände der Vorstellung seines Geistes entspricht, und ist frei, wenn es ihm nicht gefällt, es zu zerstören. Die Rolle des Instrumentalen in der Arbeit Für Homo faber, der sich vollkommen auf seine Hände verläßt, diese ursprünglichsten aller Werkzeuge und Geräte, läßt sich der Mensch in der Tat, in den Worten Benjamin Franklins, als ein „toolmaking animal“, ein Werkzeug-fabrizierendes Lebewesen definieren. Die gleichen Geräte, die dem Animal laborans nur zur Erleichterung seiner Last und zur Mechanisierung der Arbeit dienen, hat Homo faber entworfen und erfunden für die Errichtung einer Dingwelt, und ihre Tauglichkeit und Präzision hat sich weit mehr nach den objektiv-gegenständlichen Zwecken gerichtet, für die er sie verwenden wollte und die seinem inneren Auge als Modelle jeweils vorschwebten, als daß sie unter dem Druck der Lebensnotdurft oder der subjektiven Bedürfnisse entstanden wären. Werkzeuge, Geräte und Instrumente sind so durch und durch weltliche Gegenstände, daß wir ganze geschichtliche Epochen und ihre Zivilisationen nach ihnen benennen und mit ihrer Hilfe klassifizieren. Nirgends aber kommt gerade ihr weltlicher Charakter so ausgesprochen zum Vorschein als in Arbeitsprozessen, wo sie in der Tat die einzigen Dinge sind, die sowohl den Arbeitsprozeß wie den Konsumprozeß überdauern. Dem Animal laborans, gerade weil es dem Lebensprozeß unterworfen und um seine Erhaltung dauernd besorgt sein muß, repräsentieren die Werkzeuge und Geräte, deren es sich bedient, daher die Welt in ihrer Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit überhaupt und müssen in seiner „Weltanschauung“ eine erheblich 198 — 199 Hannah Arendt 9 Seit Karl Büchers berühmter Sammlung von Arbeitsliedern ist eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur der Verbindung von „Arbeit und Rhythmus“ weiter nachgegangen. In einer der besten dieser Untersuchungen wird von Joseph Schopp (Das deutsche Arbeiterlied, 1935) ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es zwar Arbeitslieder, aber keine eigentlichen Werklieder gibt. Die Lieder der Handwerker werden nach der Arbeit beim geselligen Beisammensein gesungen. Dies hat natürlich damit zu tun, daß es bei der Werktätigkeit keinen „natürlichen“ Rhythmus gibt. Abgesehen von den zahlreichen Klagen über den künstlichen Rhythmus, den die Maschinen dem Menschen auferlegen, wird gelegentlich auch bemerkt, daß dieser künstliche Rhythmus dem natürlichen Rhythmus des Arbeitens auffallend ähnelt. Es ist daher auch bezeichnend, daß die Arbeiter selbst sich verhältnismäßig selten über den Rhythmus der Maschinen beklagen und im Gegenteil offenbar die gleiche „Arbeitslust“ empfinden, ob nun die Maschinenarbeit oder reine Körperarbeit den Rhythmus des Arbeitsvorganges bestimmen (hierfür s. Georges Friedmann: Où va le Travail humain?, 1953, S. 233 und Hedrik de Man, op. cit., S. 213). Dies wird vor allem auch durch die Erhebungen bestätigt, die am Anfang des Jahrhunderts in den Fabriken von Ford gemacht wurden. Bücher, der meinte, rhythmische Arbeit sei bereits „vergeistigte Arbeit“, wies ebenfalls darauf hin, daß „nur solche einförmigen Arbeiten, die sich nicht rhythmisch gestalten lassen“, als aufreibend empfunden werden (op. cit., S. 443). All dies beweist, daß die Arbeit an der Maschine, wenn auch ihr Tempo größer und ihre Verrichtungen einförmiger bedeutendere Rolle spielen, als bloßen Mitteln sonst zugestanden wird. Für das Arbeiten verlieren Werkzeuge und Maschinen ihren instrumentalen Charakter, und das Animal laborans bewegt sich unter ihnen so, wie Homo faber sich in der Welt der fertigen Dinge, in der Welt seiner Zwecke, bewegt. Die häufigen Klagen, die wir über die Verkehrung der Mittel in Zwecke und umgekehrt der Zwecke in Mittel in der modernen Gesellschaft hören: daß die Mittel sich als stärker als die Zwecke erweisen und daß der Mensch der Knecht der Maschinen wird, die er selbst erfunden hat, daß er sich ihren Erfordernissen anpaßt, anstatt sie als bloße Mittel für menschliche Zwecke und Bedürfnisse zu nutzen – haben ihre Wurzel in der tatsächlichen Situation des Arbeitens. Denn für das Arbeiten, das ja primär in einer Präparierung von Gütern für den Konsum besteht, ergibt die für die Herstellung so außerordentlich wesentliche Unterscheidung zwischen Zweck und Mitteln einfach keinen Sinn, weil in ihm Zweck und Mittel gar nicht getrennt genug auftreten, um überhaupt scharf auseinandergehalten und geschieden werden zu können. Daher verlieren die von Homo faber erfundenen Instrumente und Werkzeuge, mit denen er dem Animal laborans bei seiner Arbeit zu Hilfe gekommen ist, sofort ihren instrumentalen Charakter, wenn sie erst einmal wirklich in den Arbeitsprozeß eingegangen sind. So ist es auch müßig, an das Leben und den Lebensprozeß, von dem die Arbeit einen integrierenden Teil bildet und den sie als solchen niemals übersteigt, Fragen zu stellen, die die ZweckMittel-Kategorie voraussetzen, also z. B. zu fragen, ob der Mensch lebt und seine Bedürfnisse stillt, um die Kraft zur Arbeit zu haben, oder ob umgekehrt er nur arbeitet, um dann auch seine Bedürfnisse stillen zu können. Will man sich klarmachen, was es eigentlich für menschliches Verhalten besagt, in einer Situation zu sein, in der es unmöglich ist, klar zwischen Mitteln und Zwecken zu unterscheiden, so muß man sich die Situation eines arbeitenden Körpers vergegenwärtigen, für den an die Stelle der freien Disposition und des freien Gebrauchs von Werkzeugen für ein bestimmtes Endprodukt die rhythmische Vereinigung des Körpers mit seinem Gerät getreten ist, wobei die vereinigende Kraft von Körper und Gerät die arbeitende Bewegung selbst ist. Die Leistung des Arbeiters, aber nicht die des Herstellers, verlangt zur Erzielung bester Resultate eine rhythmisch geordnete Bewegung, bzw. bei dem Zusammenarbeiten mehrerer Arbeiter die rhythmische Koordinierung aller individuellen Bewegungen in der Gruppe.9 In dieser Bewegtheit verlieren die Werkzeuge ihren instrumentalen Charakter, und es verwischt sich in ihr sowohl der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Werkzeug, also seinem Mittel, wie der zwischen dem Menschen und dem, was er produziert, also seinem Zweck. Was den Arbeitsprozeß – und alle in der Weise des Arbeitens vollzogenen Herstellungsprozesse – beherrscht, ist weder der im vorhinein entworfene Zweck noch ein begehrtes Produkt, sondern die sind, dem nichtmaschinellen, spontanen Arbeiten sehr viel näher kommt als dem Herstellen; den Ausschlag gibt das Rhythmische als solches. So weist auch Hendrik de Man darauf hin, daß „diese von Bücher gepriesene Welt weniger die des…handwerksmäßig schöpferischen Gewerbes [ist] als die der einfachen, schieren…Arbeitsfron“ (op. cit., S. 244). Gerade diese Arbeitsfron aber erregt Lust, und zwar unabhängig von dem, was sie leistet; während die Werktätigkeit selbst überhaupt keine „Lust“ erregt, sie kann sich nur des hergestellten Gegenstandes erfreuen und stolz auf die Leistung sein. Wie fragwürdig aber alle diese Theorien von einer „Arbeitsfreude“ überhaupt sind, wird offenbar, sobald man die Arbeiter selbst fragt, warum sie z.B. eintönige Arbeit vorziehen. Ihr Grund ist, daß sie mechanisch ist und keine Aufmerksamkeit beansprucht, so daß sie ihnen erlaubt, an anderes zu denken – „geistig wegzutreten“, wie man in Berlin sagt (vgl. Thielicke u. Pentzlin: Mensch und Arbeit im technischen Zeitalter: Zum Problem der Rationalisierung, 1954, S. 35ff.). Nach den Erhebungen des Max-Planck-Instituts für Arbeitspsychologie ziehen 90% aller Arbeiter mechanische, einförmige Arbeiten allen anderen vor. Daß diese Vorliebe für das mechanische Arbeiten keineswegs ein Zeichen von Dummheit oder Abgestumpftheit zu sein braucht, geht daraus hervor, daß es durchaus im Einklang mit sehr frühen christlichen Erfahrungen des körperlichen Arbeitens steht; daß es weniger Aufmerksamkeit beanspruche als alle anderen Tätigkeiten, galt als einer seiner wesentlichen Vorzüge, weil es einen Spielraum für „Kontemplation“ läßt (siehe Etienne Delaruelle: Le Travail dans les Règles monastiques occidentales du 4e aus 9e siècle, im Journal des Psychologie Normale et Pathologique, Vol. XLI, No. 1, 1948). Bewegung des Prozesses selbst und der Rhythmus, in den er den Arbeitenden hineinzwingt. In diesen Rhythmus werden die Arbeitsgeräte mithineingezogen, so daß Körper und Werkzeug in der gleichen, immer wiederholten Bewegung schwingen, bis schließlich die Maschinen, die sich wegen ihrer Bewegtheit am besten von allen Geräten für die Verrichtungen des Animal laborans eignen, dem Körper die Initiative für die Bewegung abnehmen und nicht mehr er dem Werkzeug den Takt angibt, sondern nach dem Takt der Maschine gewissermaßen tanzt. Nichts kommt der Mechanisierung leichter und selbstverständlicher entgegen als der Rhythmus des Arbeitsprozesses, und zwar weil er seinerseits bedingt ist von dem gleichfalls automatischen, in der Form der Wiederholung verlaufenden Rhythmus des Lebensprozesses und seines Stoffwechsels mit der Natur. Gerade weil das Animal laborans Werkzeuge und Instrumente nicht zum Zweck der Errichtung einer Welt benutzt, sondern um sich die Arbeit zu erleichtern, lebt es buchstäblich in einer Welt von Maschinen, seit die industrielle Revolution und die Befreiung der Arbeit nahezu alle Werkzeuge durch Maschinen ersetzte, und das heißt, die menschliche Arbeitskraft mit Hilfe der Naturgewalten ungeheuer vervielfachte. Den entscheidenden Unterschied zwischen Werkzeugen und Maschinen kann man sich vielleicht am besten vergegenwärtigen, wenn man an die nicht enden wollenden Diskussionen darüber denkt, ob nun der Mensch sich der Maschine anpassen solle oder ob umgekehrt es humaner sei, die Maschine der „Natur“ des Menschen anzupassen. Den Hauptgrund, warum eine solche Diskussion unfruchtbar bleiben muß, haben wir im ersten Kapitel erwähnt: da der Mensch ein bedingtes Wesen in dem Sinne ist, daß jegliches, ob er es vorfindet oder selbst macht, für ihn sofort eine Bedingung seiner Existenz wird, hat er sich natürlich der Umgebung der Maschinen in dem Augenblick auch angepaßt, sich von ihnen bedingen lassen, in dem er sie erfand. Die Maschinen sind heute für unsere Existenz eine nicht weniger unabdingbare Bedingung als Werkzeuge und Geräte für alle früheren Epochen. Das Interesse an dieser Diskussion liegt daher nicht so sehr in der Vexierfrage, um die sie sich dreht, wie darin, daß sie diese Fragen überhaupt anschneiden konnte. Denn kein Mensch hat sich je den Kopf darüber zerbrochen, ob der Mensch sich auch gehörig den Werkzeugen anpasse, die er benutzt, oder ob man umgekehrt das Werkzeug seiner Natur angleichen müsse, um es humaner zu gestalten. Das hätte sich genauso lächerlich angehört wie der Vorschlag, den Menschen und seine Hände in die gehörige Beziehung zueinander zu setzen. Der Fall der Maschinen liegt in der Tat ganz anders. Ungleich dem Werkzeug, das in jedem einzelnen Augenblick des Herstellungsprozesses der Hand untertan bleibt und ihr als Mittel dient, fordert die Maschine von dem Arbeiter, daß er sie bediene und den natürlichen Körperrhythmus der mechanischen Bewegung angleiche. Das heißt natürlich keineswegs, wie man oft annimmt, daß der Mensch als solcher mechanisiert werde oder sich zum Diener der Maschinen erniedrigen müsse; aber es heißt 200 — 201 Hannah Arendt 10 Abgesehen von allen Erfahrungen, war die wesentlichste Vorbedingung der industriellen Revolution einfach die Verknappung des Holzes und die Entdeckung der Kohle als Brennstoff. In diesem Zusammenhang ist die Vermutung von R. H. Barrow bemerkenswert, daß die Lösung des „bekannten Rätsels der Wirtschaftsgeschichte des Altertums, dessen industrielle Entwicklung über einen gewissen Punkt nicht hinauskam“, nicht darin besteht, daß man keine Maschinen zu erfinden wußte, sondern daß es für solche Maschinen keinen Brennstoff, eben keine Kohle gegeben hätte (Slavery in the Roman Empire, 1928, S. 123). 11 „The greatest pitfall to avoid is the assumption that the design aim ist reproduction oft he hand movements oft he operator or laborer“, meint John Diebold: Automation: The Advent oft he Automatic Factory, 1952, S. 67. 12 Ebda., S. 69. 13 So Georges Friedmann in Problèmes humains du Machinisme industriel, S. 168. Und zu diesem Schluß muß man allerdings kommen, wenn man Diebolds Buch mit einiger Aufmerksamkeit liest. Denn wenn das Fließband das Resultat einer Vorstellung ist, in der „die Fabrikation als ein kontinuierlicher Prozeß erscheint“, so ist die Automation ihrerseits die weitere Mechanisierung dieses Prozesses, bei der nun auch die am Fließband stehenden Arbeiter durch einen kontinuierlichen, von Maschinen getriebenen Prozeß ersetzt werden. Die Arbeiter am fließenden Band hatten die von der Maschine geleistete Arbeit wohl, daß, solange die Arbeit an der Maschine andauert, der mechanische Prozeß an die Stelle des Körperrhythmus getreten ist und daß der Mensch sich an diesen Rhythmus der Maschinen gewissermaßen schon gewöhnt haben mußte, als er ein solches Ding wie eine Maschine auch nur im Geist konzipierte. Noch das raffinierteste Werkzeug bleibt ein Diener seines Herrn, unfähig die Hand zu leiten oder sie zu ersetzen. Aber selbst die primitivste Maschine leitet die Arbeit des Körpers, bis sie sie schließlich ganz und gar ersetzt. Der Historiker weiß nur zu gut, daß der Sinn geschichtlicher Abläufe meist erst zum Vorschein kommt, wenn sie ihren Abschluß erreicht haben, niemals aber zu erkennen ist, bevor die Entwicklung auf ihren Höhepunkt gekommen ist. So ist es auch in diesem Fall, als zeigte sich die wirkliche Bedeutung der Technik, d. h. der Ersetzung von Werkzeugen und Geräten durch die Maschinen, erst in dem, was wir vorläufig als das unmittelbar bevorstehende Endstadium dieser Entwicklung antizipieren, nämlich in der Automation. Blicken wir von diesem antizipierten Endstadium auf die Entwicklung der neuzeitlichen Technik zurück, so entfaltet sie sich ungefähr in folgenden Stadien: Im ersten Stadium, das, von der Dampfmaschine beherrscht, unmittelbar in die industrielle Revolution führte, ahmte man mit Hilfe der Maschine Naturprozesse nach oder bediente sich zu diesem Zweck auch direkt der Naturkräfte; beides unterschied sich grundsätzlich kaum von den Wasser- und Windmühlen, in denen der Mensch seit unvordenklichen Zeiten bestimmte Naturkräfte eingefangen und in seinen Gebrauch gestellt hatte. Neu war nicht die Dampfmaschine, sondern vielmehr die Entdeckung und Ausbeutung der Kohlenlager der Erde, durch die man endlich den Brennstoff gewann, um das Prinzip der Dampfmaschine anzuwenden.10 Die Maschinenwerkzeuge dieses Anfangsstadiums zeigen auf ihre Weise die gleiche Nachahmung des natürlich Gegebenen; auch sie imitieren und steigern die Kraft der menschlichen Hand. Dies gerade gilt heute als mangelndes Verständnis für das Wesen der Maschine, als eine Art Kurzschluß, den man auf jeden Fall vermeiden muß. Unter keinen Umständen darf das Entwerfen von Maschinen von dem Ziel geleitet sein, die Hand des Arbeiters zu ersetzen oder die Handbewegungen dessen nachzuahmen, der die Maschine bedient.11 Im nächsten Stadium tritt die Elektrizität und Elektrifizierung der Welt in den Vordergrund, und in diesem Stadium befinden wir uns auch heute noch, jedenfalls im Rahmen des Alltagslebens, das ja noch nicht von der Automation oder der Nutzung der Atomenergie bestimmt ist. In diesem Stadium kommt man mit den Vorstellungen einer technisch bedingten, gigantischen Steigerung der handwerklichen Möglichkeiten, also der Technisierung von Herstellungsprozessen, nicht mehr aus; auf diese bereits wirklich technisch bestimmte Welt sind die Kategorien von Homo faber, für den ein Werkzeug eben ein Mittel zur Erreichung eines vorgefaßten Zweckes ist, nicht mehr anwendbar. Denn hier handelt es sich zu ergänzen und zu kontrollieren, und die Automation besagt nichts anderes, als daß diese gleichsam noch von menschlicher „Gehirnkraft“ geleiteten Arbeiten der Kontrolle und Leitung nun ihrerseits genauso von Maschinen übernommen werden wie in den frühen Stadien der Industrialisierung die Leistungen der „Arbeitskräfte“ (op. cit., S. 140). Was von den Maschinen geleistet wird, ist in den beiden Fällen Arbeit und nicht eigentlich Werk. Das Selbstbewußtsein des Werktätigen und der Handwerkerstolz, deren „menschliche und psychologische Werte“ (S. 146) fast alle Werke auf diesem Gebiet verzweifelt zu retten versuchen – was manchmal nicht ohne eine gewisse unfreiwillige Komik abgeht, wie wenn Diebold und andere im Ernst meinen, daß Reparaturarbeiten, die vielleicht niemals voll automatisiert werden können, das gleiche Selbstbewußtsein werden vermitteln können wie einst die Befriedigung, einen neuen Gegenstand hervorgebracht zu haben –, gehören schon darum nicht hierher, weil sie längst aus den Fabriken verschwunden waren, bevor auch nur irgend jemand das Wort Automation gehört hatte. Fabrikarbeiter sind immer Arbeiter, und nicht Werktätige, gewesen, und obwohl sie als Personen ein völlig intaktes Selbstbewußtsein entwickeln mögen, so kann dieses sich schwerlich gerade auf ihre Arbeit gründen. Man kann nur hoffen, daß sie sich von den gesellschaftlichen Surrogaten, die ihnen die Arbeitstheoretiker anbieten, nicht irremachen lassen und sich nicht einreden werden, daß Berufsinteresse und Handwerksstolz durch „human relations“ ersetzt werden können oder durch gegenseitige Hochachtung (S. 164). Die Automation sollte jedenfalls den Vorzug haben, die Absurdität des neumodischen „Humanismus der Arbeit“ handgreiflich zu demonstrieren; für den allerdings, der über- nicht mehr darum, der Natur, so wie sie ist, das zu entnehmen oder zu entreißen, was wir in der Form von Material brauchen und gebrauchen, wobei wir in die Natur nur eingriffen, indem wir ein Natürliches vernichteten, einen natürlichen Prozeß „künstlich“ unterbrachen oder auch ihn künstlich nachahmten. In all diesen Fällen haben wir für unsere eigenen weltlichen Zwecke Natürliches verändert oder auch die Natur künstlich denaturiert, so zwar, daß die von Menschen errichtete Welt und die Natur durchaus deutlich voneinander geschieden und unterschieden blieben. Wir haben begonnen, gewissermaßen Naturprozesse selbst zu „machen“, d.h. wir haben natürliche Vorgänge losgelassen, die niemals zustande gekommen wären ohne uns, und anstatt die menschliche Welt, wie alle historischen Epochen vor der unsrigen, vorsichtig gegen die Elementargewalten der Natur abzuschirmen, sie so weit wie möglich aus unserer Welt zu entfernen, haben wir im Gegenteil gerade diese Kräfte in ihrer Elementargewalt mitten in unsere Welt geleitet. Daß hier mehr im Spiele ist und mehr auf dem Spiele steht als die Entwicklung rein technischen Könnens, sieht man schon daran, daß sich die geänderte Relation von Welt und Natur am augenfälligsten in dem modernen Städtebau nachweisen ließe, für den ja weder das Hochhaus noch das Stadtbild von New York auf der Halbinsel Manhattan charakteristisch ist, sondern die neuerdings angestrebte und in Amerika im Ansatz auch bereits verwirklichte Auflösung des städtischen Elements in menschlichen Siedlungen, also eine Nicht-Stadt von der Art Los Angeles‘, bei der der „Ausgleich zwischen Stadt und Land“ nun in der Tat so weit gediehen ist, daß weder von Stadt noch von Land, wie wir es gemeinhin verstehen, auch nur das geringste übriggeblieben ist. In der Literatur über diese zweite technische Revolution wird hierauf nicht hingewiesen, wohl aber auf ein verwandtes Auflösungsphänomen im Herstellungsprozeß selbst; die Fabrikation, die sich bisher „aus einer Reihe voneinander getrennter Handgriffe“ ergab, ist zu „einem kontinuierlichen Prozeß“ geworden, dem fließenden Band, an dem produziert und montiert wird. 12 Die letzte Phase in dieser Entwicklung ist die Automation, die nun tatsächlich „die gesamte Geschichte der Maschinisierung erhellt“13. Sie wird den Gipfelpunkt dieser Entwicklung bilden, selbst wenn ein Atomzeitalter mit auf nuklearer Energie beruhender Technik sie rasch noch einmal ablösen sollte, weil nur die Automation, für die man keine Atomenergie, sondern nur Elektrizität benötigt, noch dem Gesetz folgt, nach dem wir seit der industriellen Revolution angetreten sind. Die verschiedenen Arten von Atombomben, welche gewissermaßen die ersten Geräte der Atomtechnik darstellen und bereits ein Vernichtungspotential besitzen, das ausreicht, das gesamte organische Leben auf der Erde zu zerstören, geben ein erstes Anzeichen davon, in was für einem Ausmaße eine Umstellung der Technik auf Atomenergie die uns bekannte Welt verändern würde. Denn in einer solchen von der Atomtechnik bestimmten Welt würde es sich nicht mehr um die Entfesselung von Elementargewalten 202 — 203 Hannah Arendt haupt noch fähig ist, sich unter diesem abgegriffensten aller Worte etwas vorzustellen, dürfte ein „Humanismus der Arbeit“ ohnehin nichts anderes bedeutet haben als eine contradictio in adiecto. Jedenfalls findet sich in der neueren Literatur zunehmend eine entschiedene Kritik an der Gestaltung der „human relations“, die in den Fabriken so sehr en vogue war. Siehe z.B. die ausgezeichneten Ausführungen von Daniel Bell in Work and ist Discontents, 1956, 5. Kapitel und den Artikel von R. F. Genelli, Facteur humain ou Facteur social du Travail, in Revue Française du Travail, Vol. VII, Nos. 1-3, 1952, der sich auch sehr entschieden gegen die „schrecklichen Illusionen“ der „Arbeitsfreude“ wendet. 14 In einigen interessanten Bemerkungen zur Atombombe in seiner Antiquiertheit des Menschen weist Günther Anders allerdings mit Recht darauf hin, daß man im Falle der Atomexplosion kaum noch von Experiment und Laboratorium sprechen könne, weil „die Effekte so ungeheuer sind, daß im Moment des Experiments das ‚Laboratorium‘ ko-extensiv mit dem Globus wird“ (S. 260). Für Laboratoriumsversuche ist charakteristisch, daß der Raum, in dem sie stattfinden, gegen die Umgebung isoliert und von der Welt abgegrenzt ist. der Natur und auch nicht mehr um das Loslassen natürlicher Prozesse handeln, die im Haushalt der Natur nie vorgesehen waren, sondern darum, Energien und Kräfte auf der Erde und im täglichen menschlichen Leben zu handhaben, die sonst nur außerhalb des Irdischen, im Universum, vorkommen; in gewissem Sinne geschieht ähnliches bereits heute, aber doch nur in dem abgegrenzten und abgeschirmten Rahmen der Versuchslaboratorien der Atomphysik.14 Wenn die gegenwärtige Technik darauf beruht, daß Naturkräfte in die von Menschen erstellte Welt geleitet werden, so könnte die Technik eines kommenden Atomzeitalters darin bestehen, die Universumskräfte des Weltalls, in dem wir rotierend schweben und von dem wir umgeben sind, in die irdische Natur zu leiten. Ob eine solche zukünftige Technik den Haushalt der Natur im gleichen, oder vielleicht noch größeren, Maße verändern wird, wie die gegenwärtige Technik die Weltlichkeit der Menschenwelt verändert hat, kann heute noch niemand wissen. Die Naturkräfte, welche die moderne Technik in die Welt selbst geleitet hat, haben vorerst einmal die spezifische Zweckhaftigkeit dieser Welt vernichtet, d. h. den heute veralteten Tatbestand, daß Werkzeuge und Geräte zum Zwecke der Herstellung von Gegenständen entworfen werden. Wir verstehen unter Naturprozessen Vorgänge, die ohne menschliche Hilfe entstehen, und wir verstehen unter Naturdingen all das, was nicht „gemacht“ ist, sondern aus sich heraus wächst und eine Gestalt annimmt. (Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Natur“, ob wir es nun aus dem lateinischen nasci, geborenwerden, herleiten oder es weiter in seine griechische Wurzel verfolgen und von der „Physis“ sprechen, wörtlich dem Gewachsenen.) Im Unterschied zu dem, was die menschliche Hand mit oder ohne Zuhilfenahme eines Werkzeugs her- und aufstellt, was nur Schritt um Schritt bewerkstelligt werden kann, und wobei schließlich das Dasein des Produkts so weit von dem Vorgang seiner Herstellung geschieden ist, daß es überhaupt erst zu existieren anfängt, wenn dieser Vorgang zum Abschluß gekommen ist, ist die Existenz der Naturdinge von dem Wachstumsprozeß, in dem sie entstehen, nicht nur nicht zu trennen, sie ist mit ihm sogar auf eine geheimnisvolle Weise identisch: Das Samenkorn enthält nicht nur, sondern ist in gewissem Sinne bereits der Baum, und der Baum hört auf zu „sein“, er stirbt, sobald der Wachstumsprozeß, durch den er entstand, zum Stillstand kommt. Betrachten wir diese Prozesse aus dem Blickwinkel menschlicher Zweckhaftigkeit, wo ein vorgefaßter Zweck mit absoluter Präzision Anfang und Ende eines Vorganges von außen limitiert, so müssen sie als automatische Prozesse erscheinen. Automatisch nennen wir alle Bewegungsarten, die, sind sie erst einmal angelaufen, von selbst weiterlaufen, also nicht angewiesen sind auf willentliche und zweckbestimmte Eingriffe. In der Automation wird nun tatsächlich „automatisch“ produziert, und darum gibt es strenggenommen in dem automatischen Fabrikationsprozeß keinen Unterschied mehr zwischen dem 15 So Diebold, op.cit., S. 59-60. 16 Ebda, S. 67. Produktionsvorgang und dem Fabrikat. Daher sind auch Vorstellungen, wie die, daß der fabrizierte Gegenstand ein Primat vor dem Prozeß habe, durch den er entsteht, daß der Prozeß nur das Mittel für einen Zweck sei, sinnlos und veraltet.15 Die „mechanistischen“ Kategorie- und Begriffssysteme von Homo faber versagen hier genau so, wie sie seit eh und je vor den Vorgängen einer organischen Natur und des natürlichen Universums versagt haben. Warum denn auch die Vertreter der Automation allgemein die mechanistische Naturbetrachtung ausdrücklich verwerfen und sich gegen den praktischen Utilitarismus des achtzehnten Jahrhunderts kehren, der so außerordentlich charakteristisch für die einseitig zielbewußte Werk-Mentalität von Homo faber war. Die Erörterungen des Problems der Technik, bzw. der Veränderungen des Lebens und der Welt durch die Einführung der Maschine, bewegen sich zumeist in einem merkwürdig unangemessenen Horizont, weil sie ausschließlich an der Frage ihres Nutzens für den Menschen orientiert bleiben. Sie unterstellen, daß alle Werkzeuge und Geräte dazu bestimmt seien, das menschliche Leben zu erleichtern und menschliche Arbeit von Mühe und Plage zu befreien. Ihre Zweckdienlichkeit wird ausschließlich anthropozentrisch verstanden. Aber der unmittelbar gegebene Zweck, für den ein Werkzeug oder ein Instrument als Mittel entworfen wird, ist nicht der Mensch, sondern ein Gegenstand, und der „humane Wert“ dieses Instrumentariums beschränkt sich auf den Gebrauch, den das Animal laborans, das von sich aus keine Werkzeuge fabriziert, dann von ihnen macht. Homo faber, mit anderen Worten, hat seine Werkzeuge und Geräte erfunden, um mit ihnen eine Welt zu errichten, aber nicht, oder doch nicht primär, um dem menschlichen Lebensprozeß zu Hilfe zu kommen. Daher ist die Frage, ob wir nun die Herren oder die Sklaven unserer Maschinen sind, falsch gestellt; die hier angemessene Fragestellung ist, ob die Maschine noch im Dienst der Welt und ihrer Dinghaftigkeit steht oder ob sie nicht vielleicht im Gegenteil angefangen hat, ihrerseits die Welt zu beherrschen, nämlich die von ihr produzierten Gegenstände in den eigenen automatischen Prozeß wieder zurückzuziehen und damit gerade ihre Dinglichkeit zu zerstören. Eines steht schon heute fest: der kontinuierlich automatische Fabrikationsprozeß hat nicht nur mit der „ungerechtfertigten Annahme“ aufgeräumt, daß „menschliche Hände, die von einem menschlichen Kopf gelenkt werden, die höchste Leistungsfähigkeit erzielten“,16 sondern mit der ungleich wichtigeren „Annahme“, daß die Weltdinge, von denen wir umgeben sind, von Menschen entworfen werden und bestimmten menschlichen Maßstäben der Schönheit und Nützlichkeit genügen müssen. An die Stelle des Nutzens ist die Funktion getreten, und das Aussehen der fabrizierten Gegenstände wird vorwiegend von dem Gang der Maschine selbst bestimmt. Die „Grundfunktionen“, die das Maschinenfabrikat immer noch erfüllen muß, sind natürlich Funktionen im Lebensprozeß des Einzelnen und der Gesellschaft, da keine andere „Funktion“ 204 — 205 Hannah Arendt 17 Ebda, S. 38-45. 18 Ebda, S. 110 u. 157. grundsätzlich „notwendig“ ist, so daß das Fabrikat selbst nicht nur Variationen desselben, sondern auch „die Umstellung auf ein absolut neues Produkt“ –, bzw. die Frage, welche Gegenstände denn überhaupt produziert werden sollen, ausschließlich von den Möglichkeiten der Maschinen abhängig wird.17 Gegenstände so zu entwerfen, daß sie maschinell hergestellt werden können, anstatt Maschinen zu erfinden, die sich für die Fabrikation bestimmter Gegenstände eignen, würde nun allerdings die genaue Verkehrung des alten Zweck-Mittel-Verhältnisses bedeuten, wenn diese Kategorie überhaupt noch anwendbar wäre. Aber selbst ein so allgemeiner und vor kurzem noch allgemein anerkannter Zweck der Maschinen, wie die Entlastung menschlicher Arbeitskraft und die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität, gilt heute als überholt und zweitrangig, weil auch er noch den „verblüffenden Steigerungsmöglichkeiten des Leistungspotentials“ unangemessen ist, ja ihnen Grenzen setzen würde, nämlich die natürliche Begrenztheit der menschlichen Konsumfähigkeit.18 Wie die Dinge heute liegen, ist es ebenso sinnlos geworden, diese Maschinenwelt auf ihre Zweckdienlichkeit zu befragen, wie es stets sinnlos gewesen ist, die Natur daraufhin abzufragen, ob sie den Samen hervorbringe, um einen Baum zu erzeugen, oder umgekehrt den Baum hervorgebracht habe, damit er Frucht und Samen trage. Und weil Maschinenprozesse, je automatischer sie werden, desto mehr sich Naturprozessen angleichen, ja weil ihr kontinuierlicher Automatismus überhaupt nur dadurch ermöglicht wurde, daß wir die kreisenden, anfangs- und endlosen, zweckfreien Prozesse der Natur in eine von menschlichen Zwecken bestimmte Welt geleitet haben, ist es durchaus vorstellbar, daß ein voll automatisiertes Maschinenzeitalter, obzwar es vermutlich die Weltlichkeit der Welt als einem Gebilde von Menschenhand vernichten wird, sich als ein ebenso zuverlässiger und grenzenlos produktiver Versorger des Menschengeschlechts herausstellen wird, wie die Natur es war, bevor der Mensch sich ihr „entfremdete“ und eine Welt in ihr errichtete, die ihn behauste und damit eine Schranke bildete zwischen ihm und der Natur. In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die „Welt“ der Maschinen die wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst. In den ersten Stadien ihrer Entwicklung hatte die Welt der Apparaturen, in welche die Neuzeit den arbeitenden Teil der Menschheit hineingeworfen hat, noch einen eminent weltlichen Charakter, insofern das arbeitende Leben sich nun plötzlich in einer Umgebung abspielte, die wesentlich von dem eigenständigen, jede Tätigkeit überdauernden Dasein der Werkzeuge und Geräte bestimmt war; diesen weltlichen Charakter aber hat die moderne Fabrik, die durch den kontinuierlichen, tag- und nachtwährenden Lauf der Maschinen bestimmt ist, bereits verloren. Die Naturprozesse, von denen der Gang der Maschinen gespeist wird, machen ihn mehr und mehr zu einer Abart des Lebensprozesses selbst, und die Apparate, die wir einst frei handhabten, fangen in der Tat an, so zu unserm biologischen Leben zu gehören, daß es ist, als gehöre die menschliche Spezies eben nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art Schaltier zu verwandeln – es kann so aussehen, als ob die Apparate, von denen wir überall umgeben sind, „ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne“. Von diesem die zur Automation drängende Entwicklung der modernen Technik antizipierenden Gesichtspunkt aus „erscheint dann die Technik fast nicht als das Produkt bewußter, menschlicher Bemühung um die Ausbreitung der materiellen Macht, sondern eher als ein biologischer Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist.“19 Die Rolle des Instrumentalen für das Herstellen 19 Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, 1955, S. 14/5. Die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber für sein Herstellen und Fabrizieren benötigt und entwirft, stecken das Feld ab, in welchem Zweckdienlichkeit und das rechte Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken ursprünglich erfahren werden. Hier stimmt wirklich, daß der Zweck die Mittel rechtfertigt; er tut sogar noch erheblich mehr für sie, er produziert sie nämlich überhaupt erst und organisiert sie. Der Zweck rechtfertigt die Gewalt, die der Natur angetan wird, wenn man Material aus ihr gewinnen will, wie das Holz das Fällen des Baumes rechtfertigt, wie der Tisch schließlich die nochmalige Zerstörung des Materials, das Zersägen des Holzes, rechtfertigt. Um des bezweckten Gegenstandes willen aber werden auch Werkzeuge nur entworfen, Geräte hergestellt, und der gleiche Endzweck organisiert noch den Herstellungsprozeß selbst, entscheidet darüber, welche Fachleute in ihm zusammenarbeiten sollen, wie viele Leute man zu den ungelernten Arbeiten braucht usw. Auch während des Herstellungsprozesses wird alles danach beurteilt und entschieden, ob es dem Endzweck angemessen und für ihn von Nutzen ist. Der gleiche Maßstab der Zweckdienlichkeit wird an das Produkt dieses Vorgangs, den hergestellten Gegenstand, angelegt. Zwar ist das Fertigfabrikat ein Zweck mit Bezug auf die Mittel, durch die es hergestellt wurde, und so der Endzweck des Herstellens selbst; dennoch wird es, wenn es fertig ist, kein „Zweck an sich“, jedenfalls nicht, solange es ein Gebrauchsgegenstand bleibt. Der Stuhl, der für die Tätigkeit des Tischlers ein Endzweck war – nämlich der Zweck, der, wenn er erreicht ist, seiner Tätigkeit ein Ende setzt –, ist in der Welt, in die er eintritt, wenn er die Tischlerwerkstatt verläßt, wieder eine Art Mittel; er muß benutzt werden und kann seinen Nutzen nur dadurch beweisen, daß er einem neuen Zweck dient, sei es dem, das Leben bequemer zu machen, oder, 206 — 207 Hannah Arendt 20 Wille zur Macht, Aphorismus 666. als Tauschmittel in der Warenzirkulation zu fungieren. Alles, was ist, an seinem Nutzen zu messen und in seiner Zweckdienlichkeit zu beurteilen, liegt im Wesen des Herstellens, aber die Schwierigkeit, mit den Urteilsmaßstäben dieser Tätigkeit in der Welt auszukommen, liegt darin, daß die Zweck-Mittel-Kategorie, auf der sie beruhen, unbegrenzt anwendbar ist und eine Kette ohne Ende erzeugt, in welcher sich jeder erreichte Zweck immer sofort wieder in ein Mittel in einem anderen Zusammenhang auflöst. Jede wirklich durch und durch, konsequent utilitaristisch organisierte Welt befindet sich, wie Nietzsche gelegentlich bemerkte, in einem „Zweckprogressus in infinitum“.20 Theoretisch kann man diese Aporie des konsequenten Utilitarismus, der die eigentliche Weltanschauung von Homo faber ist, als eine ihm inhärente Unfähigkeit diagnostizieren, den Unterschied zwischen dem Nutzen und dem Sinn einer Sache zu verstehen, den wir sprachlich ausdrücken, wenn wir dazwischen unterscheiden, ob wir etwas im Modus des „Umzu“ oder des „Um-willen“ tun. So ist das Ideal des Nutzens selbst, das dem Tun in einer Handwerksgesellschaft vorschwebt – wie das Ideal der Bequemlichkeit in einer Arbeitsgesellschaft oder das Ideal des Erwerbs in einer kommerziellen Gesellschaftsordnung –, nicht mehr vom Nutzen her zu entscheiden; es ist nicht die Antwort auf eine Zweckfrage, sondern auf die Frage nach dem Sinn des Tuns. Um des Ideals der Nützlichkeit willen, das ihn in seinem Tun leitet, tut Homo faber alles, was er betreibt, in der Form des Um-zu, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das Ideal des Nutzens selbst kann nicht mehr damit erklärt werden, daß es „nützlich“ sei; über seinen eigenen Nutzen und Zweck befragt, muß es die Auskunft verweigern. Denn es gibt keine Antwort innerhalb dieser Kategorien auf die Frage, die Lessing einmal den utilitaristischen Philosophien seiner Zeit stellte: „Und was ist der Nutzen des Nutzens?“ Die Aporie des Utilitarismus besteht darin, daß er in dem Zweckprogressus ad infinitum hoffnungslos gefangen ist, ohne je das Prinzip finden zu können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den Nutzen selbst. Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche Inhalt des Um-willen geworden – was nur eine andere Art ist zu sagen, daß, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird. Innerhalb der Zweck-Mittel-Kategorie und ihres Erfahrungsfeldes, in dem die gesamte Welt von Gebrauchsgegenständen und der Nützlichkeit überhaupt lokalisiert ist, gibt es keine Möglichkeit, den Zweckprogressus zu durchbrechen und zu verhindern, daß alle Zwecke schließlich wieder zu Mitteln für weitere Zwecke werden, es sei denn, man deklariere eines dieser Dinge zu einem „Zweck an sich“. In der Welt von Homo faber, wo alles seinen Nutzen beweisen muß und daher als ein Mittel gebraucht wird, um etwas anderes, als es selbst ist, zu erreichen, kann Sinn nur als ein Zweck verstanden werden, und zwar als ein Endzweck, bzw. ein „Zweck an sich“, also etwas, was entweder tautologisch allen Zwecken zukommt, nämlich wenn man sie vom Standpunkt des Herstellers ansieht, oder ein Widerspruch in sich selbst ist. Denn ein Zweck, der erreicht ist, hört ja damit auf, ein Zweck zu sein; er hat seine Fähigkeit verloren, die Auswahl bestimmter Mittel zu indizieren, sie zu rechtfertigen, sie zu organisieren und zu produzieren. Der hergestellte Gegenstand war ein Zweck nur, solange er noch nicht fertig war; als Fertigfabrikat ist er ein Gegenstand unter anderen Gegenständen, ein Objekt mehr in dem gewaltigen Arsenal des Vorliegenden, aus dem Homo faber sich frei seine Mittel wählt, um seine Zwecke zu erreichen. Ein Sinn muß dagegen beständig sein, und er darf von seinem Charakter nichts verlieren, wenn er sich erfüllt, oder besser, wenn er dem Menschen in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und ihm entgeht. Homo faber, d. h. der Mensch, sofern er ein herstellendes Wesen ist und keine anderen Kategorien kennt als die Zweck-Mittel-Kategorie, die sich unmittelbar aus seiner Werktätigkeit ergibt, ist genau so unfähig, Sinn zu verstehen, wie das Animal laborans, d. h. der Mensch, sofern er ein arbeitendes Lebewesen und nichts anderes ist, unfähig ist, Zweckhaftigkeit zu verstehen. Und so wie die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber nur benutzt, um eine Welt zu errichten, für das Animal laborans stellvertretend für die Welt und Weltlichkeit überhaupt werden, so wird die Sinnhaftigkeit dieser Welt, die den Verstand von Homo faber übersteigt, für ihn das Paradox eines „Zwecks an sich“ oder eines Endzwecks. Was das utilitaristische Denken selbst anlangt, so gibt es für dieses keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma der Sinnlosigkeit, als der objektiven Welt der Gebrauchsgegenstände den Rücken zu wenden und sich auf die Subjektivität des Brauchens selbst zurückzuziehen. Nur in einer absolut anthropozentrisch geordneten Welt, in der der Mensch selbst als Gebrauchender der Endzweck ist, der den endlosen Zweckprogressus zum Halten bringt kann der Nutzen als solcher zu einer Bedeutung kommen, die dem Sinn nahekommt. Aber wenn dies geschieht, setzt die Tragödie ein; sobald nämlich Homo faber eine seiner eigenen Tätigkeit immanente Sinnerfüllung gefunden hat, beginnt er auch bereits, die Dingwelt, den Zweck seines Sinnens und das Erzeugnis seiner Hände, zu degradieren; wenn der Mensch, insofern er Hergestelltes braucht und nutzt, das „Maß aller Dinge“ ist, dann ist nicht nur die Natur, die Homo faber ohnehin als bloßes Material für Herzustellendes betrachtet und behandelt, sondern sind die „wertvollen“ Dinge selbst zu Mitteln geworden und haben ihren eigenen immanenten „Wert“ verloren. In der Kantischen Formulierung, daß kein Mensch je Mittel zum Zweck sein darf, daß jeder Mensch vielmehr einen Endzweck, einen Zweck an sich darstelle, hat der anthropozentrische Utilitarismus von Homo faber seinen größten und großartigsten Ausdruck gefunden. Zwar finden wir bereits vor Kant eine gewisse Einsicht davon, zu welch furchtbaren Konsequenzen ein ungehindertes und kritikloses Denken im Begriff der Zweck-Mittel-Kategorie auf dem Gebiet des Politischen führen muß (so z. B. bei Locke, der immer wieder darauf hinweist, daß niemandem erlaubt werden dürfe, eines 208 — 209 Hannah Arendt 21 Kritik der Urteilskraft, § 2. 22 Ebda., §§ 83 u. 84. 23 Dritter Band des Kapitals, Marx-Engels-Gesamtausgabe, S. 698. anderen Menschen Körper zu besitzen oder seine Körperkraft auszunutzen); aber erst in der Kantischen Philosophie haben diese frühen Einsichten einen begrifflich adäquaten Ausdruck gefunden und eine Tiefe erreicht, mit der sich das Niveau „mittelmäßiger Verständer“ nicht vergleichen läßt, das Nietzsche zu Unrecht den „braven Engelländern“ zuschreibt, weil es in Wahrheit überall da vorherrscht, wo Homo faber die Maßstäbe bestimmt. Der Unterschied zwischen Kant und seinen Vorläufern ist offenbar; Kant wollte ja keineswegs die Grundsätze des Utilitarismus formulieren und zum Begriff erheben, sondern im Gegenteil die Zweck-Mittel-Kategorie auf den ihr gehörigen Platz verweisen, um zu verhindern, daß sie im Feld politischen Handelns zur Anwendung komme. Dennoch können seine Formulierungen in der „Kritik der praktischen Vernunft“ ihren Ursprung aus utilitaristischem Denken genau so wenig verleugnen, wie die berühmte und ebenfalls paradoxe Formel, mit der er in der „Kritik der Urteilskraft“ den Umgang mit den einzigen Dingen, die nicht Gebrauchsgegenstände sind, nämlich mit Kunstwerken, festlegt, an denen wir „ein Wohlgefallen ohne alles Interesse“ nehmen.21 Denn der gleiche Gedanke, der den Menschen als einen Zweck an sich etabliert, macht ihn auch zum „betitelten Herrn der Natur“, der seinem Dasein, „soviel er vermag, die ganze Natur unterwerfen kann“,22 nämlich jederzeit die Natur wie die Welt zu Mitteln seines Daseins machen und sie der ihnen zukommenden Eigenständigkeit für seine Zwecke berauben darf. Auch Kant konnte die Aporie des utilitaristischen Denkens nicht lösen und die Blindheit, mit der Homo faber dem Sinnproblem gegenübersteht, nicht heilen, ohne einen paradoxen Endzweck anzusetzen. Die Aporie hat ihren Grund darin, daß zwar nur das Herstellen und sein Zweck-Mittel-Denken fähig ist, eine Welt zu errichten, daß aber diese selbe Welt sofort so „wertlos“ wird wie das zu ihrer Errichtung verwendete Material, ein bloßes Mittel für nie abreißende Zwecke, sobald man versucht, die gleichen Maßstäbe in der fertigen Welt zur Geltung zu bringen, die unerläßlich alles Tun leiten, das Weltliches erst einmal entstehen läßt. Sofern der Mensch Homo faber ist, kennt er nichts als seine vorgefaßten Zwecke, zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert, so daß schließlich unter seiner Herrschaft nicht nur die hergestellten Dinge, sondern „die Erde überhaupt, wie alle Naturkraft, keinen Wert [haben], weil sie keine in [ihnen] vergegenständlichte Arbeit darstellen“.23 Weil die Griechen das wußten, haben sie in ihrer klassischen Zeit das gesamte Gebiet der Herstellung, des Handwerks und der bildenden Künste, wo keine Tätigkeit um ihrer selbst willen vor sich geht und jeder Handgriff schon ein Mittel für einen Zweck darstellt, unter das Verdikt des Banausischen gestellt und der Verachtung preisgegeben. Die Konsequenz dieser Gesinnung, die offenbar nichts so fürchtete wie das Vulgäre und das Zielstrebige, muß uns immer wieder in Erstaunen setzen, wenn wir bedenken, wie groß die bildenden Künstler und Architekten waren, die unter dies Verdikt fielen. Worum es sich hier handelt, ist natürlich nicht die Zweckdienlichkeit als solche, der Gebrauch von Mitteln für einen bestimmten Zweck, sondern vielmehr die Verallgemeinerung der für die Herstellung gültigen Erfahrungen, in welcher Nutzen und Nützlichkeit die eigentlichen Maßstäbe für das Leben und die Welt der Menschen werden. Auch diese Verallgemeinerung liegt noch im Wesen der herstellenden Tätigkeit, weil die ZweckMittel-Erfahrungen, die dem Herstellen inhärent sind, nicht einfach verschwinden, wenn der Zweck erreicht und der Gegenstand hergestellt ist, sondern diesen fertigen Gegenstand weiterhin begleiten, wenn er sein neues Dasein als ein Gebrauchsding antritt. Nicht der Herstellungsprozeß als solcher verursacht die Degradierung aller Welt- und Naturdinge zu bloßen Mitteln, die unaufhaltsame Entwertung alles Vorhandenen, das Anwachsen der Sinnlosigkeit, in dessen Prozeß alle Zwecke verschlungen werden, um wieder als Mittel zu dienen, und der auch den Menschen verschlingen würde, wenn man ihn nicht zu einem Endzweck deklariert hätte, der nun desto freier alles, was er selbst nicht ist, für seine Zwecke als Mittel verwenden und degradieren darf; denn vom Standpunkt des Herstellungsprozesses selbst ist das Endprodukt genau so ein Selbstzweck, ein unabhängig autonom Seiendes, wie der Mensch der Endzweck in Kants politischer Philosophie ist. Nur weil das Herstellen vorwiegend Gebrauchsgegenstände herstellt, kann das Endprodukt wieder zu einem Mittel, nämlich einem Gebrauchsmittel, werden, und nur insofern der Lebensprozeß sich der Gegenstände bemächtigt und sie für seine Zwecke benutzt, kann die produktive und limitierte Zweckhaftigkeit des Herstellers umschlagen in die unbegrenzte Zweckdienlichkeit, die sich aller Dinge, die nur überhaupt sind, als Mittel bemächtigt. 24 Siehe Theatet 152 und Cratylus 385E. – Der Satz des Protagoras lautet fast übereinstimmend: πάντων χρημάτων μέτρον άνδρωπον είναι, των μεν όντων ως έστι, των δε μη όντων ως ουχ εοτιν. Das Wort χρήματα, von χράομαι, bezeichnet aber nicht so sehr „alle Dinge“ als „alles Brauchbare“ unter den Dingen; es bezieht sich auf den Menschen und seine Bedürfnisse. Hätte Protagoras sagen wollen: Aller Dinge Maß ist der Mensch, so hätte er dies auf griechisch eher durch ein άνζρωπος μτερον πάντων ausgedrückt, so wie auch Heraklit einfach sagt: πόλεμος πατήρ πάντών, „Streit (oder was immer πόλεμο hier heißt), ist der Vater aller Dinge“. DielsKranz: Vorsokratiker, Fragm. B1. Daß den Griechen diese Entwertung der Welt und der Natur mit dem ihr inhärenten Anthropozentrismus – der „absurden“ Meinung, daß der Mensch das höchste Seiende sei, dessen Dasein alles sonst Seiende untertan sein müsse (Aristoteles) – unheimlich war, liegt ebenso klar zutage, wie daß sie die einfache Vulgarität einer konsequent utilitaristischen Gesinnung verachteten. Wie sehr sie sich der Folgen einer Gesinnung bewußt waren, die in Homo faber die höchste Möglichkeit des Menschen ansetzt, läßt sich vielleicht am besten an Platos berühmtem Streit mit Protagoras exemplifizieren, der die anscheinend selbstverständliche Feststellung gemacht hatte, daß „der Mensch das Maß aller Gebrauchsdinge (χρήματα) ist, derer, die sind, und derer, die nicht sind“.24 Denn Protagoras hat offenbar niemals gesagt, daß der Mensch das Maß aller Dinge schlechthin sei, wie die Überlieferung und die Standardübersetzungen es ihm unterschieben. Aber − und dies, scheint mir, ist der entscheidende Punkt − Plato hat, obwohl Protagoras nur von Gebrauchsdingen spricht, die sich ja selbstverständlich in ihrem Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein nach den sie brauchenden Menschen richten, sofort gesehen, daß dies auf Grund der Eigentümlichkeiten menschlicher Bedürfnisse dazu führen muß, daß nun der Mensch 210 — 211 Hannah Arendt 25 In den Gesetzen, 716D, zitiert Plato noch einmal den Satz des Protagoras, nur daß hier an die Stelle des Wortes άνζρωπος der Gott ό ζεός tritt. in der Tat das Maß aller Dinge wird. Denn wenn man vom Menschen als dem Maß der Gebrauchsdinge spricht, so meint man ja den Menschen, der braucht, benutzt und als Mittel verwendet, und nicht den Menschen, insofern er spricht und handelt und denkt; macht man ihn zum Maß der Gebrauchsdinge, so wird er sich schwerlich davon abhalten lassen, alle Dinge für seinen Gebrauch zu reklamieren, das heißt, alles als ein Mittel für einen möglichen Zweck zu betrachten, in jedem Baum schon das Holz zu sehen, und sich so zum Maßstab nicht nur der Dinge zu machen, deren Sein oder Nichtsein in der Tat von ihm abhängen, sondern von allem Vorhandenen überhaupt. In der Platonischen Deutung klingt das, was Protagoras zu sagen hat, wie eine erste Vorwegnahme Kantischer Philosophie, denn wenn man den Menschen als das Maß aller Dinge ansetzt, so hat man ihn als dasjenige bestimmt, was selbst außerhalb des Zweckprogressus ad inifinitum, außerhalb der Kette verbleibt, in der notwendigerweise jeder Zweck wieder zu einem Mittel wird, eben als den Endzweck, der, selbst niemals Mittel, sich alles Bestehende für seine Zwecke untertan macht. Aber im Unterschied zu anderen Maßstäben, deren Wesen sich darin erschöpft, außerhalb des Meßbaren und zu Messenden als ein Selbiges zu verbleiben, ist der Mensch, der hier als Maßstab gilt, ein lebendiges und lebendig unbegrenzbares Wesen, dessen Produktionsmöglichkeiten so wenig ein für allemal festgelegt sind wie seine Wünsche und Geschicklichkeiten. Erlaubt man dem Menschen in seinem Brauchen und Gebrauchen der fertigen Welt sich der gleichen Maßstäbe zu bedienen, die unerläßlich waren für ihre Entstehung, sieht man, mit anderen Worten, in Homo faber nicht nur den Hersteller, sondern auch den Bewohner und Herrn der Welt, so wird er in der Tat alles in seinen Gebrauch nehmen und es entweder als ein Mittel für neue Zwecke oder als ein Mittel für sich selbst betrachten und verwerten. Dann wird es nichts mehr geben, was nicht ein Gebrauchsgegenstand, ein der Klasse der χρήματα angehöriges Ding ist, und − um Platos Beispiel zu folgen − der Wind wird nicht mehr als eine eigenständige Naturkraft die menschliche Welt durchwehen, sondern nur noch im Rahmen menschlicher Bedürfnisse als etwas, das erfrischt oder wärmt oder kältet, erfahren werden − was für Plato nichts anderes bedeutet, als daß der Mensch seine Fähigkeit, das Dasein des Windes als ein natürlich Vorhandenes zu erfahren, eingebüßt hat. An diese Konsequenzen rührt Platos Polemik gegen Protagoras, und es ist, um sie abzuwehren, daß er in den „Gesetzen“ schließlich die paradox klingende Gegenformulierung wagt: Nicht der Mensch − der vermöge seiner Wünsche und Geschicklichkeit alles brauchen und gebrauchen kann und daher dabei enden muß, alles Vorhandene nur als Mittel zu nutzen − sondern „ein Gott ist das Maß [selbst] aller Gebrauchsdinge“.25 Die Beständigkeit der Welt und das Kunstwerk Zu den Dingen, die der Welt, dem Gebilde von Menschenhand, die Stabilität verleihen, die sie geeignet macht, den unstabilsten Wesen, die wir kennen, sterblichen Menschen, eine irdische Behausung zu bieten, gehören auch eine Anzahl von Gegenständen, die überhaupt keinen Nutzen aufweisen und dazu noch so einmalig sind, daß sie prinzipiell unvertauschbar sind, also überhaupt keinen „Wert“ besitzen, den man in Geld ausdrücken oder sonst auf einen Generalnenner bringen könnte. Wenn sie auf dem Markt erscheinen, erzielen sie zwar auch Preise, aber diese Preise stehen überhaupt in keinerlei Verhältnis mehr zu ihrem „Wert“, sie sind ganz und gar willkürlich. Auch ist die angemessene Art des Umgangs mit den Dingen, die wir Kunstwerke nennen, sicher nicht das Brauchen und Gebrauchen; vor diesem müssen sie vielmehr sorgfältig bewahrt und daher aus dem Gesamtzusammenhang der gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände entfernt werden, um den ihnen gemäßen Platz in der Welt einnehmen zu können. So müssen sie auch den täglichen Bedürfnissen und Notdürften des Lebens entrückt werden, mit denen sie weniger in Berührung kommen als irgendein anderes Ding. Ob nun diese Nutzlosigkeit von Kunstdingen immer bestanden hat oder ob in früher Zeit die Kunst den sogenannten religiösen Bedürfnissen des Menschen in der gleichen Weise gedient hat und auf sie in der gleichen Weise zugeschnitten war wie Gebrauchsgegenstände auf das alltägliche Brauchen, spielt hierfür keine Rolle. Denn selbst wenn es stimmen sollte, daß der geschichtliche Ursprung der Kunst ausschließlich religiöser oder mythischer Natur wäre, so bliebe doch immer noch die Tatsache bestehen, daß die Kunst die Ablösung von Zauber, Religion und Mythos auf das glorreichste überstanden hat. Kunstwerke sind die beständigsten und darum die weltlichsten aller Dinge. Der zersetzende Einfluß, den Naturprozesse auf alles Gegenständliche ausüben, bleibt nahezu ohne Wirkung auf sie, weil sie nicht dem Gebrauch lebendiger Wesen ausgesetzt sind, der sie in ihrer Eigentümlichkeit nur zerstören könnte, und nicht, wie im Falle von Gebrauchsgegenständen, eine ihnen inhärente Möglichkeit verwirklichen würden. In dem Sinne, in dem der Zweck eines Stuhles nur verwirklicht ist, wenn jemand auf ihm sitzt, gibt es überhaupt keinen Zweck, den ein Kunstwerk erfüllt. Daher unterscheidet sich seine Dauerhaftigkeit nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von der Stabilität, deren alle Dinge für ihre Existenz bedürfen; seine Beständigkeit ist so ungemeiner Art, daß es unter Umständen durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch den sich ändernden Bestand der Welt zu begleiten vermag. „Über dem Wandel und Gang/ Höher und freier / Währt noch dein Lobgesang/ Gott mit der Leier“ (Rilke). Und in diesem Währen des Beständigen tritt die Weltlichkeit der Welt, die als solche niemals absolut sein kann, weil sie von Sterblichen bewohnt und benutzt wird, selbst in Erscheinung, ja in ein 212 — 213 Hannah Arendt Leuchten, in dessen Glanz auch der Wandel und Gang aufleuchtet. Was hier aufleuchtet, ist die sonst in der Dingwelt, trotz ihrer relativen Dauerhaftigkeit, nie rein und klar erscheinende Beständigkeit der Welt, das Währen selbst, in dem sterbliche Menschen eine nicht-sterbliche Heimat finden. Es ist, als würde in dem Währen des Kunstwerks das weltlich Dauerhafte transparent, und als offenbare sich hinter ihm ein Wink möglichen Unsterblichseins − nicht etwa der Unsterblichkeit der Seele oder des Lebens, sondern dessen, was sterbliche Hände gemacht haben; und das Ergreifende dieses Tatbestands ist, daß er nicht eine sehnende Regung des Gemüts ist, sondern im Gegenteil greifbar und den Sinnen gegenwärtig vorliegt, leuchtend, um gesehen zu werden, tönend, um gehört zu werden, in die Welt noch hineinsprechend aus den Zeilen des gelesenen Buches. Wenn Gebrauchsgegenstände ihre Existenz der menschlichen Geschicklichkeit verdanken, Gegenständliches zu brauchen und zu nutzen, wenn Waren ihre Existenz der menschlichen „Neigung zum Tauschen und Einhandeln“ (Smith) schulden, dann entstehen Kunstwerke aus der menschlichen Fähigkeit, zu denken und zu sinnen. Alles dies sind wirkliche Fähigkeiten des Menschen, und nicht bloß Attribute eines der Gattung Mensch angehörenden Lebewesens, wie Gefühle, Bedürfnisse und Triebe, auf die sie sich allerdings beziehen können und die oft ihren eigentlichen Inhalt bilden. Die dem menschlichen Lebewesen eigentümlichen Attribute haben so wenig zu tun mit der Welt, die sich der Mensch als seine Heimat auf der Erde errichtet, wie die entsprechenden Attribute anderer Lebewesen, und wollte man die weltliche Umgebung des Menschen auf sie zurückführen, so wäre diese Umgebung, wie die tierische, nicht eigentlich weltlich, d. h. sie wäre, wie das Netz der Spinne oder die Seide des Seidenwurms, nicht Kreation, sondern Emanation. Sofern das Denken sich auf Gefühle bezieht, verwandelt es bereits die verschlossene Stummheit schieren Fühlens, nicht anders als Tauschen die nackte Gier der Begehrlichkeit verwandelt und das Brauchen die getriebene Notdurft des Bedürfens transformiert − bis sie sich schließlich alle der Welt eignen, weil sie bereit sind, vorbereitet gleichsam, sich auf Gegenstände zu richten und im dinglichen Bestand der Welt ihre Erfüllung und Begrenzung zu erfahren. In jedem dieser Fälle transzendiert eine ihrem Wesen nach weltoffene und weltbezogene Fähigkeit die leidenschaftliche Intensität eines bloßen Gefühls oder Triebs oder Dranges und befreit sie dadurch aus dem Gefängnis des bloßen Bewußtseins, d. h. eines nur sich selbst fühlenden Selbsts, in die Weite der Welt. Alles Verdinglichen ist Verwandlung und Transformation, aber die vergegenständlichende Verdinglichung, die das Kunstwerk dem ihm zugrunde liegenden Inhalt zufügt, ist eine Transfiguration, eine Metamorphose so radikaler Art, daß es ist, als könne in ihm der natürliche Lauf der Dinge umgekehrt werden − als gäbe es Gebilde, die aus so „unbeschreiblicher Verwandlung stammen“, daß die Flammen des Herzens, in sie gerettet, 26 Der Text benutzt ein Gedicht von Rilke, das unter dem Titel „Magie“ diese Transfiguration der Kunst beschreibt. Es lautet: „Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen/solche Gebilde − : Fühl! und glaub!/ Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen,/ doch, in der Kunst: zu Flamme wird der Staub. Hier ist Magie. In das [sic!] Bereich des Zaubers/ scheint das gemeine Wort hinaufgestuft…/ und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,/ der nach der unsichtbaren Taube ruft. (Aus Taschen-Büchern und Merk-Blättern, 1950). nicht mehr zu Asche werden, ja daß noch der Staub der Vergänglichkeit in ein immerwährendes Feuer entflammt.26 Das, was das leuchtende Feuer in das Kunstwerk bannt, ist das sinnende Denken, aber obwohl Kunstwerke Gedankendinge sind, sind sie doch wesentlich Dinge wie andere Dinge auch. Das sinnende Denken ist an sich nicht herstellend, und ein Gedankengang produziert so wenig greifbare Dinge − Bücher, Bilder, Statuen, Kompositionen −, wie das alltägliche Brauchen und Gebrauchen von sich aus Häuser oder Möbel herstellt und produziert. Die Verdinglichung, die statthat, wenn ein Gedanke niedergeschrieben, ein Bild gemalt, eine Melodie komponiert, eine Gestalt in Marmor geschlagen wird, steht natürlich mit dem Denken, das ihm vorausging, in ständiger Beziehung; aber das, was den Gedanken realisiert und das Gedankending herstellt, ist die gleiche Werktätigkeit, welche vermöge des Urwerkzeugs, das die menschliche Hand ist, auch alles andere dauerhaft Dingliche der Welt schafft und herstellt. Wir erwähnten bereits in einem anderen Zusammenhang (Kap. III, 12) den hohen Preis, den das Denken und Sinnen, wie das Sprechen und Handeln, dafür zahlen, daß sie durch das herstellende Vergegenständlichen als greifbar wirkliche Dinge in die Dingwelt eingehen; der Preis ist das Leben selbst, da immer nur ein „toter Buchstabe“ überdauern kann, was einen flüchtigen Augenblick lang lebendigster Geist war. Zwar kann auch der tote Buchstabe immer wieder zum Leben erweckt werden, nämlich sobald er wieder mit einem Lebendigen in Berührung kommt, das vermöge des eigenen Lebens den lebendigen Geist spürt, welchen der tote Buchstabe gleichsam verewigt hat; aber auch diese Auferstehung von den Toten teilt das Los aller lebendigen Dinge, aufs neue dem Tod zu verfallen. Es gibt keine Kunsterzeugnisse, die nicht in diesem Sinne unlebendig wären, und ihre Leblosigkeit zeigt den Abstand an, der zwischen der Quelle des Denkens und Sinnens im Herzen oder Hirn des Menschen besteht und der Welt, in die das Gedachte und Ersonnene schließlich entlassen wird. Aber diese Leblosigkeit ist nicht allen Künsten in gleichem Maße zu eigen; sie ist dort am schwächsten, wo die herstellende Verdinglichung am wenigsten an Material im eigentlichen Sinne gebunden ist, also in der Musik und der Dichtung, deren „Material“ Worte und Töne sind, mit denen umzugehen ein Minimum an Materialkenntnis und Werkerfahrung erfordert. Darum spielt in der Dichtung die Gestalt des Jünglings eine so große Rolle, und darum gibt es gerade in der Musik, aber weder in den bildenden Künsten noch in der Architektur, das Phänomen des Wunderkinds. Die gewissermaßen menschlichste und unweltlichste der Künste ist die Dichtkunst, deren Material die Sprache selbst ist und deren Produkt dem Denken, das es inspirierte, am nächsten bleibt. Die Dauerhaftigkeit des Gedichts entsteht gleichsam durch Verdichtung; es ist, als wäre ein in äußerster Dichte und Aufmerksamkeit gesprochenes Sprechen in sich bereits „dichterisch“. Das andenkende Erinnern − Mnemosyne, die 214 — 215 Hannah Arendt 27 Wenn der Sprachgebrauch davon spricht, daß man ein Gedicht „macht“ – auch im Französischen sagt man vom Dichten fair des vers und im Englischen to make a poem –, so bezieht sich dies auf die im Dichten bereits stattfindende Verdinglichung. Aber auch das deutsche Dichten stammt aus dem lateinischen dictare und heißt „das ausgesonnene geistig Geschaffene niederschreiben oder zum Niederschreiben vorsagen“ (Grimms Wörterbuch). Kluge-Götz, Etymologisches Wörterbuch (1951), leitet das Wort dichten neuerdings von tichen, einem alten Wort für schaffen ab, was besagen würde, daß es mit dem lateinischen fingere vielleicht zusammenhängt. Auch in diesem Fall ist die eigentliche dichterische Tätigkeit, die das Gedicht herstellt, bevor es niedergeschrieben wird, als eine Art von Verdinglichung vorgestellt. Und in ganz dem gleichen Sinne pries bereits Demokrit den Dichter aller Dichter, Homer, daß er „einen wohlgeordneten Bau mannigfaltiger Verse gezimmert habe“ (Diels-Kranz, B 21). Demokrit griff hier sprachlich nur die gängige griechische Bezeichnung für die Dichter auf, die „Zimmerer von Gesängen“, τέχτωνες υμνων. Mutter aller anderen Musen und Künste − vermag sprachlich so zu konzentrieren, daß das Gedachte sich in etwas verwandelt, was sich unmittelbar dem Gedächtnis einprägt; und auch Rhythmus und Reim, die technischen Mittel der Dichtkunst, stammen noch aus dieser äußersten Konzentration. Die ursprüngliche Nähe des Gedächtnisses zu dem lebendig andenkenden Erinnern ermöglicht es dem Gedicht, auch ohne die Niederschrift in der Welt zu überdauern, und wiewohl die Qualität eines Gedichts von einer Reihe ganz anders gearteter Maßstäbe bestimmt ist, wird doch gerade seine „Einprägsamkeit“ weitgehend darüber entscheiden, ob es sich endgültig im Gedächtnis der Menschheit festsetzen, ihm sich einprägen kann. So bleiben Gedichte, unter den Gedankendingen der Kunst, dem Denken als solchem am engsten verhaftet; sie sind gleichsam die wenigst dinglichen unter den Weltdingen. Aber wenn auch „Dichterworte/ Um des Paradieses Pforte/ Immer leise klopfend schweben/ Sich erbittend ewges Leben“, und wenn es auch wahr ist, daß „in des Ursprungs Tiefe“ sich ein Gedicht einzig bewährt, indem es als „gesprochen Wort“ aus dem Gedächtnis des Dichters oder derer, die ihm zuhören, dringt, als wäre es gerade erst entstanden, so kommt doch immer die Zeit, da auch dies undinglichste aller Dinge „gemacht“ werden muß, niedergeschrieben und verwandelt in ein greifbares Ding unter Dingen, weil lebendige Erinnerung und die Fähigkeit des Gedächtnisses, aus denen alles Verlangen nach Unvergänglichkeit stammt, der Greifbarkeit des Dinglichen bedarf, um sich an ihm festzuhalten und nicht seinerseits dem Vergessen und der Vergänglichkeit zu verfallen. 27 Denken und Erkennen sind nicht dasselbe. Denken, das für das Kunstschaffen die außerhalb seiner selbst liegende Quelle bildet, manifestiert sich direkt in aller großen Philosophie, während Erkennen, das Wissen vermittelt und Gewußtes ansammelt und ordnet, sich in den Wissenschaften niederschlägt. Das Erkennen verfolgt stets ein bestimmtes Ziel, das ihm sowohl praktische Erwägungen wie „müßige Neugier“ gesetzt haben mögen; ist dies Ziel erreicht, so ist der Erkenntnisprozeß an sein Ende gelangt. Denken hingegen hat weder ein Ziel noch einen Zweck außerhalb seiner selbst, und es zeitigt strenggenommen noch nicht einmal Resultate. Daß das Denken wirklich zu nichts nütze ist, haben ihm nicht nur die utilitaristischen Gesinnungen von Homo faber, sondern auch die Männer der Tat und der Wissenschaften oft genug bestätigt; es ist in der Tat so nutzlos wie das von ihm inspirierte Kunstwerk. Und nicht einmal auf diese nutzlosesten aller Dinge kann das Denken als auf von ihm erzeugte Resultate Anspruch erheben, denn man kann im Ernst von den Kunstwerken sowenig wie von den großen philosophischen Systemen behaupten, sie seien durch nichts als durch reines Denken entstanden; gerade den reinen Denkprozeß, den eigentlichen Gedankengang, muß der Künstler, aber auch der schreibende Philosoph, unterbrechen, wenn er das Gedachte so verwandeln will, daß es sich einer schriftlich-verdinglichenden Darstellung eignet. Denken als eine Tätigkeit ist endlos wie das Leben, das es begleitet, und die Frage, ob es einen Sinn hat zu denken, ist genau so unbeantwortbar wie die Frage, ob das Leben einen Sinn habe. Gedankengänge durchdringen das Gesamte menschlicher Existenz, jedes, auch das primitivste menschliche Leben, ist von ihnen gleichsam durchpflügt, und dies Denken hat weder Anfang noch Ende, es sei denn den Anfang, der mit der Geburt, und das Ende, das mit dem Tode gegeben ist. Zu denken ist daher keineswegs das spezifische Vorrecht von Homo faber, obwohl das Sinnen seine höchste weltliche Produktivität inspiriert; aber in diesem höchsten Schaffen, dessen er fähig ist, das sich von Brauchen und Gebrauchen so weit emanzipiert hat, daß es nutzlose Dinge herstellt, ist es auch, als wachse er gleichsam über sich selbst und alle nur auf den Menschen bezogenen Bedürfnisse hinaus, als könne er ohne den Stachel materieller oder intellektueller Antriebe auskommen, als bedürfe er, um der Welt zu dienen, weder des natürlichen Verlangens nach den Gütern der Welt noch des spezifisch menschlichen Durstes, über die Welt Bescheid zu wissen. Das Erkennen hingegen spielt in allen, und nicht nur in den geistigen oder künstlerischen, Herstellungsprozessen, eine ausgezeichnete Rolle. Es hat mit dem Herstellen gemein, daß es ein Prozeß ist mit Anfang und Ende, dessen Nutzen kontrollierbar ist und der, wenn er nicht zu dem gewünschten Resultat führt, eben seinen Zweck verfehlt hat, wie das Tischlern seinen Zweck verfehlt hat, wenn es einen zweibeinigen Tisch hervorbringt. Die Rolle, die das Erkennen in den Wissenschaften spielt, unterscheidet sich grundsätzlich nicht von seiner Funktion im Herstellen; und die wissenschaftlichen Resultate, die durch Erkennen gewonnen werden, können wie alle anderen Dingprodukte der menschlichen Welt hinzugefügt und in ihr untergebracht werden. Was die spezifisch intellektuellen Tätigkeiten anlangt, so muß die logische Verstandestätigkeit noch einmal vom Denken wie vom Erkennen geschieden werden, sofern sie nämlich weder, wie das Denken, der lebendigen Erfahrung noch, wie das Erkennen, eines vorgegebenen Gegenstandes bedarf, um sich zu entfalten. Sowohl das Deduzieren aus Axiomen wie das Subsumieren von Einzelnem unter allgemeinere Regeln wie schließlich die verschiedenen Techniken, durch die der Verstand Ketten in sich stimmiger Schlußfolgerungen gleichsam aus sich herausspinnen kann, sind Tätigkeiten, in denen das menschliche Gehirn eine Art „Kraft“ entfaltet, die der Arbeitskraft, die sich aus dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur ergibt, sehr ähnlich ist. Im Gegensatz zum Denken wie Erkennen ist die Intelligenz, die sich im Logischen bewährt, ein eigentlich physisches Kraft-Phänomen und daher mit IntelligenzTests genauso meßbar, wie Körperkraft mit Hilfe anderer Apparaturen meßbar ist. Die Gesetze, denen logische Prozesse unterworfen sind, sind natürliche Gesetze, die letztlich von nichts anderem abhängen als von der Struktur des menschlichen Gehirns, in dem sie verankert sind. Alles eigentlich Logische übt auf menschliches Denken einen Zwang aus, dem es sich nicht entziehen kann − jedenfalls nicht, solange ein Gehirn 216 — 217 Hannah Arendt normal funktioniert. Aber dieser Zwang, mit dem der Verstand das Denken beherrscht, unterscheidet sich in nichts von dem Zwang, mit dem der Körper das menschliche Leben seiner Notdurft untertan macht. Wäre der Mensch wirklich ein Animal rationale, das sich von anderen Tieren nur durch eine überlegene Intelligenz unterscheidet, dann wären die neuen elektronischen Maschinen, die diese Intelligenz ins Ungeheure steigern, in der Tat jene Homunculi, für die ihre Erfinder sie manchmal zu halten versucht sind. In Wirklichkeit tun auch diese Maschinen nichts anderes, als was Maschinen immer tun: sie ersetzen, verstärken und verbessern die physische Kraftleistung des Menschen, seine Arbeitskraft, die Kraft seiner Muskeln oder die Kraft seines Gehirns. Und das Prinzip, nach dem sie funktionieren, ist das altbewährte Prinzip der Arbeitsteilung, das Aufbrechen komplizierterer Operationen in ihre einfachsten Bestandteile, also z. B. die Rückführung der Multiplikation auf die ihr inhärenten Operationen des Addierens. Das, was die Arbeitsteilung eigentlich attraktiv macht, nämlich daß die Arbeitsleistung durch Beschleunigung produktiver wird, ist auch hier der ausschlaggebende Faktor; nur daß in diesen Intelligenz-Maschinen die Geschwindigkeit, das Tempo, in welchem logische oder rechnerische Prozesse verlaufen, so ungeheuer gesteigert ist, daß auf die alten, gleichsam menschlichen Tricks der Beschleunigung, wie z. B. auf Multiplikation, die ja ihrerseits nur dazu diente, Additionsprozesse zu beschleunigen, verzichtet werden kann. Das einzige, was die Computer, diese ins Gigantische gewachsenen Rechenmaschinen, wirklich beweisen, ist, daß das siebzehnte Jahrhundert unrecht hatte, wenn es mit Hobbes meinte, daß der Verstand, nämlich die Fähigkeit des Schlußfolgerns − das „reckoning with consequences“ −, die höchste und menschlichste aller menschlichen Fähigkeiten ist, und daß das neunzehnte Jahrhundert mit seiner Arbeits- und Lebensphilosophie − mit Marx, Bergson und Nietzsche − im Recht war, wenn es den Verstand für eine bloße Funktion des Lebensprozesses hielt und also das Leben selbst für etwas „Höheres“ als den Verstand. Der bis heute vielfach anhaltende, eigentliche Irrtum dieser neuzeitlichen Entwicklung war natürlich zu glauben, daß Denken und Erkennen ihren eigentlichen Ursprung in diesen animalischen Funktionen eines mit Intelligenz ausgestatteten Lebewesens haben. Offenbar ist, daß diese im Gehirn verankerten Intelligenzprozesse ebenso weltlos, d. h. ebenso außerstande sind, eine Welt zu errichten, wie die anderen physischen Prozesse, durch die das Leben den Menschen zwingt, die zwangsläufigen Prozesse der Arbeit und des Verzehrs. Der auffallendste innere Widerspruch der klassischen politischen Ökonomie, auf den oft aufmerksam gemacht worden ist, besteht darin, daß die gleichen Theoretiker, die so stolz auf ihre konsequent utilitaristische Weltanschauung waren, im Grunde eine ausgesprochene Verachtung für das bloß Nützliche hegten, die sich vor allem darin manifestierte, daß sie auf die Produktion der reinen Konsumgüter, also des Nützlichsten, was es gibt, immer als auf etwas Zweitrangiges herabsahen. Nicht Nützlichkeit, sondern Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit waren die Maßstäbe, die sie in Wirklichkeit anlegten, um Produktivität zu bestimmen. Und dies heißt nichts anderes, als daß sie sich noch im Sinne von Homo faber an der Welt und ihrer Dinglichkeit orientierten, und nicht im Sinne des Animal laborans alle Tätigkeiten auf das Leben und das ihm Notwendige bezogen. Zwar ist die Haltbarkeit alltäglicher Gebrauchsgegenstände relativ und nur ein schwacher Abglanz jener Beständigkeit, welche die weltlichsten aller Dinge, die Kunstwerke, durch die Jahrhunderte hindurch währen läßt; aber auch diese relative Haltbarkeit ist noch eine Abart des währenden Überdauerns (das Plato für etwas Göttliches hielt, weil es sich der Unvergänglichkeit nähert), das jedem Ding qua Ding zukommt. Jedenfalls ist es diese Eigenschaft, die seine Gestalt, seine Erscheinungsform in der Welt bestimmt und damit die Voraussetzung dafür ist, daß es uns schön erscheinen kann oder häßlich. Dabei spielt natürlich die eigentliche Gestalt für alltägliche Gebrauchsgegenstände eine ungleich geringere Rolle als für die dem Gebrauch entrückten Kunstdinge, und der Versuch des modernen Kunstgewerbes, Gebrauchsgegenstände so herzustellen, als wären sie Kunstdinge, hat genug Geschmacklosigkeiten auf dem Gewissen. Aber der Wahrheitskern, der diesen Bemühungen innewohnt, liegt in dem unbestreitbaren Tatbestand, daß jegliches, das überhaupt lange genug währt, um als Form und Gestalt wahrgenommen zu werden, gar nicht anders kann, als sich einer Beurteilung auszusetzen, die nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Erscheinung angeht; und solange wir uns nicht die Augen ausreißen, bzw. uns vorsätzlich der Maßstäbe berauben, die für Sichtbares gelten, können wir gar nicht anders, als alles Dingliche auch danach zu beurteilen, ob es schön ist oder häßlich oder irgend etwas dazwischen. Weil alles Seiende auch erscheint, und nicht erscheinen kann ohne eine ihm eigene Gestalt, gibt es in Wahrheit kein Ding, das nicht das bloße Gebrauchtwerden bereits übersteigt und eine Art von Existenz hat, die jenseits seiner Funktion liegt. Dies gilt nur nicht von den Konsumgütern, die aber in die eigentliche Dingwelt niemals eintreten, weil sie zum Verzehr bestimmt und für den Konsum präpariert sind. (Hier wird infolgedessen jedes Bemühen, sie „schön“ zu machen, unweigerlich zum Kitsch führen, wobei der Kitsch darin besteht, daß „Schönheit“ appetitanregend wirken soll, was dem Wesen des Schönen widerspricht, das gerade das Zugreifen abwehrt und, wo es voll in Erscheinung tritt, jeglichen Umgang mit dem betreffenden Gegenstand verwehrt.) Das jenseits des Funktionellen liegende Sosein eines Dinges ist seine Schönheit oder seine Häßlichkeit, und dies Sosein, im Unterschied zu der Funktion, ist an Erscheinen überhaupt gebunden und damit an Sichtbarkeit in einer öffentlichen Welt. Sofern ein Gegenstand überhaupt in die Welt der Dinge eingeht, transzendiert er bereits die Sphäre des nur Zweckdienlichen, durchbricht, 218 — 219 Hannah Arendt gleichsam auf eigene Faust, den ihm vom menschlichen Gebrauchtwerden diktierten Zweckprogressus ad infinitum. In dieser Dingwelt kann der Maßstab seiner Trefflichkeit nicht mehr seine bloße Nützlichkeit sein, als erfülle ein häßlicher Tisch seinen Zweck genausogut wie ein „schöner“; hier entscheidet sein Aussehen über seine Vortrefflichkeit. Und dies Aussehen ist, platonisch gesprochen, nichts anderes als die mögliche Entsprechung oder Annäherung an das ειδος oder die ιδέα, an das vorgestellte Bild, das dem inneren Auge des Herstellers vorschwebte, als er den Gegenstand fabrizierte, und das als solches schon war, bevor der Herstellungsprozeß begann, andauert, wenn er zum Abschluß gekommen ist, und selbst das Verschwinden durch Verbrauchen oder Zerstörung des in seinem Ebenbilde hergestellten Gegenstandes überdauert. So entzieht sich alles Gestaltete und Geformte in seinem Sosein, auch wenn es dem Gebrauch dient, in gewisser Weise den nur »subjektiven« Bedürfnissen derer, für deren Zwecke es doch hervorgebracht ist, und geht ein in eine von „objektiven“ Maßstäben bestimmte Welt von Gegenständlichem, in der es nicht nur dem Gebrauch dient, sondern auch das Aussehen, die spezifische Qualität, der dinglichen Umwelt bestimmt, in der menschliches Leben sich bewegt. Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet, und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bieten, kann sie nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert, d. h. insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen transzendiert. Wie der Stoffwechsel mit der Natur, also der biologische Lebensprozeß, den der Mensch mit allem Lebendigen gemein hat, sich in der Tätigkeit der Arbeit realisiert, so realisiert sich das spezifisch menschliche Leben, die Zeitspanne, die ihm zwischen Geburt und Tod zugemessen ist, in den Tätigkeiten des Handelns und Sprechens, die immerhin mit dem Leben so viel gemeinsam haben, daß auch sie in sich selbst flüchtig sind und vergänglich. Denn es mag einer noch so „beredt in Worten sein und rüstig in Taten“, weder Worte noch Taten hinterlassen irgendeine Spur in der Welt, nichts zeugt von ihnen, wenn der kurze Augenblick verflogen ist, während dessen sie wie eine Brise oder ein Wind oder ein Sturm durch die Welt strichen und die Herzen von Menschen erschütterten. Ohne die Geräte, die Homo faber entwirft, um die Arbeit zu erleichtern und die Arbeitszeit zu verkürzen, könnte auch menschliches Leben nichts sein als Mühe und Arbeit; ohne die Beständigkeit der Welt, die die den Sterblichen zugemessene Frist auf der Erde überdauert, wären die Geschlechter der Menschen wie Gras und alle Herrlichkeit der Erde wie des Grases Blüte; und ohne die gleichen herstellenden Künste von Homo faber, aber jetzt auf ihrem höchsten Niveau, in der vollen Glorie ihrer reinsten Entfaltung, ohne die Dichter und Geschichtsschreiber, ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend auftraten, bis sie sich so weit gefügt hat, daß einer sie als Geschichte berichten kann, niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben. Insofern aber Sprechen und Handeln die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten der Vita activa sind, ist die Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen nur in dem Maße, als sie diesen in sich flüchtigsten und vergeblichsten Tätigkeiten eine bleibende Stätte sichert, als sie sich dafür eignet, Tätigkeiten zu beherbergen, die nicht nur völlig nutzlos für den Lebensprozeß als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen herstellenden Künste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in ihr hervorgebracht sind. In dieser Hinsicht handelt es sich schwerlich um eine Wahl zwischen Plato und Protagoras oder darum zu entscheiden, ob nun der Mensch oder ein Gott das Maß aller Dinge sei; denn so viel ist sicher, das Maß für die Welt ist nicht die zwingende Lebensnotwendigkeit, die sich in der Arbeit kundgibt, und es kann nicht in dem Reich von Mitteln und Zwecken gefunden werden, das maßgebend ist für die Herstellung der Weltdinge und maßgeblich noch für den Gebrauch, den wir von ihnen machen. 222 — 223 Die Hand1 Richard Sennett 1 Wiederabdruck aus: Richard Sennett: Handwerk. Berlin: BvT 2009. © Berlin Verlag, S. 201-239. 2 So sagt es jedenfalls Raymond Tallis: The Hand: A Philosophical Inquiry in Human Being. Edinburgh 2003, S. 4. 3 Charles Bell: The Hand, Its Mechanisms and Vital Endowments, as Evincing Design. London 1833; dt.: Die menschliche Hand und ihre Eigenschaften, Stuttgart 1836. Es handelt sich um den vierten Band einer Schriftenreihe mit dem Titel The Bridgewater Treatises on the power, wisdom and goodness of God as manifested in the creation; dt: Die Natur, ihre Wunder und Geheimnisse oder Die Bridgewater-Bücher. Technik hat einen schlechten Ruf. Sie kann seelenlos erscheinen. Menschen, die in ihren Händen ein hohes Maß an Übung erreichen, sehen das allerdings nicht so. Für sie ist Technik eng verbunden mit Ausdruck. In diesem Kapitel will ich einen ersten Schritt in der Erforschung dieser Verbindung unternehmen. Vor zwei Jahrhunderten bemerkte Kant einmal, die Hand sei das Fenster zum Geist.2 Die moderne Wissenschaft hat diese Beobachtung vertieft. Von allen menschlichen Gliedern verfügt die Hand über das größte Repertoire unterschiedlicher und willentlich steuerbarer Bewegungen. Die Wissenschaft versucht zu klären, in welcher Weise diese Bewegungen in Verbindung mit dem Greifen und dem Tastsinn unser Denken beeinflussen. Der Verbindung zwischen Hand und Kopf werde ich am Beispiel dreier „Handwerker“ nachgehen, die ihre Hand in beträchtlichem Maße üben müssen: Musiker, Köche und Glasbläser. Eine Handfertigkeit dieser Art ist zwar etwas Besonderes, hat aber auch Implikationen für das normalere Erleben. Die intelligente Hand Wie die Hand menschlich wurde Greifen und Tasten Das Bild der „intelligenten Hand“ erschien in den Wissenschaften bereits 1833, als Charles Bell eine Generation vor Darwin sein Buch The Hand (Die menschliche Hand) veröffentlichte.3 Der fromme Christ Bell glaubte, die Hand sei vom Schöpfer als vollkommenes, seinen Zwecken bestens angepasstes Glied geschaffen worden, wie es für all seine Werke galt. Bell schrieb der Hand eine privilegierte Stellung in der Schöpfung zu und führte diverse Experimente durch, die beweisen sollten, dass unser Gehirn von der Hand vertrauenswürdigere Informationen erhält als von den Augen, die uns oft nur falsche oder irreführende Bilder lieferten. 4 Charles Darwin: The Descent of Man (1879), London 2004; dt.: Die Abstammung des Menschen. Stuttgart 1966, S. 60–63. 5 Frederick Wood Jones: The Principles of Anatomy as Seen in the Hand. Baltimore 1942, S. 298–299. 6 Tallis: The Hand, S. 24. 7 Siehe John Napier: Hands, überarb. von Russell H. Tuttle: Princeton, N. J. 1993, S. 55 ff. Eine ausgezeichnete populärwissenschaftliche Zusammenfassung dieser veränderten Sichtweise findet sich bei Frank R. Wilson: The Hand: How Its Use Shapes the Brain, Language, and Human Culture. New York 1998; dt.: Die Hand – Geniestreich der Evolution: Stuttgart 2000, S. 129–160. Darwin entthronte Bells Überzeugung, wonach die Hand nach Form und Funktion zeitlos sei. In der Evolution, so nahm Darwin an, vergrößerte sich das Gehirn der Affen, als die Arme nicht mehr nur dazu dienten, den Körper in der Bewegung zu stabilisieren.4 Mit wachsender Hirnkapazität lernten unsere menschlichen Vorfahren, mit den Händen Dinge zu halten, über die in den Händen gehaltenen Dinge nachzudenken und diese Dinge schließlich auch zu formen. Der Menschenaffe konnte Werkzeuge machen. Der Mensch macht Kultur. Bis vor kurzem glaubten Evolutionswissenschaftler, dass der Gebrauch der Hand und nicht deren Struktur sich mit der wachsenden Größe des Gehirns veränderte. So schrieb Frederick WoodJones vor einem halben Jahrhundert: „Nicht die Hand ist vollkommen, sondern der gesamte Nervenapparat, der die Bewegungen der Hand auslöst, koordiniert und kontrolliert.“ Und dies habe die Evolution des Homo sapiens ermöglicht.5 Heute wissen wir, dass auch die physische Struktur der Hand sich in der jüngeren Geschichte des Menschen entwickelt hat. Der moderne Philosoph und Arzt Raymond Tallis erklärt die Veränderung zum Teil durch die beim Menschen im Vergleich zum Schimpansen größere Bewegungsfreiheitim Gelenk zwischen Trapezbein und Metakarpalknochen. „Wie beim Schimpansen besteht das Gelenk aus ineinandergreifenden konkaven und konvexen Flächen, die einen Sattel bilden. Der Unterschied zwischen uns und den Schimpansen liegt darin, dass die Teile dieses Gelenks beim Schimpansen enger ineinandergreifen und so die Bewegung behindern, insbesondere die Opposition des Daumens zu den übrigen Fingern.“6 Die Forschung von John Napier und anderen hat gezeigt, dass die physische Gegenstellung des Daumens und der übrigen Finger in der Evolutionvon Homo sapiens immer ausgeprägter wurde und mit sehr feinen Veränderungen jener Knochen einherging, die den Zeigefingerstützen und stärken.7 Diese strukturellen Veränderungen ermöglichten unserer Art die einzigartige körperliche Erfahrung des Greifens. Das Greifen ist eine willentliche Handlung, Ergebnis einer Entscheidung und keine unwillkürliche Bewegung wie der Lidschlag. Die Ethnologin Mary Marzke unterscheidet drei Grundformen des Greifens. Beider ersten fassen wir kleine Gegenstände, indem wir sie zwischen die Spitze des Daumens und die Innenseite des Zeigefingers nehmen. Bei der zweiten wiegen wir einen Gegenstand auf der Handfläche und bewegen ihn mit stoßenden und massierenden Bewegungen des Daumens und der übrigen Finger. (Zwar beherrschen auch fortgeschrittene Primaten diese beiden Griffe, aber sie können sie nicht so gut ausführen wie wir.) Die dritte Grundform ist der Korbgriff, etwa wenn man einen Ball oder andere größere Gegenstände mit dem Daumen und sämtlichen anderen Fingern in der hohlen Hand festhält, und diese Form ist beim Menschen sogar noch höher entwickelt. Der Korbgriff erlaubt es uns, einen Gegenstand fest in der Hand zu halten, während wir ihn mit der anderen Hand bearbeiten. 224 — 225 Richard Sennett 8 Mary Marzke: Evolutionary Development of the Human Thumb, Hand Clinics 8, Nr. 1 (Februar 1992), S. 1–8. Siehe auch Marzke: Precision Grips, Hand Morphology, and Tools, American Journal of Physical Anthropology 102 (1997), S. 91–110. 9 Siehe K. Müller und V.Homberg, Development of Speed of Repetitive Movements in Children…, Neuroscience Letters 144 (1992), S. 57–60. Beherrscht ein Tier wie wir erst einmal diese drei Grundformen des Greifens, übernimmt alles weitere die kulturelle Evolution. Für Marzke erschien Homo faber erstmals auf der Erde, als jemand die Fähigkeit erwarb, Dinge mit sicherem Griff zu halten, um sie zu bearbeiten. „Die meisten Besonderheiten der modernen menschlichen Hand, darunter auch der Daumen, lassen sich mit den Belastungen verbinden …, zu denen es durch den Einsatz dieser Griffformen beim Umgang mit Steinwerkzeugen gekommen sein dürfte.“8 Daraus ergibt sich dann das Nachdenken über die Dinge,die man solcherart im Griff hat. Man sagt von Problemen, dass man sie „im Griff hat“, und ganz allgemein von geistigen Zusammenhängen, dass man sie begreift. In beidem spiegelt sich der evolutionäre Dialog zwischen Hand und Gehirn. Es gibt indessen ein Problem mit dem Greifen, das besondere Bedeutung für Menschen besitzt, die ein hohes Maß an technischer Handfertigkeit entwickeln, die Frage nämlich, wie man loslässt. Wer etwa lernen will, ein Musikinstrument schnell und sauber zu spielen, muss lernen, wie er die Finger auch schnell wieder von der Klaviertaste, der Saite oder der Ventilklappe löst. In ähnlicher Weise müssen wir uns zumindest zeitweise von einem Problem lösen, um es aus der Distanz zu betrachten und uns dann erneut an seine Lösung zu machen. Neuropsychologen glauben heute, dass die physischen und kognitiven Fähigkeiten des Loslassensauch der Fähigkeit des Menschen zugrunde liegen, sich von Ängsten und Zwangshandlungen zu lösen. Das Loslassen besitzt auch zahlreiche ethische Implikationen, etwa wenn wir andere aus unserer Kontrolle – unserem Griff – entlassen. Zu den Mythen um hohe technische Fertigkeiten gehört die Vorstellung, wer technische Meisterschaft erwerbe, müsse einen besonderen Körper besitzen. Soweit es die Hand betrifft, ist diese Vorstellung nicht ganz richtig. Die Fähigkeit etwa, die Finger sehr schnell zu bewegen, liegt bei allen Menschen im Pyramidaltrakt des Gehirns begründet. Jede Hand lässt sich so trainieren, dass Daumen und Zeigefinger im rechten Winkel voneinander abgestreckt werden können. Und während kleine Hände für Cellisten eine wichtige Voraussetzung darstellen, sind sie für Pianisten ein Handicap, das sie allerdings durch entsprechende Techniken ausgleichen können.9 Auch für andere körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten wie die des Chirurgen ist es nicht erforderlich, dass die Hand von Anfang an eine besondere Beschaffenheit besäße. Schon Darwin bemerkte vor langer Zeit, dass physische Begabung einen Ausgangspunkt für das Verhalten von Organismen darstellt und nicht das Ziel. Das gilt sicher auch für die technischen Fertigkeiten der Hand. Griffe entwickeln sich beim Einzelnen in derselben Weise, wie sie sich innerhalb unserer Art entwickelt haben. *** 10 Siehe Charles Sherrington: The Integrative Action of the Nervous System. New York 1906. Der Tastsinn wirft andere Fragen hinsichtlich der intelligenten Hand auf. In der Geschichte der Medizin wie auch der Philosophie gibt es eine lange Debatte über die Frage, ob der Tastsinn dem Gehirn eine andere Art von Sinneseindrücken liefert als das Auge. Es scheint, dass der Tastsinn aufdringliche, „ungebundene“ Daten, das Auge dagegen Bilder liefert, die in einen Rahmen eingebunden sind. Wenn man einen heißen Ofen berührt, erfährt der gesamte Körper plötzlich einen Schock. Einen schmerzhaften Anblick kann man dagegen lindern, indem man die Augen schließt. Vor einem Jahrhundert gab der Biologe Charles Sherrington dieser Diskussion eine neue Richtung. Er erforschte das „aktive Tasten“, wie er es nannte, bei dem die Fingerspitzen bewusst über eine Oberfläche geführt werden. Er sah im Tastsinn einen ebenso aktiven wie reaktiven Sinn.10 Ein Jahrhundert nach Sherrington haben dessen Forschungen eine weitere Wende erfahren. Die Finger können einen Gegenstand auch ohne bewusste Absicht aktiv abtasten, etwa wenn sie nach einem bestimmten Punkt suchen, der das Gehirn anregt nachzudenken. Man spricht hier von „lokalisiertem“ Tasten. Einem Beispiel dafür sind wir bereits begegnet, denn genau so prüfte der mittelalterliche Goldschmied Metalle. Er rollte und drückte die metallene „Erde“ so lange zwischen den Fingerspitzen, bis er auf eine Stelle stieß, die ihm unrein erschien. Aus dieser lokalisierten Sinneswahrnehmung schloss der Goldschmied dann zurück auf die Natur des betreffenden Stoffes. Einen Spezialfall lokalisierten Tastens stellen die Schwielen an den Händen von Menschen dar, die von Berufs wegen manuelle Tätigkeiten verrichten. Im Prinzip sollten die verhornten Hautschichten den Tastsinn beeinträchtigen. In der Praxis stellt sich jedoch der umgekehrte Effekt ein. Da die Schwiele die Nervenenden in der Haut schützt, kann das Tasten zielstrebiger erfolgen. Obwohl wir die Physiologie dieses Vorgangs noch nicht ganz verstehen, gilt doch offenbar: Die Schwiele sensibilisiert die Hand für kleinste räumliche Bereiche und stimuliert das Empfindungsvermögen der Fingerspitzen. Man könnte sagen, die Schwiele leiste für die Hand etwas Ähnliches wie das Zoomobjektiv für die Kamera. Im Blick auf die tierischen Fähigkeiten der Hand glaubte Charles Bell, die verschiedenen Glieder oder Organe besäßen jeweils eigene Nervenbahnen zum Gehirn, so dass die Sinne sich voneinander trennen ließen. Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass diese Vorstellung falsch ist. Ein neuronales Netz, das Auge, Gehirn und Hand verbindet, sorgt vielmehr für eine Integration des Tastens, Greifens und Sehens. So greift das Gehirn beim Betrachten der zweidimensionalen Fotografie eines Balls auf gespeicherte Informationen zurück, die aus der Erfahrung stammen, einen Ball in der Hand zu halten. Die Krümmung der Finger und das von der Hand empfundene Gewicht des Balls helfen dem Gehirn, in drei Dimensionen zu denken und das flache Objekt aufdem Papier als Kugel zu sehen. 226 — 227 Richard Sennett 11 Wilson, Die Hand, S. 115. 12 A. P. Martinich: Hobbes: A Biography. Cambridge 1999. wenn die Handzeichen des Dirigenten dem Ton um einen Augenblick vorausgehen. Gäbe er das Handzeichen für einen Taktschlag genau zum richtigen Zeitpunkt, führte er das Orchester gar nicht, denn der Ton wäre längst gespielt. Die Schläger beim Kricket erhalten gleichfalls den Rat, dem Schlag voraus zu sein. In Beryl Markhams bemerkenswerten Memoiren West with the Night (Westwärts mit der Nacht) findet sich noch ein weiteres Beispiel. Zu einer Zeit, als die Piloten bei ihren Flügen kaum auf Instrumente zurückgreifen konnten, stellte Markham sich bei ihren Flügen durch die afrikanische Nacht vor, sie hätten das geplante Flugmanöver wie einen Steigflug oder eine Kurve bereits hinter sich.13 All diese technischen Meisterleistungen basieren auf dem, was jeder tut, wenn er nach einem Glas greift. Die bislang vollständigste Darstellung der Prehension hat Raymond Tallis gegeben. Er gliedert das Phänomen in vier Dimensionen: Antizipation, wie sie geschieht, wenn die nach einem Glas greifende Hand sich vorweg entsprechend formt; Berührung, wenn das Gehirn Sinnesdaten im Bereich des Tastsinns erhält; sprachliches Erkennen, wenn man den ergriffenen Gegenstand benennt; und schließlich Nachdenken über das, was man getan hat.14 Tallis behauptet nicht, dass all dies bewusst geschehen müsste. Die Orientierung kann auf den Gegenstand fokussiert bleiben. Die Hand weiß genau das, was sie tut. Den vier von Tallis genannten Dimensionen möchte ich noch eine weitere hinzufügen: die Bedeutungen, die sich durch große technische Handfertigkeit entwickeln lassen. Prehension Etwas erfassen Wenn wir sagen, dass wir „etwas erfassen“, so setzt dies physisch voraus, dass wir danach greifen. Wenn wir etwa nach einem Glas greifen, antizipiert die Hand, schon bevor sie die Oberfläche des Glases berührt, dass es sich um einen runden Gegenstand handelt, den sie in vertrauter Weise fassen kann. Der Körper ist zum Greifen bereit, bevor er weiß, ob das, wonach er greift, eiskalt oder kochend heiß ist. Der Fachbegriff für solche Bewegungen, in denender Körper im Vorgriff auf Sinnesdaten agiert und sie antizipiert, lautet „Prehension“. Geistig „erfassen“ wir etwas, wenn wir zum Beispiel eine Gleichung wie a/d= b+ c nicht nur ausführen, sondern auch verstehen. Geistiges Verstehen wie auch physisches Handeln erhalten durch Prehension eine besondere Prägung. Wir warten mit dem Denken nicht, bis alle Informationen beisammen sind, sondern antizipieren die Bedeutung. Prehension signalisiert Aufmerksamkeit, Engagement und Risikobereitschaft im Blick nach vorn. Sie ist das genaue Gegenteil eines vorsichtigen Buchhalters, der keinen einzigen Finger rührt, bis er nicht alle erforderlichen Zahlen beisammenhat. Neugeborene beginnen mit der Prehension schon in der zweiten Lebenswoche, wenn sie etwa nach Spielsachen greifen, die man ihnen vors Gesicht hält. Wegen des Zusammenspiels zwischen Auge und Hand nimmt die Prehension zu, wenn das Kind den Kopf heben kann, da es dann besser sieht, wonach es greift. In den ersten fünf Lebensmonaten entwickelt die Hand des Kindes die neuromuskuläre Fähigkeit, sich unabhängig in Richtung des gesehenen Gegenstands zu bewegen, und in den folgenden fünf Monaten die Fähigkeit, verschiedene Greifpositionen einzunehmen. Beide Fähigkeiten hängen mit der Entwicklung des Pyramidaltrakts zusammen, einer Verbindung zwischen dem primären motorischen Kortex und dem Rückenmark. Gegen Ende des ersten Lebensjahres, so schreibt Frank Wilson, „ist die Hand zur lebenslangen Erkundung bereit“.11 Die sprachlichen Ergebnisse der Prehension illustriert ein Experiment, das der Philosoph Thomas Hobbes mit den Kindern der Familie Cavendish durchführte. Hobbes schickte seine Schützlinge, deren Hauslehrer er war, in ein abgedunkeltes Zimmer, in dem er diverse Gegenstände deponiert hatte, mit denen die Kinder nicht vertraut waren. Nachdem sie die Gegenstände betastet hatten,rief er sie aus dem Zimmer und ließ sie beschreiben, was siemit ihren Händen „gesehen“ hatten. Er stellte fest, dass die Kinder präzisere Ausdrücke benutzten als bei der Beschreibung von Dingen, die sie bei Licht gesehen hatten. Hobbes erklärte dies unter anderem durch den Umstand, dass sie im Dunkeln „nach Bedeutung griffen“ – dieser Reiz half ihnen dann im Hellen, als die unmittelbaren Empfindungen bereits „zerfallen“ waren, treffende Worte zu finden.12 Ein Vorgreifen im Sinne der Prehension schafft Tatsachen, zum Beispiel Tugenden der Hand An der Fingerspitze Wahrhaftigkeit 13 Beryl Markham: West with the Night. London 1984; dt.: Westwärts mit der Nacht. München 1987. 14 Siehe Tallis: The Hand, Elftes Kapitel, insb. S. 329–331. 15 Siehe Shin’ichi Suzuki: Nurtured by Love: A New Approach to Talent Education. Miami, Fl., 1968; dt.: Erziehung ist Liebe: eine neue Erziehungsmethode.< Kassel 1994. Wenn ein Kind ein Streichinstrument zu spielen lernt, weiß es zunächst nicht, wohin es die Finger auf dem Griffbrett setzen soll, um einen bestimmten Ton präzise zu erzeugen. Die nach dem japanischen Musikpädagogen Suzuki Shin’ichi benannte Suzuki-Methode löst dieses Problem durch dünne farbige Plastikstreifen, die auf das Griffbrett geklebt werden. Die junge Geigenschülerin legt den Finger auf diesen farbigen Streifen, um einen bestimmten Ton zu erzielen. Die Methode legt das Schwergewicht von Anfang an auf die Schönheit des Tons oder, wie Suzuki dies nannte, die „Intonierung“, ohne sich um die komplizierten Details der Erzeugung eines schönen Tons zu kümmern. Die Bewegung der Hand wird durch das fest vorgegebene Ziel für die Fingerspitze bestimmt.15 Diese benutzerfreundliche Methode stärkt das individuelle Zutrauen. Schon nach der vierten Stunde kann das Kind ein Kinderlied wie „Twinkle, Twinkle, Little Star“ bestens spielen. Und sie stärkt das gemeinschaftliche Zutrauen, denn ein ganzes Streichorchester aus Siebenjährigen vermag das Kinderlied zu spielen, weil jeder genau weiß, was die Hand zu tun hat. Diese beglückende Zuversicht schwindet allerdings, sobald man die Streifen entfernt. 228 — 229 Richard Sennett Eigentlich sollte man erwarten, dass die eingeschliffene Gewohnheitsich auch auf die Präzision erstreckt und die Finger auf dem nicht mehr markierten Griffbrett genau die Stelle träfen, an denen sich der Streifen befunden hatte. In Wirklichkeit jedoch versagt eine solcherart mechanische Gewohnheit, und das aus einem physischen Grund. Die Suzuki-Methode dehnt die kleinen Hände seitlich am Knöchelkamm, sie sensibilisiert jedoch nicht die Fingerspitze, die letztlich die Saite nach unten drückt. Da die Fingerspitze das Griffbrett nicht kennt, erklingen falsche Töne, sobald die Streifen entfernt werden. In der technischen Fingerfertigkeit ist es wie in der Liebe: Unschuldige Zuversicht führt nicht weit. Eine weitere Komplikation ergibt sich, wenn der Spielende auf das Griffbrett schaut, um zu sehen, wohin er die Fingerspitze setzen soll. Das Auge wird auf dieser glatten schwarzen Fläche keine Antwort finden. Deshalb klingt ein Kinderorchester wie ein jaulender Mob, wenn die Markierungsstreifen abgenommen werden. Das Problem liegt hier in der falschen Sicherheit. Die Schwierigkeiten des musizierenden Kindes erinnern an Victor Weisskopfs Warnung an erwachsene Wissenschaftler und Techniker, der Computer verstehe die Antwort, „aber ich glaube nicht, dass Sie die Antwort verstehen“. Eine weitere Analogie zu den farbigen Markierungen wäre das Rechtschreib- und Grammatikprogramm eines Computerschreibprogramms. Wer es benutzt, lernt nicht, weshalb eine grammatische Konstruktion der anderen vorzuziehen ist. Suzuki war sich des Problems der falschen Sicherheit durchaus bewusst. Er empfahl, die farbigen Streifen zu entfernen, sobald das Kind erlebt hat, welchen Spaß das Musizieren macht. Als musikalischer Autodidakt (sein Interesse an der Musik erwachte, als er Ende der 1940er Jahre eine Aufzeichnung des Ave Maria von Franz Schubert in einer Interpretation von Mischa Elman hörte) wusste Suzuki aus eigener Erfahrung, dass die Wahrhaftigkeit in den Fingerspitzen liegt: Der Tastsinn ist der Richter über den Ton. Auch hier findet sich eine Parallele zur Probe des Goldschmieds, der das Material mit den Fingerspitzen erforscht und so der falschen Sicherheit des ersten Blicks entgeht. Wir möchten wissen, welche Art Wahrheit solche falsche Sicherheit verhindert. In der Musik arbeiten Ohr und Fingerspitze gemeinsam an dieser Probe. Recht trocken ausgedrückt: Der Musiker berührt die Saite in unterschiedlicher Weise, er hört die verschiedenen Wirkungen und sucht dann nach einer Möglichkeit, den gewünschtenTon zu reproduzieren. In der Realität ist dies zuweilen ein schwieriger und schmerzhafter Kampf um die Frage: „Was habe ich da eigentlich gemacht? Wie kann ich es wiederholen?“ Die Fingerspitze ist hier kein bloßes Werkzeug. Bei dieser Art der Berührung sucht man den Rückweg von der Sinneswahrnehmung zum Vorgehen, von der Wirkung zur Ursache. 16 D.W. Winnicott: Playing and Reality. London 1971; dt.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1973; John Bowlby: A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development, London 1988; dt.: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Heidelberg 1995. Was folgt nun daraus für jemanden, der nach diesem Grundsatz handelt? Stellen wir uns einen Jungen vor, der ohne Hilfe farbiger Markierungen darum kämpft, die richtigen Töne zu treffen. Er scheint eine Note ganz genau zu treffen, aber dann sagt ihm das Ohr, dass die nächste mit dieser Fingerstellung gespielte Note schief klingt. Für dieses Problem gibt es einen physischen Grund. Bei allen Streichinstrumenten verkürzt sich die Saite, wenn man sie hinunterdrückt, und entsprechend muss auch der Abstand zwischenden Fingern verkürzt werden. Das Feedback des Ohrs schickt das Signal, dass es einer seitlichen Anpassung am Knöchelkamm bedarf (eine berühmte Übung in den Études von Jean-Pierre Duport erkundet das Wechselspiel zwischen der Verringerung der seitlichen Spannweite und der Aufrechterhaltung der Rundung in der Hand des Cellisten, während sie über alle Saiten und die gesamte Länge des Griffbretts wandert). Durch Versuch und Irrtum mag der Neuling auch ohne Markierungen lernen, wie er den Knöchelkamm zusammenziehen kann, doch eine Lösung ist auch dann nicht in Sicht. Er hält die Hand im rechten Winkel zum Griffbrett, und vielleicht sollte er nun versuchen, die Handfläche in Richtung der Wirbel leicht zu höhlen. Das hilft. Nun trifft er den richtigen Ton, weil die Neigung einen Ausgleich für die unterschiedliche Länge des Zeige- und des Mittelfingers schafft. (Außerdem strafft ein vollkommen rechtwinkliger Ansatz den längeren Mittelfinger.) Doch diese neue Stellung verdirbt die Lösung, die er für das Problem der seitlichen Knöchelstellung gefunden hatte. Und so geht es weiter. Jedes neue Problem beim Spielen korrekter Töne zwingt ihn, die bisherigen Lösungen zu überdenken. Was könnte ein Kind motivieren, einen so anspruchsvollen Weg zu gehen? Eine Psychologenschule behauptet, Motivation basiere auf einer für jegliche menschliche Entwicklung grundlegenden Erfahrung. Das Urereignis der Trennung könne jeden jungenMenschen lehren, neugierig zu sein. Diese Forschungen waren Mitte des 20. Jahrhunderts mit den Namen D.W. Winnicott und John Bowlby verknüpft, zwei Psychologen, die sich für die frühesten menschlichen Erfahrungen der Bindung und der Trennung interessierten, angefangen bei der Loslösung des Säuglings von der Mutterbrust.16 Nach der Volkspsychologie führt der Verlust dieser Bindung zu Angst und Trauer. Die beiden britischen Psychologen wollten zeigen, dass es sich um einen weitaus komplexeren Vorgang handelt. Winnicott behauptete, wenn das Kleinkind nicht mehr eins mit dem Körper der Mutter sei, werde es auf neuartige Weise stimuliert und wende sich nach außen. Bowlby beobachtete in Kinderkrippen Kleinkinder, um herauszufinden, welchen Einfluss Trennung auf den Umgang der Kinder mit unbelebten Objekten hat. Mit größter Sorgfalt beobachtete er alltägliche Aktivitäten, denen man bis dahin kaum Einfluss beigemessen hatte. Für unsere Fragestellung ist ein Aspekt dieser Forschung besonders interessant. 230 — 231 Richard Sennett Beide Psychologen betonten die Energie, die Kleinkinder in „Übergangsobjekte“ investieren – ein Fachausdruck für die menschliche Fähigkeit, sich für Menschen oder materielle Objektezu interessieren, die sich ihrerseits verändern. Als Psychotherapeuten versuchten die Vertreter dieser psychologischen Schule erwachsenen, auf ein kindliches Sicherheitstrauma fixierten Patienten zuhelfen, mit veränderlichen zwischenmenschlichen Beziehungen besser zurechtzukommen. Doch die Idee des „Übergangsobjekts“ macht auch deutlich, was wirklich Neugier auszulösen vermag: eine ungewisse oder instabile Erfahrung. Ein Kind, das mit der Unsicherheit der Erzeugung von Tönen oder dem Erwerb jeder anspruchsvollen Handfertigkeit zu kämpfen hat, bildet jedoch einen Sonderfall, denn es scheint in einen endlosen, kaum strukturierten Prozess verwickelt zu sein, für den es allenfalls vorläufige Lösungen gibt, so dass dem Musiker das Gefühl zunehmender Kontrolle und die emotionale Erfahrung von Sicherheit versagt bleiben. Aber ganz so schlimm ist es denn auch wieder nicht, denn der Musiker muss einem objektiven Maßstab genügen: Er muss den Ton treffen. Wie bei den im ersten Kapitel beschriebenen politischen Vorgaben könnte man behaupten, nur mit festgelegten objektiven Wahrheitsmaßstäben lasse sich ein hohes Maß an technischen Fertigkeiten erwerben. In der Musik brauchte man nur daraufzu verweisen, dass der Glaube an Korrektheit die technische Verbesserung vorantreibt. Aus der Neugier für Übergangsobjekte wird eine Definition dessen, was sie sein sollten. Die Qualität des Klangs ist solch ein Maßstab für Korrektheit – selbst in Suzukis Augen. Deshalb beginnt er bei der Intonierung. Der Glaube an technische Korrektheit und das Streben danach sorgen dann fürden Ausdruck. In der Musik kommt es zu diesem Übergang, wenn die Maßstäbe sich von physischen Ereignissen wie dem Spielen eines guten Tons hin zu stärker ästhetischen Maßstäben wie einer wohlgeformten Phrase entwickeln. Natürlich sagen uns spontane Entdeckungen und glückliche Zufälle, wie ein Musikstück klingen sollte. Dennoch müssen Komponist und Musiker über Kriterien verfügen, mit denen sie glückliche Zufälle erkennen und mit denen sie bestimmen können, welche davon glücklicher sind als andere. Bei der Entwicklung der Technik verwandeln wir Übergangsobjekte in Definitionen, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen. Von Komponisten und Musikern sagt man, sie hörten mit dem „inneren Ohr“, doch diese immaterielle Metapher führt in die Irre. Berühmte Beispiele dafür sind Komponisten wie Arnold Schönberg, die selbst schockiert waren, als sie die Musik hörten, die sie auf dem Blatt komponiert hatten. Gleiches gilt für Musiker. Auch für sie ist das Studium der Partitur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Vorbereitung auf die tatsächliche Darbietung. Der Klang ist der eigentliche Augenblick der Wahrheit. Der Klang ist deshalb auch der Augenblick, in dem der Musiker Fehler erkennt. Als Musizierender spüre ich den Fehler in den Fingerspitzen– und versuche, ihn zu korrigieren. Ich verfüge über Maßstäbe, wie etwas klingen soll, doch meine Wahrhaftigkeit liegt in der schlichten Wahrnehmung, dass ich Fehler mache. In wissenschaftlichen Diskussionen wird diese Wahrnehmung oft auf das Klischee reduziert, wonach man „aus seinen Fehlern lernt“. Die musikalische Technik zeigt, dass die Dinge nicht so einfach sind. Ich muss bereit sein, Fehler zu machen und falsche Noten zu spielen, um sie am Ende richtig spielen zu können. Die Verpflichtung auf solche Wahrhaftigkeit geht der junge Musiker ein, wenn er die Suzuki-Streifen abnimmt. Beim Spielen eines Musikinstruments besitzt die Rückkopplung zwischen Fingerspitze und Handfläche eine merkwürdige Konsequenz: Sie bietet ein festes Fundament für die Entwicklung physischer Sicherheit. Ein Üben, das auf Fehler an der Fingerspitze sogleich reagiert, steigert das Selbstvertrauen. Vermag der Musiker etwas mehr als ein Mal korrekt zu tun, hat er keine Angst mehr vor Fehlern. Und zugleich besitzt er damit einen Gegenstand, über den er nachdenken und den er durch Variation im Blick auf Gleichheit oder Unterschiede erkunden kann. Das Üben wird so zu einer Geschichte statt zu bloßer Wiederholung. Die hart erarbeiteten Bewegungen prägen sich dem Körper immer tiefer ein, und der Spieler erwirbt Schritt für Schritt immer größere Fertigkeiten. Bei der Markierung durch die Streifen wird das Üben dagegen bald langweilig, weil hier ein und dasselbe ständig wiederholt wird. Da wundertes nicht, wenn die Handfertigkeit unter diesen Bedingungen eher abnimmt. Die Angst vor Fehlern zu verringern ist in unserer Kunst von größter Bedeutung, da der Musiker auf der Bühne nicht gelähmt einhalten kann, wenn er einen Fehler macht. Bei der Darbietung von Musik ist die Zuversicht, dass man sich von einem Fehler erholen wird, kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine erlernte Fähigkeit. Die Entwicklung der musikalischen Technik erweist sich demnach als Wechselspiel zwischen korrektem Spiel und der Bereitschaft, zu experimentieren und dabei Fehler zu machen. Die beiden Seiten lassen sich nicht voneinander trennen. Wenn man einem jungen Musiker nur den korrekten Weg vorgibt, erwirbt er eine falsche Sicherheit. Wenn er nach Belieben seiner Neugier und dem Fluss des Übergangsobjekts folgt, wird er niemals besser werden. *** Dieser Dialog verweist auf einen der Prüfsteine handwerklichen Könnens, den Einsatz „gebrauchsfertiger“ Verfahren oder Werkzeuge. Dabei versucht man, alle Verfahren zu eliminieren, die nicht dem vorbestimmten Zweck dienen. Dieser Gedanke stand schon hinter Diderots Tafeln zur Papierherstellung in L’Anglée, auf denen keinerlei Abfälle oder Papierreste zu sehen sind. Programmierer sprechen heute von Systemen ohne hiccups (Schluckauf). Die Suzuki-Streifen sind eine Vorrichtung, die solche 232 — 233 Richard Sennett Gebrauchsfertigkeit herstellen soll. Wir sollten in Gebrauchsfertigkeit eher eine Leistung als einen Ausgangspunkt erblicken. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Arbeitsprozess dem ordnungsliebenden Geist etwas Unangenehmes antun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische Zustände einzulassen: auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu verstehen. Gebrauchsfertiges Handeln bildet den Rahmen für Prehension. Prehension scheint die Hand auf ihren zielgerichteten Gebrauch vorzubereiten, doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Beim Musizieren bereiten wir uns zwar vor, aber wir können nicht zurück, wenn unsere Hand das angestrebte Ziel nicht erreicht. Wollen wir das korrigieren, müssen wir bereit sein und sogar wünschen, noch etwas länger bei einem Fehler zu verharren, um ganz zu verstehen, was an der ursprünglichen Vorbereitung falsch war. Das vollständige Szenario für eine die Fertigkeit verbessernde Übung besteht also aus folgenden drei Elementen: vorbereiten, Fehler erkunden, zur Form finden. In dieser Geschichte wird Gebrauchsfertigkeit nicht vorausgesetzt, sondern erst geschaffen. Beteiligten über dieselben Fertigkeiten verfügen. Als Beispiel werde ich auch hier die Musik heranziehen, um die Koordination und Kooperation zwischen Ungleichen zu erforschen, aber statt der Streichinstrumente will ich das Klavier betrachten. *** Die beiden Daumen Aus der Koordination entsteht Kooperation Ein bleibendes Merkmal des Handwerkers findet sich in der bildlichen Darstellung der Werkstatt. Diderot idealisierte auf den Tafeln zur Papierherstellung in L’Anglée die Kooperation. Die Menschen dort arbeiten harmonisch zusammen. Hat solche Zusammenarbeit eine körperliche Grundlage? In den Sozialwissenschaften ist man dieser Frage in jüngster Zeit meist im Zusammenhang mit Diskussionen um Altruismus nachgegangen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob altruistisches Verhalten beim Menschen genetisch verankert ist. Ich möchte in eine andere Richtung fragen: Was könnte die Erfahrung körperlicher Koordination für diesoziale Kooperation bedeuten? Konkretisieren lässt sich diese Frage, indem wir erkunden, wie die beiden Hände koordiniert werden und miteinander kooperieren. Die Finger der Hand besitzen nicht alle die gleiche Kraft und Biegsamkeit, was deren Koordination erschwert. Das gilt selbst für die beiden Daumen, deren Fähigkeiten davon abhängen, ob man Rechts- oder Linkshänder ist. Wer ein hohes Niveau der Handfertigkeit entwickelt, kann diese Ungleichheit kompensieren. Finger und Daumen verrichten dann eine Arbeit, die andere Finger von sich aus nicht zu leisten vermögen. In der Wendung „eine helfende Hand“ findet diese physische Erfahrung ihren Ausdruck. Die kompensatorische Leistung der Hände legt den Gedanken nahe, dass brüderliche Kooperation nicht davon abhängt, ob die 17 David Sudnow: Ways of the Hand: A Rewritten Account. 2. Ausg. Cambridge, Mass.: 2001. Die wechselseitige Unabhängigkeit der Hände ist beim Klavierspielen ein zentrales Thema, ebenso die wechselseitige Unabhängigkeit der Finger. Einfache Klaviermusik weist die Melodie häufig dem vierten und fünften Finger der rechten, die Begleitung dem vierten und fünften Finger der linken Hand zu, das heißt den jeweils schwächsten Fingern. Diese Finger müssen stärker werden, während der Daumen, der stärkste Finger an beiden Händen, lernen muss, seine Kraft zurückzuhalten. Anfängern gibt man meist gnädig Stücke zu spielen, die der rechten Hand eine größere Rolle zuweisen als der linken. Zu Beginn hat also der Klavierspieler bei der Koordinierung der Hände mit Problemen der Ungleichheit zu kämpfen. Beim Jazzpiano ist die körperliche Herausforderung noch größer. Der moderne Klavierjazz verteilt Melodie und Harmonie nur noch selten auf die beiden Hände, wie es beim Barrelhouse-Blues der Fall war. Die Rhythmen werden heute vielfach mit der linken Hand statt wie früher mit der rechten gespielt. Als der Pianist und Philosoph David Sudnow Jazz zu spielen begann, entdeckte er, welche schwierigen Koordinationsprobleme sich dabei ergeben konnten. In seinem bemerkenswerten Buch Ways of the Hand berichtetder klassisch ausgebildete Sudnow, wie er sich in einen Jazzpianisten verwandelte. Anfangs schlug er einen Weg ein, der zwar logisch, aber dennoch falsch war.17 Wenn man auf dem Klavier Jazz spielt, muss die linke Hand häufiger zwischen einer weiten Spreizung der Finger und einer engen Fingerstellung abwechseln, um die für diese Kunst typischen Harmonien zu erzeugen. Sudnow begann ganz logisch, indem er den Wechsel zwischen weiter und enger Fingerstellung übte. Entsprechend übte er auch mit der rechten Hand die schnelle seitliche Bewegung über weite Bereiche der Tastatur, die hüpfende Bewegung, die im traditionellen Jazz als stride bezeichnet wird. Im moderneren Jazz hält man das rhythmische Pulsieren im Fluss, indem man rasch in die höheren Lagen springt. Diese technischen Probleme in ihre Bestandteile aufzulösen erwies sich als kontraproduktiv. Die Zerlegung half ihm kaum, wenn es darum ging, mit der linken Hand die enge Fingerstellung zu realisieren und gleichzeitig mit der rechten in stride-Manier zu hüpfen. Und schlimmer noch, er übertrieb die Vorbereitung durch getrenntes Üben, und das kann tödlich für das Improvisieren sein. Weil er mit beiden Händen getrennt arbeitete, bekam er Schwierigkeiten mit den Daumen. Die Daumen sind für den Jazzpianisten die wertvollsten Finger, seine Anker auf der Tastatur. Aber 234 — 235 Richard Sennett 18 Ebda., S. 84. 19 Zu einer interessanten Diskussion dieses Phänomens siehe Julie Lyonn Lieberman: The Slide, Strad 116 (Juli 2005), S. 69. 20 Siehe Michael C. Corballis: The Lopsided Ape: Evolution of the Generative Mind. New York 1991. 21 Yves Guiard: Asymmetric Division of Labor in Human Bimanual Action, Journal of Motor Behavior 19, Nr. 4 (1987), S. 488–502. nun, da sie der Verankerung von Schiffen unterschiedlicher Größe dienen sollten, die jeweils auch noch ihren eigenen Kurs steuerten, konnten die beiden Daumen nicht mehr zusammenarbeiten. Sudnow hatte ein Heureka-Erlebnis, als er entdeckte, dass „eine einzige Note vollkommen ausreichte“, um ihm Orientierung zu bieten. „Man konnte eine Note während der Dauer eines Akkords spielen und eine weitere gleich danach für die Dauer des nächsten Akkords, und so ließ sich die Melodie spielen.“18 Technisch heißt dies, dass alle Finger wie Daumen zu arbeiten und die beiden Daumen miteinander zu interagieren beginnen, wobei sie im Bedarfsfall die Rolle des jeweils anderen übernehmen. Nach diesem Heureka-Erlebnis veränderte Sudnow seine Übungspraxis. Er benutzte nun alle Finger als echte Partner. Wenn einer der Finger zu schwach oder zu stark war, bat er einen anderen, die Aufgabe zu übernehmen. Fotografien, die Sudnow beim Spielen zeigen, dürften konventionelle Klavierlehrer mit Entsetzen erfüllen. Er wirkt vollkommen verdreht. Doch wenn man ihn hört, spürt man die Leichtigkeit seines Spiels. Und diese Leichtigkeit erzielte er, weil er beim Üben zu einem bestimmten Zeitpunkt die Koordination zum Ziel der Übung machte. Es gibt einen biologischen Grund, weshalb die Koordination ungleicher Glieder funktioniert. Das Corpus callosum verbindet den motorischen Kortex der linken Hirnhälfte mit dem der rechten. Über diese Verbindung werden Informationen über die Steuerung der Körperbewegungen zwischen beiden Hirnhälften ausgetauscht. Das gesonderte Üben beider Hände führt zu einer Schwächung dieses Austauschs.19 Auch die Kompensation besitzt eine biologische Grundlage. Man hat Homo sapiens als den „asymmetrischen Affen“ bezeichnet.20 Die physische Prehension ist asymmetrisch. Wir greifen eher mit einer bestimmten Hand nach Dingen – die meisten Menschenmit der rechten. Bei dem von Mary Marzke beschriebenen Korbgriff hält die schwächere Hand den Gegenstand, während die stärkere ihn bearbeitet. Der französische Psychologe Yves Guiardhat untersucht, wie man dieser Asymmetrie begegnen kann, und ist dabei zu überraschenden Ergebnissen gelangt.21 Die Stärkung der schwächeren Hand gehört, wie zu erwarten, dazu, aber dies allein reicht nicht aus, um der schwächeren Hand größere Geschicklichkeitzu verleihen. Vielmehr muss die stärkere Hand ihre Stärke neu kalibrieren, damit die schwächere Hand größere Geschicklichkeit entwickeln kann. Dasselbe gilt für die Finger. Der Zeigefinger etwa muss lernen, wie der Ringfinger zu denken, um „aushelfen“ zu können. Ebenso die beiden Daumen. Wir hören, dass Sudnows beide Daumen zusammenarbeiten, doch physiologisch hält der stärkere Daumen seine Spannkraft zurück. Das ist noch wichtiger, wenn der Daumen dem schwachen Ringfinger beispringt. Dann muss er sich wie ein Ringfinger verhalten. Ein Arpeggio zu spielen, bei dem der starke linke Daumen dem schwächeren kleinen Finger der rechten Hand zu Hilfe kommt, ist wohl die physisch anspruchsvollste Aufgabe bei der kooperativen Koordination. Die Koordination der Hände macht deutlich, wie falsch die Vorstellung ist, wonach man technische Beherrschung erlangt, indem man von den Teilen zum Ganzen fortschreitet. Zuerst perfektioniert man jede Teilfähigkeit gesondert und setzt die Teile anschließend zusammen – als glichen technische Fertigkeiten der industriellen Fließbandproduktion. Die Koordinierung der Hände funktioniert nur schlecht, wenn man sie auf diese Weise organisiert und sie aus gesonderten individualisierten Tätigkeiten zusammenzusetzen versucht. Weit besser funktioniert sie, wenn beide Hände von Anfang an zusammenarbeiten. Das Arpeggio bietet uns auch Aufschluss über jene Brüderlichkeit, die Diderot wie nach ihm auch Saint-Simon, Fourier und Robert Owen idealisierte: die Brüderlichkeit von Menschen, die über dieselben Fähigkeiten verfügen. Deren Bindung wird erst dann wirklich auf die Probe gestellt, wenn sie erkennen, dass sie diese Fähigkeit in unterschiedlichem Maße besitzen. Die „brüderliche Hand“ steht für die Zurückhaltung der stärkeren Finger, in der Yves Guiard das entscheidende Moment bei der physischen Koordination erblickt. Findet auch dieser Umstand seine Widerspiegelung im sozialen Bereich? Der Hinweis lässt sich weiter klären, wenn wir die Rolle des minimalen Kraftaufwands bei der Entwicklung von Handfertigkeiten besser verstehen. Hand – Handgelenk – Unterarm Die Lehre des minimalen Kraftaufwands 22 Zu dieser Geschichte siehe Michael Symons: A History of Cooks and Cooking. London 2001, S. 144. 23 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt am Main 1976, Bd. 1, S. 164. Zur Klärung des minimalen Kraftaufwands wollen wir einen Blick auf eine andere qualifizierte Handarbeit werfen, die des Kochs. Archäologen haben geschärfte, zum Schneiden bestimmte Steine gefunden, die 2,5 Millionen Jahre alt sind. Bronzemesser wurden schon vor mindestens 6000 Jahren, Messer aus Schmiedeeisen vor mindestens 3500 Jahren hergestellt.22 Eisen ließ sich besser gießen als Bronze, und die daraus hergestellten Messer ließen sich leichter schärfen. Die heutigen, aus gehärtetem Stahl hergestellten Messer erfüllen die Grundanforderung der Schärfe. Das Messer galt, wie der Soziologe Norbert Elias bemerkt, immer schon als „ein gefährliches Instrument“, als „eine Angriffswaffe“, die in Friedenszeiten in allen Kulturen mit einer „Unzahl von Verboten oder Tabus“ belegt wurde, vor allem wenn es im Haushalt Verwendungfand.23 Wenn wir den Tisch decken, legen wir deshalb das Messer so, dass die Schneide zum Teller zeigt und nicht nach außen, wo sie eine Gefahr für unseren Tischnachbarn darstellen könnte. Wegen seiner potenziellen Gefährlichkeit wird das Messer und dessen Gebrauch seit langem schon symbolisch mit Selbstbeherrschung assoziiert. So rät C. Calviac in seinem Traktat Civilité von 1560, das Kind solle „sein Fleisch auf dem Schneidbrett in kleine Stücke schneiden“ und die Stücke dann „mit der rechten Hand …und nur mit drei Fingern“ zum Munde führen. Dieses Verhalten sollte an die Stelle der früheren Praxis 236 — 237 Richard Sennett 24 Ebda., S. 119–121. 25 David Knechtges: A Literary Feast: Food in Early Chinese Literature, Journal of the American Oriental Society 106 (1986), S. 49–63. treten, bei der man ein großes Stück Nahrung mit dem Messer aufspießte und zum Mundführte, so dass man ein Stück davon abbeißen konnte. Calviac kritisiert diese Essweise nicht nur, weil dabei Saft über das Kinntropfen konnte und weil man Gefahr lief, Ausflüsse der Nase mitzuessen, sondern auch, weil sie keinerlei Anzeichen von Selbstbeherrschung darstelle.24 Am chinesischen Esstisch ersetzen die Stäbchen als Symbol der Friedfertigkeit schon seit Jahrtausenden das Messer. Damit kann man kleine mundgerechte Stücke Nahrung auf jene hygienische und disziplinierte Weise aufnehmen, die Calviac vor 500 Jahren empfahl. Der chinesische Koch stand vor dem Problem, wie er die Nahrung zubereiten konnte, so dass sie sich mit den friedfertigen Stäbchen statt mit dem barbarischen Messer verzehren ließ. Die Lösung liegt zum Teil in der Tatsache, dass es beim Messer als Tötungsinstrument vor allem auf die geschärfte Spitze ankommt, beim Messer als Werkzeug des Kochs dagegen auf die scharfe Schneide. Als China während der Tschou-Dynastie in das Zeitalter des Schmiedeeisens eintrat, entstanden Spezialmesser, die ausschließlich für das Kochen bestimmt waren, darunter vor allem das Hackmesser mit seiner rasiermesserscharfen Schneide und der rechteckig abgeschnittenen Spitze. Seit der Tschou-Dynastie und bis in unsere Zeit sind chinesische Küchenchefs stolz darauf, das Hackmesser als Allzweckwerkzeug einzusetzen und Fleisch in Stücke (hsiao) oder Scheiben (tsu) zu zerlegen oder zu Hackfleisch (hui) zu verarbeiten, während weniger geschickte Köche dazu verschiedene Messer verwenden. Das Tschuang-tzu, ein früher taoistischer Text, preist den Koch Ting, der mit dem Hack messer „die Lücken in den Gelenken“ zu finden und ein Tier daher so fein zu zerlegen vermochte, dass der Mensch alle essbaren Teile verzehren konnte.25 Der mit dem Hackmesser arbeitende Koch zerlegte Fisch und Gemüse mit größter Präzision und sorgte so für die größtmögliche Verwertung der Nahrung. Er schnitt Fleisch und Gemüse in gleich große Teile, so dass man sie im selben Topf garen konnte. Das Geheimnis dieser Kunst liegt in der Berechnung des minimalen Kraftaufwands durch die Technik des Fallenlassens und der Entlastung. Die alte Hackmessertechnik basierte auf derselben Wahl, die heute ein Zimmermann treffen muss, wenn er einen Nagel in Holz einschlägt. Eine Möglichkeit besteht darin, den Daumen an die Seite des Hammerstiels zu legen und das Werkzeug auf diese Weise zu führen. Die Kraft für den Schlag kommt dann allein aus dem Handgelenk. Oder er legt den Daumen um den Stiel. Dann liefert der ganze Unterarm die Kraft. Entscheidet ein Heimwerker sich für die zweite Möglichkeit, erhöht er die rohe Kraft des Schlages, läuft aber auch Gefahr, nicht mehr so präzise zielen zu können. Der Koch im alten China wählte beim Gebrauch des Hackmessers die zweite Möglichkeit, doch um die Nahrung sehr fein zu schneiden, entwickelte er eine andere Art, Unterarm, Hand und Hackmesser einzu- setzen. Statt das Hackmesser wie einen Hammer zu benutzen, führte er die zu einer Einheit verschmolzene Verbindung aus Unterarm, Hand und Hackmesser vom Ellbogen her und ließ das Messer auf die zu zerteilende Nahrung fallen. Sobald die Schneide die Nahrung berührte, spannte er die Unterarmmuskeln an, um das Schneidgut vom Druck des Körpers zu entlasten. Der Küchenchef hat also den Daumen um den Griff des Hackmessers gelegt. Der Unterarm dient als Verlängerung des Griffs, der Ellbogen als Drehpunkt. Im Minimum liefert das Gewicht des fallenden Hackmessers die einzige Kraft und damit das Maß, das ausreicht, um weiche Nahrungsmittel zu schneiden, ohne sie zu zerquetschen – vergleichbar einem Klavierspieler, der pianissimo spielt. Rohe Nahrungsmittel können aber auch fester sein, so dass der Koch, um im Bild zu bleiben, lauter spielen, das heißt mehr Druck vom Ellbogen her ausüben muss, um ein kulinarisches forte hervorzubringen. Beim Schneiden von Nahrungsmitteln wie beim Anschlag eines Akkords liegt die Grundlinie der physischen Kontrolle, also deren Ausgangspunkt, in Berechnung und Einsatz der geringstmöglichen Kraft. Der Koch beginnt mit dem geringsten Krafteinsatz und verstärkt ihn bei Bedarf. Das hat er gelernt, weil er sich bemüht, das Schneidgut nicht zu beschädigen. Zerquetschtes Gemüse lässt sich nicht retten, doch wenn ein Stück Fleisch nicht beim ersten Schlag zerschnitten ist, kann man einenzweiten, kräftigeren Schlag ansetzen. Der Gedanke des minimalen Krafteinsatzes als Grundlinie der Selbstbeherrschung findet sich auch in dem apokryphen, aber vollkommen logischen Rat der alten chinesischen Kochkunst, wonach der Koch erst einmal lernen müsse, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen. Bevor wir den Implikationen dieser handwerklichen Regel nachgehen, müssen wir zunächst ein physisches Korrelat zur minimalen Kraftanwendung besser verstehen, und zwar die Entlastung. Wenn der Koch das Hackmesser nach dem Schlag unten hält wie der Zimmermann den Hammer, verhindert er das Zurückprallen des Werkzeugs. Dabei treten über die gesamte Länge des Unterarms Belastungen auf. Aus physiologischen Gründen, die wir noch nicht vollständig verstehen, erhöht die Fähigkeit, den Krafteinsatz innerhalb einer Millisekunde nach deren Anwendung abzubrechen, auch die Präzision der ausgeführten Geste. Sie verbessert die Zielsicherheit. Beim Klavierspielen etwa, wo das Niederdrücken und Loslassen der Taste eine einzige Bewegung darstellt, muss der Fingerdruck in dem Augenblick abbrechen, da die Fingerspitze die Taste berührt, damit die Finger leicht und geschmeidig zur nächsten Taste gleiten können. Bei Saiteninstrumenten vermag die Hand beim Übergang zu einer neuen Note nur dann einen sauberen Ton hervorzubringen, wenn sie die gedrückte Saite eine Mikrosekunde vorher loslässt. Für die musizierende Hand sind klare, leise Töne daher schwieriger hervorzubringen als laute, kräftige. Das Schlagen beim Kricket oder Baseball erfordert ein ähnliches Geschick bei der Druckentlastung. 238 — 239 Richard Sennett 26 John Stevens: Zen Bow, Zen Arrow: The Life and Teachings of Awa Kenzo. London 2007. 27 Elias: Der Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 166. In der Bewegung der Einheit aus Hand, Handgelenk und Unterarm spielt die Prehension bei der Druckentlastung eine entscheidende Rolle. Sie erfordert dieselbe Antizipation wie beim Greifen nach einer Tasse, nur in umgekehrter Reihenfolge. Schon wenn der Schlag unmittelbar bevorsteht, bereitet das Ensemble aus Hand und Unterarm sich auf den nächsten Schritt vor, die Druckentlastung in der Millisekunde unmittelbar vor dem Kontakt. Zu der von Raymond Tallis beschriebenen Berücksichtigung des Objekts kommt es genau in diesem Schritt, wenn das Arm-Ensemble die Griffspannung zurücknimmt, so dass der Hammer oder das Hackmesser nicht mehr so fest gehalten wird. Der Rat, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen, steht also für zwei eng miteinander verbundene körperbezogene Regeln: Schaffe eine Grundlinie des geringsten nötigen Krafteinsatzes! Und lerne loszulassen! In technischer Hinsicht geht es hier um die Kontrolle von Bewegungen, doch der Vorgang hat eine Vielzahl menschlicher Implikationen – mit denen die antiken Autoren der chinesischen Kochkunst vertraut waren. Das Tschuangtzu rät, sich in der Küche nicht wie ein Krieger aufzuführen, und der Taoismus knüpft daran eine ganze Ethik für Homo faber: Ein aggressiver, auf das Brechen von Widerständen ausgerichteter Umgang mit natürlichen Materialien ist kontraproduktiv. Der japanische Zen-Buddhismus nutzte dieses Erbe später, um am Beispiel des Bogenschießens die Ethik des Loslassens zu erkunden. In physischer Hinsicht steht im Mittelpunkt dieses Sports dieS pannungsentlastung beim Loslassen der Bogensehne. ZenAutoren betonen das Fehlen jeglicher physischen Aggression und die gelassene Ruhe, die diesen Augenblick kennzeichnen müssen. Dieser Gemütszustand sei notwendig, wenn der Bogenschütze dasZiel genau treffen wolle.26 Auch in westlichen Gesellschaften diente der Gebrauch des Messers als kulturelles Symbol für ein Minimum an Aggression. Norbert Elias fand heraus, dass die Europäer die Gefahren des Messers im Frühmittelalter recht pragmatisch einschätzten. Der von ihm so genannte „Prozeß der Zivilisation“ begann, als das Messer eine stärker symbolische Bedeutung erhielt, die dem kollektiven Denken sowohl das Übel spontaner Gewalt als auch die geeigneten Heilmittel dagegen vor Augen führte. „Die Gesellschaft, die in dieser Zeit mehr und mehr die reale Bedrohung der Menschen einzuschränken… beginnt, umgibt mehr und mehr auch die Symbole, die Gesten und Instrumente der Bedrohung mit einem Zaun“, schreibt Elias. „Die Einschränkungen, die Verbote um den Gebrauch des Messers, mit ihnen die Zwänge, die man dem Einzelnen auferlegt, wachsen.“27 Damit meint er zum Beispiel, dass man um 1400 Messerstechereien bei Gastmählern als normal empfand, während man um 1600 die Stirn darüber runzelte. Oder auch, dass ein Mann um 1600 nicht gleich die Hand an den Knauf seines Degens legte, wenn er nachts auf der Straße einem Fremden begegnete. 28 Ebda., Bd. 2, S. 398. Ein „wohlerzogener“ Mensch disziplinierte seinen Körper in den elementarsten biologischen Bedürfnissen – im Unterschied zu Flegeln, Tölpeln und Bauern, die angeblich ungeniert furzten oder sich die laufende Nase am Ärmel abwischten. Eine Folge solcher Selbstbeherrschung war die Entlastung der Menschen von aggressiver Spannung. Der Umgang des Kochs mit dem Hackmesser macht diese sonderbare Aussage verständlicher: Selbstbeherrschung geht mit Entlastung einher. Als Elias die Entstehung der höfischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert untersuchte, stellte er erstaunt fest, dass diese Verknüpfung zum Definitionsmerkmal des gesitteten Aristokraten geworden war: entspannt im Umgang mit anderen und selbstbeherrscht. Richtig zu essen war eine der sozialen Fertigkeiten des Aristokraten. Dass die Tischmanieren zum Kennzeichen des Aristokraten wurden, war deshalb möglich, weil die Gefahr körperlicher Gewalt in der auf Höflichkeit bedachten Gesellschaft abnahm und die gefährlichen Fertigkeiten, die mit dem Messer assoziiert wurden, an Bedeutung verloren. Als sich im 18. Jahrhundert das bürgerliche Leben entwickelte, stieg der Kodex eine soziale Stufe hinab und veränderte nochmals seinen Charakter. Gelassene Zurückhaltung wurde nun zum Kennzeichen der von den Philosophen gefeierten „Natürlichkeit“. Der Tisch und die dort herrschenden Manieren taugten auch weiterhin als Mittel der gesellschaftlichen Abgrenzung. So beachtete man in der Mittelschicht die Regel, wonach man nur solche Speisen mit dem Messer schneiden soll, die sich nicht mit der stumpferen, aber feineren Kante der Gabel zerlegen lassen, und man schaute auf die niederen Stände herab, die das Messer wie einen Spieß benutzten. Elias ist ein bewundernswerter Historiker, aber ich fürchte, als Analytiker des sozialen Lebens, das er so lebendig beschreibt, irrt er. Er behandelt zivilisiertes Verhalten als ein dünnes Furnier, unter dem ein solideres und persönlicheres Erleben liege: die Scham, der wirkliche Katalysator der Selbstdisziplin. Seine Geschichten über das Rotzen, Furzen und Pinkeln in der Öffentlichkeit und die Entwicklung der Tischsitten haben ihren Ursprung sämtlich in der Scham hinsichtlich natürlicher Körperfunktionen und deren spontanem Ausdruck. Der „Prozeß der Zivilisation“ unterdrückt Spontaneität. Elias sieht in der Scham eine nach innen gerichtete Emotion. „Dem entspricht“, so schreibt er, „daß die Angst, die wir ›Scham‹ nennen, für die Sicht der Anderen in hohem Maße abgedämpft ist; so stark sie sein mag, sie kommt nicht unmittelbar in lauten Gesten zum Ausdruck …; der Konflikt, der sich in ›Scham-Angst‹ äußert …, ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an.“28 Im Blick auf die Aristokraten klingt das ein wenig falsch, während es auf die Manieren der Mittelschicht schon eher zutreffen könnte. Das ist jedoch keine Erklärung, die sich auf die entspannte Leichtigkeit oder die Selbstbeherrschung anwenden ließe, nach denen der Handwerker strebt. Nicht Scham veranlasst ihn, den minimalen Krafteinsatz und die zeitgerechte Entlastung zu erlernen. Schon rein physisch kann er unmöglich 240 — 241 Richard Sennett 29 Eine Darstellung des Konflikts zwischen Powells und Rumsfelds Strategien in dem von Amerika 2003 im Irak begonnenen Krieg findet sich in Michael R. Gordon und Bernard E. Trainor: Cobra II. New York 2006. davon getrieben sein. Es gibt in der Tat eine Physiologie der Scham, die sich durch die Anspannung der Muskeln in der Bauchdecke und an den Armen erkennen lässt. Scham, Angst und Muskelanspannung bilden im menschlichen Organismus eine unheilige Dreifaltigkeit. Die Physiologie der Scham stünde der Freiheit körperlicher Bewegung im Wege, die der Handwerker für seine Arbeit benötigt. Muskelanspannung ist tödlich für physische Selbstbeherrschung. Positiv ausgedrückt, wenn die Muskeln kräftiger und ihre Bewegungen feiner werden, fallen die zur Anspannung der Muskeln führenden Reflexe nicht mehr so stark aus. Die physische Aktivität wird geschmeidiger und weniger sprunghaft. Deshalb können körperlich starke Menschen den minimalen Krafteinsatz besser steuern als körperlich schwächere. Bei ihnen hat sich ein Gradient der Muskelkraft herausgebildet. Gut entwickelte Muskeln sind außerdem eher in der Lage, sich zu entspannen. Sie behalten ihre Form selbst dann, wenn sie loslassen. Auch der Handwerker des Wortes könnte diese mental gar nicht mehr erkunden und gut nutzen, wenn er voller Angst wäre. Um Elias Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollten wir einräumen, dass Selbstbeherrschung zwei Dimensionen besitzt. Die eine ist eine soziale Oberfläche, unter der sich persönliche Not verbirgt; die andere eine Realität, die mit sich selbst physisch und mental im Reinen ist und der Entwicklung der handwerklichen Fertigkeiten dient. Diese zweite Dimension hat ihre eigenen sozialen Implikationen. Militärische und diplomatische Strategien müssen ständig über Grade roher Gewalt urteilen. Die Strategen, die 1945 die Atombombe einsetzten, gelangten zu der Einschätzung, dass nur der überwältigende Einsatz von Gewalt die Japaner zur Kapitulation bewegen konnte. In der aktuellen Militärstrategie der Vereinigten Staaten setzt die „Powell-Doktrin“ auf die Einschüchterung durch eine große Zahl von Soldaten, während die Doktrin des Shock and Awe Technologie an die Stelle der Soldaten setzt – einen massiven und überfallartigen Einsatz automatischer Raketen und lasergesteuerter Bomben.29 Der Politikwissenschaftler und Diplomat Joseph Nye hat einen alternativen Ansatz vorgeschlagen, den er als „soft power“ (weiche Macht) bezeichnet und der eher dem Vorgehen eines erfahrenen Handwerkers ähnelt. Bei der Koordination der Hände geht es um die Ungleichheit der Kraftentfaltung. Wenn Hände ungleicher Stärke zusammenarbeiten, korrigieren sie die Schwäche. Eine zurückhaltende Kraft nach Art des Handwerkers, gepaart mit Entspannung, bedeutet einen weiteren Schritt. Durch die Kombination beider Momente entwickelt der Handwerker physische Selbstbeherrschung und erzielt eine höhere Präzision in der Ausführung. Blinde, rohe Gewalt ist bei der Handarbeit kontraproduktiv. All diese Elemente – Kooperation mit dem Schwachen, zurückhaltende Kraft, Loslassen nach dem Angriff – sind im Konzept der soft power enthalten. Diese Doktrin versucht gleichfalls, kontraproduktive blinde Gewalt zu überwinden. Das handwerkliche Können ist hier Bestandteil des politischen Handwerks, der Staatskunst. Hand und Auge Der Rhythmus der Konzentration 30 Siehe z. B. Neil Postman: Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business. New York 1985; dt.: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt am Main 1985. 31 Daniel Levitin: This Is Your Brain on Music. New York 2006, S. 193. Das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom beunruhigt gegenwärtig zahlreiche Lehrer und Eltern. Dabei geht es um Kinder und Jugendliche, die ihre Aufmerksamkeit nur für kurze Zeit auf einen Gegenstand zu richten vermögen. Als Ursache gelten einerseits Störungen des Hormonhaushalts, andererseits kulturelle Faktoren. Zu den kulturellen Faktoren sichtete der Soziologe Neil Postman umfangreiche Forschungen über die negativen Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder.30 Qualifikationsforscher definieren die Aufmerksamkeitsspanne jedoch oft in einer Weise, die kaum adäquat auf solche Befürchtungen von Erwachsenen eingehen dürfte. Wie zu Beginn des Buches schon angemerkt, wird oft behauptet, man brauche 10 000 Stunden, um ein Experte zu werden. In Studien über „Komponisten, Basketballspieler, Science-Fiction-Autoren, Eiskunstläufer … und Meisterdiebe“, so schreibt der Psychologe Daniel Levitin, „wird diese Zahl immer wieder genannt“.31 Dieser lange Zeitraum ist nach Ansicht von Forschern erforderlich, damit komplexe Fertigkeiten sich dem Körper so tief einprägen, dass sie zu ständig abrufbarem implizitem Wissen werden. Aber so gewaltig ist die Zahl eigentlich gar nicht – wenn wir von den Meisterdieben einmal absehen. 10 000 Stunden, das sind drei Stunden Übung am Tag über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg, und das entspricht dem üblichen Trainingspensum junger Sportler. Bei der siebenjährigen Lehrzeit mittelalterlicher Goldschmiedeverteilt sich die Summe auf knapp fünf Stunden täglich an der Werkbank, und das entspricht dem, was wir aus mittelalterlichen Werkstätten wissen. Unter den strapaziösen Bedingungen der ärztlichen Ausbildung in Krankenhaus und Praxis lässt sich diese Stundenzahl auf drei Jahre oder noch weniger komprimieren. Die Besorgnis der Erwachsenen hinsichtlich des Aufmerksamkeitsmangels betrifft eine sehr viel kürzere Zeitspanne. Dort stellt sich das Problem, wie man ein Kind dazu bringen kann, sich auch nur eine Stunde lang zu konzentrieren. Pädagogen versuchen oft, Kinder geistig und emotional für bestimmte Dinge zu interessieren, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Die Theorie, auf der solche Versuche basieren, besagt, dass ein inhaltliches Engagement zur Konzentration führt. Die langfristige Entwicklung manueller Fertigkeiten zeigt jedoch die Kehrseite dieser Theorie. Die Fähigkeit, sich über längere Zeit zu konzentrieren, stellt die Voraussetzung dar. Erst wenn jemand dies kann, wird er sich geistig oder emotional auf etwas einlassen. Die Fähigkeit der physischen Konzentration folgt eigenen Regeln, die darauf basieren, wie jemand lernt, eine Tätigkeit zu üben, sie ständig zu wiederholen und aus dieser Wiederholung zu lernen. Konzentration besitzt also eine innere Logik, und diese Logik lässt sich, wie ich glaube, auf das stetige Arbeiten anwenden, ob es sich dabei nun um eine Stunde oder um mehrere Jahre handelt. 242 — 243 Richard Sennett 32 Erin O’Connor: Embodied Knowledge: The Experience of Meaning and the Struggle towards Proficiency in Glassblowing, Ethnography 6, Nr. 2 (2005), S. 183–204. Zur Klärung dieser Logik können wir das Verhältnis zwischen Hand und Auge weiter erkunden. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Organen erlauben es, den Übungsprozess dauerhaft zu organisieren. Wir könnten keine bessere Anleitung finden als Erin O’Connors Analyse des Prozesses, in dem Hand und Auge gemeinsam lernen, sich zu konzentrieren.32 Die philosophische Glasbläserin untersuchte die Entwicklung lang anhaltender Aufmerksamkeit an ihrem eigenen Kampf um die Formung eines bestimmten Weinglases. In einer nüchternen Fachzeitschrift berichtet sie, dass sie seit langem italienische Barolo-Weine geschätzt und daher nach einem Weinglas gesucht habe, das groß und rund genug war, die duftende „Nase“ des Weins zu fassen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie ihre Konzentrationsfähigkeit in ihrer zeitlichen Dauer erweitern. Den Rahmen für diesen Lernprozess bildete der kritische Augenblick im Handwerk des Glasblasens, wenn das geschmolzene Glas als großer Tropfen am Ende des langen, schmalen Blasrohrs hängt. Das zähflüssige Glas muss ständig gedreht werden, damit es nicht in eine Richtung herunterhängt. Um eine regelmäßige Kugel zu erzeugen, müssen die Hände eine Bewegung ausführen,die dem schnellen Drehen eines Löffels in einem Glas Honig gleicht. Der ganze Körper ist an dieser Bewegung beteiligt. Damit es beim Drehen der Glasbläserpfeife nicht zu Verspannungen kommt, muss der Glasbläser den Rücken über der Hüfte und nicht im oberen Bereich beugen, ähnlich einem Ruderer, der sich vor dem Beginn des Zugs nach vorn beugt. Diese Haltung verleiht dem Handwerker auch einen sicheren Stand, wenn er das geschmolzene Glas aus dem Ofen zieht. Doch von entscheidender Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Hand und Auge. Als O’Connor lernte, ein Barolo-Glas zu blasen, durchlief sie mehrere Stadien ähnlich jenen, die wir bei Musikern und Köchen beobachtet haben. Zunächst musste sie einige beim Blasen einfacherer Stücke erworbene Gewohnheiten rückgängig machen, damit sie erkennen konnte, weshalb sie scheiterte. So entdeckte sie, dass die Bewegungen ihr bisher deshalb so leichtgefallen waren, weil sie zu wenig geschmolzenes Glas mit der Spitze der Pfeife aufnahm. Sie musste ein besseres Bewusstsein für das Verhältnis zwischen ihrem Körper und der zähflüssigen Masse entwickeln, als bestünde zwischen Fleisch und Glas ein bruchloser Übergang. Das klingt poetisch, doch diese Poesie dürfte rasch verflogen sein, wenn ihr Mentor lautstark seine Kommentare dazwischenrief: „Mach langsam, Trampel, ganz gleichmäßig!“ O’Connor ist eine zierliche, zurückhaltende Person, und so nahm sie lieber keinen Anstoß an solchen Einwürfen. Ihre Koordination verbesserte sich dadurch. Nun war sie eher in der Lage, die Triade der „intelligenten Hand“ zu nutzen – die Koordination von Hand, Auge und Gehirn. Ihr Lehrer drängte: „Lass das Glas nicht aus dem Blick! Es beginnt schon zu hängen.“ Das hatte zur Folge, dass sie den Griff um das Rohr lockerte. Wenn sie das Rohr lockerer hielt, etwa so wie der Koch das Hackmesser, gewann sie größere Kontrolle darüber. Doch sie musste immer noch lernen, ihre Konzentrationsspanne zu verlängern. 33 Ebda., S. 188–189. 34 Siehe Maurice MerleauPonty: Phénoménologie de la perception. Paris 1945; dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, 2. Teil, §12. 35 Michael Polanyi: Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy. Chicago 1962, S. 55. Diese Verlängerung erfolgte in zwei Phasen. Zunächst verlor sie das ständige Bewusstsein für den Kontakt des Körpers mit dem heißen Glas und versenkte sich ganz in das Material als Ziel an sich. „Mein Bewusstsein für das Gewicht der Pfeife in meiner Hand nahm ab, und an dessen Stelle verstärkte sich die Empfindung für die Kante des Rings in der Mitte der Pfeife, für das Gewichtdes Glases, das sich an der Spitze der Pfeife sammelte, und schließlich für das sich formende Weinglas.“33 Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty beschreibt die Erfahrung, „wie ein Ding zu sein“.34 Der Philosoph Michael Polanyi bezeichnet dies als „fokales Bewusstsein“ und erläutert es am Beispiel des Einschlagens eines Nagels: „Wenn wir den Hammer niedergehen lassen, haben wir nicht das Gefühl, dass der Stiel unserer Handfläche einen Schlag versetzt, sondern der Hammerkopf dem Nagel … Ich habe ein Nebenbewusstsein für das Gefühl in meiner Handfläche, eingebunden in mein fokales Bewusstsein vom Einschlagen des Nagels.“35 Anders ausgedrückt, wir sind ganz in etwas versunken und nicht mehr unserer selbst bewusst, auch nicht unseres körperlichen Selbst. Wir sind zu dem Ding geworden, an dem wir arbeiten. Diese vertiefte Konzentration musste nun zeitlich ausgedehnt werden. Das Problem, das O’Connor lösen musste, war das Ergebnis eines weiteren Scheiterns. Obwohl es ihrem durch eine gute Körperhaltung entspannten und in das Tun versenkten Selbst gelungen war, das Glas zu einer Kugel zu formen und in die gewünschte Barolo-freundliche Form zu bringen, wirkte es nach dem Abkühlen „schief und unförmig“, so dass ihr Lehrmeister statt von einem goblet (Pokal) von einem globlet (Kügelchen) sprach. Wie sie schließlich herausfand, lag das Problem in jener Phase des „Wie-ein-Ding-Seins“. Wollte sie besser werden, musste sie vorwegnehmen, wozu das Material in seiner nächsten, noch nicht existenten Entwicklungsphase werden sollte. Ihr Lehrer nannte das einfach „Dranbleiben“. In ihrer eher philosophischen Denkweise begriff sie, dass sie in einem Prozess „körperlicher Antizipation“ stand und dem Material – erst im schmelzflüssigen Zustand, dann als Kugel, dann als Kugel mit Stiel und schließlich mit Stiel und Fuß – stets einen Schritt voraus sein musste. Sie musste diese Prehension zu einem permanenten Geisteszustand machen, und sie lernte dies, erfolgreich oder scheiternd, indem sie immer wieder solch eine Kugel blies. Auch nach dem ersten, auf Zufall beruhenden Erfolg musste sie immer weiterüben, damit sie Sicherheit im Aufnehmen der Schmelze, im Blasen der Kugel und im Drehen des Rohrs entwickelte. Das ist Wiederholung um ihrer selbst willen. Wie bei den Zügen eines Schwimmers wird die bloße Wiederholung der Bewegung als solche zu einem Genuss. Wie Adam Smith in seiner Darstellung der Industriearbeit könnten wir nun meinen, Routine sei geisttötend und ein Mensch, der eine Tätigkeit ständig wiederholt, nehme psychisch Schaden. Wir könnten Routine mit 244 — 245 Richard Sennett Langeweile gleichsetzen. Für Menschen, die komplizierte Handfertigkeiten entwickeln, ist sie nichts dergleichen. Etwas immer wieder zu tun ist anregend, sofern diese Tätigkeit im Blick nach vorn organisiert wird. Die Substanz der Routine mag sich verändern, wandeln oder verbessern, der emotionale Lohn aber ist die Erfahrung, es immer wieder zu tun. Diese Erfahrung ist keineswegs sonderbar. Wir alle kennen sie, und sie hat einen Namen: Rhythmus. Die Kontraktionen unseres Herzens gebenden Rhythmus vor, der Handwerker dehnt ihn auf Hand und Kopf aus. Der Rhythmus hat zwei Komponenten: Schlagen nach einem Takt und Tempo, also die Geschwindigkeit, mit der wir etwas tun. In der Musik steht der Tempowechsel innerhalb eines Stücks für Antizipation und den Blick nach vorn. Die Bezeichnungen ritardando und accelerando verpflichten den Musiker, sich auf einen Wechsel vorzubereiten. Diese großen Tempowechsel sorgen dafür, dass er in seiner Aufmerksamkeit nicht erlahmt. Dasselbe gilt für den Rhythmus im Kleinen. Wenn Sie einen Walzer streng nach dem Takt eines Metronoms spielen, wird es Ihnen immer schwerer fallen, sich darauf zu konzentrieren. Um einen regelmäßigen Takt zu schlagen, bedarf es winziger Verzögerungen und Beschleunigungen. Der regelmäßige Takt entspricht der im letzten Kapitel angesprochenen Typenform. Tempowechsel stehen dagegen für die verschiedenen Varianten, die aus solch einem Typus hervorgehen. Prehension hat ihren Fokus auf dem Tempo. Der Musiker konzentriert sich in produktiver Weise. Der Rhythmus, der O’Connors Aufmerksamkeit wachhielt, lag in ihrem Auge, das die Hand disziplinierte, sie ständig überwachte und beurteilte, ihre Bewegungen anpasste und damit das Tempo vorgab. Kompliziert wird die Sache dadurch, dass sie sich ihrer Hände nicht mehr bewusst war und dass sie nicht mehr darüber nachdachte, was die Hände taten. Ihr Bewusstsein war ganz darauf gerichtet, was sie sah. Die eingeschliffenen Handbewegungen waren Bestandteil des Vorausschauens geworden. Beim Orchester scheint der Dirigent dem Musiker nur ganz wenig voraus zu sein. Er zeigt den Ton an, und auch hier registriert der Ausführende das Signal eine Mikrosekunde, bevor er den Ton produziert. Ich fürchte, mein Darstellungsvermögen hat in der Beschreibung des Rhythmus und seiner Bedeutung für die Konzentration seine Grenzen erreicht, und ganz sicher klingt diese Erfahrung hier abstrakter, als sie in Wirklichkeit ist. Die Zeichen der Konzentration beim Üben einer Tätigkeit sind konkret genug. Wer es gelernt hat, sich ausreichend zu konzentrieren, zählt nicht, wie oft er eine Bewegung auf Befehl des Ohrs oder des Auges wiederholt. Wenn ich beim Cellospiel tief ins Üben versenkt bin, möchte ich eine Bewegung immer wieder ausführen, damit sie besser wird, aber auch damit ich sie immer wieder besser ausführen kann. Genauso ergeht es O’Connor. Sie zählt nicht, wie oft sie es tut, sie will nur die Glasbläserpfeife in Händen halten und sie drehen und hineinblasen. Doch das Tempo gibt ihr Auge vor. Wenn die beiden Elemente des Rhyth- mus sich beim Üben verbinden, kann der Übende seine Aufmerksamkeit über eine lange Zeitspanne aufrechterhalten und eine Verbesserung erreichen. Welche Bedeutung kommt hier dem Übungsstoff zu? Übt sich eine dreiteilige Invention von Johann Sebastian Bach besser als eine Etüde von Ignaz Moscheles, weil sie bessere Musik ist? Nach meiner Erfahrung lautet die Antwort nein. Der Rhythmus des Übens, der ein Gleichgewicht zwischen Wiederholen und Antizipieren herstellt, sorgt von sich aus für Engagement. Wer als Kind Latein oder Griechisch gelernt hat, dürfte eine ähnliche Erfahrunggemacht haben. Das Lernen war zu einem Großteil rein mechanisch und der Stoff sehr entlegen. Erst nach und nach half uns die Routine, die uns befähigte, Griechisch zu lernen, Interesse an einer seit langem verschwundenen Kultur zu entwickeln. Wie bei anderen Lernenden, die einen Stoff noch nicht inhaltlich erfasst haben, gilt es zunächst, sich konzentrieren zu lernen. Das Üben hat eine eigene Struktur und ein eigenes, darin angelegtes Interesse. Die praktische Bedeutung solcher fortgeschrittenen Handfertigkeit für Menschen, die mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom umzugehen haben, liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Organisation von Übungsstunden lenken. Mechanisches Lernen ist nicht an sich der Feind. Übungsstunden lassen sich interessant gestalten, wenn man darin für einen inneren Rhythmus sorgt, so kurz er auch sein mag. Die komplizierten Tätigkeiten des Glasbläsers oder des Cellisten lassen sich so vereinfachen, dass sie eine ähnliche zeitliche Strukturierung aufweisen. Wir erweisen Menschen, die unter mangelnder Aufmerksamkeit leiden, einen schlechten Dienst, wenn wir verlangen, dass sie eine Sache verstehen, bevor sie sich darauf einlassen. *** Es mag der Eindruck entstehen, dass dieses Verständnis guten Übens der Verbindlichkeit zu geringe Bedeutung beimisst, doch ein verbindliches Engagement dieser Art hat zwei Seiten: die Entscheidung, dass eine Sache es wert sei, getan zu werden, oder dass eine bestimmte Person es wert sei, Zeit mit ihr zu verbringen; und die Pflicht, die wir gegenüber einer Sitte oder den Bedürfnissen eines Menschen empfinden. Der Rhythmus organisiert eine Verbindlichkeit im zweiten Sinne. Wir lernen, wie wir eine Pflicht immer wieder erfüllen. Theologen haben schon vor langer Zeit gezeigt, dass religiöse Rituale wiederholt werden müssen, wenn sie Überzeugungskraft erlangen sollen: Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Die Wiederholung sorgt für Stabilität, doch in der religiösen Übung wird sie deshalb nicht schal. Der Zelebrierende antizipiert jedes Mal, dass etwas Bedeutendes geschehen wird. Ich spreche dieses weite Feld unter anderem deshalb an, weil das Üben beim Wiederholen einer musikalischen Phrase, beim Schneiden von 246 — 247 Richard Sennett Fleisch oder beim Blasen eines Weinglases etwas von einem Ritual an sich hat. Wir haben unsere Hand durch das Wiederholen trainiert. Wir sind aufmerksam statt gelangweilt, weil wir die Fähigkeit der Antizipation entwickelt haben. Doch auch wer gelernt hat, einer Pflicht immer wieder nachzukommen, hat eine technische Fertigkeit erworben, das rhythmische Vermögen des Handwerkers, ganz gleich, an welchen Gott oder an welche Götter er glauben mag. *** In diesem Kapitel bin ich ausführlich der Vorstellung einer Einheit von Kopf und Hand nachgegangen. Diese Einheit prägte die Ideale der Aufklärung im 18. Jahrhundert, und Ruskin gründete darauf im 19. Jahrhundert seine Verteidigung der Handarbeit. Dabei sind wir ihrem Weg allerdings nicht ganz gefolgt, denn wir haben Formen mentalen Verstehens skizziert, die aus der Entwicklung seltener und sehr spezieller manueller Fertigkeiten hervorgehen, wie sie erforderlich sind, um Töne genau zu treffen, ein Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen oder ein schwieriges Weinglas zu blasen. Doch auch solche virtuosen Fähigkeiten basieren auf grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Körpers. Konzentration sorgt für die Vollendung bestimmter Linien in der Entwicklung manueller Fertigkeiten. Die Hand musste zunächst durch Berührung experimentieren, allerdings nach einem objektiven Maßstab. Sie lernte, Ungleiches zu koordinieren. Sie lernte minimalen Krafteinsatz und Entlastung. Dadurch erwirbt die Hand ein Repertoire erlernter Gesten. Diese Gesten lassen sich weiter verfeinern oder auch revidieren innerhalb des rhythmischen Prozesses, zu dem es beim Üben kommt und der das Üben unterstützt. Bei jedem dieser Schritte spielt Prehension eine wichtigeRolle, und jeder Schritt hat zahlreiche ethische Implikationen. 250 — 251 Think Global, Fabricate Local? Auf den Spuren des „schaffenden Menschen“ in der Region Liezen Elke Murlasits Dreh- und Angelpunkt unseres Projektes war die Auseinandersetzung mit dem Menschen als Subjekt, als Gestalter/in und Akteur/in seines/ ihres Lebens. Inspiration und Reverenz nahmen wir dafür beim Konzept der Vita activa, das Hannah Arendt in ihrem epochemachenden gleichnamigen Buch präzisiert. Drei „menschliche Grundtätigkeiten“ seien es, die die Vita activa ausmachen: das Arbeiten, Herstellen und Handeln. Wir haben uns speziell auf das Herstellen konzentriert, wobei die Grenzen der Idee des praktischen, des realen Schaffens erweitert wurden. Abseits tatsächlicher physischer Produkte rückte die das Leben an sich bestimmende Frage in den Vordergrund: Wozu etwas schaffen? Was ist der Sinn, der Nutzen, die Funktion des Herstellens? Welche zusätzliche Bedeutung wird dem Hergestellten, dem Geschaffenen zugewiesen? Was schafft sich der Mensch eigentlich? Was bedeutet das Geschaffene für andere bzw. wie nimmt es auf das Leben dieser anderen Einfluss? Sechs Künstler/innen-Formationen stellten sich diesen Fragen in einzelnen Kunstprojekten, die sie in engem Dialog gemeinsam mit und aus der Bevölkerung generierten. Dabei wurden sie von einem Team von Kulturwissenschafterinnen und -wissenschaftern begleitet, das die Gespräche mit den Menschen vor Ort intensivierte und erweiterte. Auf diese Art und Weise konnten auch vier zentrale Themenfelder in den Arbeiten der Künstler/innen festgemacht und in einem Ausstellungsteil präsentiert werden: a) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Landschaft b) Der schaffende Mensch als Garant/in seiner/ihrer Sicherheit c) Der schaffende Mensch als Produzent/in seiner/ihrer zweiten Haut d) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Lebensräume Der Mensch und die Landschaft Die Vorstellung der nicht von Menschenhand geformten Natur, der Landschaft als gewachsene physische Umwelt, als steingewordener Rahmen unseres Seins ist nicht erst seit der Einführung von Flussbettregulierungen und Autobahnen obsolet. Der Mensch hat mit seiner Kultur im weitesten Sinn immer schon in die Landschaft eingegriffen, sie geformt, sie nutzbar gemacht. Ob nun im Dienste der zu steigernden landwirtschaftlichen Produktion feuchte Wiesen trocken gelegt, Flüsse umgeleitet oder Wälder abgeholzt wurden. Gerade in der montanen und wenig urbanisierten Region Liezen, in der einerseits die Natur so definitionsmächtig, aber auch so schützenswert ist, ist der Kampf um die Gestaltungshoheit der Landschaft ein ganz zentraler. Wer darf wo eingreifen, was regulieren, zu welchem Zweck adaptieren? Darf Natur zur Schaffung von Privatheit ge-/miss-/braucht werden, wie es Franz Kapfer in seiner Arbeit beobachtet? Was bedeutet es, wenn sich Nutzung und Bedeutung eines Ortes innerhalb der Landschaft verändern, wenn dieser Ort z. B. zu einem Verkehrsknotenpunkt werden soll, an dem sich die Geister scheiden, so wie es Katařina Šedá für den geplanten Kreisverkehr vor dem Schloss Trautenfels erkannt hat? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, hat unter anderem Gundi Jungmeier Aktivistinnen und Aktivisten sowie Funktionärinnen und Funktionäre rund um die Natura 2000 und die Ennsnahe Trasse interviewt und lässt diese in ihrem Ausstellungs- und Katalogbeitrag zu Wort kommen. Der Mensch und sein Überleben Der Mensch schafft sich nicht nur die Dinge seines täglichen Lebens, er schafft sich auch ein System der Ordnung und Sinnhaftigkeit, das ihm Orientierung und Sicherheit gewährleistet. Früher waren es die Kirche oder der unantastbare Erfahrungsschatz der Älteren, der Schicksalsschlägen eine Bedeutung zuwies und damit erträglich machte. Heute dreht sich das Leben vordergründig darum, solche Ereignisse präventiv zu vermeiden. Radfahrhelme und Sicherheitsgurte bewahren Menschen vor Verletzungen, Pestizide wehren Schädlinge ab und Impfungen schützen Mensch und Vieh vor Erkrankungen. Der Mensch hat eine Reihe praktischer Sicherheitsmechanismen geschaffen – sie sollen das abwenden, wogegen eigentlich doch im Vorfeld eine Versicherung abgeschlossen wurde. Doch was verschafft uns tatsächlich Sicherheit? Und was würden wir opfern, abseits der monatlichen Versicherungsbeiträge, damit wir (uns) „sicher“ sind? Maria Papadimitriou hat Teile der Liezener Bevölkerung dahingehend befragt, welche Systeme der Sicherheit sie sich geschaffen haben. Im Mittelpunkt standen dabei vordergründig Landwirtinnen und -wirte, die in ihrem Arbeitskreislauf auf die oft unberechen- 252 — 253 Elke Murlasits bare und nicht immer beherrschbare Natur angewiesen sind. Gernot Rabl hat mit diesen Interviews gearbeitet und über Glaube und Aberglaube reflektiert. Des Menschen alte und neue Kleider Etwas scheinbar so banales wie unser „Gewand“, unsere Kleidung, muss mannigfaches leisten: vor Wind und Wetter ebenso wie vor Schmutz und Kälte schützen, Schweiß abführen und Feuchtigkeit abweisen. Nicht umsonst wird die Kleidung auch als „zweite Haut“ bezeichnet. Unsere Kleidung, und da nicht nur die sogenannte „Funktionswäsche“, muss auch inhaltlich mehrere Funktionen erfüllen: Sie muss unsere Scham bedecken, uns vor übergriffigen Blicken schützen, kommunizieren, wer wir sind, oft auch woher wir kommen, was wir wollen und wozu wir da sind. Gerade traditionelle Stoffe und Kleidung wie der Loden oder die Tracht sind sehr stark dieser bewussten Sinnstiftung und Sinnkommunikation, mit diesen zusätzlichen inhaltlichen Bedeutungszuschreibungen, unterworfen. An dieser per Definition für eine Region/Berufsgruppe/Zeit/etc. typischen Kleidung kann sehr viel über das Selbstbild eben dieser Zeiten, Gruppen und Individuen abgelesen werden. Was bedeutet es aber, wenn diese Kleidung auch noch in Handarbeit produziert wird? Wenn die Arbeit, der Aufwand, die Sorgfältigkeit nicht in ein unbekanntes Land zu Minimallöhnen vergeben, abgeschoben, sondern erfahrbar, sichtbar wird? Christian Philipp Müller hat für seine künstlerische Arbeit viele Gespräche mit Produzierenden und Trägerinnen und Trägern von Tracht und Loden geführt, Günther Marchner hat ihn dabei unterstützt und dabei die Abgründe und Hochebenen politischer Vereinnahmung bis zu emanzipierter Selbstdefinition ausgeleuchtet und in seinem Beitrag über die „Karriere des Lodens“ verarbeitet. Ebenso wurden die Mitglieder des Vereins Schloss Trautenfels um ihren ganz persönlichen Standpunkt zu Tracht und Loden befragt. Der Mensch und seine Architektur_en Architektur ist nun unbestreitbar ein vom Menschen geschaffenes Werk. Doch wie wir uns diese Architektur zu eigen machen, wie wir sie benutzen (dürfen), das wird durch deren und unsere Aufgabe definiert. Für öffentliche Gebäude wie die Schauräume eines Schlosses oder ein Museum gelten klar geregelte Verhaltensmuster, die – nicht nur, aber auch – durch künstlerische Interventionen wie die vom Künstler/innen-Paar Lang & Baumann (L/B) unterwandert werden können. Architekturen können „falsch“ verwendet, subversiv miss-/gebraucht werden oder ihre Funktion – zumindest temporär – umgewandelt werden. Da muss sich der Mensch aber schon auch aktiv neue Perspektiven und Interpretationen schaffen. Einfacher hingegen ist die Nutzung des Privatraums, der ja dazu geschaffen wurde, um ganz privat, um ganz sie/er selbst zu sein. Franz Kapfer hat sich in der Recherchephase für seine Arbeit mit Mustern in der vielleicht typischen regionalen Privatarchitektur auseinandergesetzt, die sich nach außen hin – gleich einer Wehranlage – dem Fremden gegenüber klar abgrenzt. Gundi Jungmeier hingegen hat die Fragestellung umgedreht und Fremde, die sich in der Region Liezen – also aus deren Sicht „in der Fremde“ – Privatraum geschaffen haben, befragt. Auszüge der Interviews sind im Katalog zu finden, die Filmdokumentation in der Ausstellung zu sehen. Die Schüler/innen der VS Unterburg haben mit Wolfgang Otte und ihrer Lehrerin Maria Mössner das Schloss Trautenfels von einer unbekannten Seite kennengelernt. Ihre Eindrücke haben sie für uns fotografisch festgehalten und in spannenden Aufsätzen dokumentiert. Gernot Rabl hat der Architektur des Schlosses in seinem Beitrag ebenfalls ein besonderes Augenmerk geschenkt. Hier ist es endlich Zeit, sich bei all jenen zu bedanken, die uns bei den vorhin genannten Projekten unterstützt haben und erst den Inhalt dieser überaus spannenden Arbeiten geliefert haben. Danke an all die Interviewpartner/innen, die uns Einblick in ihr Leben und ihre Arbeiten gewährt haben, uns ihre Zeit geschenkt und ihre Wohnungen geöffnet haben. Danke auch an alle, die Fotos und Informationen bereitgestellt haben und besonders an die Schüler/innen der VS Unterburg, die ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und das Schloss für uns neu entdeckt haben. 254 — 255 Kurzer historischer Aufriss zur Geschichte von Schloss Trautenfels in Verbindung mit klassischen Architektur- und Raumfragen Gernot Rabl Sabina Lang und Daniel Baumann (L/B) greifen mit ihren Installationen in ein bereits existierendes Gebäude sowie einen klar definierten Raum ein und lassen die sich daraus ergebenden Wechselbeziehungen zwischen Schloss, Raum und Objekt bewusst in Schwebe. Die vertraute Sichtweise des vor allem durch die erhöhte Lage weit über dem Ennstal erkennbaren Schlosses wird durchbrochen. Die durch L/B erfolgten Eingriffe sorgen für eine geänderte Wahrnehmung und lassen klassische Architekturfragen nach Konstruktion, Raum, Positionierung, Form und Funktion aufkommen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der repräsentativen Architektur und der Geschichte des Schlosses stehen. Bereits im Jahre 1261 wurde an dieser Stelle zum ersten Mal eine Burg Neuhaus urkundlich erwähnt. Die Burg – an einer strategisch wichtigen Stelle errichtet – stand rasch im Spannungsfeld zwischen dem Salzburger Bischofssitz, dem Herzogtum Steiermark und den Habsburgern, galt es doch, den Kreuzungspunkt der Salzstraße mit der Strecke durch das Ennstal, den Ennsübergang und die wenige Kilometer westlich gelegene steirische Landesgrenze abzusichern. Auf kriegerische Auseinandersetzungen folgte am Ende des 13. Jahrhunderts nach dem Erzbistum Salzburg die endgültige Übernahme durch das Landesfürstentum Steiermark. Im Zuge der immer wiederkehrenden Machtkämpfe wurde die Burg allerdings völlig zerstört und erlangte nach dem Wiederaufbau nicht mehr dieselbe strategische Bedeutung. Ende des 15. Jahrhunderts trat die Familie Hoffmann, eine der reichsten und mächtigsten Adelsfamilien der Steiermark, als neuer Besitzer auf. Sie waren bedeutende und einflussreiche Förderer des protestantischen Glaubens und ließen im 16. Jahrhundert unweit der Burg eine evangelische Kirche errichten, wodurch Neuhaus während der Reformation zu einem Zentrum des neuen Glaubens wurde. Mit der Zerstörung der Kirche (1599) verlor Neuhaus allerdings in der darauffolgenden Gegenreformation wieder an Bedeutung. Nach einigen Jahrzehnten unterschiedlicher Burgpfleger fiel die Anlage 1664 in den Besitz der Familie Trauttmansdorff. Unter Siegmund Friedrich von Trauttmansdorff, dem damaligen steirischen Landeshauptmann, erfolgte der Umbau der Burg zu dem heutigen barocken Schloss und erhielt den Namen Trautenfels. Trauttmansdorff verpflichtete um 1670 den Tessiner Maler Carpoforo Tencalla für die Gestaltung der Fresken des Marmorsaales, der Schlosskapelle sowie für zwei weitere Räume des Schlosses; für die Stuckaturen zeichnete Alessandro Sereni verantwortlich. Bis 1815 blieb das Schloss Eigentum der Familie Trauttmansdorff. Nach zahlreichen Besitzerwechseln war das Schloss schließlich im Besitz der Familie Lamberg, den letzten adeligen Eigentümern des Schlosses. Unter Graf Josef Lamberg (Besitzer von 1878 bis 1904) wurde Schloss Trautenfels umfassend renoviert, wohnlich ausgestattet und unter anderem mit einer Zentralheizung versehen. Durch die Mitgift seiner Frau Anna und sein eigenes Vermögen war ihm die dringende Restaurierung des damals stark vernachlässigten Gebäudes möglich geworden. Seine Gattin Anna führte den Besitz nach seinem Tod bis 1941 weiter, ehe sie aus finanziellen Gründen das Schloss an die Deutsche Reichspost verkaufen musste. Aufgrund der Kriegslage war das geplante Erholungs- bzw. Postkongressheim nicht realisierbar, weshalb die Republik Österreich als anschließender Eigentümer die Liegenschaft an das steirische Jugendherbergswerk verkaufte. Dieses zog nach dem Zweiten Weltkrieg ein, konnte aber ebenfalls die Erhaltung nicht über längere Zeit finanzieren, sodass das Schloss 1983 in den Besitz der öffentlichen Hand gelangte. In den 1950er-Jahren erfolgte schließlich der Aufbau des Schlosses zu einem Regionalmuseum für das steirische Ennstal und das Salzkammergut, als eine Abteilung des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum, seit 2009 Universalmuseum Joanneum. Die Eröffnung fand am 9. August 1959 statt, wobei bereits von Beginn an eine starke Bindung der Bevölkerung an „ihr“ Museum festzustellen war. Im Jahr 1983 erwarb die Gemeinde Pürgg-Trautenfels mit Unterstützung des Landes das Schloss, und im selben Jahr konstituierte sich auch der Verein Schloss Trautenfels, der die Sanierung der baufälligen Substanz in anfänglich kleinen Schritten vorantrieb. Als die Abteilung Schloss Trautenfels 1989 die Landesausstellung für 1992 („Lust und Leid“) zugesprochen bekam, konnte die notwendige Generalsanierung beschleunigt und in nur zweieinhalb Jahren Bauzeit durchgeführt werden. Als ausführen- 256 — 257 Gernot Rabl den Architekten gewann man Manfred Wolff-Plottegg, welcher die alte Bausubstanz des Schlosses mit moderner Architektur verband.1 Bereich, hat somit für jeden einzelnen Menschen eine konkrete Bedeutung. Sie ist Teil eines gewohnten Blickes, persönlicher Erfahrungen oder steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Erlebtem. So ergaben viele im Zuge der Vorbereitungen zur Sonderausstellung getätigte Umfragen, dass die um das Schloss wohnenden Personen sich dem Bauwerk stark verbunden fühlen und es nicht missen wollen: Ihre Reaktionen auf L/Bs Eingriffe werden am nachhaltigsten sein. Bei einem Rundgang durch das Schloss lassen nun im Besonderen die Einbauten Wolff-Plotteggs einen Vergleich mit den künstlerischen Installationen von L/B zu. Auch der Architekt ging von einem fertigen Gebäude aus und sorgte in der Durchführung für bewusste Irritationen: So trennt beispielsweise im Zwischengeschoss eine Treppenkonstruktion, in Verwendung als Tür, den Seminar- vom Museumsbereich oder dienen im Museumsshop in die Wand führende Stufen als Präsentationsflächen. Weiters kann unter anderem an die zweite Hauptstiege, den Eingangs- und Kassabereich sowie die Überdachung der Lichthöfe erinnert werden.2 Im Unterschied zu Manfred Wolff-Plotteggs Maßnahmen bleiben jedoch die Interventionen von L/B zeitlich begrenzt und sind vollständig reversibel, d. h. sie werden entfernt, bevor sie langfristig Teil der Geschichte des Schlosses werden. 1 Walter Brunner, Barbara Kaiser: Schloss Trautenfels (=Kleine Schriften der Abteilung Schloss Trautenfels am Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum). Trautenfels 1992, zit. nach: http://www.museumjoanneum.at/de/trautenfels/das_schloss [Zugriff: 28.4.2010.] 2 Walter Chramosta: Grimmi(n)ge(r) Gegenkodierungen. Manfred WolffPlotteggs Eingriffe in Körper und Seele von Schloss Trautenfels (=Architektur & Bauforum, Nr. 152). Wien 1992, 109 ff; Wolfgang Otte: Der Umbau des alten Schlosses. Überraschungen und neue Effekte. In: Da schau her, Folge 2, Trautenfels 1992, 22 ff. 3 Marc Redepenning: Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft. In: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript 2008, S. 317. Eine wichtige Funktion von Architektur, eines Raumes oder eines Gebäudes ist die klare Trennung von öffentlichen und privaten Lebensbereichen. „Es gibt [aber] immer wieder Einbrüche aus dem Privatraum in die Republik und aus der Politik in den Privatraum, und Raumgestalter sind dazu da, den Verkehr zwischen privat und öffentlich zu regeln. Zu diesem Zweck eben entwerfen sie Mauern, Fenster und Türen, und Straßen, Plätze und Tore. Privat und öffentlich sind die beiden großen Lebensraumkategorien, und alle übrigen Räume sind dort einzuräumen.“4 Dieser Feststellung Vilém Flussers folgt seine auch auf L/Bs Installationen umlegbare Forderung an die Raumgestaltung, Räume zu öffnen und nicht mehr auf ein starres Achsenkreuz zu reduzieren. „Da wir bisher den Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben, war bisher das Merkmal alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden, das Überdecken, das Ineinandergreifen werden.“5 Das Künstler/innen-Paar erzwingt eine völlig neue Auseinandersetzung und stellt den ursprünglichen Architekturgedanken infrage. Sie vermeiden es dabei, den Besucherinnen und Besuchern vorzuschreiben, was sie zu sehen oder zu denken haben und machen deutlich, „dass es nicht um den Raum an sich geht, sondern um Raumkonzepte und Raumvorstellungen, wie man den Raum denken kann.“3 Nicht aufgezwungene Erklärungen über Benutzbarkeit, Funktion und Bedeutung schaffen ausreichend Platz für Fantasie, sodass ganz unterschiedliche Sichtweisen gepaart mit Geschichten entstehen können (vgl. unten). Die Besucher/innen werden durch die „erzwungene“ aktive Beschäftigung Teile des Kunstwerkes. Generell sei festgehalten, dass bei der klassischen Definition eines Raumes beziehungsweise eines Gebäudes auch der gesamte Kontext berücksichtigt werden muss: zum Beispiel das äußere Umfeld, die politischen Bedingungen, Funktionen aber natürlich auch ästhetische Belange. Auch ein als Museum adaptiertes Schloss wird anders zu behandeln sein als ein eigens geschaffener Museumsbau. Architektur zieht allgemein eine Grenze zwischen innen und außen und definiert den umliegenden Landschaftsraum beziehungsweise die vorgegebene Fläche. Dabei fügt sich ein Bauwerk entweder harmonisch in die Umgebung ein oder bildet einen bewussten Kontrast. Hat sich ein Gebäude hingegen etabliert und werden nachträgliche und/oder temporäre Eingriffe wie die den Innen- und Außenraum des Schlosses betreffenden Interventionen von L/B aufgenommen, ist eine gewohnte Sichtweise nicht mehr möglich. Ablehnung, Unverständnis und Irritation, aber auch Neugierde, Wissensdrang und Interesse entstehen, da die vermeintlich bekannte Lesbarkeit des Gebäudes, welche sich mitunter bereits an der Fassade ausdrückt, aufgehoben und infrage gestellt wird. Die uns umgebende Architektur, sei es im städtischen oder ländlichen Durch die Schaffung von Übergängen von innen nach außen und der damit verbundenen Auflösung des Raumes verliert folglich auch „Architektur“ ihre unbewegliche Körperhaftigkeit und ein Gebäude, in unserem Fall das Schloss, verliert an Massivität. Die gezielt platzierten Eingriffe von Lang und Baumann lassen bewusst geschaffene neue Blickwinkel und Sichtweisen entstehen, welche von den Betrachterinnen und Betrachtern subjektiv wahrgenommen und interpretiert werden. 4 Vilém Flusser: Räume. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 279. 5 Ebda, S. 283 f Dabei wird ein unbefangener Blick nötig sein, um auf das in diesem Zusammenhang noch nie Gesehene reagieren zu können. Unter anderen Vorzeichen wurde bereits vor der Eröffnung der Sonderausstellung mit einer Volksschulklasse ähnliches erprobt. Im Rahmen einer gezielten Führung konnten die Schüler/innen Räumlichkeiten des Schlosses betreten, die im Normalfall nicht öffentlich zugänglich sind. Ihre Reaktionen auf Unbekanntes lösten unterschiedliche Fantasien und Geschichten aus und sorgten für neue Blickwinkel, die während der Führung mit Einwegkameras festgehalten wurden. Die verschiedenen Eindrücke wurden nachträglich in einer Unterrichtsstunde niedergeschrieben und sind am Ende dieses Beitrags nachzulesen. So wie bei den Schülerinnen und Schülern beim Anblick von Unbekanntem 258 — 259 Gernot Rabl Fantasien frei wurden, sollen diese auch durch die Eingriffe von Sabina Lang und Daniel Baumann entstehen, sodass die von ihnen geschaffenen Installationen bald ihre eigene Geschichte erzählen, gemeinsam mit oder losgelöst von jener des Schlosses. Abenteuer auf Burg Neuhaus Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Adula. Adula war stark und gescheit. Eines Tages sah er, dass Feinde kommen und er rief: „Feinde! Feiiinde!“, und lief den Turm hinunter. Die Armee von Burg Neuhaus stand mit Ritter Adula bereit. Dann riefen sie: „Angriff!“, und sie rannten aus der Burg, und da kamen auch schon die Feinde und auf einmal krachte es. Die Schlacht begann. Adula kämpfte gegen einen anderen Ritter und verletzte den Ritter so viel, dass er nicht mehr kämpfen konnte. Die Ritter von Burg Neuhaus gewannen die Schlacht und gingen in die Burg zurück und feierten noch viel wegen der gewonnen Schlacht. Burg Neuhaus Es war früh am Morgen, und das Telefon klingelte. Mein Vater wachte auf und sagte: „Was ist passiert?“ Ich wachte auf und sagte: „Vater, bitte geht nicht schon wieder in den Kampf.“ Mein Vater legte den Hörer auf das Telefon und sagte zu mir: „Mein Schatz, ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde.“ Nun wachte auch meine Mutter auf und sagte: „Schatz, dein Vater muss kämpfen, sonst wird unsere Burg zerstört.“ Dann sagte sie noch: „Warum bist du eigentlich in unserem Schlafgemach?“ Dann sagte ich: „Mir war so kalt und ich hatte einen Albtraum, deswegen bin ich bei dir.“ Dann sagte unsere Hausmagd: „Prinzessin Lilli, hilfst du mir das Frühstück zubereiten?“ Ich sagte: „Natürlich Greta.“ Nach dem Frühstück zog mein Vater in den Kampf und schrie laut: „Für Troja!“ Nach dem Mittagessen bekamen wir einen Anruf, der mein Leben veränderte. Meine Mutter sagte schluchzend: „Dein Vater ist im Kampf gefallen.“ Ich fing laut zu schreien an und schrie: „Ihr blöden Briten, ich nehme Rache!“ Dann fing ich zu weinen an und lief in mein Zimmer. Meine Mutter kam zu mir und tröstete mich. Dann sagte ich: „Oh Mutter, ich werde Rache nehmen.“ Und das tat ich auch. Sechs Jahre später war ich sechzehn, und mir passte die erste Ritterrüstung. Ich zog in den Kampf. Meine Mutter wollte mich aufhalten und sagte: „Bleib hier oder willst du auch ermordet werden?“ Aber ich sagte: „Mein Pferd und ich sind bereit, wir nehmen Rache.“ Dann zog ich los, und ich war fast am Ziel. Doch dann kamen feindliche Ritter und sagten: „Sieh mal Franz, da will ein kleines Mädchen gegen uns kämpfen.“ Ich sagte: „Ich bin kein kleines Mädchen, ihr habt mir etwas weggenommen, was mir sehr wichtig war.“ Dann spuckte ich ihnen ins Gesicht. Ein Ritter sagte: „Komm Kleine, wir Katharina Jos, Schloss Trautenfels 2010 bringen dich nach Hause.“ Aber ich schrie: „Hüa, Lissi!“ Mein Pferd ritt los, ich drehte mich um und schrie laut: „Ich lasse mich doch nicht von euch schmierigen Banausen herumkommandieren!“ Die Ritter lachten und ritten weiter. Ich stürmte die Burg und stach alles nieder, was mir in den Weg kam. Doch dann passierte es, ich wurde erstochen. Ich wachte auf und merkte, dass es nur ein Traum gewesen ist. Aber ich war wirklich im Mittelalter. Ich ging ganz langsam zum Schlafgemach von meinen Eltern, ich öffnete ganz langsam und leise die Türe. Mein Vater lebte noch, ich war heilfroh, dann kroch ich unter die Decke von meiner Mutter und träumte etwas ganz Schönes. So ist es passiert oder so ähnlich. Und das war die Geschichte von Burg Neuhaus. Dann merkte ich, dass ich eigentlich in der Schule bin. Mein Lehrer klatschte und sagte: „Bravo, bravo. Das war mit Abstand die beste Geschichte.“ Abenteuer auf Burg Neuhaus Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Eisenstein. Er war mein Vater. Als ich früh am Morgen aufwachte, sah ich meinen Vater, er war schon in der Ritterrüstung. Er sagte: „Morgen, mein Prinzesschen!“ Ich fragte ganz verschlafen: „Was machst du denn schon wieder?“ Er sagte: „Ach Lala, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle es dir später. Ich habe es eilig!“ Als ich noch etwas sagen wollte, war er auch schon weg. Meine Mutter wachte auch schon auf. Und fragte mich: „Wo ist Papa?“ Ich sagte traurig: „Er ist schon wieder in den Kampf gegangen!“ Meine Mutter sagte zu mir: „Sei nicht traurig, Papa macht das nur für uns.“ Nach einer Weile kam Papa wieder in die Burg zurück. Ich fragte: 260 — 261 Fotos links: Sara Egger, Schloss Trautenfels 2010 Fotos rechts (i.U.): Julian Schmied, Annika Hofer, Alois Brettschuh, Alexandra Schirl, Ramona Eingang, Schloss Trautenfels 2010 262 — 263 Gernot Rabl „Bist du verletzt?“ Er sagte ganz traurig: „Nein, aber wir haben alles verloren!“ Ich sagte ganz verweint: „Auch die Burg?“ Papa sagte: „Ja, auch die Burg!“ Ich sagte: „Aber wo sollen wir jetzt wohnen?“ Er hatte mich nicht mehr gehört, weil er schon in ein anderes Zimmer verschwunden war. Mir kam eine Idee. Ich wollte für die Burg kämpfen. Ich nahm den Telefonhörer und rief bei den Kämpfern an. Wir machten einen Termin aus. Er war heute um 4 Uhr. Es war schon 3:14 Uhr. Ich richtete mich zusammen. Ich nahm mein Pferd und ritt hinunter in die Kampfstube. Ich wurde immer nervöser. Es ging los! Ich setzte mich auf mein Pferd. Ein starker Mann kam mir entgegen. Ich stieß ihn vom Pferd hinunter. Ich hatte gewonnen!! Wir würden uns die Burg behalten. Wir feierten noch lange. In der Früh merkte ich, dass alles nur ein schrecklicher Traum war. Abenteuer auf Burg Neuhaus Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Peter Rosegger. Er war bei den Bauern beliebt. Peter Rosegger hatte drei Frauen, die ihn liebten. Peter Rosegger konnte aber nur eine Frau heiraten. Es griff eine Armee von Burg Lachtal Schloss Trautenfels an. Peter Rosegger rief: „Wachen auf den Schlossturm! Ritter vor das Burgtor und die anderen Leute in die Häuser! Die Ritter ohne Ritterrüstung an die Pechnasen über dem Burgtor.“ Peter Rosegger zog die Ritterrüstung an und schrie: „Auf zum Krieg gegen die Burg Lachtal!“ Aber die Lachtaler hatten den Geheimgang gefunden und stürzten in die Grube ab. Burg Trautenfels hatte nochmal Glück gehabt. Peters Mannen gewannen den Krieg gegen das Lachtal. Peter Rosegger heiratete eine Frau und die hieß Johanna Rosegger und sie bekamen ein Kind. Das Kind hieß Verena Rosegger. Abenteuer auf Burg Neuhaus Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Reinhold. Er hatte eine bezaubernde Frau namens Michaela und ein Kind, das hieß Alexandra. Alexandra hatte eine Freundin namens Verena. Sie hatten schon viele Abenteuer erlebt. Aber heute hatten sie einen Geheimgang gefunden. Sie untersuchten ihn und gingen hinein. Es war sehr staubig. Trotzdem wollten sie hinein. Am Ende des Ganges war eine Tür aus Eisen. Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Die Tür führte ins Dorf. Sie sahen sich um. Es waren viele Leute, Kinder, Erwachsene aber auch Tiere. Da kam ein schwarzer Ritter. Alle schrien vor Angst. Der schwarze Ritter klaute die Sachen von ihnen. Schnell rannten sie hinter eine Mauer und beobachteten ihn. Es kam Ritter Reinhold und kämpfte mit ihm. Vater gewann den Kampf. Der schwarze Ritter musste fort. Ende. 6 Auswahl an Schüler/innenArbeiten der VS Unterburg, 4. Klasse: Johannes Berger, Alois Brettschuh, Max Brettschuh, Verena Brettschuh, Sara Egger, Ramona Eingang, Annika Hofer, Katharina Jos, AnnaLena Kanzler, Nico Pichler, Alexandra Schirl, Julian Schmied, Birgit Steiner; Klassenlehrerin: Dipl. Päd. VD Maria Mössner. Burg Neuhaus Vor langer Zeit lebte auf der Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Baldur. Eines Tages war ein Kampf mit dem König Paul. Er war der stärkste Ritter auf der Welt. Alle Ritter hatten Angst vor Paul. Eines Tages war Nina, die Frau von Baldur, sehr enttäuscht, weil er nie da war und immer was zu erledigen hatte. Und das war kämpfen und kämpfen. „Nie hat er Zeit für mich. Immer muss er kämpfen“, sagte Nina ganz traurig. Baldur hatte so etwas wie eine Kämpfkrankheit. Es war am Morgen. Nina schrie: „Aufstehen, Baldur! Es gibt Frühstück!“ Baldur sagte mit müder Stimme: „Was gibt es denn?“ „Maisbier, Eier, Erdbeeren, Bananen, Wurst, Bier, Kaffee, Nutellabrot und Äpfel.“ Baldur erschrak: „So viel?“, “Ja, so viel, und du musst alles aufessen!“ Da versprach Baldur, dass er wieder mehr Zeit für Nina hatte. Nina sagte: „Danke, mein Schatz!“ Ende. Der Ritter Kunibert Es war einmal vor langer Zeit ein Ritter, der hieß Kunibert. Er war ein tapferer Ritter. Eines Tages gab es auf der Burg Neuhaus ein großes Reitturnier. Dieses Turnier war sehr wichtig für ihn. Denn wenn er es gewinnen konnte, bekam er eine hohe Prämie. Es waren viele Leute gekommen, um sich das Turnier anzusehen. Da waren Knappen, Kinder, Frauen, Männer und viele Ritter. Diese Veranstaltung dauerte 1 Woche lang. Zu essen gab es Spanferkel und Kalbfleisch und Wasser, Bier und Wein zu trinken. Kunibert stieß bei einem Kampf den schwarzen Ritter mit seiner Lanze vom Pferd. Somit hatte er das Turnier gewonnen, und er bekam die Prämie. Endlich konnte er sein Haus fertig bauen. Er war sehr glücklich über sein fertiges Haus.“6 264 — 265 1 Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, Fauna-FloraHabitat-Richtlinie. In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/ naturrecht/eu_richtlinien/ ffh_richtlinie/ [Zugriff: 15.3.2010]. 2 Richtlinie 79/409/EWG vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, Fauna-FloraHabitat-Richtlinie. In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/ naturrecht/eu_richtlinien/ vogelschutz_rl/ [Zugriff: 15.3.2010]. 3 What is Natura 2000? Environment DirectorateGeneral of the European Commission. In: http://ec.europa.eu/ environment/nature/ natura2000/ [Zugriff: 15.3.2010]. 4 Ernst Zanini: Natura 2000 in der Steiermark. In: Bericht. 10. Österreichisches Botanikertreffen vom 30. Mai bis 1. Juni 2002 an der HBLA Raumberg. Irdning 2002, S. 57. 5 Managementplan Kurzfassung. Europaschutzgebiete zwischen Pruggern und Selzthal, Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 13C Naturschutz. Gleisdorf 2009, S. 7. 6 Verordnung der Steiermärkischen Landesregierung vom 4. Dezember 2006 über die Erklärung des Gebietes „Wörschacher Moos und ennsnahe Bereiche“ (AT 2212000 zum Europaschutzgebiet Nr. 4, 4.12.2004, 1. In: http:// www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=LrSt Das schlechte Gewissen des Homo faber Standpunkte zur Ausweisung von Natura 2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal Gundi Jungmeier Natura 2000 bezeichnet ein EU-weites Netzwerk von Naturschutzgebieten, das sich auf die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie1 (FFH-RL) und die Vogelschutz-Richtline2 (VS-RL) der EU stützt. Ziel ist nicht die Schaffung isolierter Naturschutzgebiete, aus denen jegliche menschliche Aktivitäten ausgeschlossen sind, sondern die Handhabung dieser Flächen im Sinne einer ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit.3 Mit dem Beitritt zur EU im Jahr 1995 hat sich Österreich verpflichtet, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Natura 2000-Richtlinen umzusetzen. Da in Österreich Natur- und Umweltschutz in die Kompetenz der Bundesländer fallen, hat der Steiermärkische Landtag im Jahr 2000 eine Novelle zum Steiermärkischen Naturschutzgesetz erlassen, um den EU-Richtlinien zu entsprechen.4 Mittlerweile sind zwischen Pruggern und Selzthal Flächen entlang der Enns Flächen von knapp 3.000 ha als Natura 2000-Schutzgebiete nach der FFH-RL bzw. VS-RL ausgewiesen.5 Auf den betroffenen Grundstücken finden sich zahlreiche Pflanzenarten und Lebensraumtypen sowie Tierarten, wie z. B. Fischotter, Gelbbauchunken, Uhu, Eisvogel, Neuntöter u. v. m., die als schützenswert gelten.6 Der Crex crex, besser als Wachtelkönig bekannt, wurde schließlich zur „Galionsfigur“ des Naturschutzes in der Region, da die Population im steirischen Ennstal als eines der wichtigsten alpinen Vorkommen erachtet wird.7 Ziel der „Europaschutzgebiete“, wie die Natura 2000-Gebiete in der Steiermark genannt werden, ist die Bewahrung bzw. Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes für die Schutzgüter.8 Die Grundeigentümer/innen der – in erster Linie landwirtschaftlichen – Nutzflächen werden für die durch die Umsetzung der Maßnahmen des „Freiwilligen Vertragsnaturschutzes“9 entstehenden Einschränkungen bei der Bewirtschaftung finanziell entschädigt. mk&Dokumentnummer=L RST_5500_028&TabbedMenuSelection=Landesrech tTab&WxeFunctionToken=c bb31231-ed42-47ed-b649eeb988e4156b [Zugriff: 15.3.2010]. 7 Der Wachtelkönig (Crex crex) im Ennstal zwischen Pruggern und dem Gesäuse. Bestand, Bewertung, Habitate – mit Empfehlungen zur Abgrenzung und zum Management des SPA „Steirisches Ennstal“, Amt der Steiermärkisch-en Landesregierung, Fachabteilung 13C Naturschutz, Planungsbüro für Landschafts& Tierökologie–Wolf Lederer. In: http://www.verwaltung. steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/ [Zugriff: 15.3.2010]. 8 Erläuterungen zum Entwurf einer Verordnung über die Erklärung des Gebietes „Ennstal zwischen Liezen und Niederstuttern“ zum Europaschutzgebiet Nr. 41. In: http://www.verwaltung. steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/ [Zugriff: 28.4.2010]. 9 Mit der Gebietsbetreuung bzw. mit der Umsetzung der für die einzelnen Schutz-güter ausgearbeiteten Einzelmaßnahmen beauftragte die zuständige Fachabteilung 13 C der Steiermärkischen Landesregierung die Ziviltechnikkanzlei Dr. Hugo Kofler; Managementplan Kurzfassung. Europaschutzgebiete zwischen Pruggern und Selzthal. Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 13C Naturschutz. Gleisdorf 2009, S. 2. 10 Gerald Schlager: Entschädigungen der Forstwirtschaft in Natura 2000 Gebieten. In: Ernst Zanini, Barbara Reithmayr (Hg.): Natura 2000 in Österreich. Wien: NWV 2004, S. 205. 11 Brigitta Hauser-Schäublin: Von der Natur in der Kultur und der Kultur in der Natur. Werden Grundflächen zur Erreichung eines Schutzzweckes in ihrer Nutzung eingeschränkt, so haben die Eigentümer sowie Inhaber sonstiger privater und öffentlicher Rechte grundsätzlich Anspruch auf die Abgeltung hierdurch entstehender Nachteile (Schadloshaltung).10 Was genau ist jedoch unter „Natur“ zu verstehen und woher rührt der Wunsch bzw. die Notwendigkeit, sich in ihr einzurichten und sie trotzdem zu schützen? Der Begriff „Natur“ ist mit einer Reihe von Werten belegt und umreißt unterschiedliche Felder, die von der „fundamentalen Kraft, die die Welt bewegt“ über die „physische Umwelt im Unterschied zur menschlichen Umwelt“ bzw. die „Ländlichkeit im Unterschied zur Stadt oder das Wesen bzw. den Charakter einer Person oder Sache“ reichen, um nur einige Beispiele zu nennen.11 Der deutsche Soziologe Hans Paul Bahrdt verortet die Ursache für den ambivalenten Umgang mit der Natur im rationalen Denken und Handeln, das beginnend mit dem Zeitalter der Aufklärung stark an Bedeutung gewann. Die daraus hervorgegangene systematische Beobachtung dieser führte zu einem Bild von Natur als „beherrschbare Struktur“ bzw. zu einer Vorstellung von Natur als Objekt, aus dem sich der beobachtende Mensch selbst ausnimmt.12 René Descartes betrachtet Körper und Geist als gegensätzlich bzw. voneinander trennbar, wobei der Körper die Natur darstellt, die dem Geist untergeordnet ist. Da er den Menschen als einziges Wesen betrachtet, das über die Fähigkeit zu Denken bzw. über eine Seele verfügt, ist er allen anderen Wesen übergeordnet.13 Diese distanzierte Betrachtung führte nach Hans Paul Bahrdt in weiterer Folge zu einem ambivalenten Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu den von ihr verübten Eingriffen in ihre Außenwelt [Natur], das er als „Enttäuschungen und Schuldgefühle des homo faber“14 bezeichnet. Der Mensch greift zwar rational in sein Umfeld ein, allerdings handelt es sich nicht um eine absolute, sondern um eine relative Zweckrationalität, da nicht alle Konsequenzen dieser Eingriffe kalkulierbar und absehbar sind. Durch den Einsatz technischer Mittel können Veränderungen bewirkt werden, deren vorausgesehener Effekt zwar einerseits eintritt, die jedoch andererseits Folgen haben, die schwer oder gar nicht kalkulierbar sind. Daraus wiederum konnte ein Gesellschaftsbild entstehen, in dem die menschliche Existenz als „schädlich“ betrachtet wird und Bildern der „heilenden Natur“ gegenüber steht. In dieser Wahrnehmung bedarf diese heilende Natur mitunter Schutz und Pflege. In diesem Konzept kommt der Natur eine ideologische Bedeutung zu. „Natürlich“ ist einerseits z. B. der Wald, andererseits aber auch die Bäuerin oder der Bauer, wenn diese/r konservative Agrarpolitik betreibt. „‚Natürlich‘ ist alles, was so alt ist, dass es den Anschein der Ursprünglichkeit hat […].“15 Als natürlich und 266 — 267 Gundi Jungmeier Eine kritische Reflexion dieses Begriffspaars. In: Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster (u. a.): Waxmann 2001, S. 11. 12 Hans Paul Bahrdt: „Natur“ und Landschaft als kulturspezifische Deutungsmuster für Teile unserer Außenwelt. In: Gert Gröning und Ulfert Herlyn (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung (=Arbeiten zur sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung, Bd. 10), Münster: Lit 1996, S. 168169. 13 Brigitta Hauser-Schäublin, Von der Natur in der Kultur, S. 13. 14 Hans Paul Bahrdt: „Natur“ und Landschaft als kulturspezifische Deutungsmuster für Teile unserer Außenwelt, S. 174. 15 Ebda., S. 175. 16 Ebda, S. 176. 17 Ebda., S. 174-176. 18 Michael Huter: Die Idee der Landschaft. In: Wolfgang Kos: Die Eroberung der Landschaft. Semmering – Rax – Schneeberg. Wien: Falter 1992, S. 49–53. damit als berechtigt werden in diesem System auch Rangunterschiede der sozialen Schichten, Heterosexualität oder Statusunterschiede zwischen Mann und Frau usw. betrachtet. Hinter dem Begriff Natur verbirgt sich demzufolge eine ganze Reihe unterschiedlicher biologischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Argumente, Meinungen, Überzeugungen usw. Obwohl die Natur in vielen Bereichen des Lebens rationalen Gesichtspunkten untergeordnet wird, erhält sie einen Platz in „unverbindlichen Bereichen“16, z. B. in der Freizeit (Bewegung im Freien, Zeit an der frischen Luft verbringen) oder auch im Bereich des Wohnens (ein Haus im Grünen). Hier entsteht ein Wirkungsbereich für das „schlechte Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft“ angesichts der Eingriffe, die aufgrund rationaler Herangehensweise verübt wurden.17 Die Vorstellung von Natur geht zudem oft einher mit der Vorstellung von Landschaft, jedoch unterscheiden sich diese beiden Begriffe stark voneinander. Landschaft ist vielmehr die subjektive ästhetische Erfahrung der Betrachterin/des Betrachters. Das bedeutet, dass Landschaft im individuellen Bewusstsein entsteht. Die Interpretation(en) des wahrgenommenen Außenraumes (des Naturraumes bzw. der menschlich geschaffenen räumlichen Veränderungen darin, z. B. Bauwerke, bewirtschaftete Flächen usw.) prägen die individuelle Wahrnehmung von Landschaft.18 Die Vermischung des Naturbegriffes mit dem Landschaftsbegriff und Bahrdts Feststellung, dass kulturelle Gegebenheiten durch das Verstreichen von Zeit als natürlich betrachtet werden, eröffnen eine ganze Reihe weiterer Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs Natur und bedingen unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie mit ihr umgegangen werden soll. Auch im Falle der Natura 2000-Gebiete entlang der steirischen Enns handelt es sich nicht um unberührte Natur, sondern um Flächen, die für landwirtschaftliche Nutzung urbar gemacht wurden, also um sogenannte „Sekundär-Lebensräume“ für darin vorkommende Tier- und Pflanzenarten.19 Ist die heimische Natur auch längst durch vielfältige nachhaltige Eingriffe in Flora und Fauna drastisch verändert worden, so sind Ängste vor Klimaveränderungen und vor der Störung des biologischen Gleichgewichtes – das vielerorts durch menschliches Zutun reguliert und stabilisiert wird bzw. werden muss – fester Bestandteil des heutigen gesellschaftlichen Bewusstseins. Diese Entwicklung geht in erster Linie auf die sogenannte „Ökologiebewegung“ zurück. Denn wenn Naturschutz auch keine Neuerfindung des 20. Jahrhunderts ist – bereits in vorangegangenen Jahrhunderten gab es Bestrebungen in diese Richtung, so entstand in den 1960er-Jahren als politisch aktives Kollektiv die „Ökologiebewegung“20, deren Ursprung eng mit der Studierendenbewegung verknüpft ist und die stark im Bedürfnis bzw. in der Notwendigkeit des Schutzes und Erhaltens der Natur als menschliche Lebensgrundlage wurzelt.21 19 Kundmachung zum Entwurf einer Verordnung über die Erklärung des Gebietes „Ennstal zwischen Liezen und Niederstuttern“ zum Europaschutzgebiet Nr. 41, Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 13 C Naturschutz. In: http://www.verwaltung. steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/ [Zugriff: 17.3.2010]. 20 Thomas Stuhlfauth: Die Ökologiebewegung aus dem Blickwinkel der Umweltsoziologie. Norderstedt: Grin 2000, S. 5-10. 21 Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels: Den Kinderschuhen entwachsen: Einleitende Worte zur Umweltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: FranzJosef Brüggemeier, Jens Ivo Engels (Hg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt am Main: Campus 2005, S. 11. 22 Michael Jungmeier, Christina Pichler-Koban: Natura 2000 und Regionalwirtschaft. In: Ernst Zanini, Barbara Reithmayr (Hg.): Natura 2000 in Österreich, S. 245–255. 23 Interview, Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen/Büro der Erinnerungen (i. d. F.: UMJ), 26.3.2010. 24 Aufruhr gegen „Natura 2000“. Bezirkspolitiker kündigen Marsch nach Brüssel an. In: Der Ennstaler. Unabhängiges Wochenblatt für das gesamte Ennstal, 16.9.2004, zit. nach: www. derennstaler.at/cms/berichte/detail.php?id=2355 [Zugriff: 12.3.2010]. Naturschutz im Sinne der Natura 2000 stellt eine Herangehensweise dar, die vorsieht, Lebensräume bestimmter Tier- und Pflanzenarten zu erhalten und gleichzeitig neue Möglichkeiten für die betreffende regionale Wirtschaft zu eröffnen.22 Diese bereits eingangs erwähnte Zielsetzung in der Handhabung der Natura 2000-Gebiete, nämlich ökologische und ökonomische Interessen miteinander zu verknüpfen bzw. dadurch neue wirtschaftliche Ressourcen zu erschließen, erweist sich in der Praxis – nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen von Natur und divergierenden Anforderungen an diese – als nicht ganz unproblematisch. Auch im Fall der Schutzgebiete an der Enns trafen unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse und Interessen der Menschen in der Region aufeinander. Eine Reihe von Auseinandersetzungen und Konflikten rund um die Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur war den Beschlüssen zur Natura 2000 zudem seit Jahrzehnten vorausgegangen. „Der Wachtelkönig war in der breiten Bevölkerung nicht im Bewusstsein. Das haben ein paar Spezialisten gewusst, eben „Die Vogelwarte“ [Verein „Die Vogelwarte“, Liezen], die sich eigentlich schon – glaube ich – seit den [19]80er-Jahren mit dem Vogel und auch mit der Verhinderung einer möglich mehrspurigen Straße – damals noch S8 – beschäftigt hat; und der Wachtelkönig ist nachher einfach zur Galionsfigur geworden. Und es sind im Laufe der Jahre natürlich bei Straßenbefürwortern so heftige Emotionen gegenüber diesem Vogel, den ganz wenige nur gesehen haben, entstanden, wo man sich denkt, das gibt es gar nicht, was kann der Vogel dafür? Und wenn man sich ein bisschen näher damit beschäftigt, weiß man ja, dass der Vogel nur die Spitze des Eisberges ist. Dass er halt der empfindlichste Teil ist, und [dass] viele andere Vogelarten und Tiere […] diese Bereiche oder diese naturräumlichen Voraussetzungen brauchen [..], und das weiß man, das ist auch nachgewiesen. Aber der Wachtelkönig ist halt die Leitfigur geworden.“23 „Während die Bezirks-‚Grünen‘ jubeln, zeigen sich die Ortschefs und Wirtschaftstreibenden der davon betroffenen acht Gemeinden darüber entsetzt. Seitens der Wirtschaftskammer hagelt es ebenfalls Proteste. ‚Man könne doch eine wirtschaftlich ohnehin angeschlagene Region mit hoher Arbeitslosigkeit nicht so ohne weiteres‚ unter einen Glassturz stellen‘, lauten die Kommentare.“24 „Ich sehe die Vorteile [darin], dass bestehende Landschaften erhalten werden können. Alles was mit der Natura 2000-Aus- 268 — 269 Gundi Jungmeier 25 Interview, UMJ, 26.3.2010. 26 Interview, UMJ, 8.4.2010. 27 Interview, UMJ, 6.4.2010. 28 Interview, UMJ, 26.3.2010. 29 „Natura 2000“ sorgt weiter für Diskussionen. Bauernschaft im Ennstal trotz Information skeptisch. In: Der Ennstaler. Unabhängiges Wochenblatt für das gesamte Ennstal, 27.9.2004, zit. nach: http:// www.ennstal.com/derennstaler/ennstaler-archiv.htm [Zugriff: 15.3.2010]. 30 Interview, UMJ, 26.3.2010. 31 Interview, UMJ, 6.4.2010. weisung zusammenhängt, ist für mich persönlich einfach gut. Ich möchte in dem Tal wohnen bleiben und nicht irgendwann einmal draufkommen, dass ich die Belastungen, die zum Beispiel vom Verkehr ausgehen, nicht mehr aushalte. Und darum tue ich persönlich etwas, damit das möglichst nicht passiert. Und da gehört es eben dazu, dass man sich engagiert, und dass man sich halt für die verschiedenen Sachen interessiert und hofft, dass irgendwann die hohe Politik auch einsieht, dass die Lobbygesellschaft nicht unbedingt das ist, wo man sich total engagieren soll, sondern [dass es] besser ist, naturräumliche Situationen zu erhalten, die positiv sind fürs Überleben der Menschheit. [… ] Ich war immer da, ich bin nie weg gewesen […]. Ich bin auch einer der […] schon viel auf den Bergen unterwegs ist, und es ist ein erhebendes Gefühl auf einem Gipfel zu stehen und in die Ferne zu schauen. Aber wenn man dann hinunter schaut ins Tal, dann ist einem auch bewusst, wie eng das Tal ist, und wie verdammt gut [..] man aufpassen muss, dass diese Naturschätze, die da unten vorherrschen, nicht verloren gehen. Und das ist einfach auch ein extremes Anliegen für mich. Weil ich, glaube ich halt, nicht nur für unsere Generation denken will, sondern auch für viele nachfolgende Generationen, und was unsere Generation momentan mit der Natur macht, das ist eigentlich fürchterlich. Das ist mir halt total wichtig.“25 […]. Jetzt haben sie natürlich auch keine Möglichkeit mehr gehabt, mit den Grundbesitzern irgendwelche Sachen auszuverhandeln. Das war natürlich dann auch für den Dr. F. sehr mühsam. Da sind 20 Bauern dort gesessen, jeder hat geschimpft wie ein Rohrspatz über die Natura 2000-Ausweisung, und der liebe Dr. F. hat genau gewusst, er muss das jetzt machen. Er muss zu ihnen sagen: ‚Leitln, es ist so – und es kann jetzt gar nimmer anders geschehen.‘“28 „Ich glaube, dass diese besonders schützenswerten Gebiete, wie es diese Natura 2000- Gebiete sind, dass die nur dadurch ausgewiesen werden konnten, weil die Landwirtschaft da in der Vergangenheit alles so gemacht hat, dass man heute noch so besonders schützenswerte Gebiete hat. Und ich glaube, das ist auch das Wichtige für die Zukunft, dass man auf die Bauern schaut, weil das sind diejenigen, die die Gebiete erhalten.“26 „Der politische Bezirk Liezen ist wahrscheinlich der bestuntersuchteste [Bezirk], den es in der ganzen Steiermark gibt. […] In etwa 70% der Gesamtfläche ist jetzt von irgendeiner Naturschutzmaßnahme betroffen. Und für uns war immer das Argument spannend: ‚Man muss die Natur schützen‘. So quasi die Wirtschaft betreibt sonst Raubbau. Das ist so mehr oder weniger ein bisserl rübergekommen. Das stimmt insofern nicht, weil wir sehr wohl wissen, dass wir von einer intakten Natur leben und unsere Schigebiete, speziell im Oberland, sind ja das beste Beispiel dafür, dass mit der Ressource Natur sehr vorsichtig agiert wird, weil das letztendlich unser Erwerbskapital ist.“31 „Die Sache ist aus unserer Sicht, also aus der Sicht der Wirtschaft sehr unglücklich gelaufen. Es hat einen Gebietsvorschlag gegeben, der für die Wirtschaft ein bissl problematisch gewesen ist, weil er letztendlich den gesamten Talboden mehr oder weniger in Anspruch genommen hat und wir im Talboden – nachdem wir sonst keine Ausdehnungsmöglichkeiten mehr haben – die einzige Chance gesehen haben oder noch immer sehen, dass wir uns wirtschaftlich weiterentwickeln können.“27 „Im Endeffekt hat es [die Gebietsausweisung] unter sehr großem Zeitdruck passieren müssen. […] Und das ist wirklich im letzten möglichen Abdruck passiert […]. Das Land Steiermark ist schon verurteilt gewesen zu dieser Strafzahlung, weil es untätig war „Grundtenor aus den Reihen der Bauernschaft: Naturschutz ja, aber nicht um den Preis massiver Nachteile für den Menschen. Der Mensch, seine rechtlichen Ansprüche und wirtschaftlichen Bedürfnisse müssen im Vordergrund stehen.“29 „Man kann in dem Sinn nicht eingreifen, dass man das unterstützt durch irgendwelche Zuchtmaßnahmen. Das Einzige, was man machen kann ist, dass man die Fläche zur Verfügung stellt, dass man seinen Lebensraum [den des Wachtelkönigs] erhält. Aber wie gesagt, Lebensraum nicht nur für den Wachtelkönig. Da gibt es das Braunkehlchen, den Kiebitz und, und, und. Also da gibt es Schmetterlinge, die nur da vorkommen und es gibt wirklich keine Sparte, von der man nicht sagen kann, die profitieren auch davon [von der Natura 2000].“30 Protest gegen den Bau der Ennsnahen Trasse (ORF, 1993) 270 — 271 Glaube oder Aberglaube? Gernot Rabl Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010 (Detail) Die griechische Künstlerin Maria Papadimitriou hat sich bereits in der Vergangenheit mit kollektiven Projekten beschäftigt, die neben der Fotografie einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden. In diesem Zusammenhang kann vor allem auf ihre unter dem Titel Temporary Autonomous Museum For All (T.A.M.A.) initiierte Arbeit verwiesen werden.1 Maria Papdimitriou T.A.M.A., 2005 Wie kam nun Maria Papadimitriou zu den Positionen, die zu ihrem künstlerischen Beitrag in Schloss Trautenfels führten, wie wurde die Bevölkerung eingebunden und welche in unserem Diskurs wesentlichen Überlegungen sind darin auszumachen? 1 www.trans-formers.org/ artists_1/301_papadi_d.htm [Zugriff: 28.4.2010]. In unserer Zeit stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit wir gegenwärtig eigentlich noch „Bilder“ für unseren Glauben und/oder Aberglauben brauchen. „Es gab Zeiten, in denen religiöse Symbole, Bilder und religiöses Brauchtum eine Selbstverständlichkeit waren; Zeiten auch, die in einer Vielfalt von Zeichen, Bildern und Brauchtum geradezu geschwelgt haben, so daß man manchmal den Eindruck hat, die Fülle der äußeren Symbole verstelle fast den Blick auf die gemeinte religiöse Wirklichkeit, die sie doch zugänglich machen sollte. Wir sind nüchtern geworden. Viele Symbole und Bilder ebenso wie altvertraute Bräuche haben ihre Ausdruckskraft eingebüßt und sagen uns nur mehr sehr wenig. Wir orientieren uns nach dem, was wir zählen, wägen und messen können ….“3 Auch im Rahmen ihrer Arbeit für die regionale10 war für die Künstlerin von Beginn an die Einbindung der Bevölkerung ein primäres Anliegen. Dies entsprach im Übrigen dem Wunsch der regionale10-Verantwortlichen, die darin – wie in der Schnittstelle zwischen Kunst und Alltagskultur – einen zentralen Punkt des gesamten Festivals für zeitgenössische Kunst sahen. Schon Papadimitrious später verworfene Idee mit den das gesamte Landschaftsbild des Ennstals prägenden „Heustadeln“ sah die Einbringung persönlicher Objekte der hiesigen Menschen vor. Wurden auch die „Heustadeln“ später aus ihrer Arbeit verbannt und durch einen Altar ersetzt, blieb der ursprüngliche Gedanke in leicht veränderter Weise aufrecht. Die Räume des Landschaftsmuseums im ersten Stock von Schloss Trautenfels widmen sich in klar strukturierter Weise je eines übergeordneten Themas, wobei sich Papadimitriou speziell auf den Raum „Vom wahren Glauben“ konzentrierte. Dieser behandelt nicht nur das Thema Reformation und Gegenreformation – bestimmte Bereiche des Bezirkes Liezen stellten bis zur gewaltsamen Unterdrückung 1599 Hochburgen für den protestantischen Glauben dar – sondern zeigt unter anderem auch zahlreiche Votivgaben und Wachsvotive, in welche die Menschen ihre Hoffnungen und Wünsche legten. Eine beispielsweise aus Wachs hergestellte Kröte soll Fruchtbarkeit herbeiführen, ein Wickelkind dem Neugeborenen Schutz bescheren sowie Füße, Hände oder Zahnreihen eine Heilung der entsprechenden Körperteile erbitten oder Dank sagen. Votivgaben sind ganz allgemein Zeichen eines Gelübdes oder Gnadenerweises einer/ eines angerufenen Heiligen – bei den Exponaten im Landschaftsmuseum vertrauten die Gläubigen häufig auf die Muttergottes. Während die genannten Objekte in einem klaren Bezug zum Glauben und Gebet stehen – Tausende von Votivgaben in Kirchen bezeugen übrigens, „dass Vertrauen und Kommunikation mit dem Höheren erfolgreich zur Heilung beigetragen haben“2 –, geht Maria Papadimitriou einen Schritt weiter, indem sie die Symbole und Objekte unserer Ängste zu ergründen sucht. 2 Eva Kreissl: heilsam. Volksmedizin zwischen Erfahrung und Glauben. Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung des Volkskundemuseums am Landesmuseum Joanneum. Graz 2006, S. 13. 3 Klaus Beitl: Volksglaube. Zeugnisse religiöser Volkskunst. München: Hugendubel 1983, S. 5. 4 Vgl. Martin Urban: Wer leichter glaubt, wird schwerer klug. Wie man das Zweifeln lernen und den Glauben bewahren kann. Frankfurt a. M.: Eichborn 2007. 5 Vgl. den Beitrag von Jennifer Allen in diesem Band. Ungeachtet dessen lässt sich der Mensch in seinem Wunsch nach Sicherheit immer wieder überlisten, denn neurologisch gesehen ist der Homo sapiens nach wie vor mit einem Gehirn ausgestattet, welches sich seit der Steinzeit nicht verändert hat und vor allem auf das Überleben hin ausgerichtet ist. So werden unvollständige Informationen, also Dinge, die wir nicht beeinflussen oder uns erklären können, ergänzt, indem das Unbekannte in bekannte Bilder oder Objekte eingeordnet wird. Aus diesem Grund bestimmt weniger das Wissen, als vielmehr der Wunsch nach Schutz und Überschaubarkeit der eigenen Welt das menschliche Handeln. Eine immer komplexer werdende Wirklichkeit erfordert neue Zugänge.4 Maria Papadimitriou5 schuf für die Sonderausstellung einen Altar nach dem Vorbild altgriechischer Opferaltäre und forderte die Bewohner/innen des Bezirkes Liezen auf, persönliche Schutzobjekte (symbolhaft verdichten sich diese bei Papadimitriou zu kleinen „Wünsch-Dir-Was-Glücksschafen“), welche über die erwähnten Votivgaben, Amulette oder Talismane hinausgehen, am Altar darzubringen, um die wie immer gearteten Ängste 272 — 273 Gernot Rabl abzulegen. Vor allem die Gruppierung der unterschiedlichsten Objekte in und außerhalb der Einfamilienhäuser und den damit verbundenen Funktionen (zum Beispiel Unwetter abhaltende „Sonnwendbüscherln“), weckten bereits im Vorfeld Papadimitrious Interesse und trugen wesentlich zu ihrer späteren Arbeit bei. Durch die nun neue und aus dem Zusammenhang gerissene Form der Präsentation rückt folglich auch ein scheinbar materiell wertloses Objekt, jedoch mit klarem persönlichem Bezug, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Weiter gefasst kann auch an die mit Opfergaben verbundenen Rituale erinnert werden – Opfergaben als Darbringung an eine übergeordnete, übernatürliche Kraft. Vom Aberglauben selbst ist jedoch ein Großteil der Menschen – ob im ländlichen oder städtischen Raum – betroffen, wenn beispielsweise mit gewissen Gegenständen, der Verknüpfung bestimmter Handlungen oder mit täglichen kleinen Riten ein wie immer gearteter Erfolg verbunden wird. Einfache Symbole werden zu Glücksbringern und halten imaginäres Unheil von uns fern. In der psychologischen Funktion verschaffen sowohl Glaube als auch Aberglaube den Menschen Sicherheit. Berufsgruppen mit zeitweilig riskanten Tätigkeiten, wie zum Beispiel Seeleute, Bergknappen oder auch Bäuerinnen und Bauern, waren und sind aus diesem Grund abergläubischen Riten wesentlich stärker zugetan. Aus dieser Motivation heraus ergab sich die Überlegung, die Bevölkerung „ihre“ Bräuche, Symbole oder Schutzobjekte selbst definieren zu lassen und zu ergründen, was sie bereit wären für die eigene Sicherheit zu „opfern“. Diesen und ähnlichen Fragen versuchte am zweitägigen 20. Schafbauerntag (vom 19. bis 20. März 2010) ein Team von Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern nachzugehen. Papadimitriou wählte, nachdem bei einem ihrer ersten Aufenthalte im Ennstal der Kontakt zu den Verantwortlichen hergestellt und ein Interesse geweckt worden war, bewusst diese Veranstaltung aus. Aufgrund der zu erwartenden breiten Streuung der Besucher/innen schienen auch begleitende Recherchen Sinn zu machen. Mit der Bitte um eine aktive Beteiligung der Besucher/ innen erfolgte unter dem Titel „regionale10 und Schafbauerntag“ über die Presse folgender Aufruf: An beiden Tagen besteht die Möglichkeit, „sich in Interviewform den gezielten Fragen der regionale 10 Mitarbeiter zu stellen und somit selbst Teil der Sonderausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns im Schloss Trautenfels zu werden …. Auf rege Beteiligung und Schilderungen der unterschiedlichsten Art – von lustig über spannend bis berührend – freut sich das regionale10-Team.“6 Jene Rituale und Gegenstände, die nun im Diskurs von „Aberglaube“ oder „Volksglaube“ betrachtet werden, befinden sich aber in einem Grenzbereich populärer Religiosität. So weiß man von zahlreichen Objekten, „deren Materialien über den religiösen Gebrauchswert hinausgehen, denen übernatürliche Wirkungen zugeschrieben wurden und die dem christlich legitimierten Wunderglauben zuzuordnen sind.“7 Ausgerüstet mit einfachen Aufnahmegeräten wurden sowohl Besucher/ innen wie Teilnehmer/innen mit Fragen unter anderem zu den oben genannten Themen spontan interviewt. 6 Der Ennstaler, Nr. 10, 105. Jg., 12. März 2010, S. 24. Erwartungsgemäß spielte in der Einschätzung über schutzbietende Objekte auch der Aberglaube eine zentrale Rolle (hierbei wurden häufig Silvesterglücksbringer genannt). Kennzeichnet der Begriff des „Aberglaubens“ auch nichtchristliche Religionen, gilt er auch als Abweichung von der Vernunft über etwas nicht zu bestätigendes oder belegbares, ist auf der anderen Seite die Grenze zum „anerkannten“ Volksglauben sehr schmal. So kann dabei an die zahlreichen Bauernregeln erinnert werden, die auf langjährigen, oft über Generationen weitergegebenen Erfahrungen beruhen. Die dadurch ableitbaren Wettervorhersagen spielen, wenn man etwa der Profession einer Landwirtin bzw. eines Landwirtes nachgeht und in vielen Belangen von der Natur abhängig ist, eine wichtige Rolle. 7 Helmut Groschwitz: Anmerkungen zum Verhältnis populärer Esoterik und popularer Religiosität als Ausstellungsthema. In: Anja Schöne (Hg.): Dinge – Räume – Zeiten. Religion und Frömmigkeit als Ausstellungsthema. Münster: Waxmann 2009, S. 41. 8 Christoph Daxelmüller: Vorwort. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1. Berlin u.a.: De Gruyter 1987, S. XXIII ff. 9 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2010, S. 33. Die Grenzen sind somit fließend, und scheinbar festgeschriebene Formen führen durch individuelle Abweichungen und Auslegungen, die nicht einer gesellschaftlichen und/oder wissenschaftlichen Idee folgen (zum Beispiel Naturdeutung), zu eigenen, magischen Kausalitäten. Es kommt zu Abund Ausgrenzung von kirchlichen und naturwissenschaftlichen Dogmen. Eine allgemeingültige Definition von Aberglaube und dem damit verbundenen oben erwähnten Sicherheitsbedürfnis ist somit unmöglich, da eine subjektive Auslegung, heute wie damals und unabhängig vom ländlichen oder urbanen Bereich, dominiert. Letztlich sind eine dem Aberglauben zweifelsfrei innewohnende magische Komponente und die Überzeugung, dass sich, neben physikalisch erklärbaren Gesetzmäßigkeiten, eine darin verborgene okkulte Wirklichkeit befindet, die Garanten dafür, dass diese Form der Schutzsuche auch in Zukunft seine Faszination beibehält.8 Untrennbar verbunden mit den wie immer gearteten Handlungen ist dabei die Tatsache, dass jeder Mensch durch die eigene Umgebung, Landschaft, Erziehung oder Erfahrung geprägt wird. Aus diesem Grund bewegt sich auch die „Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf Tätigsein eingelassen hat, … in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Diese umgebende Welt wiederum, in die ein jeder hineingeboren ist, verdankt wesentlich dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, seiner pflegenden Fürsorge des Bodens und der Landschaft, seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften.“9 Folglich befinden sich auch Glaube und Aberglaube – gebunden eben 274 — 275 Gernot Rabl an feste Orte und Rituale – in einem stetigen Wandel. Aufgrund der soziokulturellen Entwicklungen und den immer komplexer werdenden Anforderungen suchen Menschen somit nicht nur in der Religion (Glaube), sondern auch – und dies mitunter durchaus ergänzend – Zuflucht in der Esoterik („Aberglaube“ im weitesten Sinn). Allen damit verbundenen Objekten, wie eben Amuletten, Pendeln, Traumfängern, Talismanen usw. ist eines gemeinsam: Aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen erschließen sie sich den Betrachter/innen nicht ohne entsprechende Kontextualisierung.10 Aus diesem Grund versuchte ein (auch nicht immunes) Team von Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern während des Schafbauerntages, Hintergründe und Beweggründe zu erfragen. Offene Schilderungen über Ängste und Sehnsüchte machten letztlich vieles begreifbarer und verdeutlichen, wie viel „Tiefe“ in scheinbar bedeutungslosen Dingen steckt. Maria Papadimitriou holte diese „Tiefe“ ins Museum und sorgt mit ihrem Altar und den scheinbar naiv beigegebenen kleinen Schafen für eine gänzlich neue Raumwirkung. Wie bereits in dieser kurzen Abhandlung deutlich wird, handelt es sich bei diesem letztlich auch heiklen Thema um ein sehr komplexes Feld. Die Abhandlungen und Meinungen dazu sind vielfältig und individuell. Dennoch lässt sich resümierend und vereinfacht feststellen, dass die Grenzen zwischen Glaube und Aberglaube häufig ineinander übergehen – dient doch jede Form der Ausübung (vgl. Interviews im Anschluss) nur dem zutiefst menschlichen Wunsch nach Schutz und Sicherheit. 10 Helmut Groschwitz: Anmerkungen zum Verhältnis populärer Esoterik und popularer Religiosität als Ausstellungsthema. In: Anja Schöne (Hg.): Dinge – Räume – Zeiten. Religion und Frömmigkeit als Ausstellungsthema. Münster: Waxmann 2009, S. 46. „Die Trud’ ist angeblich – laut der Überlieferung – eine alte Frau, die mit den Kindern herumzieht, die keine Namen erhalten haben, die gestorben sind, während der Geburt, vor der Geburt, wie auch immer. Und da sagt man, das ist immer in der Walpurgisnacht, da geht sie immer mit den Kindern herum und da stellt man entweder Zuckerl hinaus oder man richtet ein paar Apferl hinaus. Und man sagt einfach Namen so hinaus, in die Luft. Irgendwelche Namen die einem gerade einfallen, damit die Kinder Namen erhalten. Und sobald ein Kind einen Namen hat, kann es weitergehen. Das ist ein ganz alter Brauch, der stammt noch aus – sie vermuten – aus der Zeit der Kelten. […] Für mich ist das eigentlich ein Glücksbringer, weil […] es heißt ja du sollst jeden mit [seinem] Namen ansprechen, und damit gibst du ihm eine Persönlichkeit, eine Wichtigkeit, und mir kommt vor, dadurch kommt Segen auf den Betrieb zurück.“ „Ich glaube Angst ist ein schlechter Ratgeber. Man soll also vor solchen Ereignissen [Wetterschäden] keine Angst haben. Das gehört einfach zur Landwirtschaft dazu.“ 11 Interviews, Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen/Büro der Erinnerungen, 20.3.2010. „Ich glaube das Wichtigste ist der Glaube an die Zukunft. Und wenn man einen Weg in Zukunft begehen will, dann ist das keine Einbahnstraße, sondern man muss Rückschläge zur Kenntnis nehmen. Und wie gesagt, so ein Rückschlag ist zum Beispiel auch der Hagel oder sonst irgendeine Sache. Aber das sind Dinge, die man eben im Leben mitmachen muss. […] Klar, ist ein christlicher Glaube hier von Vorteil und macht einem auch wieder Mut. Ich muss aber sagen, an sonstige Glücksbringer, irgendwelche Spielzeuge oder sowas, glaube ich nicht.“ „Früher wenn man ein Haus gebaut hat, [hat man] unter dem Haus beim Eingang vorne ein lebendes Tier begraben. Das war ein uralter Brauch, um das Böse abzuhalten. Das ist uralt, das macht heute niemand mehr.“ „Ich glaube, wenn man daran glaubt [an schützende Bräuche], dann wird es etwas bringen. Ich glaube nicht daran, mir bringt es nichts, und ich nehme auch in Kauf, was auf mich zukommt – [damit ist es für mich] erledigt.“ „Wir weihen auch unsere Autos immer, damit wir keinen Unfall haben – das ganze Jahr. Und die Haube tut man auch einweihen, dass man nicht krank wird.“ „Das ist das Räuchern […] das ist so eine Rauchpfanne mit Weihrauch, Kranewitter [Wacholder], Gras, Palmzweigerl von der Palmprozession, die kommen in einen Topf hinein – mit einer Glut und dann gehen wir alles durch – Haus, Garage, Stall, alles. In jeden Raum wo gearbeitet wird gehen wir hinein und dahinter geht einer [Weihwasser] versprengen. Und für mich ist das eigentlich – ich gehe da mit seit ich ein kleiner Bub war, und ich möchte das auch weiterhin so machen.“11 276 — 277 Wetterfest in die Globalisierung Notizen zur unverwüstlichen Karriere des Lodens Günther Marchner Das Ding aus einer anderen Zeit Die „zweite Haut“ der schaffenden Menschen wurde in den Gegenden des Bezirks Liezen – wie in anderen alpinen Räumen – aus Tierhäuten, Wolle und Flachs zu Loden, Leder und Leinen und schließlich zur Kleidung lokal verarbeitet. Dieses „G’wand“ für Alltag und Arbeit ist im Prozess von Industrialisierung und Globalisierung unserer Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensverhältnisse als „Mainstream-Kleidung“ beinahe bedeutungslos geworden. Aber vielleicht nur vorläufig. 1 Eine eindrückliche Darstellung zur Technikgeschichte der Lodenwalken liefert Johann Schwertner: Der Lodenwalker in der Ramsau. Ein Beitrag zur Volkskunde des steirischen Handwerks. Phil. Diss., Graz 1988; Johann Schwertner: „…von einem guoten stampfhart. Loden im Wandel der Zeit (=Schriftenreihe des Kärntner Freilichtmuseums in Maria Saal). Klagenfurt 1996. 2 Siehe dazu die aus der Region (Ennstal, Steirisches Salzkammergut) stammenden Mitgliedsbetriebe der Meisterstrasse (www. meisterstrasse.at). Zum Teil bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hat sich die historische Funktion von Loden-, Leder- oder Leinenbekleidung und damit verbundener Gewerbe erhalten: Loden als Wollprodukt schützte vor den Elementen der „verschärften“ alpinen Natur und war Material für die Arbeitskleidung von Bauern oder Holzknechten. Bauern tauschten die Wolle ihrer Schafe gegen gewalkte Wolle (Loden) ein. Historisch wurde Lodenwalken in den meisten Fällen als Nebengewerbe und Dienstleistung für den Bedarf des lokalen Umfeldes betrieben.1 Störschneider zogen von Hof zu Hof und erzeugten bzw. richteten bis in die Zeit der Textilhandelsgeschäfte das „Jahresg’wand“ für die bäuerliche Bevölkerung. Nun sind Schneider beinahe ausgestorben, außer sie schaffen es, in einem Exklusivbereich mit hochpreisigen Qualitätsprodukten für einen spezifischen Markt zu operieren.2 Ebenso sind die meisten Lodenwalken im alpinen Raum verschwunden, wie insgesamt der größte Teil des europäischen Textilgewerbes. Textilwirtschaft ist – als erste Branche – Teil einer globalisierten Industrie geworden. Die Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung „regionaler“ Textilprodukte und „traditioneller“ Kleidung wie im Besonderen des Lodenge- 3 In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf folgender Literatur: Franz Lipp (Hg.): Trachten in Österreich. Wien 1984; Franz Lipp: Das Ausseer G’wand (Neuauflage). Bad Ausseee 1997; Ulrike Kammerhofer-Aggermann: Dirndl, Lederhose und Sommerfrischenidylle. In: Robert Kriechbaumer (Hg.): Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg (=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-HaslauerBibliothek, Salzburg 14). Wien (u.a.): Böhlau 2002; Salzburger Landesinstitut für Volkskunde (Hg.): Trachten nicht für jedermann? Heimatideologie und Festspieltourismus dargestellt am Kleidungsverhalten in Salzburg zwischen 1922 und 1938. (=Salzburger Beiträge zur Volkskunde, Bd. 6). Salzburg 1993; Bernhard Tschofen: „Urtracht“ als Touristenkostüm. Ein moderner Alpenmythos zwischen Volkskunde und Alpinismus. In: Tradition Nr. 57/Frühling & Sommer 2001, S. 78-81. ders.: Trachtengrün. Berufsgewand – Gesinnungsmode – Alltagskleid. In: Tradition Nr. 63/Frühling & Sommer 2004, S. 8-12.; ders.: Lebensgefühl Tracht. Wege aus der Verkrampfung. In: Nora Schönfellinger, Lutz Maurer (Red.): Tracht – Landschaft – Musik. Forum Aussee 2001, Abschlussbericht. Bad Aussee 2001, S. 10-20. Zusätzliche Informationen verdanke ich den Gesprächen mit Vertretern der Ennstaler Lodenwalken, mit zwei Schneidermeistern aus der Region sowie einem Ausseer Lederhosenmacher. wandes erfuhr einen enormen Funktions- und Bedeutungswandel: Aus dem historischen „G’wand“ der Leute entstand die „Tracht“ und die „Trachtenmode“. Der frühere Einsatz von Loden als wetterfestes Material (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) für alpines Leben und Arbeiten wurde zunehmend von seiner Rolle als Basismaterial für Trachtenbekleidung abgelöst. Aber auf den in den letzten Jahrzehnten abnehmenden Markt für „Wetterflecke“ und Lodenmäntel folgt auf leisen Sohlen die Renaissance des Lodens als Naturprodukt für qualitätsvolle Sport- und Modebekleidung sowie dessen subtiler Einsatz in der internationalen Mode und als edler Bezugsstoff. Vom G’wand zur vieldeutigen Tracht Aus dem historischen „G’wand“ der schaffenden Menschen entwickelte sich die Tracht bzw. die Trachtenmode.3 Denn dieses „G’wand“ war immer auch „Kommunikationsfläche“, verbunden mit Bedeutungen und Zuschreibungen: Sei es aufgrund von „Kleiderordnungen“, die den Menschen per Kleidung den richtigen „Stand“ zuwiesen. Oder sei es als „Mode“, die zum Beispiel Bürgern, Hammerherren oder großen Bauern zur Präsentation von Reichtum und von sozialem Status diente oder besondere Individualität ausdrücken sollte. Im Zeitalter von Aufklärung und Romantik (18. auf 19. Jahrhundert) entdeckten Adel und Bürgertum die Natur und das „einfache Volk“. Mit dieser sehnsüchtigen Hinwendung zu einer heil erscheinenden ländlichen Welt machten sie jenes alte, regional und sozial begrenzte bäuerliche Gewand, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Relikt einer ständischen Gesellschaft galt und nur in stadtfernen, alpinen Regionen überdauerte, salonfähig – wie im Besonderen im Salzkammergut und in der Obersteiermark. Die Entwicklung von Trachten, deren heute bekannte Formen großteils im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert entstanden, ist auch Ausdruck der Zunahme an bürgerlicher Freiheit und Individualität. In Verbindung mit ihrer Natur- und Heimatsehnsucht begannen städtisch-bürgerliche Schichten und Adelige, sich im Gewand des einfachen Volkes zu kleiden – im Gegensatz zu den abwandernden „proletarischen Massen“ aus ländlichen Regionen – und machten es als Tracht in stilisierten Formen und Verfeinerungen populär. Dies hatte aber auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die kollektive Identität von ländlichen Bevölkerungsgruppen und letztlich auf ihre Kleidungsideale, da dem verblassenden alten Gewand wieder ein Wert gegeben wurde. Ein wichtiges Beispiel für die Entwicklung und Verbreitung von Tracht im 19. Jahrhundert bildet der populäre graugrüne Lodenrock (der spätere Farbproben Loden Steiner 1988 In der Lodenwalke Ramsau, 2010 280 — 281 Günther Marchner Steireranzug), forciert im Besonderen von Erzherzog Johann. Dieser graugrüne Rock wird zum besonderen, vielschichtigen Symbol – mit der Farbe Grün für Natur- und Heimatverbundenheit, aber auch als Absage an feudale Werte und als Bekenntnis zum neuen Staatsbürgertum (so propagierte Erzherzog Johann eine graugrüne Landwehruniform), gleichzeitig auch „rationaleren“ Vorstellungen von Kleidung entsprechend: Abgesehen vom dezent eingesetzten Grün ist er einfärbig grau, einfach, klar, schnörkellos. stellt das Steirische Trachtenbuch von Konrad Mautner, des regelmäßig in Gössl verweilenden Sprosses einer Industriellenfamilie, dar. 4 In der Ersten Republik war Tracht nicht nur Freizeitbekleidung für die Sommerfrische und die neuen Salzburger Festspiele, sondern auch Symbol eines Bekenntnisses zu Österreich als Staat, „den keiner wollte“ und als nostalgische Hinwendung zur versunkenen „Welt von gestern“, der k.k. Monarchie.5 Dirndl und Lederhose avancierten zur schicken Sommermode – wie zum Beispiel im Falle von vielen Künstlern und Prominenten in der Festspielstadt Salzburg (auch ein eigener Salzburger Trachten-Look wird kreiert). Der Ständestaat progagierte in seinem Identitätsbemühen im neuen, kleineren Österreich die Einführung von Landestrachten. Über städtische Schichten, Adel und Bürgertum ist somit aus dem alten „G’wand“ die „Tracht“ geworden. Und immer weniger dient sie dem Alltagsgebrauch, sondern vermehrt als Kleidung für festliche Anlässe und für Zwecke der Präsentation. Völkisch-nationale Gruppierungen instrumentalisierten Tracht für Agitation und Ausgrenzung und machten sie zur „heiligen, ererbten Vätertracht“ als Symbol für völkischen Heimatschutz. Die antisemitische Programmatik dieser Strömungen sprach den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, darunter auch vielen begeisterten Sommerfrischlern, das Recht ab, Tracht zu tragen – eine Entwicklung, die im Trachtenverbot für Juden im nationalsozialistischen Staat mündete. Tracht zu tragen entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert insgesamt zu einer komplexen und vielschichtigen Angelegenheit: Als gewohnheitsmäßiges und „selbstverständliches“ Tragen von Loden in bäuerlich-ländlichen Milieus im Alltag. Als Bekenntnis zur „Tradition“ einer Gruppe oder einer Region, der man sich mit Stolz zugehörig fühlt. Als Lust auf die besondere Ästhetik von Formen und Stoffen und des Sich-Bewegens in den Sehnsuchtsräumen des städtischen Großbürgertums („Leichtigkeit des Seins in der Sommerfrische“). Darüber hinaus wird Tracht auch Ausdruck für kulturelle und politische Werthaltungen (Ablehnung der industrialisierten, urbanen und modernen Welt, Bekenntnis zu einer überlieferten ländlichen Welt, Heimat- und Naturverbundenheit). Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert avancierte Tracht auch zum Objekt völkischer und nationaler Strömungen. Einen besonderen Höhepunkt der Adaptierung der Kleidung der Einheimischen für ein neues Lebensgefühl städtisch-bürgerlicher Schichten in Verbindung mit Freizeit und Jagd bildet die im auslaufenden Zeitalter von Romantik und Historismus aufkeimende Sommerfrische. So ist zum Beispiel das „Dirndl“ eine Erfindung bürgerlicher Sommerfrischlerinnen, die in das „Stallg’wand“ der Almerinnen schlüpften. Über Erzherzog Johann hinaus setzten auch die Habsburger das Trachtentragen fort, wie zum Beispiel Kaiser Franz Josef, der in Lederhosen auf die Ischler Jagd ging und damit starke Signale („Natursehnsucht“, „Volksnähe“, „Heimatverbundenheit“) setzte. Gegen die Auswüchse der „X-Beliebigkeit“ von Trachtenmode seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich die im Kontext von Heimatbewegungen und Liebe zur Volkskultur entstandene Volkskunde um die Aufarbeitung der Trachtenentwicklung sowie auch um Maßstäbe für „korrekte“ Tracht. So entstanden mehrere Trachtensammlungen. Ein besonderes Beispiel für eine umfangreiche und nachhaltig wirksame Sammlung Nach 1945 wurde das Tragen von Tracht in vielen Kreisen desavouiert. Einerseits ist dies jenem „Graben“ zu verdanken, den die völkisch-nationale und nationalsozialistische Vereinnahmung von Trachten hinterlassen hatte. Andererseits hat diese Ablehnung von Tracht auch mit der (linken) Populärkultur seit den 1960er-Jahren zu tun. Tracht zu tragen unterliegt seither – auch aufgrund politischer Vereinnahmungen – Vorurteilen und damit verbundenen Zuweisungen (Tracht = rückständig, bürgerlich, traditionell, konservativ, rechts usw.). 4 Konrad Mautner: Steirisches Trachtenbuch. Weitergeführt und herausgegeben von Viktor Geramb. 2 Bde. Graz 1932 und 1935 (eigentlich abgeschlossen 1939); vgl. dazu: Nora Schönfellinger (Hg.): „Conrad Mautner, großes Talent“. Ein Wiener Volkskundler aus dem Ausseerland. Grundlsee 1999. 5 So der Titel eines Klassikers von Stefan Zweig. Zurück zum Loden: Ab den 1960er-Jahren wurde Loden (oder auch Leinen) durch neue Stoffe ersetzt. Insbesondere der traditionelle Einsatz des Lodens als funktionales Material für Arbeits- und Sportbekleidung verschwand zugunsten der Verwendung von Kunstfaser. Noch bis in die 1950er-Jahre war Loden aufgrund seiner besonderen Qualitäten (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) von Bergsteigern genutzt worden. Abgesehen von alpinen Regionen – wo Trachten verbreitet bei festlichen Anlässen getragen werden – verschwand die Tracht in den letzten Jahrzehnten aus dem Alltag, besteht jedoch in spezifischem Rahmen weiter, zum Beispiel im Rahmen von Trachten- und Heimatpflegeaktivitäten. Im Besonderen wurden örtliche Musikkapellen zu Repräsentanten von Tracht, die sich zusehends von militärischen Formationen zu kollektiv marschierenden Trachtenkörpern verwandeln. In Verbindung mit Touris- 282 — 283 Günther Marchner musregionen und populärer Volkskultur wird Trachtenmode für manche Bevölkerungsschichten in Österreich, in der Schweiz, in Südtirol sowie im süddeutschen Raum zum Ausdruck eines Lebensgefühls. Heute gehört vor allem das Ausseerland – wie andere Teile des Salzkammergutes – zu jenen besonderen „Trachteninseln“, die sich im Wechselspiel des eigensinnigen Stolzes der Bewohner/innen mit dem städtisch-bürgerlichen „Sommerfrische-Import“ erhalten haben. Wo sich andernorts Trachtenvereine bemühen, „bedrohte“ Tracht zu bewahren und zu repräsentieren, zählt sie hier zur alltäglichen Selbstverständlichkeit – quer durch alle Bevölkerungsschichten. Als typisch „ausseerisch“ und „steirisch“ gilt das typische Ausrüstungsset: wie zum Beispiel die Lederhose (eng und lang bis oberhalb des Knies), der Gamslrock, grüne Stutzen mit der eingemusterten „brennaden Liab“ oder anderen Motiven, der Ausseer, bzw. der Steirerhut oder das Seidenbindl. Oder eben der graugrüne Steieranzug. Oder das Dirndl. Eine besondere Variante des graugrünen Rocks ist der „Schladminger“: als „schwerwiegender“ Überrock in der Regel aus besonderem Loden (Perlloden) hergestellt, der zwar weit über die Region hinaus bekannt ist, doch überwiegend im oberen Ennstal von Einheimischen wie zunehmend von langjährigen Gästen und zugezogenen „Zweiheimischen“ getragen wird. Im Zusammenhang mit einem „Trachtenboom“ in den 1990er-Jahren, der 10 Jahre später ebenso rasch wieder zusammengebrochen ist,6 wurde der „Schladminger“ zum besonderen Kult- und Werbeobjekt des boomenden Wintersportortes Schladming. Er avancierte vom Bauernund Holzknechtgwand zum „Bürgermeisterjanker“, der Exilschladmingern zu ehrenhaften Anlässen oder Verwandten zum „50er“ geschenkt wird, oder auch Prominenten wie Arnold Schwarzenegger verpasst wird, durch welchen der Schladminger zum besonders „massiven“ Werbeträger wurde. 6 Aus einem Gespräch mit einem Lodenproduzenten. Erfolgreiche Nischen- und Qualitätsprodukte für einen überregionalen Markt 7 Ich beziehe mich dabei auf Aussagen und Informationen aus den Gesprächen mit Vertretern der Ennstaler Lodenwalken, mit zwei Schneidermeistern aus der Region sowie einem Ausseer Lederhosenmacher. Alpines Textilgewerbe ist angesichts einer globalisierten Textilindustrie zu einer Besonderheit geworden. Aber hat Lodenproduktion überhaupt eine Zukunft? Kann Trachtenhandwerk überleben? Beispiele aus dem Ennstal und dem Ausseerland zeigen sehr wohl Beispiele für erfolgreiche Nischen- und Qualitätsstrategien7: 8 Dieser Ursprungsstandort in Rössing in der Ramsau ist eine der ältesten Lodenwalken im Alpenraum (über 500 Jahre). Im Ennstal bestehen derzeit zwei Lodenwalken, die familiengeschichtlich aus einem Standort hervorgehen.8 Beide Betriebe (mit durchschnittlich 25 bzw. 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) haben es geschafft, dem Wandel von Produktionsbedingungen, Modeströmungen und Globalisie- Lederhosenstilleben, Was man nicht sieht 284 — 285 Günther Marchner rung zum Trotz erfolgreich zu bestehen. Im Gegensatz dazu sind viele andere kleine Lodenwalken in den letzten Jahrzehnten verschwunden. Beide Ennstaler Betriebe produzieren Loden zwar auch für Trachtenkleidung (zu ca. 50%), wie auch den berühmten „Schladminger“. Allerdings sind Trachten nicht der einzige und vor allem nicht der entscheidende Markt, der das Überleben dieser Betriebe sichert. Dafür haben diese Betriebe unterschiedliche Spezialisierungs- und Nischenstrategien entwickelt:9 → Die Lodenwalke in Ramsau/Rössing setzt auf „Tradition“: Bis auf notwendige Modernisierungen (Maschinen für Spinnerei und Weberei) ist vieles unverändert geblieben. Loden wird naturnahe und schonend erzeugt, der Betrieb überzeugend als transparentes und ehrliches „Erlebnis“ inszeniert. Zu dieser Authentizität gehört auch, dass die Konfektionierung des Lodenstoffes für Tracht und Mode zu 100% durch steirische Schneidereien erfolgt. Eine Besonderheit, die zum Markenzeichen des Betriebes zählt: Die Produkte dieser Lodenwalke gibt es nur „vor Ort“ zu kaufen bzw. zu bestellen. Entscheidend für den Betrieb ist jedoch, dass eine Kombination aus traditionellen mit neuen modischen Produkten gelingt und damit ein erweitertes Publikum anzieht. Zunehmend wird von einer neuen Kundschaft die besondere Qualität des Lodens wahrgenommen und geschätzt, die er zum Beispiel für Sportbekleidung hat (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, geruchsabsorbierend). Allerdings wird von diesem Betrieb schon lange nicht mehr heimische Wolle verwendet. Diese ist aufgrund des Klimas zu hart und zu kratzig. Loden aus der Ramsau wird aus feinerer, überseeischer Wolle erzeugt. Heute bildet die Lodenwalke in Rössing einen originellen handwerksorientierten Herzeigebetrieb mit hoher Produktqualität und besonderem Erlebniswert in einer Tourismusregion. 9 Informationen aus Gesprächen mit Vertretern der beiden Betriebe im März 2010 sowie verfügbaren Unterlagen. → Loden Steiner in Mandling ist seit dem Rückgang traditioneller Lodenkleidung in den 1980er-Jahren zunehmend innovativ auf neue Märkte ausgerichtet. Im Besonderen der früher weit verbreitete Lodenmantel ist, so ein Vertreter des Unternehmens, „quasi ausgestorben und müsste unter Artenschutz gestellt werden“. Mit der Neuausrichtung des Unternehmens wurden die Lodenstoffe bunter und vielfältiger. Internationale Marken werden mit ausgewählten Stoffen beliefert, die flexibel und in kleinen Mengen erzeugt werden. Die Firma ist auf Modemessen in Paris vertreten und inzwischen dort „in den Köpfen verankert“. Zusätzlich wird mit Innendekoration (Decken, Bezugsstoffe wie zum Beispiel für Hoteleinrichtungen) eine neue und wachsende Schiene aufgebaut. Entscheidend ist: Beide Betriebe verbinden Tradition und Erfahrungswissen mit neuen Strategien (Nischen- und Qualitätsproduktion für einen überregionalen Markt) und tragen quasi als identitätsstiftende „LeitKMUs“ zur Wertschöpfung in der Region bei. Darüber hinaus gibt es in der Region erfolgreiche Handwerksbetriebe im Bereich der Verarbeitung und Vermarktung von Trachten. Dazu zählt zum Beispiel der einzige Lederhosenmacher im Ausseerland, der Lederhosen nur auf Maß erzeugt (Kostenpunkt: zwischen 1000 bis 2000 Euro pro Stück, mit durchschnittlich einem ¾ Jahr Wartezeit), der zwischendurch für Kundinnen und Kunden auch eine Blue Jeans richtet, mit einer Werkstatt als gleichzeitigem Verkaufs-, Verhandlungs- und Anproberaum sowie einem Werbebudget von Null Euro. Und es gibt Schneidereibetriebe im Ausseerland oder in der Ramsau, die Tracht, auch in eigenständiger Weiterentwicklung und in Maßarbeit für ein ausgewähltes Publikum erzeugen – und dies mit dem Handel von Trachten- und Modebekleidung „von der Stange“ in allen Lagen und Preisklassen verbinden. Entscheidend für ihren Erfolg ist ihre Positionierung in einer Tourismusregion, aus denen sich auch ein überregionales Publikum erschließt. Wetterfest in die Globalisierung Loden wird überwiegend mit „Tracht“, „grün“ oder „grau“ und „konservativ“ assoziiert. Aber das stimmt schon lange nicht mehr. Traditionelle Lodenkleidung wie der „Wetterfleck“ ist nicht ausgestorben. Aber der Wetterfleck ist zu etwas Besonderem geworden, getragen „von Individualisten“, so ein Lodenproduzent. Der Alltagseinsatz des „Schladmingers“ ist nicht nur bei Prominenten zu bewundern, sondern auch bei Skiliften der Region, wo er den Bauern, die dort im Neben- oder Zuerwerb tätig sind, jenen besonderen Schutz bietet, wie er es früher immer schon getan hat. Einer tendenziell statisch-konservierenden Trachtenpflege durch Volkskunde, Museen und Trachtenvereinen ist eine dynamische Seite gegenüberzustellen: Zum Beispiel jene cool-bunten Trachtenträger/innen, die beim „Weaner Seertag“ alljährlich das Altausseer Bierzelt heimsuchen oder jene Schneider, die mit viel Kompetenz und Behutsamkeit Trachtenkleidung in Maßarbeit durch eigene Kreationen weiterentwickeln und sich nicht gerne vorschreiben lassen möchten, wie Tracht auszusehen hat. 286 — 287 Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf Gundi Jungmeier 1 Ortsplan von Bad Mitterndorf, http://www.badmitterndorf.at/OrtsplanBad-Mitterndorf.577.0.html [Zugriff: 31.3.2010]. 2 Walter Kiwit: 40 Jahre Sonnenalm in Bad Mitterndorf im steirischen Salzkammergut. Bad Mitterndorf 2005, S. 4. 3 http://www.sonnenalm. net/3.html [Zugriff: 14.4.2010]. 4 Hermine Vidovic: Wirtschaftliche, soziale und räumliche Auswirkungen von Zweitwohnsitzen. Fallstudie Bad Mitterndorf. Dipl.-Arb., Wien 1982, S. 54–55. 5 Ebda., S. 93–95. 6 Ralph Weiß: Vom gewandelten Sinn für das Private. In: Ralph Weiß, Jo Groebel: Privatheit im öffentlichen Raum. Medienhandel zwischen Individualisierung und Entgrenzung (=Schriftenreihe Medienforschung, Bd. 43). Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 31. Gute drei Kilometer vom Ortskern von Bad Mitterndorf, nordöstlich der Salzkammergut-Bundesstraße, liegt die Sonnenalm, eine Ansiedlung von Ferienwohnbauten.1 Zwischen 1964 und 1974 wurden acht Appartementhäuser sowie eine Reihe von Bungalows und kleineren Freizeitwohnanlagen errichtet, die insgesamt 609 Wohneinheiten umfassen.2 Diese werden von ihren Besitzerinnen und Besitzern teilweise auch anderen Erholungssuchenden zur Miete angeboten.3 Der Bau dieser Anlage ging einher mit einem in den 1960er-Jahren einsetzenden gesamtösterreichischen Trend, Freizeitwohnraum für (in erster Linie ausländische) Erholungs- und Erlebnissuchende zu schaffen, um so die regionale Wirtschaft anzukurbeln.4 Worin liegt jedoch der Reiz, sich am Urlaubsort einen Zweitwohnsitz einzurichten, anstatt den Service eines Hotels oder die Gemütlichkeit einer Frühstückspension zu genießen? Neben finanziellen Überlegungen (z. B. um sich längere Aufenthalte in einer Ferienwohnung besser leisten zu können oder den Ankauf der Wohnung auch als Wertanlage zu betrachten) ist dies auch eine Frage von Prioritäten in punkto „Wohnen am Urlaubsort“.5 Im Gegensatz zu Beherbergungsbetrieben bieten Ferienwohnungen ein hohes Maß an privater Atmosphäre. Was aber genau ist unter „privat“ zu verstehen? Privatheit bedeutet einerseits Schutz vor Eingriffen durch öffentliche Gewalt – also staatliche Kontrolle und Überwachung – wodurch persönliche Autonomie gewährleistet wird. Andererseits schließt Privatheit auch Freiheit vor Übergriffen anderer Privatpersonen und die Sicherung materieller und sozialer Voraussetzungen für persönliche Freiheit ein. Letzteres wird wiederum von der öffentlichen Gewalt gewährleistet.6 7 Hans Erich Bödeker: Die bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft. In: Notker Hammerstein, Ulrich Herrmann: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, Bd. 2. München: Beck 2005, S. 516–517. 8 Helgard Mahrdt: Öffentlichkeit, Gender und Moral. Von der Aufklärung zu Ingeborg Bachmann (=Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie, Bd. 304). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 12. 9 Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 22. 10 Ebda., S. 21–22. 11 Ralph Weiß: Vom gewandelten Sinn für das Private, S. 34. 12 Siegfried Lamnek: Die Ambivalenz von Öffentlichkeit und Privatheit, von Nähe und Distanz. In: Siegfried Lamnek, Marie-Theres Tinnefeld: Privatheit, Garten und politische Kultur. Von kommunikativen Zwischenräumen. Opladen: Leske u. Budrich 2003, S. 40. 13 Ebda., S. 40. 14 Marie-Theres Tinnefeld: Privatheit: Garten und politische Kultur. Einführende Gedanken. In: Siegfried Lamnek: Marie-Theres Tinnefeld, Privatheit, Garten und politische Kultur, S. 18. Die Idee der Privatheit steht außerdem in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert. Diese stellt eine Teilöffentlichkeit mit eigenen Werten und Medien dar, welche ihren Protagonistinnen und Protagonisten die Möglichkeit zur Kommunikation eröffnet. Dadurch werden Privatpersonen – die ursprünglich das Publikum bildeten – zu Akteurinnen und Akteuren.7 Voraussetzung für diese Entwicklung ist die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wobei die bürgerliche Öffentlichkeit eine eigene, vom herrschaftlich-öffentlichen und vom privaten Bereich getrennte Sphäre darstellt.8 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht sich auch im wirtschaftlichen bzw. familiären Bereich ein Strukturwandel. Die privatwirtschaftliche Sphäre büßt beispielsweise an privatem Charakter ein und erhält stärkere öffentliche Relevanz. Analog zur bürgerlichen Öffentlichkeit entwickelt sich bis zur Wende zum 19. Jahrhundert die sogenannte „bürgerliche Privatheit“, die z. B. durch Veränderungen in Familienstrukturen (bürgerliche Kleinfamilie) gekennzeichnet ist. Zudem kommt es, so Werner Faulstich, zu einer „Isolation von Familie als programmatische Abgrenzung von der ökonomisch bestimmten neuen Öffentlichkeit“.9 Vor dem Hintergrund der neu entstandenen kommerziellen Öffentlichkeit bildet die Familie somit einen Ort der Regeneration außerhalb eines leistungs- und gewinnorientierten Umfelds.10 Innerhalb des sehr komplexen Themas der Privatheit und in Zusammenhang mit der starken Abgrenzung der Familie bzw. des Familienlebens kann der Begriff „Häuslichkeit“ ausgemacht werden. Dieser kennzeichnet einen Bereich, in dem sich eingegangene soziale Beziehungen auf Übereinkunft gründen und davon bestimmt sein sollen. Hier können sich Menschen – zumindest der Idee nach – ohne Rücksichtnahme auf Konventionen, die bestimmend für ihr öffentliches Leben sind, offenbaren und werden um ihrer selbst willen anerkannt. Die häusliche Atmosphäre bietet Möglichkeiten für Selbstausdruck und Selbstverwirklichung und garantiert die Sphäre der Intimität.11 In den letzten Jahren verschwimmen wiederum die Grenzen zwischen häuslicher Privatheit und Öffentlichkeit, da persönliche Aspekte zunehmend in öffentlichen Räumen sichtbar werden. Siegfried Lamnek sieht darin die „schleichende Privatisierung der Öffentlichkeit“12 und führt dabei Argumente wie mobile Kommunikation auf offener Straße und neue Unterhaltungsformate, in denen Intimitäten und persönliche Schicksale im Fernsehen gezeigt bzw. beobachtet werden, ins Treffen.13 Umgekehrt kommt es auch zu einer stärkeren Durchdringung des privaten Raumes durch Aspekte des öffentlichen Lebens, die stark von neuen Kommunikationstechnologien, wie z. B. dem Internet, ermöglicht werden. „Staatliche und private Akteure suchen Zugang zu den Interaktionsprozessen in der digitalisierten Wirklichkeitsschicht und erfassen sie datenmäßig, um sie abzubilden und für verschiedene Zwecke zu nutzen.“14 288 — 289 Gundi Jungmeier 15 Mathias Stock: Polytopisches Wohnen – ein phänomenologisch-prozessorientierter Zugang (=Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1/2.2009). Bonn 2009, S. 107. 16 Ebda., S. 111. 17 Rainer Maderthaner: Wohlbefinden, Lebensqualität und Umwelt. In: http://homepage.univie. ac.at/rainer.maderthaner/ Wohlbefinden%20LQ%20 Umwelt%20(Kryspin)%20 Reprint.pdf [Zugriff: 14.4.2010], S. 6–10. 18 Burkhard Pöttler: Der Urlaub im Wohnzimmer. Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen – Reiseandenken und Souvenirs. In: Johannes Moser, Daniella Seidl (Hg.): Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus. Münster: Waxmann 2009, S. 120–121. 19 Rainer Maderthaner: Wohlbefinden, Lebensqualität und Umwelt, S. 6–10. 20 Marie-Theres Tinnefeld: Privatheit, Garten und politische Kultur, S. 18. Die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie deren Durchdringbarkeit variieren also und unterliegen je nach kulturellem, politischem und zeitlichem Kontext Veränderungen. Im Hinblick auf den Ort, an dem sich Menschen häuslich einrichten, lässt sich seit einigen Jahrzehnten der Trend zu höherer Mobilität feststellen. Der Begriff „Wohnen“ impliziert Werte wie Verbundenheit oder Ortsansässigkeit, die im Gegensatz zu Mobilität stehen. Die Nutzung von Zweitwohnsitzen, Pendeln zum Arbeitsplatz über große Distanzen, Studienaufenthalte usw. sind Mobilitätserscheinungen, die sich nicht mehr mit ortsgebundenem Leben, in dem alle Erledigungen des Alltags im näheren Umfeld des Wohnraumes erfolgen, verbinden lassen.15 Touristische Mobilität wiederum ist gekennzeichnet vom Unterschied zwischen Alltagsort und Urlaubsort. Im Falle der Nutzung einer Zweitwohnung löst sich diese Differenz teilweise durch die Vertrautheit mit der Wohnung am Urlaubsort auf.16 Was die Wahl des Ortes bzw. der Immobilie einerseits und die Gestaltung des Wohnraumes sowie des Lebens in diesem Umfeld andererseits betrifft, so müssen Architektinnen bzw. Architekten und Bewohner/innen ein geeignetes Maß an Privatheit, Sicherheit, Funktionalität, Ordnung, Möglichkeiten zu Kommunikation und Regeneration, Aneignung, Partizipation und Ästhetik finden. 17 Durch die sich laufend ändernden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ändern sich auch die Anforderungen im Bereich der Wohnraumschaffung. Eine besondere Bedeutung spielen – besonders auch im Hinblick auf die Gestaltung von Wohnräumen – Objekte, mit denen sich Menschen umgeben, denn diese bestätigen deren soziale Identität. Ebenso von Bedeutung sind persönliche Gegenstände und Andenken, über die sich ebenfalls die Identität ausdrückt. Immaterieller Besitz bzw. sogenanntes „kulturelles Kapital“ findet daher sehr oft in Form symbolischer Objekte Eingang in den alltäglichen Lebensraum und wird häufig dekorativ platziert oder an weniger prominenten Orten aufbewahrt.18 Durch die Aneignung von Räumen, das heißt durch deren Adaption als Teil des eigenen Lebensraums, z.B. durch das Schmücken von Eingangstüren, Anlegen von Vorgärten usw. wird die Verbundenheit und Identifikation mit der näheren Umgebung erhöht. Mit der ästhetischen Bewertung des eigenen Wohn- und Lebensumfeldes werden neben einer höheren Wohnzufriedenheit, bzw. einem höheren Wohnprestige, auch die Ortsverbundenheit und die Einsatzbereitschaft für gemeinschaftliche bzw. kommunale Angelegenheiten gesteigert.19 Die Vorstellung von häuslicher Privatheit schließt Balkone, zum Haus gehörende Gärten usw. mit ein.20 Dennoch handelt es sich dabei um Räume, deren Grenzen (im Sinne häuslicher Zurückgezogenheit) durchlässig sind. Sie stellen eine Verbindung zur Außenwelt her und ermöglichen Lukas Kogler, Johannes Pötscher Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf (von oben nach unten): Andenken am Kachelofen, Hummelfiguren am Zierboard, Selbstgefertigte Schnitzerei, Andenken, 2010 290 — 291 Gundi Jungmeier Interaktion. Hier sind die Bewohner/innen vor die Aufgabe gestellt, ein für sie passendes Maß zwischen Transparenz und Abgeschlossenheit aus einem breiten Feld von Möglichkeiten – zwischen symbolischen Grenzen in Form von optisch wahrnehmbaren Umrandungen (z. B. Blumenrabatten) und tatsächlichen Barrieren (z. B. Zäune oder Hecken) – zu wählen. Die Gestaltung von Gärten, Balkonen usw. bestimmt zu einem Teil die Möglichkeiten bzw. die Intensität der Interaktion mit der Öffentlichkeit. Mittlerweile haben mehrere Besitzer/innen von Ferienwohnungen die Sonnenalm als permanenten Wohnsitz auserkoren und wollen ihren Lebensabend ganz oder zumindest zu einem großen Teil dort verbringen. Einige von ihnen haben für das vorliegende Projekt ihre Türen geöffnet und Einblicke in ihre Wohnräume und Gärten ermöglicht.21 21 Interviews mit Besitzerinnen und Besitzern von Immobilien der Sonnenalm, Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen, Büro der Erinnerungen (i. d. F.: UMJ), 31.3.2010, 1.4.2010, 2.4.2010. 22 Interview, UMJ, 31.3.2010. 23 Interview, UMJ, 1.4.2010. 24 Interview, UMJ, 31.3.2010. 25 Interview, UMJ, 1.4.2010. 26 Interview, UMJ, 31.3.2010. „Wir sind keine Hotelmenschen in dem Sinn. Beide nicht. Sondern wir waren immer [darauf] bedacht, dass man etwas besitzt, wo man hin kann und gleich wieder zuhause ist. Mit seinen eigenen Möbeln, auch mit der Kleidung etc. Das hat eben besser gepasst, als wenn man dann mit dem Koffer jedes Mal anreisen muss. Also wir gehen nicht gerne ins Hotel.“22 Lukas Kogler, Johannes Pötscher Sonnenalm, 2010 „Wir brauchen keine Vorhänge oder sonst etwas, bei uns ist es immer offen. Es kann niemand hereinschauen, es scheint den ganzen Tag die Sonne herein. Wir können uns frei bewegen, das ist super.“23 „Das ist der hintere Garten. Der ist ostseitig, den nutzen wir sehr viel. Im Sommer schon beim Frühstück, weil da die Sonne aufgeht. Und dann kann man hier an unserem Tisch wunderschön frühstücken. Das ist wie so ein Atrium als Innenhof, da schaut kaum jemand rein.“24 „Wir wissen oft nicht, kommt es von da oder kommt es von da oder von oben, das kann man nicht feststellen. Wenn man einen Fernseher oder Musik hört. Das kann man nicht recht feststellen, wo das herkommt. Aber es ist nicht störend, es ist ganz leise, wenn man ab und zu etwas hört.“25 „Wir haben es uns halt in der Zeit unseres Hierseins so angenehm wie möglich gemacht, haben uns gemütlich – so wie wir uns wohl fühlen – eingerichtet. Unter anderem haben wir dann auch so Sachen wie die Wandverkleidung und die Deckenverkleidung in Eigenarbeit montiert und in den Räumen, wo es nötig war das anzubringen, angebracht. […] Und dazu gehören halt die kleinen Dinge, die oben auf dem Board stehen, wie die Hummelfiguren. Auf der anderen Seite haben wir noch ein paar Geweihe. Wir versuchen das halt mit so viel Liebe wie möglich einzurichten. […] Da sind so urige Häferl hier mit ganz netten Sprüchen drauf, die haben wir uns mal angeschafft. Wenn es mal Glühwein gibt im Winter, dann werden die auch wieder benutzt.“26 Biografien PAWEL ALTHAMER Franz Kapfer Geboren 1967 in Warschau (PL), lebt in Warschau (PL) Museum of Contemporary Art, Chicago (US) Einzelausstellungen (Auswahl): 2000 Bródno 2000 (Projekt im öffentlichen Raum), Warschau (PL) 2009 Pawel Althamer und Andere, Secession, Wien (AT) Frühling, Kunsthalle Frideri- Gruppenausstellungen cianum, Kassel (DE) (Auswahl): (mit Nowolipie Group) 2010 2007 Les Promesses du Passé, One of Many, Fondazione Centre Pompidou, Paris Nicola Trussardi, Mailand (FR) (IT) black market, neugerriem- 2009 schneider, Berlin (DE) Shifting Identities. Art Now, Contemporary Art 2006 Center Vilnius (LT) In the Centre Pompidou, Espace 315, Musée National 2008 d’Art Moderne, Centre Art Comes Before Gold, Pompidou, Paris (FR) Museum of Modern Art Warsaw, Warschau (PL) 2005 After Nature, New Paweł Althamer zachęca, Museum, New York (US) Zacheta National Gallery of Periphere Blicke und Art, Warschau (PL) kollektive Körper, Museion, Bozen (IT) 2004 Shifting Identities, Pawel and Vincent, The Kunsthaus Zürich, Zürich Vincent Van Gogh Bi-annual (CH) Award for Contemporary Art Double Agent, ICA, London in Europe, Bonnefantenmu- (UK) seum Maastricht (NL) 2007 2003 The World as a Stage, Tate The Wrong Gallery, New Modern, London (UK) York (US) Volksgarten: Politik der Zugehörigkeit, Kunsthaus Graz (AT) 2002 Skulptur Projekte Münster, Unsichtbar, Alexanderplatz, Münster (DE) Berlin (DE, Projekt im öffentlichen Raum) 2006 Prisoners, Kunstverein The exotic journey ends, Münster, Münster (DE) Foksal Gallery Foundation, Warschau (PL) 2001 Of mice and men, Berlin Weronika, Amden (CH, ProBiennale 4, Berlin (DE) jekt im öffentlichen Raum) Sculptures in the Park, The Collective UnconsciousVilla Manin, Udine (IT) ness, migros museum, Zürich (CH) 2005 9. Istanbul Biennale, Istanbul (TR) Kollektive Kreativität (zusammen mit Artur Zmijewski), Kunsthalle Fridericianum, Kassel (DE) 1. Moskau Biennale, Moskau (RU) 2004 Utopia Station, Haus der Kunst, München (DE) 54th Carnegie International, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh (US) Artists’ Favourites, ICA Institute of Contemporary Art Gallery, London (UK) Dreaming of a Better World in Six Parts, BAK, Utrecht (NL) 2003 Art Focus 4 (zusammen mit Artur Żmijewski), Israel Museum, Jerusalem (IL) Bring on the Clowns, Frieze Art Fair Projects, London (UK) Dreams and Conflicts-The Viewer’s Dictatorship, Biennale di Venezia, Venedig (IT) 2002 Warum, Martin Gropius Bau, Berlin (DE) „I promise it’s political”, Museum Ludwig, Köln (DE) The Collective Unconsciousness, migros museum, Zürich (CH) 2001 „Ausgeträumt...”, Secession, Wien (AT) Abbild, Landesmuseum Joanneum, Graz (AT) 2000 Manifesta 3, Ljubljana (SLO) 1997 Documenta X, Kassel (DE) geboren 1971 in Fürstenfeld (AT), lebt in Wien (AT) Einzelausstellungen (Auswahl): 2009 In the shadow of Skanderbeg. Lichtinstallation, Oper Tirana, TICA Tirana (AL) Für Gott, Kaiser und Vaterland, Kunstpavillon, Innsbruck (AT) 2008 Zur Errettung des Christentums, Traklhaus, Salzburg (AT) Wunderwürdiges Kriegsund Siegs-Lager, Oberes Belvedere, Wien (AT) 2007 Zur Errettung des Christentums, MMK Stiftung Wörlen, Passau (DE) 2006 Franz Kapfer, Salzburger Kunstverein, Salzburg (AT) Zur Errettung des Christentums, Galerie Hohenlohe, Wien (AT) 2004 Rom 2003, Galerie Hohenlohe & Kalb, Wien (AT) Franz Kapfer 2002-03, Studio, Neue Galerie, Graz (AT) 2003 Der Einzug König Etzels in Wien, MAK NITE, Wien (AT) Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 tanzimat, Augarten Contemporary, Wien (AT) Triennale Linz 1.0, OK Offenes Kulturhaus Oberösterreich, Linz (AT) 2009 Because it’s Like That Now, it Won’t Stay That Way, Galeria Arsenal, Bialystok (PL) Rewind / Fast Forward. Die Videosammlung, Neue Galerie Graz, Graz (AT) Einführung in die Kunstgeschichte 6, Landesgalerie Linz (AT) Schönheit des Hässlichen, Forum Frohner, Krems (AT) 2008 Rückblende, Neue Galerie, Graz (AT) Sexy Sexism, Galerie Václava Špály, Prag (CZ) Open Sky, regionale08, Schloss Kalsdorf, Kalsdorf (AT), Another Tomorrow, Slought Foundation, Philadelphia (US) 2007 Scheitern, Landesgalerie, Linz (AT) Soufflé, Kunstraum Innsbruck (AT) Objekthaftes, MdM Rupertinum, Salzburg (AT) Exitus, Künstlerhaus Wien, Wien (AT) Einführung in die Kunstgeschichte, Ursula Blickle Stiftung, KraichtalUnteröwisheim (AT) 2005 Das Neue 2, Atelier Augarten, Wien (AT) 2004 Lost Eight, Museum Moderner Kunst Stiftung Wörlen, Passau (DE) 2002 Ines Doujak / Franz Kapfer, Galerie Hohenlohe & Kalb, Wien (AT) 2001 The Subject and the Power, Central House of Artists, Moskau (RU) Le Tribù dell’Arte, Galeria Communale d’Arte Moderna e Contemporanea, Rom (IT) 2000 Gouvernementalität, Expo 2000, Hannover (DE) CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER L/B Sabina Lang , geboren 1972 in Bern (CH), Daniel Baumann, geboren 1967 in San Francisco (US), leben in Burgdorf (CH), Zusammenarbeit seit 1990 Einzelausstellungen (Auswahl): 2009 Le Bel Accident. Vincent Ganivet, Lang/Baumann, Le Confort Moderne, Poitiers (FR) I’m Real, Galerie Urs Meile, Beijing (CN) 2008 More is More, Galerie Loevenbruck, Paris (FR) 2007 Pocket Stadium, Locust Projects, Miami (US) Hotel Everland, Palais de Tokyo, Paris (FR) Comfort #4, Villa du Parc, Annemasse (FR) 2006 Lumps and Bumps, Spiral/ Wacoal Art Center, Tokio (JP) Hotel Everland, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig (DE) 2005 Diving Platform, Marks Blond Project, Bern (CH) 2004 Perfect #2, Stage, Bern (CH) Lobby, Kunsthalle, St.Gallen (CH) 2003 L/B, Bell-Roberts Gallery, Cape Town (ZA) 2002 Duell, Galerie Urs Meile, Luzern (CH) Hotel Everland, Expo.02, Yverdon (CH) 2001 Window 002, Kunstraum Walcheturm, Zürich (CH) Transit, eine Navigation, Kunstverein, Freiburg (DE) Beautiful Entrance #3, Swiss Institute, New York (US) 2007 Môtiers 2007, Art en plein Air, Môtiers (CH) The Memory of this Moment from the Distance of Years, Former Schindler’s Factory, Krakau (PL) 2000 L/B, Josh Blackwell, Hot Coco Lab, Los Angeles (US) 2006 5 Milliards d’années, Palais de Tokyo, Paris (FR) Trial Baloons, Canal Musac, León (ES) Space Boomerang, Swiss Institute, New York (US) 1999 Au dernier cri, Galerie Urs Meile, Luzern (CH) Inforaum, Kunsthalle, Bern (CH) SAT 2, migros museum für gegenwartskunst, Zürich (CH) Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 Fukutake House, Art Setouchi 2010, Kagawa (JP) Portrait de l’artiste en motocycliste. Olivier Mosset, Musée des beaux-arts, La Chaux-deFonds (CH) 2009 WolaArt, Warschau (PL) Portrait de l‘artiste en motocycliste. Olivier Mosset, Magasin, Grenoble (FR) Utopics. 11. Schweizerische Plastikausstellung, Stadt, Biel-Bienne (CH) 2008 Nationale Kunstausstellung, Autofriedhof, Kaufdorf (CH) Balls and Brains, Helmhaus, Zürich (CH) 2005 Rundlederwelten, MartinGropius-Bau, Berlin (DE) Focus Switzerland, KBB, Barcelona (ES) Malereiräume, Helmhaus, Zürich (CH) 2004 Design? Kunst, Kunsthaus, Langenthal (CH) 2003 Floating Land, L’art sur place, Biennale de Lyon, Lyon (FR) Lee 3 Tau Ceti Central Armory Show, Villa Arson, Nizza (FR) Môtiers 2003, Art en plein Air, Môtiers (CH) 2002 Sweet Nothing, Kunsthaus Baselland, Basel (CH) Balsam - Exhibition der Fussballseele, Helmhaus, Zürich (CH) Cape Town Festival, SA National Gallery, Cape Town (ZA) 2001 Dreamgames, Stadion Dynamo Kiev, Kiew (UA) 70s versus 80s, Museum Bellerive, Zürich (CH) migros museum für gegenwartskunst, Zürich (CH) Geboren 1957 in Biel (CH), lebt in Berlin (DE) und New York (US) Einzelausstellungen (Auswahl): 2008 Resolutions, Galerie Christian Nagel, Berlin (DE) cookie-cutter, 47 Orchard, New York (US) 2007 Basics, Kunstmuseum Basel, Museum für Gegenwartskunst, Basel (CH) Passé immediate: [plug.in], Kunst und Neue Medien, Basel (CH) 2006 Mozart Was Here (permanent, mit Roman Ondak), Benediktinerstift Melk, Melk (AT) 2005 Berlin, Deutschland und die Welt, Galerie Christian Nagel, Berlin (DE) 2004 Im Geschmack der Zeit. Das Werk von Hans und Marlene Poelzig aus heutiger Sicht, IG-Hochhaus der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main (DE); Architekturmuseum Basel, Basel (CH) 2003 Im Geschmack der Zeit. Das Werk von Hans und Marlene Poelzig aus heutiger Sicht, Weydinger Strasse 20, Berlin (DE) Spice up Powdermaker Hall, Social Sciences, Queens College, New York (US) 2002 A Taste for Money, Galerie Christian Nagel, Köln (DE) 2001 Humus. Kulturelle Bodenprobe aus Hamburg, Köln und Luzern, Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern (CH) 2000 A Sense of Place, American Fine Arts, Co., New York (US) Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 Modernologies, Muzeum Sztuki Nowoczesnej, Warschau (PL) Under one Umbrella, Silberkuppe at Bergen Kunsthall, Bergen (NW) 2009 TOHUWABOHU. Spirit of the Haus, Haus der Kulturen der Welt, Berlin (DE) Modernologies, MACBA, Barcelona (ES) See this Sound, Lentos Kunstmuseum Linz, Linz (AT) Fifty Fifty. Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren, Wien Museum, Wien (AT) C’era una volta un anello, Galleria d’arte moderna, Palazzo Margerita, Modena (IT) 2008 Recollecting. Raub und Restitution, MAK, Wien (AT) Manifesta 7. The European Biennal of Contemporary Art, Rovereto (IT) 2007 Rückblende, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz (AT) Helmut Draxler: Shandyismus, Kunsthaus Dresden, Dresden (DE) The Price of Everything... Perspectives on the Art Market, präsentiert vom Whitney Museum of American Art Independent Study Program, The Art Gallery, CUNY Graduate Center, New York Shandyismus. Autorschaft als Genre, Secession, Wien (AT) 2006 Sammlung Grässlin, St. Georgen (CH) Heard Not Seen, Orchard, New York (US) Make Your Own Life: Artists In & Out of Cologne, ICA Philadelphia; The Power Plant, Toronto (CA) 2005 Projekt Migration, Kölnischer Kunstverein, Köln (DE) Icestorm, Kunstverein München, München (DE) In den Wäldern, Kunsthaus Mürz, Mürzzuschlag (AT) 2004 Election, American Fine Arts, Co., New York (US) 2003 Watershed, The Hudson Valley Art Project, Bard College, Annandale-onHudson, New York (US) 2002 Ökonomien der Zeit, Museum Ludwig, Cologne (DE); Akademie der Künste, Berlin (DE); migros museum für gegenwartskunst, Zürich (CH) Minimal Maximal, National Museum of Contemporary Art, Seoul (KO) MARIA PAPADIMITRIOU geboren 1957 in Athen (GR), lebt in Volos und Athen (GR) Einzelausstellungen (Auswahl): 2010 Hotel Balkan, Haifa Mediterranean Biennial, Haifa (ISR) 2009 The Party, öffentliches Event, Aliveri, Volos (GR) Infinito fa rumore eternita fa Silenzio, Mercato Coperto, Regio Emillia (IT) 2008 Corbu, Zina Athnasiadou Gallery, Thessaloniki (GR) 2007 Sa Ma Khol Truck – a City Tour, öffentliches Event, Teseco Foundation, Pisa (IT) Novocomum on Wheels, Direct Architecture, Politics and Space, Borgovico33, Como (IT) 2006 Hotel Plug-Inn, Castillo de San Gabriel, Lanzarote, 1st Bienal de Arquitectura, Arte y Paisaje de Canarias, Kanaren (ES) 2005 Screening at the Kinitron Gas Station, National Road Larissa-Trikala, Larissa Contemporary Art Center, Thessaly (GR) Two or Three Things I Know About him, Riflemaker Gallery, London (UK) KATEŘINA ŠEDÁ Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 Hotel Balkan, Haifa Mediterranean Biennial, Haifa (ISR) Mute Signs – Contemporary approaches to (in)tolerance, Hungarian University of Fine Arts Budapest, Budapest (HU) 2009 T.A.M.A. Side Effects, 10th Lyon Biennial, Lyon (FR) We do it, Kunstraum Lakeside, Klagenfurt (AT) The First Image, Center of Contemporary Art Sete, (FR) Naughtiness, Beltsios Collection, Margari Foundation, Amfilohia (GR) Amateur Bicyclism, ReMap2, Locus, Athen (GR) The 2nd Gypsy Roma Traveller Month Screening, Autograph ABP, London (UK) EU-Roma Dwelling, RIBA, London (UK) 2008 Nothing is Happening, Common View, National Theater, Athen (GR) National Museum of Contemporary Art, Thessaloniki (GR) Material Links: A Dialogue Between Greek and Chinese Artists, Museum of Contemporary Art, Shanghai (CN) Women Only, Beltsios Collection, Margaris Foundation, Amfilohia (GR) Ideal Homes, Casa del Lago, Mexico City (MX) Sũeno de casa propia, VIMCORSA, Cordoba (ES) Games Without Frontiers, Zoumboulaki Gallery, Athen (GR) 2007 Volksgarten Orchestra, Volksgarten: Politik der Zugehörigkeit, Kunsthaus Graz, Graz (AT) TAMAhouse, Sueňo de Casa Propia, La Casa Encendida, Madrid (ES) Luv car, 7th Gwangju Biennale, Gwangju (CO) Topoi, Benaki Museum, Athens (GR) Who’s There, Macedonian Museum of Contemporary Art, Thessaloniki (GR) Two or three things I know about him, Photosynkyria 19, International festival of Photography, Museum of Contemporary Art, Thessaloniki (GR) 2006 The Athens Effect, Mudima Foundation, Mailand (IT) What Remains is Future, European Cultural Capital 2006, Patras (GR) Check in Europe, EPO, München (DE) Less: Alternative Living Strategies, Pavillion of Contemporary Art, Mailand (IT) The People’s Choice, Isola, Mailand (IT) 2005 The Rolling Billboard Art Project euroPART, Wien (AT) Myths / AntiMyths, Forum Plus, Wroclaw (PL) Gesture, Quarter, Centro Produzione Arte, Florenz (IT) Biennial on the Mediterranean Landscape, Pescara (IT) Mira como se mueven, Telefonica Foundation, Madrid (ES) Geboren 1977 in Brno (CZ), lebt in Brno - Líšeň und Prag (CZ) Einzelausstellungen (Auswahl): 2010 From Morning Till Night, Tate Modern, London (UK) 2009 Der Geist von Uhyst, Über Tage, Uhyst (DE) Česky snadno a rychle (Tschechisch schnell und mühelos), mit Rolf Simmen, Deutsches Radio (DE) 2008 1+1+1 =3, Culturgest, Lissabon (PO), mit Robert MacPherson und Manfred Pernice Kateřina Šedá (Colocation n. 4), La box, Bourges (FR) Kateřina Šedá, The Renaissance Society, Chicago (US) 2007 Sweden, mit Fritz Quasthoff, 1+1, galerie Arratia/Beer, Berlin (DE) Vnučka (The Granddaughter), Czech Center, New York (US) 2006 Kateřina Šedá *1977, etc. Galerie, Prag (CZ) Kateřina Šedá, Cultural House, Brno – Líšeň (CZ) Kateřina Šedá x 3, Francosoffiantino Artecontemporanea, Turin (IT) Arrivals > Czech Republic, Modern Art Oxford, Oxford (UK) Gruppenausstellungen (Auswahl): 2010 Video Drawing, The Israel Museum, Jerusalem (ISR) Jeden na jednoho/ ONE ON ONE, The Brno House of Arts, Brno (CZ) Les Promesses du passé, Centre Pompidou, Musée National d´Art Moderne, Paris (FR) 2009 Video Drawing, The Ticho House, Jerusalem (ISR) Radio D-CZ, Tranzitdisplay, Prag (CZ) Po sametu / After Velvet, City Gallery Prague, Prag (CZ) Formáty transformace / Formats of Transformation, The Brno House Of Arts, Brno (CZ) Na okraji zájmu / On the Periphery of Concern, Emil Filla Gallery, Ústí nad Labem (CZ) Fri Porto, Den Frie Centre of Contemporary Art Copenhagen, (DK) After The Final Simplification Od Ruins, Montehermoso Cultural Center in Vitoria (ES) 10th Lyon Biennial, Lyon (FR) Der Geist von Uhyst, Über Tage, Uhyst (DE) Time out of Joint: Recall a Evocation in Recent Art, Kitchen, New York (US) Monument transformace, City Gallery Prague, Prag (CZ) Younger than Jesus, New Museum, New York (US) 2008 The Green Room, CCA, Bard Center, New York (US) Cutting Realities. Gender Strategies in Art, Austrian Cultural Forum NYC, New York (US) La Petite Histoire, Kunstraum Niederösterreich, Wien (AT) Average, Kunsthaus Langenthal, Langenthal (CH) Manifesta 7, Bozen (IT) Social Diagrams, Künstlerhaus Stuttgart, Stuttgart (DE) Sixth Biennial of Young Artists, Zvon 2005 (Bell 2005), City Gallery Prague, Prag (CZ) Where Are Lions Are, Para/ Site Art Space, Hong Kong (CN) 5th Berlin Biennial, Berlin (DE) No Borders, AICA, Brüssel (BE), Close Encounters, Fine Arts Center Galleries, University of Rhode Island (US) 2007 Documenta 12, Aue pavillon, Kassel (DE) Dazwischen (INGENDWO), Museum Sammlung in Friedrichshof (AT) Asia Europe Meditation, National Museum of Art, Poznan (PL) Facelift: 3 Contemporary Czech and Slovak Artists, A.I. R. Gallery, New York, (US) As In Real Life, Gallery P 74, Ljubljana (SLO) Auditorium, Stage, Backstage. An Exposure In 32 Acts, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt (DE) 2006 Gray Zones, Dům umění, Brno and Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig (DE) Shadows of Humor, BWA Wrocław (PL) Local Stories, Modern Art Oxford (UK) Autoren Jennifer Allen lebt als Kunstkritikerin in Berlin. Hannah Arendt Gesellschafts- und politikwissenschaftliche Theoretikerin, geboren 1906 in Hannover, gestorben 1975 in New York, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. Nach einer kurzen Inhaftierung durch die Gestapo 1933 Emigration nach Paris, Sozialarbeiterin bei jüdischen Einrichtungen, 1940 Verschleppung in das Internierungslager Gurs, ab 1941 in New York, 1944-46 Forschungsleiterin der Conference on Jewish Relations, 1946-49 Cheflektorin im Salman Schocken Verlag, 194852 Direktorin der Jewish Cultural Reconstruction Organization zur Rettung jüdischen Kulturguts, 1953 nach mehreren Gastvorlesungen u. a. in Princeton und Harvard Professur am Brooklyn College in New York, 1959 als erste Frau Gastprofessur an der Princeton University, 1963 Professorin an der Universität von Chicago, ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Publikationen (Auswahl): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955; Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, 1958; Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1958; Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963; Über die Revolution, 1963; Macht und Gewalt, 1970; Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie,1982. Christoph Doswald Freier Kurator, Publizist und Kritiker in Zürich. Vorsitzender der Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum, AG KiöR der Stadt Zürich und Kurator diverser Ausstellungen, u.a. Press Art (Kunstmuseum St.Gallen/Museum der Moderne, Salzburg), Hanspeter Hofmann (Kunsthaus Graz/Villa Arson, Nizza), Konkret Megamopp (Seedamm Kulturzentrum, Pfäffikon), Missing Link: MenschenBilder in der Fotografie (Kunstmuseum, Bern/ Kunst Haus, Dresden), Nonchalance (Centre Pasquart, Biel/Akademie der Künste, Berlin). Peter Gruber 1955 geboren, aufgewachsen im Ennstal, Steiermark, auf dem Bergbauernhof seiner Eltern. Lebt als Autor (Textwerkstätte) in Wien, im Ennstal und als Hirte am Dachstein. Seit 1981 literarische Veröffentlichungen: Naturfeuilletons, Lyrik, Sagen, Märchen, Wildererspiel, Bauernspiel, Adventspiel. Texte für Fotobände, Anthologien, Symposien, Literaturzeitschriften und Schreibwerkstätten. Publikationen (Auswahl): Sommerschnee (mit Fotos von Kurt Hörbst), 2008; Tod am Stein, 2006; Schattenkreuz, 2001; Notgasse, 1998. Christof Huemer 1972 geboren, lebt als Literat und Journalist in Graz. Sein Erstlingsroman Zweifellos erschien 2008 in der Edition Keiper. Günther Marchner Als Organisationsentwickler, Sozialwissenschafter und Historiker tätig, Mitbegründer des sozialwissenschaftlichen Netzwerks b.a.s.e. (www. base-salzburg.at) und von conSalis - Entwicklungsberatung (www.consalis. at). Er lebt und arbeitet in Salzburg und in Bad Mitterndorf. Tomáš Pospiszyl Lebt als Kritiker, Kurator und Kunsthistoriker in Prag. Er arbeitete als Kurator in der Nationalgalerie in Prag (1997-2002) und war Forschungsstipendiat im Museum of Modern Art in New York (2000). Seit 2003 unterrichtet er an der Film- und Fernsehschule der Akademie für darstellende Kunst in Prag. Publikationen (Auswahl): Primary Documents; A Sourcebook for Eastern and Central European Art since the 1950s (hrsg. mit Laura Hoptman), 2002; Octobrianaa ruský underground, 2004, sowie zahlreiche Katalogbeiträge und Zeitschriftenartikel. Martin Prinzhorn Linguist an der Universität Wien, daneben Veröffentlichungen zu Kunst und Architektur. André Rottmann 1977 geboren, ab 1998 Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literatur, Politikwissenschaft, Philosophie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Tufts University Boston und an der Freien Universität Berlin. Seit 2005 Chefredakteur der Zeitschrift Texte zur Kunst, Berlin. Seit 2007 Korrespondent in Berlin für Artforum International, New York. Arbeitet an seiner Promotion zur Geschichte und Ästhetik institutionskritischer Kunst nach 1970. Richard Sennett 1943 geboren in Chicago, Illinois, lehrt Soziologie und Geschichte an der New York University und an der London School of Economics and Political Science. Seine Hauptforschungsgebiete sind Städte, Arbeit und Kultursoziologie. Publikationen (Auswahl): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 1977; How I write: Sociology as Literature, 2009; Der flexible Mensch. Die Kultur des Neuen, 1998. Das kulturwissenschaftliche Team unter der Leitung von Elke Murlasits (Historikerin, Graz) setzt sich aus Gundi Jungmeier (Historikerin, Graz), Günther Marchner (Historiker, Salzburg) und Gernot Rabl (Kunsthistoriker, Trautenfels) zusammen und bildet seit 2009 eine Arbeitsgruppe. Index Copyrights Werke der Ausstellung L/B Beautiful Steps #5, 2010 Holz, laminiert und lackiert; Durchmesser 8 m, Stegbreite 70 cm, Höhe 110 cm Courtesy der Künstler Beautiful Steps #3, 2009 Holz, Farbe; 11,5 x 5 x 4,3 m Courtesy Le Confort Moderne, Poitiers → S. 32ff Kateřina Šedá Es ist kein Licht am Ende des Tunnels, 2010 203 Zeichnungen (Ölkreide) und Faksimile der Zeichnungen in verschiedenen Versionen; je 51 x 73 cm Courtesy der Künstlerin und Franco Soffiantino Gallery → S. 48ff Maria Papadimitriou Alpine Altar, 2010 Installation, verschiedene Materialen; Maße variabel Courtesy der Künstlerin → S. 64ff Christian Philipp Müller Burning Love (Lodenfüßler), 2010 Installation bestehend aus ca. 50 m Loden, 20 Schrangen aus Lärchenholz, Projektion, 4 Ölgemälden und 3 s/w-Fotos aus diversen Sammlungen, 3 Farbfotos; Maße variabel Courtesy des Künstlers → S. 80ff Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien Coach: Donat Grzechowiak Baptiste Elbaz, Luka Berchtold, Matthias Böhler, Hannah Breitfuss, Ida Divinzenz, Batiste Elbaz, Pauline Fauchour, Roland Gaberz, Johanna Guggenberger, Veronika Gahmel, Johannes Hoffmann, Konrad Kager, Matthias Kendler, Stefan Klampfer, Tonio Kröner, Bettina Mangold, Andrea Maurer, Tobias Nagiller, Nanna Nordström, Andreas Nutz, Noële Ody, Lukas Oppenauer, Michéle Pagel, Sabrina Peer, Heidi Rada, Johanna Reiner, Roland X. Roland, Eva Seiler, Dominika Soran, Stefan Stecher, Fabian Störk, Mario Strk, Klemens Waldhuber, Julian Wallrath, Benjamin Zuber Things You Can Walk Into, 2010 Verschiedene Materialien; Maße variabel Courtesy der Künstler → S. 98ff Franz Kapfer Sieh-Dich-Für, 2010 Holz, Lack, Halogenscheinwerfer; 295 x 388 x 100 cm; 332 x 115 x 130 cm; 256 x 127 x 100 cm Courtesy des Künstlers Sieh-Dich-Für, 2010 Holz, Beton, Lack; 12 x 15 x 5,7 m Courtesy des Künstlers → S. 120ff © Universalmuseum Joanneum © für die abgebildeten Werke bei den Künstlerinnen und Künstlern © für die Texte bei den AutorInnen, ÜbersetzerInnen oder deren RechtsnachfolgerInnen © für die Fotografien bei den FotografInnen oder deren RechtsnachfolgerInnen Cover: © Maria Papadimitriou Archiv Schloss Trautenfels → S. 7, 9-11, 35 Courtesy Pawel Althamer und Open Art Projects → S. 22 David Kranzelbinder → S. 84 Mike Hall → S. 20 François Charrière, Môtiers → S. 44 KBB → S. 44 Oliver Heissner → S. 47 L/B → S. 20, 21, 33, 3842, 45 Wolfgang Otte → S. 11, 36 Paul Ott → S. 37 Michal Hladík → S. 28, 49, 51, 52, 56-58, 62/63 Courtesy Fondazione Adriano Olivetti → S. 68 Contemporary Art Center → S. 67, 71 Courtesy PAC, Milano → S. 71 Courtesy Thessaly University → S. 69 Maria Papadimitriou → S. 17-19, 65, 68, 74-76, 78/79, 270 John Yancy → S. 97 Gundi Jungmeier → S. 97 Christian Philipp Müller → S. 24, 25, 27, 85, 8995, 138/139, 220/221, 248/249, 278, 279, 283 Franz Kapfer → S. 29-31, 121, 123, 125-131, 133, 135, 137 Nicole Siegel → S. 271 Kurt Hörbst → S. 155, 159 Stefan Emsenhuber → S. 164, 169, 177, 182, 189 Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der Bildenden Künste, Wien → S. 23, 100-119 Kateřina Šedá → S. 27 Lukas Kogler, Johannes Pötscher → S. 289, 291 Quellenverzeichnis und Übersetzungen Adam Budak Die Performance des einheimischen Lebens, oder: Die Herstellung der Welt in der Landschaft der Selbstbedingtheit (übersetzt von Otmar Lichtenwörther, textkultur) Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechtsinhaber ausfindig zu machen. Sollte es uns im Einzelfall nicht gelungen sein, so bitten wir diese, sich an das Universalmuseum Joanneum zu wenden. Jennifer Allen Für immer Parken (übersetzt von Christof Huemer) Tomáš Pospiszyl Ein Grashügel und beleuchtete Kreuzungen (übersetzt von Dan Morgan und Christof Huemer) Pierre Bourdieu (u.a.): Der Einzige und sein Eigenheim. Erweiterte Neuausgabe der Schriften zu Politik & Kultur 3, herausgegeben von Margareta Steinrücke. Hamburg: VSA 2002. Übersetzung des Textauszugs: Jürgen Bolder Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Ungekürzte Taschenbuchausgabe, 8. Aufl., München: Piper 2010. Richard Sennett: Handwerk. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Berlin: BvT 2009. Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns Schloss Trautenfels Universalmuseum Joanneum 03. Juni bis 31.Oktober 2010 Kurator Adam Budak Herausgeber Adam Budak, Peter Pakesch Universalmuseum Joanneum Redaktion Katia Schurl Lektorat Jörg Eipper Kaiser Grafische Gestaltung Michael Posch ISBN 978–3–90209–530–5 © Universalmuseum Joanneum Mariahilferstraße 2-4, A-8020 Graz www.museum-joanneum.at Mit Unterstützung von Land Steiermark Wir danken Gerhard Abel Richard Aigner Jennifer Allen Anna Baldinger Helga Baldinger Rita Bender Bezirkspolizeikommando Liezen Binder & Krieglstein Andrea Binder, Piper Verlag Helmut Blaser Dieter Boyer Christian Brugger, Bundesdenkmalamt Perry Cartwright, University of Chicago Press Christine Czaika Sarah Dodgson, Polity Press Christoph Doswald Maria Düregger Stephan Egger Stefan Emsenhuber Marion Fisch, VSA-Verlag Josefine Flöß Freiwillige Feuerwehr Mitterberg Maria Froihofer Gerhard Grill Peter Gruber Otto Habermayer Handarbeitsrunde Schloss Trautenfels Kathrin Hartenberger Georg Haselnus Anton Hausleitner Michal Hladík Ondřej Hladík Günther Holler-Schuster Kurt Hörbst Nada Huber Christof Huemer Bert Jüngermann Isle Jury Jiří Kadlec Ulrike KammerhoferAggermann Grete Karner Peter Kettner Julie Klusáková Lukas Kogler Margret Kohlberger Alois Kölbl Jiří Kovář David Kranzelbinder Christa und Franz Kraus Heinz Leuner Andrea Liebenberger Gernot Lux Anja Mallmann, Berlin Verlag Birgit Marcher Heimo Marcher Günther Marchner Cyril Marounek Daniela Matlschweiger Maria Mössner Alois Murnig, Bundesdenkmalamt Karin und Frieder Nischwitz Österreichisches Rotes Kreuz/LV-Steiermark/ Bezirksstelle Liezen Pauline Perrignon, Yale University Press Roswitha Planitzer Rosina Plattner Karel Poneš Tomas Pospiszyl Johannes Pötscher Karl Pucher Christian Raich Johannes Rauchenberger Peter Regner Yorgos Rimenidis Eva Rossian André Rottmann Birgit Schachner Trixi Schlömmer Christian Schmid Christine Schmiedhofer Gerhard Schmiedhofer Josef Schmiedhofer Walter Schmiedhofer Mathias Schrempf Norbert Schrempf Rudolf Schwarz Hana Šedá Josef Šedý Herbert Seiberl August Singer Franco Soffiantino Gallery Herbert Steiner Johannes Steiner Jörg Steiner Karl Stocker Markus Straber Eva Taxacher Ingeborg Trink Anna Vasof Markéta Venclů Verein Schloss Trautenfels Marianne Winkler Wollkönigin Martina II Grete Zeiler Wir danken den Bewohnerinnen und Bewohnern der Gemeinden Ramsau am Dachstein, Haus im Ennstal, Aich-Assach, Pruggern, Michaelerberg, Mitterberg, Großsölk, Öblarn, Niederöblarn, Pürgg-Trautenfels und deren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und insbesondere allen Menschen, die sich an den künstlerischen Projekten ehrenamtlich beteiligt haben. Besonderer Dank gilt den Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung, die ihre Projekte mit außergewöhnlichem Engagement und Einsatz realisiert haben. Leihgeber Kammerhofmuseum Bad Aussee Gasthof Pension Veit, Gössl/Grundlsee Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum Gestaltung und Grafik Kulturwissenschaftlicher Raum Marianne Winkler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausstellung, Universalmuseum Joanneum Peter Pakesch, Intendant Adam Budak, Kurator Katia Schurl, Projektleitung Katharina Krenn, Leitung Schloss Trautenfels Elke Murlasits, Leitung Kulturwissenschaftliches Team Gundi Jungmeier, Gernot Rabl, Günther Marchner, Kulturwissenschaftliche Mitarbeit Wolfgang Otte, Wissenschaftliche Mitarbeit, Schloss Trautenfels Michael Posch, Grafik Jörg Eipper Kaiser, Lektorat Nicole Siegel, Office Management, Schloss Trautenfels Teresa Ruff, Office Management, Kunsthaus Graz Robert Bodlos, Leitung Zentralwerkstatt, Graz Michael Huber, Haustechnik Schloss Trautenfels Werner Wihan, Werkstatt Schloss Trautenfels Erich Aellinger, Walter Ertl, Markus Ettinger, Bernd Klinger, Klaus Riegler, Michael Saupper, Stefan Savič, Peter Semlitsch, Andreas Zerawa, Zentralwerkstatt Margit Eingang, Josefine Eichtinger, Sabine Geier, Ursula Hänsel, Johanna Köberl, Ingeborg Schranz, Unterstützung Aufbau Schloss Trautenfels Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns Wir sind die schaffenden Menschen, Schmiede der Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags, Schöpfer noch kommender Zukunften und Bildhauer von Orten. Als Studie performativer Zugehörigkeit geht der Katalog zur Ausstellung der Frage nach, ob der Homo Faber in der Welt des Eigensinns überhaupt möglich ist. Leben, Arbeit und die Leidenschaft, die beidem innewohnt, stehen dabei im Zentrum. Wie der Mensch lebt, wird hier durch ein Vergrößerungsglas gesehen, porträtiert und als autonomes und emanzipiertes Selbst dargestellt. Eigensinn erscheint dabei als ein mentaler und physikalischer Mechanismus, der die Identität eines sozialen und kulturellen Mikrokosmos formt und bedingt. Es ist ein vager Zwischenraum, in dem das Kleine und Intime, das Persönliche und Exklusive das unausweichlich Globale und Kosmopolitische der heutigen Gesellschaft herausfordert. Eigensinn ist das beschwerliche Territorium, auf dem Gemeinschaft und Zusammengehörigkeitsempfinden mit der Sturheit der Singularität und des selbstzentrierten Universums kämpfen. In sechs partizipativen Kunstprojekten, die von einem kulturwissenschaftlichen Beitrag begleitet werden, stellen sich internationale Künstlerinnen und Künstler mit völlig unterschiedlichen Herangehensweisen lokalen Themen. Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung: Pawel Althamer (PL) mit Studierenden der Akademie der Bildenden Künste Wien (AT), Franz Kapfer (AT), L/B (CH), Christian Philipp Müller (CH), Maria Papadimitriou (GR), Kateřina Šedá (CZ)